Verurteilt zum Schweigen - Barbara Cartland - E-Book
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Verurteilt zum Schweigen E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Sally St. Vincent wuchs nach dem Tode ihres Vaters Sir Arthur Vincent bei ihrer Tante auf, die ein sehr puritanisches Leben führte und eine Rehabilitationsanstalt für Kranke und Kriegsopfer auf ihrer Farm mit Sally aufgebaut hatte. Nach dem plötzlichen Tod der Tante steht Sally mittel- und heimatlos da, da sie das Erbe ihres Vaters erst als Volljährige oder nach ihrer Heirat antreten kann. Daher reist sie nach London, um dort ihre erfolgreiche und schöne Mutter, die Schauspielerin Lynn Lystell zu treffen. Lynn, darauf bedacht, dass niemand ihr wahres Alter und ihr Verwandtschaftsverhältnis zu Sally herausfindet, versucht für Sally einen geeigneten Heiratskandidaten zu finden, so dass diese ihr Erbe antreten kann – und somit keine finanziellen Ansprüche an sie stellt. Sie selbst will den Heiratsantrag des reichen und vornehmen Erico annehmen und mit ihm nach Südamerika ziehen. Damit beginnt für Sally die verzweifelte Suche nach einem Ort, wo sie leben kann – nach einer Heimat, nach der sie sich seit langem sehnt. Wird sie diese mit dem jungen, mittellosen Sir Anthony Thornton finden, der in Lynn verliebt ist und dieser versprochen hatte, Sally zu heiraten? Oder wird ihr der graue Ritter Hilfe bringen, der ihr seit Kindheitsjahren Zuversicht bringt.

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Verurteilt zum Schweigen © 1949

I

Der Zug kam mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Der dicke Mann auf dem Sitzplatz gegenüber holte die Koffer aus dem Gepäcknetz, verließ ächzend und schnaufend das Abteil und warf mit einem lauten Knall die Tür hinter sich zu.

Sally war allein.

Sie sprang auf, reckte und streckte die vom Sitzen steifgewordenen Glieder und kniete sich dann auf ihren Sitz, um in den schmalen Spiegel zu blicken, der an der Abteilwand angebracht war.

»Was wird Lynn sagen, wenn sie mich sieht?« fragte sie laut. Dann überlegte sie, wie lange es her sein mochte, seitdem sie sich das letzte Mal so aufmerksam und ausführlich im Spiegel betrachtet hatte.

Für derartige Dinge war auf der Farm einfach nicht die Zeit gewesen. Morgens in aller Herrgottsfrühe hatte sie aufstehen müssen, und nach einer überstürzten Toilette war sie die Treppe hinuntergehastet, um bei den Vorbereitungen zum Frühstück zu helfen.

Wenig später folgten der Aufwasch, das Säubern der Zimmer, Bettenmachen und Versorgen der Öfen. Das Federvieh wartete auf sie. Die Eier wollten eingesammelt, die Gänge für das Mittagessen zusammengestellt, frisches Gemüse und frische Kräuter aus dem Garten geholt und tausend andere Arbeiten beendet oder angefangen werden.

Und die ganze Zeit über hatte sie zu lächeln, gute Laune zu verbreiten und freundlich zu den Gästen zu sein, die sie unablässig mit Fragen und Bitten in Atem hielten.

Tante Amy war der Überzeugung gewesen, Tiere und Landleben wären für zerrüttete Nerven das beste Heilmittel.

Und sie hatte mit ihrer These nicht nur einmal, sondern hundertmal recht behalten, seit sie die Mythrodd-Farm als Heim und Erholungsstätte für alle, die unter den Auswirkungen des Krieges litten, eröffnet hatte.

Stets eine Frau schneller Entschlüsse, hatte sie alle Hindernisse energisch aus dem Weg geräumt und war schnurstracks auf ihr Ziel zugesteuert, nachdem sie wenige Tage nach der Schlacht von England den Plan zur Gründung eines Erholungsheimes gefasst hatte.

Nur wenige Wochen vergingen, als sie die Mythrodd Farm erwarb und erklärte, dass diese bestens für ihre Zwecke geeignet sei.

Der Hof lag in einer lieblichen, von den Verwüstungen des Bombenterrors verschonten Landschaft inmitten der Bergwelt von Wales und nur etwa fünf Meilen von der See entfernt.

Das Haus, groß und weitläufig angelegt, wurde einer Teilmodernisierung unterzogen. Das heißt, die Räume erhielten fließendes kaltes und warmes Wasser, Baderäume wurden eingebaut und vorschriftsmäßige Hygienemöglichkeiten geschaffen. Dagegen gab es weder Elektrizität noch Gaslicht.

Eine von Sallys zahllosen Aufgaben war das Anzünden der altmodischen Öllampen in sämtlichen Zimmern und Gängen des Hauses, sobald die Dämmerung hereinbrach.

Sally hatte befürchtet, ihre Tante würde sie zur Schule schicken, als sie das Projekt startete. Aber zum Glück wohnte im Dorf eine ältere Lehrerin mit großer pädagogischer Erfahrung, die sich anbot, Sally privat zu unterrichten.

Überdies bot der Kontakt mit den vielen unterschiedlichen Gästen auf der Farm die Möglichkeit zur Erweiterung ihrer Allgemeinbildung und ihrer Lebenserfahrung.

Da waren Frauen, denen der Krieg sowohl den Ehemann als auch die Kinder entrissen hatte, Männer, die an schweren Verwundungen litten, Kinder, die ihre Eltern verloren hatten oder die durch den Bombenkrieg zu wahren Nervenbündeln geworden waren.

Tante Amy stand mit zahlreichen Verbänden und Organisationen in Verbindung, die ihr ständig Gäste zuwiesen. Dennoch nahm sie nie jemanden bei sich auf, bevor sie den Betreffenden nicht in einem persönlichen Gespräch auf Herz und Nieren geprüft hatte.

Sally fragte sich manchmal, wenn sie die Briefe las, die an ihre Tante gerichtet waren, wie diese es übers Herz brachte, Bewerber mit den erschütterndsten Schicksalen einfach abzuweisen. Doch Tante Amy, methodisch und konsequent in allem, was sie tat, ließ sich bei der Auswahl ihrer Gäste von einem gewissen System leiten, von, dem sie niemals abwich.

Frauen waren immer in der Mehrzahl, überstiegen aber nie die Zahl acht. Es gab drei oder vier ältere Männer und die gleiche Anzahl Kinder, meist Jungens, für die das Leben auf der Farm einen besonderen Reiz besaß und die dadurch, dass es ihnen Spaß machte, mit anzupacken, sehr bald wieder gesundeten und zu Kräften kamen.

Doch wenn es auch zur Therapie gehörte, dass die Gäste in Haus und Hof mitarbeiteten, das Arbeitspensum, das Sally zu bewältigen hatte, blieb immer noch gewaltig.

Wenn sie abends schlafen ging, war sie meist so müde, dass sie gegen die Versuchung ankämpfen musste, sich einfach mit den Kleidern ins Bett fallen zu lassen.

Sobald ihr Kopf das Kissen berührte, sank sie in einen traumlosen Schlaf, aus dem sie erst wieder erwachte, wenn morgens der Wecker schrillte.

Nein, bei diesem Leben hatte sie nicht die Zeit gehabt, an Kleider oder ihr Äußeres zu denken. Sie musste sauber und ordentlich aussehen, das war alles, was Tante Amy von ihr erwartete. Darauf allerdings legte sie den größten Wert.

»Dein Haar ist in Unordnung!« hieß es sonst streng. Oder: »Du wechselst zum Tee am besten die Bluse, und die, die du jetzt trägst, steckst du nach dem Essen mal kurz in Seifenlauge!«

Manchmal, wenn Sally zum Unterricht ins Dorf ging, sah sie die Mädchen ihres Alters in hübschen Tweedsachen oder farbenprächtigen Wintermänteln, und dann wünschte sie sich insgeheim, dass Tante Amy ihr auch einmal etwas Derartiges kaufen würde.

