Vertrocknete Tränen - Hadra Rochdi - E-Book

Vertrocknete Tränen E-Book

Hadra Rochdi

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Beschreibung

Inhaltsangabe – Vertrocknete Tränen Vertrocknete Tränen ist ein schonungslos ehrliches und bewegendes Buch über eine Kindheit zwischen zwei Welten – die eines marokkanischen Jungen, der in Deutschland aufwächst, geprägt von Entwurzelung, Schweigen, innerem Aufruhr und dem verzweifelten Versuch, seinen Platz in einer Gesellschaft zu finden, die ihn nie ganz akzeptieren wollte. In eindrucksvollen Bildern und intensiver Sprache erzählt der Autor seine Geschichte – die Geschichte eines Jungen, dessen Tränen versiegen mussten, lange bevor er gelernt hatte, sie zu verstehen. Eine Kindheit, geprägt von Härte, Angst und Erwartungen, die größer waren als seine Schultern tragen konnten. Es ist das Ringen um Anerkennung in einem Land, das ihm zwar Papiere, aber nie wirklich Heimat schenkte. Und es ist das Portrait einer Familie, in der die Vergangenheit wie ein bleierner Schatten auf jeder Geste liegt – mit einem schweigenden Vater, einer überforderten Mutter und einem Kind, das zwischen den Trümmern seiner Identität nach Wahrheit sucht. Doch dieses Buch ist mehr als nur eine persönliche Erzählung. Vertrocknete Tränen verwebt individuelle Erinnerung mit gesellschaftlicher Realität: institutioneller Rassismus, das Gefühl permanenter Fremdheit, die stille Wut über Ungerechtigkeit – all das findet hier seine Sprache. Der Autor beschreibt mit literarischer Tiefe, wie sich Schmerz in die Körper einschreibt, wie Trauma über Generationen weitergegeben wird und wie man trotz allem Wege findet, die Ketten zu sprengen. Es ist ein Buch über das Überleben, über Stärke, die leise wächst, über Träume, die nicht sterben – selbst dann nicht, wenn sie nie ausgesprochen wurden. Der Leser begegnet einem Menschen, der seine Geschichte nicht aus Selbstmitleid erzählt, sondern um sichtbar zu machen, was allzu oft im Verborgenen bleibt: die zarte, verwundbare Seite jener Kinder, die sich hinter harten Masken verstecken müssen. Vertrocknete Tränen ist ein literarisches Zeugnis der Transformation – vom verstummten Kind zum reflektierten Mann. Es lädt ein zum Innehalten, zum Verstehen und Mitfühlen. Wer dieses Buch liest, wird es nicht unberührt wieder weglegen – denn es zeigt auf eindrucksvolle Weise, was es bedeutet, in der Fremde Wurzeln zu schlagen und dabei die eigenen Tränen zurückzuverlangen.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Hadra Rochdi

Vertrocknete Tränen

Die Augen

 Ein Junge zwischen zwei Welten. Eine Kindheit im Schatten von Angst, Schweigen und Sehnsucht. Vertrocknete Tränen erzählt von Schmerz, Identität und innerer Heilung – kraftvoll, ehrlich und tief berührend. Dieses Buch ist mein Weg zurück zu mir selbst. Ein Zeugnis. Ein Neuanfang. 

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Kapitel 1 – Vorwort: Wurzeln im Staub, Tränen im Wind

Ich wurde eigentlich am 9. September 1977 irgendwo in Marokko geboren, wahrscheinlich in Nador – ganz genau weiß ich es bis heute nicht.

In jenen Jahren, in dieser Zeit, kamen viele Kinder nicht im Krankenhaus zur Welt, sondern in ihren eigenen vier Wänden – geboren zwischen den Wänden aus Lehm, zwischen Decken, Händen, Atem und Liebe.

Ich war das zweite Kind meiner Eltern ,mein älterer Bruder Mustafa kam 1974 zur Welt.

Meine Eltern ,Zwei Menschen, deren Schönheit nicht nur äußerlich war, sondern in der Art, wie sie einander anschauten, in der Wärme ihrer Stimmen, in der Tiefe ihrer einfachen, aber aufrichtigen Liebe.

Sie lernten sich in den Bergen Marokkos kennen – dort, wo Olivenbäume ihre Schatten auf den steinigen Boden werfen, wo Schafe meckern, Hühner gackern und Katzen sich durch schmale Gassen schlängeln, als wären sie die eigentlichen Herrscher des Dorfes.

Die Luft war erfüllt vom Duft der Erde, vom Rauch der Feuerstellen und von der Hoffnung junger Herzen.

Es war keine Liebe, wie sie in Geschichten mit Rosen und Gedichten gefeiert wird – es war eine Liebe, die gegen Widerstände bestand, eine, die nicht gewollt war von den Eltern meiner Mutter, aber sich dennoch wie ein Samen durch den trockenen Boden grub, bis sie blühte.

Liebe fragt nicht nach Erlaubnis. Sie wächst. Sie fordert nichts. Und sie kämpft – still, sanft, aber unaufhaltsam. So wurde aus einem Aufeinandertreffen zwischen den Hainen eine Familie. Unsere Familie.

Im Jahr 1980 verließen wir Marokko. Es war keine Flucht, aber auch kein Abenteuer – es war die Reise einer Hoffnung. Wie so viele andere Familien zog es auch uns nach Deutschland. Ein besseres Leben, hieß es.

Mehr Chancen. Mehr Sicherheit. Weniger Staub auf den Schuhen, aber mehr Unsichtbarkeit in den Augen der Menschen.

Wir kamen Zum ersten mal nach Darmstadt. Ich war noch zu klein, um mich bewusst zu erinnern. Die Bilder meiner frühen Kindheit sind wie alte, vergilbte Fotos – ohne Rahmen, ohne Reihenfolge.

Ich weiß nur, dass wir nicht lange blieben. Aus irgendwelchen Gründen kehrten wir für ein Jahr zurück nach Marokko. Vielleicht waren es Papiere, vielleicht Heimweh, vielleicht beides.

Kapitel: Die Garage der Verse

Als wir dieses eine Jahr nach Marokko kamen, war ich vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Zu jung, um zu verstehen, was Pflicht war, aber alt genug, um den Druck zu spüren. Ich wurde direkt in die Koranschule gesteckt – nicht etwa in ein klassisches Schulgebäude, sondern in eine Garage, wie es sie dort in Marokko überall gibt. Grau, dunkel, kühl – ein Raum, der mehr nach Lager als nach Lernen aussah.

Drinnen saßen wir auf dem Boden, mit hölzernen Tafeln vor uns, auf die wir arabische Verse mit Tinte und Schiefer schrieben. Und vor uns stand ein alter, strenger Imam, unser Lehrer, den wir alle fürchteten.

Er war nicht zimperlich. Wenn jemand etwas nicht auswendig aufsagen konnte, wenn die Buchstaben nicht ordentlich geschrieben waren – oder wenn man einfach zu müde war und mit dem Kopf wackelte vor Erschöpfung – dann kam der Millenialstock, und er schlug zu. Auf die Finger. Ohne großes Zögern, ohne Rücksicht.

Ich war klein, sensibel – und oft müde.Ich schlief ein, mitten im Unterricht. Nicht weil ich respektlos war, sondern weil mein Kopf und mein Herz das Tempo nicht mitgingen. Dann kamen die Schläge.Oder ich vergaß eine Sure oder konnte sie nicht richtig wiederholen – wieder der Schlag. Die Angst wuchs mit jedem Tag.

Nach einer Weile entwickelte ich einen eigenen kleinen Schutzmechanismus. Jeden Morgen ging ich zur Garage, stellte mich an das kleine Guckloch in der Tür, durch das man ins Innere sehen konnte – und ich spähte hinein.

Wenn ich den alten Imam sah, mit seinem grimmigen Blick und dem Stock in der Hand, drehte ich mich wortlos um und ging. Ich schwänzte die Schule – mit vier, fünf Jahren.

Ich lief einfach zur meiner Tante Nasiha verbrachte die Schulzeit bei ihr,

Sie hatte mich verstanden und immer beschützt.

Und dann ging ich nach Hause und tat so, als sei ich schon fertig.

Wenn allerdings die Lehrerin da war – eine Frau mit sanfterer Stimme und etwas mehr Geduld –, dann ging ich rein. Dann hielt ich durch. Dann war Schule zwar immer noch hart, aber wenigstens nicht beängstigend.

Ich erzähle das nicht, um Mitleid zu wecken. Ich erzähle es, weil es eine der frühesten Erfahrungen mit Autorität, mit Angst, mit Lernen unter Druck war – und mit der Fähigkeit, sich selbst zu schützen, auch als Kind.

Das Guckloch wurde für mich zum ersten Symbol von Kontrolle.Ich bestimmte, ob ich reinging oder nicht. Und das war damals alles, was ich hatte.

Doch 1982 – nach vielen Formularen, Gesprächen, Hoffnungen und einem Quäntchen Glück – bekamen wir endlich eine Wohnung zugeteilt.:

Aber als wir das zweite Mal zurück nach Deutschland wollten – zurück nach Darmstadt, in das Land, wo man seine Identität mit einem Stempel beweist und nicht mit einer Geschichte – begann alles erneut von vorn. Doch diesmal nicht in den Papieren, sondern in den Herzen.

Meine Mutter weigerte sich. Sie weinte nicht. Sie schrie nicht. Sie sagte nur leise, aber entschieden:„Ich will nicht, dass sie mir mein Kind wegnehmen.“

Denn ich war ein Geheimnis. Ein Widerspruch. Ich war geboren worden – ja – aber nicht offiziell. Nicht als „Sohn meiner Mutter“, sondern als „Sohn meines Großvaters“.

Ein Trick, ein Betrug, Aber sowas dass leider damals Gewesen Ein Schutzschild gegen die Mühlen der Bürokratie. Denn mein Großvater war schon in den Siebzigern nach Deutschland gekommen. Er hatte das System durchschaut – und für mich Kindergeld kassiert.Ich war auf dem Papier sein Sohn. Ein Enkel, getarnt als Sohn, ein Junge ohne eigenes Licht, der unter dem Schatten eines anderen leben musste.

Als mein leiblicher Vater uns endlich nachholen wollte, nach Jahren der Trennung, nach all den Briefen und Fotos mit vergilbten Rändern, fing meine Mutter an zu zittern.

„Was, wenn sie merken, dass du gar nicht sein Kind bist?“„Was, wenn sie mir dich wegnehmen?“ Niemand konnte sie beruhigen. Nicht mein Vater. Nicht die Verwandten. Nicht einmal die Sehnsucht.

Sie blieb standhaft – aus Angst, aus Mutterliebe, aus Misstrauen gegen eine Welt, die keinen Platz für Grauzonen lässt.

Dann kam Onkel Mimon. Er war nie laut, nie übertrieben. Aber in ihm brannte eine rebellische Glut. Er ging einfach zur Behörde. Ohne großes Aufheben. Ohne Rückversicherung. Er sagte nur:

„Das Kind ist geboren. Der Vater war in Deutschland – deshalb konnte er ihn nicht anmelden.“

Eine Lüge, sanft wie ein Pflaster, aber groß genug, um eine Wunde zu verdecken.

Die Behörden glaubten ihm. Sie stellten keine großen Fragen. Sie suchten nicht nach Akten. Vielleicht wollten sie auch nur ihre Ruhe.

Und so wurde ich ein zweites Mal geboren. Ein zweites Mal getauft – wie man es hier sagen würde. Aber nicht in einer Kirche, sondern im Büro einer Behörde, zwischen Ordnern, Stempeln und Formularen.

Mein Onkel Mimon gab mir den neuen Namen. Diesen Namen trage ich bis heute. Er steht in meinem Pass. Er steht in meinem Ausweis. Er ist auf all meinen Dokumenten.

Doch er ist nicht mein wahrer Name. Denn mein erster Name, der Name, mit dem meine Mutter mich gerufen hat, mit dem ich als Baby eingeschlafen bin, der Name, den ich in meinen ersten Träumen trug, war:Chafik.

Chafik – der, der in Stille lebte. Der, der doppelt gezählt wurde. Der, der zwei Leben in sich trug und keinen einzigen Ort hatte, wo er ganz sich selbst sein durfte.

Chafik – der Mitfühlende.

So bedeutet es auf Arabisch.

„Der Barmherzige“, „der Zärtliche“.