Aber das blieb nur ein Wunsch. Sie wusste, was sie von Tante Amy Jahr für Jahr geschenkt bekam: ein einfaches Tweedjackett für den Winter und einen ebenso einfachen Tweedrock, dazu einen dicken Lodenmantel. Und alle Stücke in dem gleichen unscheinbaren Beige. Für den Sommer gab es einige schlichte Leinenkleider und vielleicht noch eine braune Strickjacke zum Drübertragen für kalte Tage.

Es war die reinste Uniform, einfach und unansehnlich, in die Tante Amy sie steckte. Aber zum Glück hatte Sally nicht die Zeit, sich deswegen große Gedanken zu machen.

Doch nun, während sie in den Spiegel des Eisenbahnabteils blickte, fiel es ihr auf, und das, was sie da zu sehen bekam, stimmte sie nicht gerade besonders fröhlich.

Was würde Lynn zu ihr sagen?

Sie rief sich Lynns schönes, ausdrucksvolles Gesicht ins Gedächtnis, die elegante Kleidung, die sie trug, den betörenden Duft des Parfüms, der sie stets, wie eine unsichtbare Wolke umgab.

Beim letzten Mal, da sie Lynn begegnet war, hatte diese ihr den Finger unters Kinn gelegt und sie eine Zeitlang aufmerksam angeschaut.

»Du bist hübsch, Liebling«, sagte sie. »Und eines Tages wirst du noch hübscher sein. Ich bin froh, ganz schrecklich froh, dass es so ist. Ich hätte es nicht ertragen können, wenn es anders wäre!«

Dann lachte Lynn. Lachte dieses entzückende, silberhelle Lachen, das so ansteckend wirkte und zugleich den Eindruck erweckte, als nähme sie nichts von dem, was sie sagte, wirklich ernst.

Sallys Herz schlug schneller, als sie an diese Worte dachte. War sie wirklich hübsch? Ihr war es nie so vorgekommen.

Lynn allerdings war wirklich hübsch, nein, genauer gesagt, sie war eine Schönheit mit ihrem herzförmigen Gesicht und den dunklen, geheimnisvollen Augen. Sally hatte sich mit ihr verglichen, die runden Wangen, die blauen Augen, das blonde Haar, und sie hatte erkannt, wie banal und gewöhnlich sie war gemessen an dieser Frau.

Doch wenn Lynn sagte, dass sie hübsch sei, dann musste es stimmen. Allerdings war das vor fünf Jahren gewesen. Was würde Lynn heute von ihr denken?

Sally starrte noch immer in den kleinen Spiegel. Plötzlich nahm sie ihren Filzhut vom Kopf und warf ihn auf den Sitz.

Das war es, was sie an ihrem Spiegelbild störte: dieser gewöhnliche, langweilige, altmodische Filzhut, den sie tief ins Gesicht gezogen hatte. Nun war wenigstens ihr Haar zu sehen, auch wenn es straff aus der Stirn gekämmt und im Nacken zu einem strengen Knoten geschlungen war.

Tante Amy lehnte kurzes Haar ab. »Warum sollten Mädchen die Männer nachäffen?« hatte sie gefragt, und der Tonfall in ihrer Stimme hatte keine Zweifel daran gelassen, dass Männer in ihren Augen sowieso zu Lebewesen einer untergeordneten Rangstufe gehörten.

Mehr als einmal hatte Sally den zaghaften Vorschlag gemacht, ihr Haar, das nur langsam zu wachsen schien, einmal richtig kurz zu schneiden, aber Tante Amy hatte es nicht erlaubt und strikt darauf bestanden, dass es zu einem sauberen Knoten aufgesteckt wurde.

Doch nun zog Sally die Haarnadeln eine nach der anderen heraus. Weich und, schwer fielen die Haare auf ihre Schultern nieder, so als begrüßten sie aufatmend die ungewohnte Freiheit. Sie besaßen eine natürliche Krause, und der Aufenthalt im Freien hatte sie gebleicht, so dass sie ausschauten wie gesponnenes Silber.

Sally holte ihre Reisetasche aus dem Gepäcknetz. Sie öffnete den Verschluss und suchte nach ihrem Kamm.

Dann begann sie sich zu kämmen, wobei sie darauf achtete, dass die Haare nicht mehr so dicht am Kopf anlagen, sondern weich und voll ihr Gesicht umgaben.

Sie war mit dem Ergebnis sichtlich zufrieden, obwohl ihr Gefühl ihr sagte, dass Lynn ihr Haar so lange schauderhaft finden würde, bis es von einem guten Friseur geschnitten und in Form gebracht worden war.

An ihren Rock und die Jacke aus dem unvermeidlichen beigefarbenen Tweed wagte sie gar nicht zu denken. Aber Lynn kannte Tante Amy ja schließlich und würde damit rechnen, dass sie, Sally, wie eine Vogelscheuche herumlief.

Sally vermochte es kaum zu fassen, dass Tante Amy tot war. Ganz plötzlich und unerwartet war sie gestorben. Noch vor einer Woche hatte sie eine Art Fünfjahresplan für die Farm aufgestellt.

Ans Sterben hatte sie zu diesem Zeitpunkt noch mit keinem Gedanken gedacht, und Sally hätte sich nicht im Traum vorstellen können, jemals anderswo zu leben als auf Mythrodd-Farm.

Dennoch: Das Unbegreifliche war geschehen. Tante Amy war tot, und Miss Mawson hatte die Leitung der Farm übernommen.

Vom ersten Augenblick an, da sie nach Mythrodd gekommen war, um Tante Amy zu helfen, hatte Sally Miss Mawsons Abneigung gespürt.

Miss Mawson war eine hässliche, grobknochige Frau Mitte Vierzig. Sie hatte eine raue Stimme und misstrauische Augen und schien nur zu bereit, von jedem Menschen, mit dem sie in Verbindung kam, das Schlechteste anzunehmen.

Dabei war ihr Leben dem Dienst der Nächstenliebe geweiht gewesen. Lange Jahre hatte sie sich als Missionarin in Japan aufgehalten, hatte bei Ausbruch des Krieges unsagbare Entbehrungen und Bedrängnisse erleiden müssen, und als sie schließlich nach England zurückgekehrt war, hatte sie Arbeit in einer Dockland-Niederlassung gefunden.

Vier Jahre diente sie dort den Ausgebombten und Obdachlosen, bis ein drohender Nervenzusammenbruch sie in Tante Amys Leben trieb. Als Gast kam sie auf die Farm, um als Gehilfin zu bleiben.

Sally hatte diese Frau von Anfang an nicht gemocht, und mehr als einmal hatte sie den Eindruck, Miss Mawson ginge ihr aus dem Weg, um sie mit Nichtachtung zu strafen.

Doch sie hatte dem keine besondere Beachtung geschenkt, hatte angenommen, dies wäre nun einmal die Art dieser sonderbaren Frau. Sally war es gewohnt, auf der Farm den verschiedensten Nervenleiden zu begegnen, die die Menschen veränderten, sie seltsam und verschroben machten, ohne dass es immer eine Begründung dafür gab.

Aber dann hatte Tante Amy eines Tages zu ihr gesagt: »Sally, ich habe Miss Mawson gebeten, als Gehilfin bei uns zu bleiben!«

Sally war erschrocken und hatte einen kleinen Entsetzensschrei ausgestoßen.

»O nein, Tante Amy, das kann doch nicht dein Ernst sein!« hatte sie ausgerufen.

»Wieso? Magst du sie nicht?«

»Von nicht mögen kann keine Rede sein«, erwiderte Sally unsicher. »Es ist nur, dass sie ein wenig schwierig zu sein scheint. Eine ziemlich kratzbürstige Person, würde ich sagen. Und sind wir beide nicht immer sehr glücklich miteinander gewesen?«

Sekundenlang trat ein weicher Zug in Tante Amys strenges Gesicht.

»Es freut mich, dass du glücklich bist, Kind. Aber ich werde älter. An meinem letzten Geburtstag bin ich sechzig geworden, und manche der Gäste fangen an, ziemlich anstrengend für mich zu werden. Wir tun sehr viel Gutes für die Menschen, Sally, und es gibt so viele, die uns brauchen und gerne zu uns kommen möchten. Ich würde gern einen neuen Flügel anbauen, und vielleicht gelingt uns das auch, nun, da der Krieg zu Ende ist. Vor allem aber möchte ich, dass Mythrodd-Farm auch nach meinem Tod noch bestehen bleibt. Und deshalb habe ich Miss Mawson, die eine vergleichsweise noch junge Frau ist, gebeten, hier zu bleiben und mir zur Hand zu gehen.«

»Ich verstehe«, sagte Sally, »und wenn du meinst; sie passt zu uns, Tante Amy, dann...«

»Sie ist eine gute Frau«, fiel Tante Amy ihr ins Wort. »Sie hat, Grundsätze und ist ein Mensch, der unbeirrbar seinen Weg geht. Das ist alles, was ich von meiner zukünftigen Nachfolgerin erwarte.«

Sally schwieg, aber es kam ihr vor, als ob Miss Mawson von dem Augenblick an, da sie im Haus eine feste Stellung innehatte, alles tat, um sie, Sally, von ihrem Platz in Tante Amys Herzen zu verdrängen.

Plötzlich wurde Sally nicht mehr um Rat gefragt. Tante Amy überlegte nicht mehr mit ihr, sondern nur noch mit Miss Mawson.

Das allerdings bedeutete nicht, dass Sally es nun leichter hatte. Im Gegenteil.

Jetzt gab es zwei, die sie zur Arbeit antrieben.

»Sally, schneide ein paar Kohlköpfe zum Lunch!«

»Sally, es ist kein Brennholz mehr da!«

»Sally, sag der Köchin, dass ich sie zu sprechen wünsche!«

»Sally, zünde die Lampen an, es wird dunkel!«

Von morgens bis abends war sie auf den Beinen, und immer wieder hatte sie Grund zu der Annahme, dass Miss Mawson sie absichtlich zu den niedrigsten Arbeiten heranzog. Oft machte sie sich sogar noch Vorwürfe, Miss Mawson gegenüber ungerecht zu sein, einfach weil sie sie unsympathisch fand.

Doch nach Tante Amys Tod musste Sally dann erfahren, dass ihr Verdacht gerechtfertigt gewesen war.

Sally hatte ihre Tante geliebt, die für sie Vater- und Mutterstelle vertreten hatte, solange sie denken konnte. Es war nicht immer leicht für sie gewesen in der Gesellschaft dieser herben, strengen und ein wenig gefühlskalten Frau, aber diese war so sehr ein Teil ihres Lebens geworden, dass sie sich ein Leben ohne Tante Amy einfach nicht vorstellen konnte.

Aber nun war sie tot. Gestorben nach nur dreitägigem Krankenbett. Der Verlust der Tante bewirkte in Sally einen unvorstellbaren Schock, und sie fragte sich fassungslos, was nun aus ihr werden solle.

Es war kurz nach der Testamentseröffnung, bei der Sally und Miss Mawson erfuhren, dass alles, was Tante Amy besessen hatte, einer Stiftung zum Unterhalt der Mythrodd Farm zugeführt werden solle, als Miss Mawson zuschlug. Nachdem der Anwalt gegangen war, sagte sie zu Sally:

»Du wirst dich selbstverständlich so bald wie möglich nach einer anderen Unterkunft umschauen, Sally, nicht wahr?«

Sally starrte sie an, die vom vielen Weinen geröteten Augen weit und fassungslos vor Entsetzen.

»Eine andere Unterkunft?« wiederholte sie wie vor den Kopf geschlagen. »Wünschen Sie etwa, dass ich fortgehe?«

»Ja, natürlich!« erwiderte Miss Mawson. »Ich ziehe es vor, die Verantwortung für das Haus alleine zu tragen. Ich mag es nicht, wenn irgendein Naseweis mir dabei hineinredet. Und die Arbeiten, die du bisher verrichtet hast, waren ja nicht so bedeutend, als dass sie nicht auch von einem der anderen Mädchen übernommen werden könnten.«

Sally rang nach Luft. Sie fühlte, wie ihr das Blut bei dieser Kränkung in die Wangen schoss.

»Sie glauben also, es wäre im Sinne meiner Tante, dass ich das Haus verlasse, das sie und ich gemeinsam aufgebaut haben.«

Miss Mawsons Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Lächeln.

»Nun sei mal nur nicht so eingebildet!« stieß sie kalt hervor. »Schließlich bist du erst achtzehn, und den größten Teil deiner Zeit hast du doch im Dorf mit Privatunterricht verbracht!«

»Trotzdem habe ich viel und hart auf Mythrodd-Farm gearbeitet!« begehrte Sally auf und hätte sich im gleichen Moment am liebsten die Zunge abgebissen.

Warum rechtfertigte sie sich vor dieser Frau? Warum sollte sie ihr erklären, dass Tante Amy ihr Testament kurz nach dem Kauf der Farm gemacht hatte?

Sie hatte Sally damals davon in Kenntnis gesetzt und hinzugefügt:

»Ich habe das Testament nur für den Fall niedergeschrieben, dass wir ausgebombt werden. Auch hier sind wir davor nicht wirklich sicher. Ich könnte dabei ums Leben kommen, und es ist mein Wunsch, dass das Haus weitergeführt wird.«

Nach einer kurzen Pause hatte sie dann hinzugefügt:

»Für dich habe ich keine Vorsorge getroffen, weil du im Testament deines Vaters schon reichlich bedacht bist. Es war sein Wille, dass du bei mir lebst bis zu deiner Heirat oder bis du vierundzwanzig geworden bist. Aber bis dahin ist ja noch reichlich Zeit, und wenn es so weit ist, werden wir noch einmal über alles reden.«

»Oh, sprich nicht vom Sterben!« hatte Sally mit der angeborenen Angst des Kindes vor dem Tod ausgerufen. Tante Amy lächelte.

»Nein, es gibt auch keinen ernsthaften Grund, jetzt davon zu reden. Aber wir haben eine aus den Fugen geratene Welt mit all den Kriegen und Seuchen heutzutage, und wir Menschen sollten immer auf den Tod vorbereitet sein, der uns mitten aus dem Leben hinwegraffen kann!«

»Ja, aber...« wollte Sally widersprechen, war aber von ihrer Tante unterbrochen würden.

»Keine Aber, Liebes. Wenn ich sterbe, und das wird eines Tages bestimmt einmal sein, möchte ich jedenfalls, dass die Farm weiterhin ihrem guten Zweck erhalten bleibt. Du weißt am besten über alles Bescheid, und ich bin überzeugt, dass du auch ohne mich sehr gut mit allem zurechtkommen wirst.«

»Du weißt, dass es nicht so ist«, entgegnete Sally.

Tante Amy hatte gelächelt über die Bestimmtheit im Tonfall des Kindes, aber es gab eben nichts Schriftliches darüber, dass es ihr Wunsch gewesen war, dass Sally auf der Farm blieb. Und das Geld, das sie hinterlassen hatte, wurde von Treuhändern verwaltet, die Sally nie gesehen hatte und denen sie völlig unbekannt war.

Ein tief eingewurzelter Stolz verbot es ihr, um etwas zu betteln, worauf sie ihrer festen Meinung nach einen begründeten Anspruch hatte.

Und deshalb sagte sie ruhig:

»Sehr wohl, Miss Mawson, ich werde Mythrodd so bald wie möglich verlassen.«

Ruhig war sie aus dem Zimmer gegangen, im Herzen das Bewusstsein, nicht nur einen Sieg über Miss Mawson, sondern auch über sich selbst errungen zu haben.

Doch nun hatte sie Angst. Angst, weil sie alles, was ihr Sicherheit und Geborgenheit bedeutet hatte, zurückließ. Angst vor allem auch, weil Lynn mit keinem Wort auf ihren Brief geantwortet hatte.

Sally hätte wenigstens ein Telegramm erwartet. Denn Telegramme waren wie Lynn: schnell, impulsiv und stets schon da, bevor man damit rechnete. Doch nichts war geschehen, und Sally konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen. Dennoch war sie gegangen. Ihr Stolz ließ es nicht zu, noch länger zu warten, nachdem sie Miss Mawson einmal ihr Wort gegeben hatte.