Ein Name, der klingt wie eine Umarmung.

Ein Name, der ein Herz trägt, noch bevor das Leben es bricht.

Und so war mein Weg nach Deutschland kein einfacher Flug. Es war ein Balanceakt auf einem unsichtbaren Seil. Ein Balanceakt zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Herkunft und Hoffnung, zwischen dem, wer ich war, und dem, wer ich sein musste, um überhaupt ankommen zu dürfen.

Mit dem zweiten Namen kam ich in den Pass meiner Mutter. Und mit diesem Pass kamen wir endlich raus.

Wieder in Darmstadt, lebten wir in einem alten Fachwerkhaus. Drei Familien, drei Welten unter einem Dach. Links von uns die Familie Jakobs rechts von uns Familie Meitner– Beide ein deutsches Ehepaar, höflich, korrekt, mit zwei riesigen Gärten, in denen Tomaten,

Johannisbeeren und Zwiebeln wuchsen, als wollten sie die ganze Straße ernähren. Und wir – eine junge marokkanische Familie mit großen Träumen, wenig Geld, aber Herzen voller Leben.

Das Haus stand auf einem Grundstück mit einer großen Rasenfläche – vorne und hinten – ein Paradies für uns Kinder. Wir rannten, tobten, fingen uns, versteckten uns. Der Himmel war blau, das Gras grün, und wir waren frei – zumindest in diesen Momenten.

Unsere Fantasie war größer als unsere Wohnung, und unsere Spiele kannten keine Grenzen.

:Brüder, Wurzeln, Versäumnisse

Mein Bruder Mustafa war noch in Marokko. Er sollte dort bleiben, sagen die Erwachsenen, "Schule machen", "etwas aus sich machen", "sich zurechtfinden", bevor er zu uns nach Deutschland kommt. Es war diese alte Vorstellung: Einer geht vor, die anderen folgen. Aber der, der folgt, trägt immer die doppelte Last. Denn während wir hier in Deutschland zwischen Anpassung und Ablehnung aufwuchsen, blieb er zurück – zwischen Sehnsucht und Ungewissheit. Und in Wahrheit wusste niemand so genau, wann „später“ eigentlich ist. Oder ob es je kommt.

Doch kurz nach Nadirs Geburt durfte Mustafa auch zu uns kommen.

1984 kam mein kleiner Bruder Nadir, zur Welt. Er war das Licht unserer Familie. Ein Junge mit funkelnden Augen und einem Lächeln, das selbst den grimmigsten Tag aufhellte.

Doch das Leben ist nicht gerecht, nicht immer. Jahre später starb er. Zu früh. Viel zu früh. Sein Platz ist leer, aber sein Echo bleibt – in meinem Herzen, in meinen Erinnerungen, in meinen Zeilen.

Nadir. Der, dessen Name aus dem Arabischen stammt – „selten“ bedeutet er, „kostbar“, „einzigartig“. Und so war er. Zart, still, und doch ein Funke in dieser Welt. Er brachte Licht, auch wenn es nur kurz leuchten durfte. Sein Leben war ein Flüstern – aber eines, das man nie mehr vergisst. Ich war nicht viel älter, aber ich spürte: mit ihm kam etwas Unschuldiges, etwas Reines in unsere Welt. Etwas, das uns daran erinnerte, dass Familie auch Liebe ist – nicht nur Pflicht.

Doch während ich langsam in Deutschland meine Kindheit verlor, blieb Mustafa zwischen zwei Realitäten hängen.

Die eine war das Leben in Marokko – das Dorf, die Schule, die Sonne, die gewohnten Gerüche von Minztee, Olivenöl und dem Staub der Erde.

Die andere war dieses fremde Land, von dem alle sprachen: Deutschland – kalt, sauber, geordnet, voller Regeln und voller Chancen, aber ohne die Stimme der Großmutter beim Aufwachen,

ohne das Geräusch der Autos am Morgen, ohne die Geschichten, die nur in einer Sprache erzählt werden können, die dein Herz kennt.

Und so lebten wir parallel: Ich hier, Mustafa dort. Bis er auch bei uns sein durfte.

Ich habe mich oft gefragt, was er gedacht hat, wenn er an uns dachte. Hat er geglaubt, wir hätten ihn vergessen? Hat er sich klein gefühlt, wie ein zweiter Sohn, der später kommt und weniger zählt?

Und doch: Brüder bleiben Brüder. Egal wie weit sie voneinander entfernt sind.

Wir hatten nur verschiedene Schlachten zu schlagen. Ich gegen die Kälte Deutschlands, er gegen das Gefühl, zurückgelassen worden zu sein.

Später, viel später, wurden diese Linien wieder überschritten – aber mit Narben, nicht mit offenen Armen.

Und das war der Anfang einer Geschichte, die noch nicht zu Ende ist. Die vielleicht nie endet.

1986 kam ein weiterer Bruder dazu ,Tarik.

Wieder füllte sich unser Zuhause mit Lachen, mit neuen Stimmen, mit neuem Leben. Die Welt war noch im Gleichgewicht. Für einen Moment schien alles gut.

Doch das Glück hatte einen Schatten. 1989 zogen wir nach Frankfurt am Main. In die große Stadt. In eine andere Welt. Was vorher Dorf war, wurde nun Asphalt. Was vorher Wiese war, wurde nun Beton. Frankfurt – ein Dschungel aus Glas, aus Gier, aus Geschichten, die man besser nicht erlebt.

Hier begann ein anderes Kapitel meines Lebens. Ein Kapitel voller Kontraste. Wo Kinder mit Goldketten und Taschenmesser spielten und Jugendliche schneller mit Drogen als mit Büchern in Berührung kamen.

Wo das Lächeln oft eine Maske war und viele Menschen lieber ihr Gesicht verkauften als ihre Meinung. Frankfurt – das Herz von Hessen – pulsierend, verführerisch, aber auch gefährlich.

Hier prallten Welten aufeinander. Das Geld war nicht immer echt, die Träume oft geliehen, die Freunde selten wahr. Menschen verkauften ihre Seele für ein paar Scheine, für ein bisschen Anerkennung, für einen kurzen Rausch.

Und mittendrin: Ich. Ein Junge, der aus den Olivenhainen und aus den Gärten Darmstadts kam, nun aber lernen musste, in einem Großstadtdschungel zu überleben.

„Vertrocknete Tränen“ – so habe ich dieses Buch genannt. Weil ich viele Tränen in meinem Leben geweint habe. Tränen, die niemand sah. Tränen, die irgendwann zu salzigen Rissen in der Seele wurden. Tränen, die vertrocknet sind – aber Spuren hinterließen.

Dies hier ist meine Geschichte. Kein Roman. Keine Dichtung. Keine dramatische Inszenierung. Es ist mein Leben, meine Wahrheit, mein Versuch, zu verstehen, was war – und warum ich heute bin, wer ich bin.

Dies sind meine ersten Worte. Nennen wir es das Vorwort. Aber in Wahrheit ist es ein Anfang.

Kapitel 2 – Zwischen Spielen und Schweigen

Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Kindergarten in Darmstadt.

Es war wie ein sanfter Übergang von der Geborgenheit der Familie in die große, fremde Welt. Ich war noch klein, vielleicht vier oder fünf Jahre alt, aber in meinem Herzen spüre ich bis heute die Wärme dieser Zeit.

0Die deutschen Erzieherinnen behandelten mich mit Zuneigung, als wäre ich einer von ihnen, obwohl ich mit meiner dunklen Haut, den schwarzbraunen Langen glatten Haaren wie ein Mädchen kund dem fremdklingenden Namen wie ein kleines Stück Marokko mitten im hessischen Alltag wirkte.

Die Sprache verstand ich anfangs kaum. Doch Kinder kommunizieren anders. Wir lachen, wir zeigen, wir entdecken – und auf dieser Ebene war ich willkommen. Ich erinnere mich an bunte Bauklötze, an matschige Hände im Sandkasten, an das fröhliche Schreien im Garten, wenn wir Fangen spielten. Und ich erinnere mich an das Gefühl, wichtig zu sein – einfach als Kind, nicht als Fremder.

Es war die erste Phase meines Lebens in Deutschland, in der ich nicht anders war, sondern einfach nur da. Da sein durfte. Geliebt wurde – oder zumindest angenommen.

Dann kam die Schule.

Noch bevor ich offiziell eingeschult wurde, musste ich – wie alle anderen auch – einen kleinen Sprach- und Intelligenztest absolvieren. Ich war aufgeregt. Nicht, weil ich zweifelte. Sondern weil ich wusste, dass ich vieles bereits konnte. Meine Familie hatte sich große Mühe gegeben, mich vorzubereiten. Ich konnte die Buchstaben, ich konnte einfache Wörter lesen, meinen Namen schreiben, sogar erste Sätze bilden. Ich war bereit.

Doch das Ergebnis war ein anderes. Man sagte mir, ich hätte den Test „nicht bestanden“. Man schickte mich in die sogenannte Vorklasse – eine Art Vorbereitungsjahr für Kinder, die angeblich noch nicht schulreif waren.

Damals verstand ich es nicht. Heute, mit den Jahren, mit den Erfahrungen, mit dem Blick auf die Strukturen, frage ich mich: War das der erste Kontakt mit institutionellem Rassismus? Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht beweisen. Aber etwas in mir war damals schon irritiert.

Ich spürte, dass ich mehr konnte, als man mir zutraute. Und dass mein „Nichtbestehen“ vielleicht weniger mit meinem Können zu tun hatte – als mit meinem Namen, meiner Herkunft, meinem Gesicht.

Aber ich war noch ein Kind. Und Kinder tragen diese Gedanken nicht laut vor sich her. Sie schlucken sie. So habe ich gelernt, zu schweigen.

Trotzdem war die Vorklasse keine verlorene Zeit. Auch dort wurde ich gut behandelt. Ich erinnere mich an eine geduldige Lehrerin, die uns mit bunten Kärtchen das Alphabet beibrachte, obwohl ich alle Buchstaben längst auswendig kannte.

Ich erinnere mich, dass wir oft spielten – Lernspiele, Bewegungsspiele, Geschichten zum Mitmachen. Ich erinnere mich, dass man uns beibrachte, mit vollem Mund nicht zu sprechen – eine Regel, die ich bereits kannte.

Meine Familie hatte mir vieles beigebracht. Vielleicht nicht immer mit liebevoller Stimme, aber mit Ernst, mit Klarheit, mit Verantwortung.

Und doch war ich anders als die anderen Kinder. Nicht nur wegen meiner Herkunft – sondern wegen meines Wesens. Ich war schüchtern. Zart. Still. Ich sprach leise, wenn überhaupt.

In meiner kleinen Brust wohnten große Ängste. Nicht sichtbar, aber spürbar. Ich hatte Angst davor, Fehler zu machen. Angst, nicht zu genügen. Angst, dass jemand schimpft. Angst, dass man mich nicht versteht. Angst, dass ich „falsch“ bin.

Ich wuchs in einer strengen Erziehung auf. Es gab wenig Raum für Fragen, kaum Raum für Zweifel, und noch weniger Raum für Schwäche.

Und so lernte ich früh, meine Ängste zu unterdrücken. Nicht zu zeigen. Nicht zu weinen. Nicht zu schreien. Ich wurde ein Meister im Verbergen. Ich lernte, meine Unsicherheit hinter einem Lächeln zu verstecken – und später, mit den Jahren, hinter Humor., der traurige Clown.

Denn Humor war mein Rettungsboot. Mein innerer Kompass. Mein Schutzschild gegen eine Welt, die mir zu laut, zu schnell, zu fordernd war. Ich entwickelte Witz. Ich imitierte, spielte Clown, brachte andere zum Lachen. Besonders meine Mutter.

Ich erinnere mich daran, wie ich mir Mühe gab, sie zum Lachen zu bringen. Wenn sie traurig war – was oft der Fall war –, spielte ich den Kasper. Ich zog Grimassen, erfand Geschichten, machte aus ihrem Kummer eine Bühne für mein kleines Herz, das nichts wollte außer Trost spenden.

Ihre Traurigkeit war wie ein dunkler Nebel in unserer Wohnung, und ich versuchte mit meinem Licht darin zu leuchten, so gut ich konnte.

Ihre Traurigkeit hatte viele Gründe. Vielleicht Heimweh. Vielleicht die ständige Sorge um Geld. Vielleicht die Einsamkeit einer Frau, die ihre Sprache nicht sprechen konnte, in einem Land, das ihr fremd blieb.