Sie packte ihre wenigen Habseligkeiten zusammen. Ihre Bücher und die mehr persönlichen Dinge lud sie auf den Farmwagen und fuhr damit zum Vikariat ins Dorf. Hier bat sie den alten Vikar, den sie schon viele Jahre kannte, um Erlaubnis, die Dinge bei ihm unterstellen zu dürfen.

»Kannst du sie denn nicht auf der Farm lassen, Kind?« fragte er sie verwundert, so als vermutete er, dass irgendetwas nicht stimmte.

»Lieber nicht, und auf Ihrem alten Speicher werden Sie doch noch ein Eckchen dafür frei haben.«

»Aber natürlich«, erwiderte er. »Ich freue mich, wenn ich dir einen Gefallen tun kann. Aber wenn irgendwas nicht in Ordnung wäre, würdest du es mir doch sagen, nicht wahr?«

»Was soll denn nicht in Ordnung sein?« fragte Sally. »Ich verlasse die Farm und fahre zu Freunden.«

Sie belog ihn praktisch, denn sie hatte das Gefühl, ihn zu kränken, wenn sie mit einer fadenscheinigen Ausrede kam.

Der Vikar schien beruhigt.

»Zu Freunden!« sagte er. »Dann ist es gut. Aber du kommst doch wieder zurück, oder?«

»Ich denke schon«, antwortete Sally und log erneut.

Aber was hätte sie tun sollen? Er war alt, konnte ihr nicht helfen, und es gab keinen Grund, ihn in Unruhe zu versetzen, indem sie ihm den eigentlichen Grund für ihre Abreise nannte.

Doch heute Morgen, als sie von der Farm aufbrach und Miss Mawson sah, die in der Pose der Besitzerin vor der Tür stand, wusste sie, dass sie nie wieder hierher zurückkehren würde.

Mythrodd war nicht länger mehr ihr Zuhause. Sie stand allein in der Welt, ohne zu wissen, wohin sie gehörte. Zwar war da noch Lynn, aber Lynn hatte auf ihren Brief nicht geantwortet.

Sally dachte plötzlich, dass dieses Gefühl des Alleinseins die schrecklichste Erfahrung in ihrem bisherigen Leben war.

Dann schon lieber von Miss Mawson herumgestoßen werden, anstatt allein zu sein und nicht die kleinste Vorstellung von dem zu haben, was die Zukunft für einen bereithielt.

Sie konnte nur beten, dass Lynn in London war. Wie entsetzlich, wenn sie Lynn nicht antreffen würde. Vielleicht war sie verreist und hatte aus diesem Grund nicht geantwortet.

Sally öffnete ihre Tasche. Die Fahrkarte war sehr teuer gewesen. Nur wenig Geld war ihr noch geblieben: Zwei Pfund in Scheinen und etwa sechs Schilling in Silbermünzen. Verzweifelt fragte sie sich, was die Übernachtung in einem Hotel kosten würde.

Ein Ruck ging durch den Wagen. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung.

Die Sonne sank im Westen, und der Himmel färbte sich rot. Sie befanden sich noch mitten auf dem Land, nirgendwo war etwas von einen Bahnhof zu sehen. Weshalb hatten sie eigentlich angehalten? Sally stand auf, um das Fenster zu öffnen und hinauszuschauen.

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgezogen, und der Zugschaffner steckte den Kopf ins Abteil.

»Bis London, Miss?«

»Ja.«

»In Ordnung. Es wird allerdings sehr spät werden, da wir mit einem längeren Aufenthalt rechnen müssen.«

»So?« fragte Sally. »Warum denn?«

»Überschwemmung, Miss. Eine Brücke wurde beschädigt, und die Schienen haben sich verbogen. Muss einen Wolkenbruch gegeben haben. Aber eine Instandsetzungskolonne ist bereits dabei, den Schaden zu beheben. Wir hoffen; die Reparatur nimmt nicht zu viel Zeit in Anspruch. Allerdings: Einige Stunden wird’s schon dauern bis zur Weiterfahrt. Eine Umleitungsstrecke gibt’s leider nicht. Der Speisewagen befindet sich im vorderen Teil des Zuges, falls Sie den Wunsch haben, etwas zu essen.«

»Out, das zu wissen«, erwiderte Sally. »Aber das ist ja furchtbar mit der Strecke!«

»Oh, passiert neuerdings häufiger«, meinte der Schaffner. »Kann mir nicht helfen, aber ich persönlich meine immer, das hängt mit der Atombombe zusammen. Seitdem es die gibt, spielt das Wetter einfach verrückt. Naja, wie dem auch sei, werden gleich bis zu einem Kleinbahnhof in der Nähe vorziehen. Da können Sie sich was die Füße vertreten und mal ’nen Blick in die Gegend werfen.«

»Danke, dass Sie mir Bescheid gesagt haben«, sagte Sally.

»Wollte nicht, dass Sie sich unnötig Sorgen machen«, erklärte er freundlich. Dann legte er den Finger an die Schirmmütze und schloss die Tür.

Nachdem er gegangen war, öffnete Sally das Fenster. Ja, jetzt sah sie es: Das Land rings herum stand unter Wasser, und an den niedrig gelegenen Stellen hatten sich regelrechte Seen gebildet.

Sally war die schweren Regengüsse aus Wales gewohnt. Es war romantisch anzuschauen, wenn sich die kleinen Rinnsale an den Berghängen plötzlich, in wilde Sturzbäche verwandelten. Aber gefährlich war es für die Schafe und Ziegen, die oft genug von der Flut mitgeschwemmt wurden und elend darin ertranken.

Ob die Überschwemmung hier auch viele Tiere das Leben gekostet hat? fragte sich Sally. Sie mochte es nicht, wenn Tiere leiden mussten oder sinnlos umkamen.

Dann dachte sie an den erzwungenen Aufenthalt. Sie würde sehr spät in London eintreffen. Die Chance, dass Lynn sie am Bahnhof abholte, war wohl jetzt gleich null, trotz des Telegramms, das sie, Sally, ihr vor der Abreise geschickt hatte.

Jetzt wünschte sie beinahe, es nicht getan zu haben. Lynn würde vielleicht beunruhigt sein. Aber dann lächelte Sally.

Nein, Lynn war nicht beunruhigt. Es gab nur wenige Dinge, die Lynn beunruhigen konnten. Und wie albern von ihr, anzunehmen, Lynn würde auf dem Bahnsteig stehen! Sie würde Mary schicken. Die reizende Mary Studd, die sich niemals über irgendetwas aufregte und durch nichts aus der Ruhe zu bringen war!

Der Zug kam zum Stehen, und Sally sah, dass es ein kleiner Bahnhof war, auf dem sie hielten.

Es gab dort einige gemütliche Warteräume und das Büro des Stationsvorstehers, und entlang des Bahnsteigs hatte eine freundliche Seele herrliche farbenprächtige Blumenbeete angelegt.

Die Fahrgäste stiegen einer nach dem anderen aus und blickten sich neugierig um. Sie schauten an der Lokomotive vorbei nach vorn und diskutierten laut die eingetretene Verzögerung.

»Die beschädigte Brücke ist nur eine halbe Meile von hier entfernt«, hörte Sally jemanden sagen.

Dann öffnete sie die Tür ihres Abteils und verließ den Wagen. Begierig atmete sie die warme, würzige Landluft ein. Was macht schon so ein Aufenthalt, dachte sie, wenn er inmitten dieser wundervollen, ruhigen und friedlichen Landschaft stattfindet.

Ihr Blick wanderte in die Ferne, wo die Berge von Wales sich rötlich gegen einen Himmel abhoben, den die untergehende Sonne mit glühendem Gold überzogen hatte.

Sie wirkten seltsam entrückt und wie verzaubert, und Sally hatte ein Gefühl von Unwirklichkeit. Irgendwie befand sie sich in einem Schwebezustand zwischen gestern und morgen.

Plötzlich spürte sie etwas Kaltes, Feuchtes an ihrem Bein, und als sie an sich hinunterschaute, sah sie, dass es die Nase eines freundlich wedelnden Spaniels war. Sie beugte sich zu dem Hund nieder und streichelte ihn. Es war ein drolliger kleiner Kerl, mit den vertrauensvollen gold-braunen Augen seiner Rasse und dem wehmütigen Ausdruck des Melancholikers, der gar nicht genug Trost und Zuspruch bekommen kann.