Vielleicht war es der ständige Kampf zwischen Tradition und Erwartung, zwischen Muttersein, Ehefrau, Frau im Schatten.

Ich verstand es damals nicht. Aber ich spürte es.

Ich spürte, dass ich nicht nur Sohn war, sondern auch stiller Seismograph ihrer Emotionen. Ich las in ihrem Gesicht, wenn sie traurig war, noch bevor sie etwas sagte. Und ich fühlte mich verantwortlich, ihr Licht zurückzubringen.

Das ist eine Last für ein Kind.

Ein siebenjähriger Junge sollte spielen, toben, lernen, wachsen. Aber ich wuchs anders. In mir wuchs ein innerer Wächter – einer, der ständig überprüfte, wie es den anderen geht. Einer, der sich klein machte, damit niemand böse wird. Einer, der schon viel zu früh lernte, dass das Leben nicht immer gerecht ist.

Und dass Liebe manchmal still leidet.

Es sollte über dreißig Jahre dauern, bis ich lernte, meine Ängste wirklich zu verstehen. Bis ich sie nicht mehr unterdrücken musste. Bis ich ein gesundes Bewusstsein entwickelte, das nicht von Angst gesteuert war, sondern von Klarheit, von Mut, von dem Wunsch, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Aber damals, als Kind, war der einzige Weg, nicht zu zerbrechen, der Weg über das Lachen. Und so wurde aus dem schüchternen Jungen ein kleiner Komiker. Nicht, weil ich gerne spielte – sondern weil ich musste. Weil es meine einzige Möglichkeit war, in einer Welt voller Unsicherheiten irgendwie sicher zu bleiben.

Diese Jahre – Kindergarten, Vorklasse, erste Klasse – sie haben mich geprägt. Es waren Jahre, in denen ich lernte zu funktionieren. Zu gefallen. Mich anzupassen. Nicht, weil ich wollte – sondern weil ich musste.

Und doch liegt in diesen Erinnerungen auch etwas Zärtliches. Etwas, das mir sagt: Du hast überlebt. Du hast es geschafft. Du hast aus dem Staub deiner Kindheit etwas gebaut, das heute Früchte trägt.

Ich war ein Kind zwischen zwei Welten – zwischen Olivenhain und Beton, zwischen Mutter und Lehrer, zwischen Angst und Hoffnung. Und irgendwo dazwischen – zwischen Spielen und Schweigen – war ich einfach nur: Ich

Kapitel 4 – Zwischen Ehrfurcht und Entfernung

Es gab einen Vater, Mohammed Möge er in Frieden ruhen.

Seine Gegenwart war mächtig. Nicht laut, aber druckvoll. Er war der Mittelpunkt unserer Familie, so wie Väter es in vielen traditionellen marokkanischen Haushalten waren.

Sein Wort war Gesetz. Seine Stimme ein Richter, seine Blicke ein Urteil. Er war nicht böse – aber er war schwer.

Schwer zu greifen. Schwer zu durchschauen. Schwer zu lieben. Und vielleicht war genau das die größte Herausforderung: dass ich ihn liebte, auf eine Weise, die immer in Kollision mit seiner Strenge stand.

Es war eine Beziehung, die schwankte – wie ein Boot auf einem unruhigen Meer. Mal Hoffnung, mal Sturm. Mal Wärme, mal Frost.

Er hatte Prinzipien. Eiserne.

Und einer dieser Grundsätze war: Wer auf Allah schwört, der meint es ernst. Ein Schwur auf Gott war wie ein Donnerhall in unserem Haus. Endgültig. Unumstößlich. Nicht diskutierbar.

Wenn mein Vater auf Allah schwor, war jedes Gespräch beendet, jede Meinung zunichte, jede Wahrheit klein im Schatten seiner Existenz .

Für ihn war das eine Art spiritueller Endpunkt – für mich ein stiller Schrei.

Denn tief in mir empfand ich: Wer die Wahrheit spricht, braucht keinen Schwur.

Wer aufrichtig ist, hat nichts zu beschwören.

Und dennoch – ich verstand, warum unsere Eltern es taten. Sie waren Männer und Frauen zwischen zwei verschiedenen Welten. Zwischen Tradition und neuer Realität.

Zwischen Stolz und Angst. Sie wollten Kontrolle – nicht aus Bosheit, sondern aus Sorge. Sie hatten Kinder in einer Welt, die ihnen fremd blieb. Sie wollten verhindern, dass wir verloren gehen – und verloren uns dabei manchmal selbst.

Ich war ein Kind, das spürte, ohne zu verstehen. Und fühlte, ohne sagen zu dürfen. Ich trug Verantwortung, bevor ich wusste, was Kind sein bedeutet.

Ich war älter, als mein Alter je vermuten ließ.

Gefangen in Regeln, in Erwartungen, in einem Glauben, der manchmal mehr Druck war als Trost.

Es ging nie nur darum, brav zu sein. Es ging darum, Gott nicht zu enttäuschen. Es ging um Ehre. Um Stolz. Um ein unsichtbares Maßband, das jede Entscheidung wog – nicht nur im Diesseits, sondern auch im Jenseits.

Und ich? Ich wollte leben.

Nicht respektlos. Nicht undankbar. Ich wollte nur frei sein. Ich wollte atmen. Ich wollte nicht immer im inneren Spagat stehen zwischen dem, was ich fühlte, und dem, was ich durfte. Ich wollte nicht jeden Gedanken zensieren, jede Sehnsucht verstecken, jede Träne trocken schlucken.

Mit 18 war ich bereit. Bereit zu gehen. Nicht aus Hass. Nicht aus Rebellion. Sondern aus Not. Ich konnte nicht mehr.

In unserer Kultur war das ein Tabubruch. Marokkanische Söhne zogen nicht einfach aus. Nicht ohne Heirat. Nicht ohne die Zustimmung der Eltern.

Nicht ohne sein Gesicht zu verlieren. Doch ich war kein Sohn mehr, der still in seinem Zimmer wartete, dass das Leben begann. Ich war ein Mensch mit Herz, Verstand, Schmerz – und Hunger. Hunger nach echtem Leben, nach liebe.