»Findest du die Reise auch langweilig?« fragte sie ihn.

Der Spaniel wedelte heftiger, dann ertönte eine Stimme, die ihm zurief:

»Bracken! Komm her, alter Junge!«

Sally blickte auf und sah ein Stück von sich entfernt zwei Männer. Einer davon hielt einen riesigen Apportierhund an der Leine.

Der Spaniel leckte Sally zum Abschied liebevoll die Hand, schenkte ihr noch einen tragischen Blick und wandte sich ab, um dem Befehl seines Herrn zu gehorchen.

Sally schaute ihm nach, und bemerkte, dass der Besitzer mit seinem Hund redete, als er bei ihm angekommen war. Sie konnte nicht hören, was er sagte, aber sie erkannte deutlich sein Gesicht.

Es war schmal und sonnengebräunt und wirkte sehr männlich. Obwohl die edel geschnittenen Züge eine gewisse Härte ausstrahlten, musste man sie schön nennen. Tiefe Linien verliefen von der Nase zu den Mundwinkeln und verliehen den Lippen einen strengen und zugleich zynischen Ausdruck.

Der Mann wandte sich ab. Sally hatte das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben. Wo und bei welcher Gelegenheit hätte sie nicht sagen können. Aber gesehen hatte sie ihn.

Die Männer und ihre Hunde wanderten den Zug entlang und entschwanden Mann Sallys Blickfeld, bis sie einige Minuten später auf einer Straße auftauchten, die zu einem kleinen Dorf führte, das halb hinter einer flachen Anhöhe verborgen lag.

Sie verspürte den jähen Wunsch, ebenfalls zu diesem Dorf zu gehen, doch dann dachte sie, dass es etwas seltsam wirken könnte, wenn sie den Männern folgte. Also wanderte sie eine Zeitlang den Bahnsteig auf und ab und kehrte dann in ihr Abteil zurück.

Sie mochte etwa eine halbe Stunde dort gesessen und gedankenverloren aus dem Fenster geschaut haben, als sie die beiden Männer mit den Hunden zurückkommen sah. Schließlich gingen sie ganz dicht an ihrem Fenster vorbei, und Sally konnte einen erneuten Blick auf den Besitzer des Spaniels werfen.

Seltsamerweise hatte sie wiederum das Gefühl, ihn früher schon einmal gesehen zu haben.

Er hatte jetzt den Hut abgenommen, und sein markanter Kopf hob sich deutlich vor dem Himmel ab, dessen glühendes Rot dem durchscheinenden Blau der Dämmerung gewichen war.

Sally glaubte plötzlich, den Mann in der strahlenden Rüstung eines Ritters vor sich zu sehen, ein Schwert an der Seite und auf dem Haupt den mit Federn geschmückten Helm.

»Sieht er nicht tatsächlich so aus?« fragte sie sich halblaut. »Wie ein Ritter aus alten Zeiten?«

Wie unter einem Zwang lehnte sie sich aus dem Fenster und blickte hinter den beiden her. Sie sah, wie sie ihren Wagen erreichten und einer von ihnen einstieg.

Der Besitzer des Spaniels war auf dem Bahnsteig stehen geblieben.

Wieder dachte Sally an Ritterrüstung, Schwert und Helm. Es war nur ein Eindruck. Flüchtig, kaum fassbar und doch vorhanden.

Dann stellte sie fest, dass die beiden ihr Gepäck aus dem Zug holten.

Es waren vier Koffer, einige Übermäntel und Regenmäntel und mehrere längliche braune Hüllen, in denen sich offenbar Angelruten befanden. Sie waren also zum Angeln in Wales, dachte Sally und fragte sich, was sie wohl gefangen hatten.

Ein Gepäckträger mit einem Gepäckkarren näherte sich, lud die Koffer auf und legte die Übermäntel und das Regenzeug darüber.

»Die Angeln trage ich selbst«, hörte Sally einen der Männer sagen. Dann setzten sie sich in Bewegung. Die beiden Hunde folgten ihnen auf den Fersen.

»Wir sind so bestimmt früher da«, sagte einer der beiden Gentlemen, und der andere erwiderte:

»Das bezweifle ich zwar, aber es ist besser, als hier untätig herumzuhängen.«

Hinter dem Gepäckträger verschwanden sie im Bahnhofsgebäude.

»Sie werden mit dem Auto weiterfahren«, murmelte Sally und empfand plötzlich ein Gefühl der Verlassenheit.

Es wurde langsam dunkel, der Abend senkte sich auf das Land. Sally dachte an die beiden Gentlemen, die jetzt gewiss schon im Auto auf dem Weg pach London waren, während sie selbst in dem haltenden Zug saß und wartete und wartete.

Schließlich kam der Speisewagenkellner und rief zum Essen.

Sally dankte ihm und beschloss, etwas gegen ihren knurrenden Magen zu tun. Das Essen war einfach, aber wohlschmeckend.

Sally hielt sich nicht länger als nötig im Speisewagen auf. Nachdem sie gezahlt hatte, kehrte sie in ihr Abteil zurück und nahm wieder auf ihrem Sitz Platz. Sie starrte hinaus in die Dunkelheit.

Von den Bergen war nichts mehr zu sehen, und vor dem J Stationsgebäude brannten mehrere Lampen. Sallys Gedanken wanderten nach Mythrodd.

Schließlich hörte sie den Stationsvorsteher draußen auf dem Bahnsteig. Er kündigte die Weiterfahrt an und forderte die Fahrgäste auf, ihre Plätze einzunehmen.

»Ist alles wieder in Ordnung?« fragte eine Frauenstimme.

»Ich hoffe es, Ma’am!«

»Das tue ich auch!« gab die Frau bissig zurück und stieg in einen Erster-Klasse-Wagen.

Ein Ruck ging durch den Zug, und er setzte sich langsam in Bewegung.

Als sie über die Brücke fuhren, standen die Männer der Instandsetzungskolonne neben den Schienen und blickten zu den Abteilfenstern empor. Im Licht mehrerer Scheinwerfer erkannte Sally die von Schweiß glänzenden Gesichter. Beifallrufe klangen in den Wagen auf, und die Arbeiter winkten zurück. Sie wirkten erschöpft, gleichzeitig aber sah man ihrer Haltung an, wie stolz sie auf ihre Leistung waren, die sie in einer wahren Rekordzeit vollbracht hatten.

Sobald der Zug die Brücke hinter sich gelassen hatte, beschleunigte er seine Fahrt, und bald brausten sie mit der gewohnten Geschwindigkeit durch die Nacht.

Sally blickte auf ihre Uhr und sah, dass es inzwischen elf geworden war. Nachdem sie beim nächsten Halt festgestellt hatte, wo sie sich befanden, konnte sie sich ausrechnen, dass sie vor vier Uhr morgens nicht in London sein würden.

Sie beschloss, es sich ein wenig bequem zu machen, legte die Füße auf den gegenüberliegenden Sitz und deckte den Mantel über sich.

Obwohl sie nicht damit rechnete, Schlaf zu finden, war sie plötzlich eingenickt und wachte erst wieder auf, als ihr Freund, der Schaffner, die Abteiltür öffnete und sagte:

»In fünf Minuten sind wir da, Miss.«

»In fünf Minuten«, rief sie aus. »Das ist ja wunderbar. Wie spät ist es denn?«

»Siebzehn Minuten nach vier, Miss. Es sieht so aus, als hätten sie eine angenehme Nacht verbracht.«

»Ja, das habe ich«, antwortete Sally.

Sie erhob sich ein wenig steif, zog den zerknitterten Rock über die Knie und betrachtete sich im Spiegel.

Ihr Haar war ein wenig in Unordnung geraten. Unwillkürlich kämmte sie es in der gewohnten Art streng aus der Stirn. Dann fiel ihr ein, dass es niemanden mehr gab, der dies von ihr verlangte, und sie ließ es frei auf die Schultern fallen.

Dann holte sie ihre Reisetasche aus dem Gepäcknetz, legte den Mantel über den Arm und nahm den Hut in die Hand.

Halb fünf Uhr morgens! Welch eine Zeit, um in London einzutreffen! Würde jemand sie erwarten?