Es war 1998. Meine Ausbildung wurde mir gekündigt – ohne klare Erklärung, nur mit einem Brief, kalt und endgültig. Fristlos. Es war ein Schlag. Einer von vielen. Und als ich meinem Vater davon erzählte, kam kein Trost. Kein Verstehen. Keine ausgestreckte Hand. Nur eine Drohung, versteckt als Entscheidung.

„Entweder bist du ab heute jeden Abend bis 18 Uhr zu Hause – oder du hast kein Zuhause mehr.“

Er stellte mich vor eine Mauer – und ich hatte keine Kraft mehr, sie zu erklimmen. Ich konnte nicht zurück. Ich wollte nicht. Ich sollte mich biegen, und ich war müde vom Biegen.

Was ich damals nicht wusste: Meine Mutter war krank. Krebs. Die Familie schwieg, aus Angst, aus falschem Schutz. Hätte ich es gewusst, wäre ich geblieben. Hätte ich geahnt, wie wenig Zeit ihr noch blieb, ich hätte meine Freiheit aufgeschoben. Für sie.

Doch ich wusste es nicht. Und so ging ich.

Meine Mama stand noch in der Wohnungseingangstür, fragte mich willst du das wirklich, ich sagte Mama tut mir leid, aber ich muss, und sie wusste und spürte das ich als Mann meinen Entschluss gefasst habe und verzog keine Miene als ich mich von ihr herzlich verabschiedete.

Ich nahm meine Sachen. Keine große Szene. Kein Weinen. Kein Drama. Nur mein Entschluss. Und diesen stillen Satz in meinem Kopf: Jetzt oder nie.

Ich wurde das sogenannte „schwarze Schaf“. Ein Ausdruck, der in sich schon Verachtung trägt. Ein Etikett, das ausgrenzt, ohne zu fragen. Ein rassistisch gefärbter Begriff, selbst innerhalb der eigenen Familie. Ich war der, der nicht spurte. Der, der brach. Der, der sich entzog.

Aber ich brach nicht aus Trotz. Ich brach, weil ich sonst gebrochen worden wäre.

Und so begann meine Odyssee. Eine Reise ohne Ziel. Nur mit dem Drang, zu überleben. Ich schlief auf Sofas. Ich lebte aus Taschen. Ich aß wenig, redete weniger. Ich war 18, frei, allein – und hatte keine Ahnung, wohin.

Ich reiste weiter. Deutschland wurde zu eng. Ich wollte weg. Ich landete in Griechenland – ein fremdes Land, doch es war das erste Mal, dass ich allein entscheiden konnte, was ich tun wollte, wohin ich ging, mit wem ich sprach. Es war keine Befreiung – es war ein Überleben. Aber es war mein Überleben.

Ich trug die Stimme meines Vaters noch lange in mir. Seine Strenge. Seine Schwüre. Seine Macht. Aber irgendwann – leiser, wie ein Echo – kam auch ein anderer Ton. Ein Mensch. Ein Mann. Ein Vater, der nicht perfekt war. Der auch gelitten hatte. Der nie gelernt hatte, zu zeigen, wie Liebe geht. Der mit sich selbst im Krieg war, lange bevor ich geboren wurde.

Heute, viele Jahre später, spüre ich Mitgefühl für ihn. Keine Wut. Nur ein Verstehen. Und den Wunsch, dass er dort, wo er jetzt ist, Frieden hat. Denn ich habe ihn gefunden. In mir.

Kapitel 5 – Zwischen Gärten und Gesichtern: Darmstadt, der Anfang

Darmstadt.

Allein der Klang dieses Namens trägt für mich bis heute etwas Weiches, fast Träumerisches. Er riecht nach feuchter Gartenerde im Frühjahr, nach reifen Tomaten im August, nach frisch gewaschenen Laken im Wind und nach Marmelade, die langsam auf der Gasflamme in einem alten Topf vor sich hin köchelt.

Es war die Stadt meines Erwachens – aus einer sanften Kindheit in das beginnende Verständnis einer Welt, die nicht nur warm war. Aber vor allem war es der Ort, an dem meine Mutter lebte. Und wo sie uns leben ließ, trotz aller Begrenzungen.

Wir kamen nicht mit großen Koffern. Wir kamen mit der Hoffnung. Aus Marokko, zurück nach Deutschland – 1982, nachdem wir ein Jahr wieder dort gewesen waren. Endlich hatten wir eine Wohnung in Darmstadt zugeteilt bekommen. Kein Neubau. Kein Luxus. Ein Fachwerkhaus – alt, krumm in den Balken, charmant. Es war mehr als nur ein Dach. Es war unser erster wirklicher Hafen.

Wir wohnten mit zwei weiteren Nachbarn im selben Haus. Doch wir hatten nicht nur Räume – wir hatten Gärten. Und was für welche. Jeder Mieter hatte einen riesigen Gartenanteil.

Die Familie Jakobs, unsere Nachbarn zur linken Seite, hatten sogar zwei Gärten und die Familie Meitner auf der rechten Seite hatten ihren großen Garten und wir hatten einen etwas größeren, jeder war zufrieden und konnte pflanzen was das Herz und die Sonne begehrt.

Aber es war nie ein „meins“ oder „deins“. Wir teilten. Wir tauschten. Wir lachten über Gartenzäune hinweg.

Wir pflanzten alles – wirklich alles, was der deutsche Boden zuließ. Nur Bananen wollten nicht wachsen. Aber alles andere: Tomaten, Zucchini, Kürbisse, Salat, Bohnen, Karotten, Spinat, sogar Feigen in Kübeln. Und mitten im Garten: ein mächtiger Walnussbaum. Er war so hoch, dass er mit dem Himmel zu sprechen schien. Jedes Jahr warf er hunderte Kilos Früchte ab, und jeder, der bei uns klingelte, bekam etwas davon. Freunde, Verwandte, sogar entfernte Bekannte – alle waren willkommen.

Wir waren nicht reich. Aber wir waren reich an Fülle.

Meine Mutter, möge sie in Frieden ruhen, war das Herz unseres kleinen Universums. Eine Frau, die mit ihren Händen Leben schuf. Nicht nur durch Geburt – sondern durch Hingabe. Sie kochte nicht nur, sie verwandelte Lebensmittel in Trost. Sie sprach nicht laut, aber ihre Liebe war in jeder Geste. Jedes Jahr füllte sie dutzende Gläser mit selbstgemachter Marmelade. Erdbeere, Aprikose, Quitte. Ich erinnere mich, wie sie still lächelte, wenn ich mit leuchtenden Augen das Deutsche Schwarzbrot mit Butter und Marmelade aß – ein Geschmack, der für mich Kindheit bedeutete.

Wir halfen vielen. Menschen, die aus Marokko kamen, fanden bei uns ein erstes Zuhause. Für einige Wochen, für Monate. So wie wir selbst einst Hilfe gebraucht hatten. Aber wir lernten auch früh: Hilfe erzeugt nicht immer Dankbarkeit. Viele vergaßen uns, sobald sie ihren eigenen Weg gingen. Als Kind verstand ich das nicht. Ich hörte die Gespräche der Erwachsenen, wenn sie dachten, ich würde nicht zuhören: „Der hat sich nie wieder gemeldet.“ „Nicht mal ein Dankeschön.“ „Hoffentlich beten sie wenigstens für uns.“

Ich weiß nicht, ob sie es taten. Ich hoffe es.

Ich erinnere mich an diese Gespräche, weil ich sie als Kind gehört habe. Kinder hören alles. Auch das, was nicht für ihre Ohren bestimmt ist. Kinder sehen auch, was sie nicht sehen sollten. Bei uns, in unserer marokkanischen Familie, war das normal. Man sprach offen, man klagte, man weinte – aber nicht immer mit dem Bewusstsein, dass kleine Seelen mithörten.

Und irgendwann reagierte mein Körper. Ich war noch klein – sieben oder acht vielleicht. Plötzlich war meine linke Gesichtshälfte wie erstarrt. Eine Gesichtslähmung, sagten die Ärzte. Eine medizinische Ratlosigkeit. Kein Medikament, keine Therapie in Deutschland half. Ich konnte mein eigenes Lächeln nicht mehr spüren. Das Lachen, das ich mir angeeignet hatte, um die Ängste zu verstecken, um meine Mutter aufzumuntern, war mir genommen worden.

Also nahm mein Vater mich – und wir reisten zurück nach Marokko. Eine Reise, die wir später erzählen werden. Sie gehört an eine andere Stelle, vielleicht datiert auf 1987.

Darmstadt aber bleibt. Als ein verwunschenes Kapitel. Als eine kleine, fast heile Welt – mit Rissen. Und darin: Liebe. Wärme. Gärten voller Leben. Und eine Mutter, die aus Liebe Marmelade kochte.

Frankfurt – die andere Seite des Spiegels

Wenn Darmstadt ein Gedicht war, dann war Frankfurt ein lautes Lied.

Dort begann etwas Neues. Etwas, das größer war, schneller, härter. Ich war kein Kind mehr, aber noch lange kein Erwachsener. Frankfurt war keine Landschaft – es war ein Dschungel. Beton statt Bäume. Sirenen statt Vogelgezwitscher. Stimmen in allen Sprachen, Gesichter mit Geschichten, die man lieber nicht kennenlernte.

Dort ging es nicht mehr um Gärten. Dort ging es um Geld, um Geschwindigkeit, um Überleben. Um Nutten, Drogen, um Scheinwelten und wertlose Scheine. Und Menschen, die bereit waren, ihre Seele für etwas falschen Glanz zu verkaufen.

Darmstadt hat mich geprägt. Frankfurt hat mich geformt. Marokko war mein Ursprung. Frankfurt mein Spiegel.

Doch was ein Mensch aus sich macht – das entscheidet sich nicht nur durch Orte. Sondern durch das, was in ihm wächst, selbst wenn alles um ihn herum vergeht.

Den wie sagte max herre einmal in seinen Texten „ es ist nicht wo du bist, sondern es ist ,was du machst „

Kapitel 6 – Frankfurt: Der Zauber und die Geister die man rief

Frankfurt.

Ich liebe und hasse diese Stadt. Und obwohl ich das Wort Hass eigentlich vermeide, weil es mir zu schwer auf der Zunge liegt – wie kaltes Eisen –, passt es hier doch. Denn wenn man Frankfurt von innen und außen kennt, wenn man seine Eingeweide gesehen hat, nicht nur die schimmernden Fassaden, dann weiß man: diese Stadt verlangt viel von einem ab – und gibt nur manchmal etwas zurück.

Anfangs war alles noch ein Spiel.

Ich war elf, vielleicht zwölf, als ich begann, alleine mit dem Zug von Darmstadt nach Frankfurt zu fahren. Der ICE war es nicht – sondern die Regionalbahn. Alte Sitze, bröckelnde Fensterrahmen, das typische Klackern der Gleise unter den Rädern, die 90er Jahre in Deutschland .

Für mich war es ein Abenteuer. Die Freiheit eines Kindes, das reisen durfte, ohne wirklich zu wissen, was Freiheit bedeutete.

Ich fuhr zu meiner Oma. Eine ruhige, würdevolle Frau mit ungewohnter raue Stimme und einem Blick, der dich durchleuchtete und 11 Kinder, die Mutter meiner Mutter, die erste im Bunde ,von ihren 11 Geschwister.

Meine Oma hatte mit 16 Jahren schon geheiratet, das sagt alles , für die, die Rechnen wollen. Das war damals Normal ,so früh zu heiraten in den 50 er Jahren. So Jung wird ganz selten noch in Marokko zumindest, nicht mehr geheiratet, die Zeit wandelt sich.

Dort traf ich auch meinen Onkel – kaum zu glauben, aber er war zwei oder drei Monate jünger als ich. Der Bruder meiner Mutter,Khalid .

Es war verrückt. Und schön. Wir waren mehr wie Brüder, nicht wie Onkel und Neffe. Wir haben gespielt, getobt, gelacht und uns ewige Freundschaft geschworen.

Wir waren zu verschieden wie sich am Ende herausstellte.

Frankfurt war für mich damals der Zauber der Großstadt. Laut. Lebendig. Überwältigend.

In Darmstadt hatte ich das Gefühl, es gäbe nur Garten, Schule und Familie. In Frankfurt aber gab es Farben, Geräusche, Lichter – und eine Unruhe, die ich damals als aufregend empfand. Ich fühlte mich groß in dieser Stadt, als würde ich dazugehören, obwohl ich nur ein Besucher war.