Im Osten graute der Tag. Am Himmel verblassten die letzten Sterne. Dann schien die Dunkelheit sie aufs Neue einzuhüllen, als der Zug in die Bahnhofshalle einfuhr. Nur wenige Träger waren zu sehen. Sally nahm ihren Koffer und stieg aus.

Menschen mit verschlafenen Gesichtern und ungeordneten Haaren drängten sich missgelaunt und gereizt vor der Tür des Packwagens und warteten auf ihre Koffer. Draußen vor dem Bahnhofsgebäude fuhr das letzte Taxi Sally direkt vor der Nase weg, und so beschloss sie, die Reisetasche zunächst einmal aufzugeben und sie später abzuholen.

Sie ging zur Gepäckaufbewahrung. Ein schläfriger Angestellter gab ihr den Aufbewahrungsschein, und sie kehrte in die Bahnhofshalle zurück.

Soeben fuhr ein anderer Zug ein. Es war ein Güterzug, aus dem unzählige Kisten mit Obst und Gemüse ausgeladen wurden. Lastwagen' übernahmen die Ladung. Einer davon trug die Aufschrift: Gregor & Sons, Covent Garden.

Sally beschloss, da sie so früh doch nichts unternehmen konnte, den einzigen Freund aufzusuchen, den sie in London hatte. Tollkühn steuerte sie auf den erstbesten Lastwagen zu und fragte den Fahrer:

»Entschuldigung, fahren Sie zum Covent Garden?«

»Sobald ich geladen habe.«

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich mitzunehmen?« fragte Sally zögernd. »Ich bin gerade mit dem Zug angekommen, und so viele Taxis scheinen um diese Zeit noch nicht zu fahren. Ich möchte jemanden besuchen, der dort arbeitet.«

»Nun, ist zwar gegen die Vorschriften, aber ich nehme an, so früh am Morgen interessiert das noch keinen. Steigen Sie ein!«

Sally kletterte dankbar auf den Beifahrersitz. Wenige Augenblicke später kam einer der Männer, die den Wagen beladen hatten, und rief:

»Kannst fahren, Best!« Dann bemerkte er Sally, grinste und fragte: »Wo hast du die denn aufgegabelt?«

»Umgekehrt war’s«, erwiderte der Fahrer lachend. »Komm, steig ein, damit wir wegkommen!«

Zügig ging es durch die leeren Straßen.

»Es ist nett von Ihnen, mich mitzunehmen«, sagte Sally. »War eigentlich nicht vorgesehen, dass ich zu dieser Zeit in London eintraf. Deshalb fürchte ich, meine Freunde erwarten mich um diese Stunde noch nicht.«

»Kein Mensch kriecht so früh schon aus den Federn, wenn er nicht muss. Aber zu dieser Jahreszeit gehts ja noch. Was denken Sie, wie ungemütlich das erst mal im Winter ist.«

Er blickte Sally neugierig von der Seite an. Er schien sie nicht einordnen zu können.

»Wer ist denn Ihr Freund im Garden?« fragte er dann.

»Ein Junge. Tommy Mathews mit Namen.«

»Weiß er, dass Sie kommen?«

Sally schüttelte den Kopf.

»Nein, er wird überrascht sein, mich zu sehen. Aber ich habe ihm Grüße von seiner Mutter zu bestellen.«

»Haben Sie ’ne Ahnung, für wen er arbeitet?«

»Ja, ich glaube, der Name ist Frazer.«

»Ach, der alte Joe. Wo das ist, kann ich Ihnen zeigen. Nicht weit von der Stelle, wo wir abladen.«

Es dauerte nicht mehr lange, bis sie auf dem Covent Garden ankamen.

Überall wurden Obst- und Gemüsekisten abgeladen und für die Käufer auf langen Tischen zurechtgestellt. Überall herrschte hektische Geschäftigkeit. Lärm und Pfiffe erfüllten die Luft, die Männer winkten einander zu, lachten und schrien sich irgendwelche Kommandos zu. Sally taten die Ohren weh von dem Höllenlärm, und sie hatte den Eindruck, dass niemand sein eigenes Wort verstand.

»So, da wären wir«, rief der Fahrer und hielt vor einem großen Obst- und Gemüsestand. »Ihren Freund finden Sie, wenn Sie hier lang gehen und an der nächsten Ecke links abbiegen. Können Sie gar nicht verfehlen. Also links um die Ecke, und dann, glaube ich, ist es der zweite Stand.«

»Danke«, sagte Sally. »Vielen, vielen Dank!«

Sie hielt es für angebrachter, ihm kein Trinkgeld zu geben. Stattdessen streckte sie ihm die Hand hin, und er schüttelte sie freundlich.

»War mir ein Vergnügen«, sagte der Fahrer. »Und viel Glück hier.«

»Gleichfalls!« Sally lächelte, stieg aus und begab sich auf die Suche nach Tommy Mathews.

Tommy war vor vier Jahren auf die Farm gekommen, nachdem er bei einem VI-Angriff das Bein gebrochen hatte. Tommy hatte jeden Augenblick seines Aufenthalts auf der Farm genossen, und vor zwei Monaten kam ein Brief von ihm aus London, in dem er Tante Amy bat, seine Mutter auf der Farm aufzunehmen, die eine schwierige Blinddarmoperation hinter sich hatte und unbedingt Erholung brauchte.

Tante Amy hatte zugestimmt, und Mrs. Mathews erwies sich als genauso nett und sympathisch wie ihr Sohn.

Sally befürchtete, Tommy nicht mehr wiederzuerkennen, doch er hatte sich kaum verändert, war nur ein wenig größer und erwachsener geworden. Aus seinen blauen Augen leuchtete der Schalk, und seine Nase war noch dichter mit Sommersprossen besät als vor vier Jahren.

In seine Arbeit vertieft, bemerkte er Sally erst, als sie neben ihm stand und sagte:

»Hallo, Tommy!«

Er blickte auf und stieß einen überraschten Ruf aus.

»Miss Sally, da legst dich nieder! Wie kommen Sie denn her?« Er strahlte übers ganze Gesicht. »Also, Sie hätte ich hier wirklich nicht erwartet.«

»War auch nicht vorgesehen«, sagte Sally. »Trotzdem ist es schön, dich zu sehen, Tommy. Und wie prächtig du ausschaust!«

»Mir geht’s auch prächtig, Miss. Hab’ mich nie im Leben besser gefühlt. Und was macht Mutter?«

»Sie erholt sich blendend. Ich soll dir ausrichten, dass sie in vierzehn Tagen wieder zu Hause sein wird. Aber du sollst ihr deine neue Adresse mitteilen. Sie erzählte, du hättest in deinem Brief davon gesprochen, deine Unterkunft gefalle dir nicht und du würdest dir ein neues Zimmer suchen.«

»Ja, ich bin umgezogen«, erklärte Tommy. »Allerdings erst vor zwei Tagen. Ich werde Mutter heute Abend noch schreiben, ich verspreche es Ihnen, Miss.«

»Du weißt, dass sie sich deinetwegen Sorgen macht.«

»Ja, das weiß ich, aber ich kann schon auf mich aufpassen, Miss.«

»Und deine Mutter auch, soviel ich gehört habe.«

»Das ist richtig. Aber was tun Sie in London, Miss Sally?«

»Meine Tante, Miss St. Vincent, ist gestorben, Tom.«

»Oh, das tut mir leid, Miss. Es muss ein Schock für Sie gewesen sein.«

»Ja, Tommy, das war es.«

»Und was geschieht nun mit der Farm, Miss?«

»Oh, da geht alles seinen gewohnten Gang, und deine Mutter wird so lange dortbleiben, bis sie wieder ganz im Ordnung ist. Aber ich glaube, sie hat Sehnsucht nach dir.«

»Ich nehme an, Sie möchte wissen, wo ich untergekommen bin«, sagte Tommy. »Würde mich am liebsten nicht mehr aus den Augen lassen, seit das mit der VI passiert ist.«

»Du fehlst ihr sehr«, erwiderte Sally leise. Plötzlich verspürte sie so etwas wie Neid auf Tommy mit seinem zufriedenen Lächeln und seinem kurzgeschnittenen roten Haarschopf.

»Ich werde auch ganz glücklich sein, wenn ich sie bald wiedersehe. Wenn Sie schreiben, Miss, erklären Sie Mum, dass sie sich meinetwegen keine grauen Haare wachsen lässt. Mir geht’s bestens, Miss, wirklich bestens, weil... meine Tante hat mich aufgenommen.«

»Oh, das freut mich.«

»Lief ihr ganz zufällig über’n Weg. Mum hat sie ’ne Ewigkeit nicht mehr gesehen. Im Krieg verloren sie sich aus den Augen. Aber sie ist so was von freundlich zu mir! Mum könnte auch nicht netter zu mir sein. Sagen Sie ihr das, wenn Sie ihr schreiben, und sie soll sich nur keine Sorgen machen.«

»Ja, Tommy, mache ich. Aber meinst du nicht, es wäre besser, mir deine Anschrift zu geben, für den Fall, dass du doch vergisst, ihr zu schreiben?«

»Sie trauen mir wohl nicht, Miss. Na schön, für alle Fälle dann. Und wenn Mum es zweimal hört, wird sie eher glauben, dass alles okay ist.« Er steckte die, Hand in die Tasche. »Hier ist ein Bleistift, Miss.«

»Oh, danke. Und wie lautet die Anschrift?«

»Bei Mrs. Bird, 263 Hill Street, London W.J.«, antwortete Tommy. »Stinkvornehme Gegend, wie? Und sagen Sie Mum auch, dass es ihre Schwester Ellen ist.«

»Ellen Bird!« wiederholte Sally und starrte Tommy fassungslos an. »Das kann nicht sein... es kann den Namen doch nicht zweimal geben«, sagte sie stockend. »War deine Tante jemals Kinderschwester?«

»Ich glaube, ja, Miss. Vor ihrer Heirat, soviel ich weiß. Komisch, als ich ihr erzählte, wo Mum ist, sagte sie, sie habe mal einige St. Vincents gekannt. Hat bei ihnen gearbeitet. Nur war das unten in Devonshire.«

»Aber dann ist sie ja Nanny - meine Nanny Bird. O Tommy, welch ein Zufall! Ich muss sie sehen. Wirst du ihr sagen, dass ich in London bin? Sie war mein Kindermädchen, sorgte jahrelang für mich praktisch bis zu ihrer Heirat.«

»Nun, Miss, das ist’n Ding! Ist die Welt nicht klein?«

»Oh, ist das eine Freude. Wie froh bin ich, meine alte Nanny wiederzusehen! Ist sie zu Hause, oder arbeitet sie noch?«

»Sie ist zu Hause. Jedenfalls zu dieser Zeit. Sie und ihr Mann haben eine Stelle als Hausmeisterehepaar. Sie wird sicher ebenfalls froh sein, wenn sie Sie wiedersieht. Warum schauen sie nicht gleich mal bei ihr rein! Wär’ doch die beste Gelegenheit für ein ordentliches Frühstück.«

»Aber es ist doch noch viel zu früh«, unterbrach Sally ihn.

»Aber nein, Miss. Sie hat mir doch auch schon das Frühstück gemacht und das war um vier. Jeden Morgen macht sie das, und wie sie mir sagt, legt sie sich danach nicht noch mal hin. Also, Sie gehen jetzt auf der Stelle zu ihr, Miss Sally. Sagen Sie Tante Ellen, ich hätte Sie geschickt.«

»Danke, das werde ich tun!«

»War schön, Sie wiederzusehen, Miss, aber jetzt muss ich wieder was tun, sonst steigt mir der Chef aufs Dach.«

»Auf Wiedersehen dann, Tommy, und vielen Dank auch. Ich glaube, ich befolge wirklich deinen Rat und gehe jetzt gleich zu Nanny Bird.«

»Das Beste, was Sie machen können, Miss!«

Tommy gab Sally die Hand und fügte hinzu:

»Falls Sie ein Taxi nehmen wollen, Miss Sally, würde ich Richtung Themse runtergehen. In der Nähe vom Charing Cross haben Sie immer die Chance, eins zu erwischen.«

Er deutete mit der Hand in eine bestimmte Richtung. Sally ging die Straße hinunter, und es dauerte nicht lange, bis sie ein leeres Taxi vom Bahnhof her auf sich zukommen sah. Sie winkte dem Fahrer und stieg ein.

Es war erst Viertel nach fünf für viele Menschen kurz nach Mitternacht. Sally hielt es für eine glänzende Idee, die Zeit bis zu dem Augenblick, da sie es wagen konnte, an Lynns Tür zu läuten, mit Nanny Bird beim Frühstück zu verbringen.

Es war nicht weit bis zur Hill Street, die leer und wie ausgestorben schien. An den Fenstern waren noch die Rollläden heruntergelassen oder die Läden geschlossen.

Sally zahlte und bedankte sich mit leiser Stimme bei dem Fahrer. Irgendwie hatte sie ein Schuldgefühl, weil sie es wagte, die morgendliche Stille in dieser Straße zu stören.

Erleichtert dachte sie, dass der Berkeley Square ganz in der Nähe lag und sie Lynns Haus von hier aus in wenigen Minuten erreichen konnte. Sie blickte an dem Haus hoch, vor dem sie soeben angekommen war.

Es war ein eindrucksvolles rotes Backsteingebäude mit breiten weißen Marmorstufen. Sally wollte schon den Fuß auf die Treppe setzen, als ihr einfiel, dass Tommy etwas von einer Hausmeisterstellung sagte, die Nanny mit ihrem Mann innehatte. Also wandte sie sich zu dem Eisentor, das ins Souterrain hinunterführte. Sie öffnete es und stieg vorsichtig die Eisentreppe hinunter.

An der Tür befand sich eine elektrische Klingel. Sally erschrak von dem Schrillen, das ertönte, als sie den Knopf drückte. Sekundenlang geschah nichts, dann hörte sie Schritte, die sich der Tür näherten.

Langsam öffnete sich die Tür, und vor Sally stand eine kleine rundliche Frau mit grauen Haaren. Sie und Sally starrten einander schweigend an. Sally sprach als erste.

»Nanny, erinnerst du dich nicht mehr an mich?«

Mrs. Bird stieß einen Schrei aus.

»Wenn das nicht Miss Sally ist! O meine Liebe, das ist eine Überraschung! Ich dachte, ich traue meinen Augen nicht. ‚Das ist mein Baby‘ sagte eine Stimme in mir, aber ich wollte es nicht glauben. »Einbildung! Du siehst schon Gespenster! sagte ich mir. Aber nein, Sie sind es wirklich! Kommen Sie doch herein, Liebes! Was, um alles in der Welt, machen Sie hier? Gütiger Himmel, Sie sind wirklich die letzte, die ich heute Morgen erwartet hätte!«

Immer noch redend zog sie Sally ins Haus, schloss hinter ihr die Tür und führte sie durch einen fliesenbedeckten Flur in ein ziemlich dunkles Wohnzimmer, in dem sich, wie Sally feststellte, viele von Nannys persönlichen Dingen befanden.

Auf dem Sofa lagen die beiden mit Glasperlen bestickten Kissen, die Nanny schon immer für ihren kostbarsten Besitz gehalten hatte. Da war das kleine, mit Seemuscheln geschmückte Samtkästchen, das die Aufschrift ‚Gruß aus Brighton‘ trug und mit dem Sally als Kind zu ganz besonderen Anlässen spielen durfte.

Auf dem Kaminsims stand eine Fotografie, die sie selbst als Baby zeigte. Und neben dem Lehnsessel erkannte Sally das Handarbeitskörbchen, das Nanny stets rieben sich stehen hatte, solange Sally sich zurückerinnern konnte.

Impulsiv schlang Sally die Arme um die Ältere, gab ihr einen herzhaften Kuss und drückte sie an sich.

»O Nanny, wie schön, dich wiederzusehen!«

Nanny wischte sich die Augen.

»Da haben Sie es, Kind. Ich bin so aus dem Häuschen über unser Wiedersehen, dass es mir regelrecht die Sprache verschlagen hat. Wie sehr Sie gewachsen sind, und was für ein hübsches Mädchen aus Ihnen geworden ist. Aber zuerst müssen Sie mir sagen, was Sie zu mir führt und wie Sie mich überhaupt gefunden haben!«

»Das ist eine lange Geschichte!« erwiderte Sally.