Aber wie so oft bei großen Städten: Der Glanz ist oberflächlich. Und schon früh sah ich die Risse.

Viele der gleichaltrigen – waren noch ein Kind, als sie in die Welt der Sucht gezogen wurden.

In den 80ern war das keine Seltenheit. Die Drogen kamen wie ein Tsunami, überschwemmten ganze Viertel, Familien, Freundschaften , heute 2025 ist das nicht anders oder besser geworden,Tonnenweise Koks kommt und wird Beschlagnahmt in Deutschland abgesehen von den synthetischen Drogen,die man überall herstellen kann , Deutschland ist in der Hinsicht verloren .

Ich war selbst noch ein Kind, aber ich bekam mehr mit, als ich sollte. Wie Schatten legte sich das über meine Erinnerung. Manchmal nur flüchtige Bilder: Mimon, blass, zitternd. Gespräche der Erwachsenen, halb geflüstert, halb gebrüllt. Tränen. Polizei. Enttäuschung. Hoffnungslosigkeit.

Frankfurt also. Der Zauber der Großstadt. Die Geister, die man rief.

Als wir Jahre später dorthin zogen – ich war schon älter, fast erwachsen – glaubte ich zu wissen, was mich erwartete. Ich freute mich sogar. Dachte an mein eigenes Zimmer, an den Blick aus dem Fenster, gegenüber vom Hallenbad. Aber genau in der Zeit, als wir einzogen, wurde das Bad abgerissen. Ein riesiges Bauprojekt begann. Drei Jahre – vielleicht zwei, vielleicht auch länger – hörte ich jeden Morgen um Punkt sieben Uhr den Presslufthammer, das Kreischen der Maschinen, das metallische Hämmern auf Beton.

Der Lärm war unerträglich.

Und doch war er nur ein Echo des Lärms in meinem Inneren.

Denn was mir wirklich fehlte, war das alte, langsame Geräusch der Züge in Darmstadt. Unser Haus dort stand direkt am Hauptbahnhof. Andere Kinder hätten sich beschwert, ich aber – ich liebte es. Dieses gleichmäßige, brummende Geräusch, wenn ein Zug langsam anfuhr, war für mich wie ein Schlaflied. Jahre lang war ich so eingeschlafen – nicht mit Märchen, sondern mit Metall auf Schienen.

Und jetzt – nichts davon, mehr da.

Nur Staub, Hämmern, ein Lärm, der nicht lullte, sondern weckte. Der mich daran erinnerte, dass ich nicht mehr in meiner Kindheit war. Dass etwas vorbei war.

Also war ich tagsüber kaum zu Hause.

Ich war draußen. Immer.

Frankfurt war anders. Es hatte neue Spielplätze, neue Menschen, neue Möglichkeiten. Ich fand schnell Anschluss – im Kinderhaus, beim Tischtennis, Fußball, oder einfach beim „Chillen“, wie man heute sagt. Am meisten liebte ich den Abenteuerspielplatz. Er war nicht wie andere Spielplätze. Keine bunten Rutschen aus Plastik, keine genormten Schaukeln. Sondern Holz, Nägel, Balken, Hammer, Brecheisen. Werkzeuge, die du gegen ein Pfand bekamst.

Und dann baute man.

Hütten. Türme. Verstecke. Jeder Junge wurde dort zum kleinen Architekten seines eigenen Reiches. Ich liebte den Geruch von Holzspänen und Schweiß, das Klopfen der Hämmer, das Rufen der anderen Kinder. Es war, als könnten wir uns aus der Welt selbst etwas Eigenes zusammennageln und sägen– wenigstens dort.

Es war eine schöne Zeit. Und eine schwere.

Denn während ich draußen lachte, tobte in mir ein ganz anderer Kampf. Ich war zerrissen zwischen dem Kind, das spielen wollte, und dem Jungen, der wusste, dass zu Hause nicht alles in Ordnung war. Ich wusste zu viel. Ich hatte zu früh zu viel gesehen. Ich konnte nicht mehr blind glücklich sein.

Frankfurt lehrte mich, dass die Welt größer ist als ein Garten. Aber sie zeigte mir auch, dass Größe nicht immer Freiheit bedeutet.

Kapitel 7 – Das Schweigen des Schmerzes

Ich war 14, vielleicht 15. Einer dieser Nachmittage, wie es sie viele gab. Ich war draußen gewesen – irgendwo zwischen dem Bolzplatz, dem Kinderhaus, ein bisschen Tischtennis, ein paar Witze mit den Jungs. Es war Sommer, oder Spätsommer vielleicht. Die Straßen rochen nach Staub, heißem Asphalt und einer Ahnung von Freiheit, die wir uns nur zwischen den Spielen vorstellen konnten.

Ich kam heim, wie immer. Schuhe aus, rein, leise, wie man es bei uns gelernt hatte.

Und dann –

Die Badezimmertür war nur angelehnt. Ein feiner Spalt, durch den Licht drang. Ich hörte kein Wasser, keine Stimme. Nur ein dumpfes Atmen, das durch den Flur kroch wie ein verlorenes Tier.

Ich näherte mich, rief noch nichts – ich wollte nicht stören.

Und dann sah ich sie.

Meine Mutter. Gebückt über das Waschbecken. Ihr Rücken leicht zitternd. Ihre Hände an der Kante abgestützt, so als würde sie sonst fallen. Und dann – das Blut. Es floss aus ihrer Nase. Nicht wie bei einem normalen Nasenbluten. Nein, es war viel. Zu viel. Es tropfte ins Becken, rote Schlieren, dunkle Linien, als hätte jemand ein Leben aus ihr herausgeschüttet.

„Mama?!“

Sie drehte sich langsam um, erschrocken. Unsere Blicke trafen sich. Nur für einen Moment.

„Schatz, es ist nichts“, sagte sie schnell. Ihre Stimme war weich, bemüht ruhig. „Nur Schnupfen. Ein starker Schnupfen. Ich hab mir die Nase wundgerieben, weißt du? Nichts Schlimmes.“

Ich stand da. Kindlich. Naiv. Liebend. Und glaubte ihr.

Natürlich glaubte ich ihr. Wie soll ein Kind in dem Moment zweifeln?

---ENDE DER LESEPROBE---