Dann begann sie zu erzählen. Von Tante Amys Tod, von der Fahrt nach London, von der Unterbrechung wegen einer vom Hochwasser beschädigten Eisenbahnbrücke. Sie berichtete, wie sie nach Covent Garden gegangen war, um Tommy die Grüße seiner Mutter auszurichten, und wie sie dann erfahren hatte, wo und bei wem er wohnte.

»Nun, wenn das nicht alle Rekorde schlägt!« rief Nanny. »Ich sage immer, man glaubt nicht, wie klein die Welt ist!«

»Das meinte Tommy auch.«

»Und welch ein Zufall, dass meine Schwester ausgerechnet bei Ihnen und Ihrer Tante Amy untergekommen ist. Hätte mir doch niemals träumen lassen, dass es Sie mal nach Wales verschlagen würde!«

»Wir zogen Anfang des Krieges, neunzehnhundertvierzig, dorthin. Nach dem Tod meines Vaters. Du weißt doch, dass er gestorben ist?«

»Ja, der arme Gentleman. Ich wollte Ihnen schreiben, aber ich hatte damals selbst eine Menge Sorgen. Wir verloren unser kleines Haus in Stepney bei einem Bombenangriff und zogen zu meiner Schwägerin nach Yorkshire. Aber ich kam mit ihr nicht zurecht, und außerdem fand mein Mann da oben im Norden keine Arbeit. Also sind wir wieder zurück nach London. Wir wurden dann ein zweites Mal ausgebombt. Allerdings kamen wir etwas glimpflicher davon. Die Bombe rasierte uns das Dach ab, und wir gingen dann nach Surrey. Zum Glück nur für kurze Zeit, denn wir bewohnten dort ein Haus mit mehreren anderen Familien, mit denen nur schwer auszukommen war. Direkt nach Kriegsende sind wir dann wieder zurückgekommen.«

Nanny holte tief Luft und fuhr dann hastig fort:

»Wir nahmen mehrere Hausmeister-Jobs an, die einzige Möglichkeit für unsereins, ein Haus zu haben, und erst kürzlich kamen wir dann hierher in die Hill Street. Hier fühlen wir uns ganz wohl. Ich hab’ Ihnen mal ’ne Karte zu Weihnachten geschrieben, aber nie ’ne Antwort darauf bekommen.«

»Ich nehme an, sie ist bei der Post verlorengegangen«, sagte Sally. »Ich hätte dir auch längst einmal schreiben sollen, Nanny, aber irgendwie fand ich auf der Farm nie die Zeit dazu. Tommy wird dir ja erzählt haben, wie es bei uns zugeht, nicht wahr?«

»Ja, Liebes. Muss ja ein wundervoller Platz sein. Unvorstellbar, dass ausgerechnet Miss Amy auf die Idee kam, den Leuten auf diese Weise zu helfen. Ich wünschte, ich hätte früher davon gehört. Eine Woche oder zwei in einem Erholungsheim hätte ich auch gebrauchen können!«

»Oh, ich wünschte, du wärest zu uns gekommen, Nanny, das wäre herrlich gewesen. Doch ich werde nie mehr dorthin zurückgehen, jetzt, wo Tante Amy tot ist.«

»Das kann ich verstehen, Liebes. Sie wird Ihnen sicher fehlen, kann ich mir denken. Schließlich ist Blut dicker als Wasser.«

Bei Nannys liebevollen Worten füllten sich Sallys Augen mit Tränen.

Sie hatte so vieles durchmachen müssen, dass die unerwartete Freundlichkeit mehr war, als sie ertragen konnte. Sofort verwandelte sich Nannys Verhalten von Mitleid in Strenge.

»So, nun setzen Sie sich mal, Liebes. Sie werden müde sein, und unaufmerksam, wie ich bin, lasse ich Sie reden, ohne Ihnen zur Begrüßung auch nur eine Tasse Tee vorzusetzen. Ich hoffe, Sie können einen vertragen zusammen mit ’nem ordentlichen Stück Räucherschinken.«

»Oh, aber ist es nicht noch zu früh...« begann Sally, wurde jedoch von Nanny unterbrochen.

»Zu früh? Das ist wohl ’n Witz! Bin bereits mit meinem Tommy seit vier auf den Beinen. Es sind also wirklich keine Umstände für mich. War nie ’ne große Schläferin, wie Sie wohl noch wissen. Irgendwie hat man mit einem Ohr immer auf das Kindergeschrei geachtet. Nicht, dass Tommy so jung, wie er ist davon begeistert wäre, wenn ich ihn mit einem Kind vergleiche. Hält sich ja schon für ein gestandenes Mannsbild, der Bengel!«

Sally lachte, obwohl ihr Lachen noch ein wenig bedrückt klang. Nanny wandte sich ab und strebte zur Tür, doch Sally sprang von ihrem Sessel auf und folgte ihr.

»Ich komme mit in die Küche, Nanny. Ich bin es gewohnt, in der Küche zu essen. Irgendwie ist es gemütlicher.«

»Nun, dann kommen Sie mit, Liebling!«

Unentwegt redend brühte Nanny den Tee auf und schmierte eine Scheibe Brot, die sie. dick mit Schinken belegte.

»So, und nun lassen Sie es sich gut schmecken!« sagte sie.

Sally kannte diese Worte seit vielen Jahren, und sie fragte sich, ob sie darauf antworten sollte, wie sie es als Kind getan hatte.

Aber Nanny sprach schon weiter.

»Und bei wem werden Sie bleiben in London?« fragte sie, neugierig.

»Bei einigen Freunden, Nanny.«

»Und wo wohnen sie?«

»Auf dem Berkeley Square«, antwortete Sally.

»Das ist ja wunderbar!« Nannys Stimme klang zufrieden. »Dann sind Sie ja gleich um die Ecke, und wenn Sie mal nicht wissen, was Sie tun sollen, kommen Sie rasch auf ’nen Sprung vorbei. Und was werden Sie anfangen? Werden Sie sich einen Job suchen?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Sally. »Ich weiß es nicht, Nanny. Alles kam so plötzlich -Tante Amys Tod, die Reise nach London...«

»Nun regen Sie sich mal nicht auf, und wenn Sie mich brauchen, ich bin immer für Sie da, Liebling.«

»O Nanny, es ist so lieb von dir, das zu sagen!«

»Sie sehen ein wenig mitgenommen aus«, sagte Nanny kritisch, »aber ich denke, das kommt von dem, was Sie in der letzten Woche durchgemacht haben.«

Sally lächelte.

»Du möchtest mich am liebsten gleich wieder aufpäppeln, nicht wahr? Ich erinnere mich noch gut daran, welche Freude es dir machte, mich zu mästen, wenn ich krank gewesen war.«

»Unsinn, jetzt übertreiben Sie aber!« wehrte Nanny ab, aber Sally konnte ihr ansehen, dass sie über diese Bemerkung nicht gekränkt war.

»Erzähl mir von dir«, sagte Sally. »Du bist gern hier, nicht wahr?«

»Ja«, erwiderte Nanny. »Wir fühlen uns recht wohl hier unten. Die Leute, denen das Haus gehört, haben vor einigen Jahren drei Wohnungen daraus gemacht und sie an sehr angenehme Mieter abgegeben. Das sind einmal zwei Gentlemen, zwei Brüder. Der eine wohnt im Erdgeschoß, der andere unterm Dach. Außer ihnen gibt es noch ein Ehepaar, das den ersten und zweiten Stock bewohnt. Eine herrliche Maisonettenwohnung haben die beiden sich eingerichtet. Der Mann ist... oh, ich weiß die genaue Bezeichnung nicht mehr. Muss jedenfalls ein ziemlich hohes. Tier bei der italienischen Botschaft sein. Aber sie sind im Augenblick in Italien und kommen erst in drei Monaten zurück.«

Nanny unterbrach ihren Redeschwall, um Atem zu schöpfen, dann fuhr sie fort:

»Momentan hab’ ich mich also nur um die beiden Gentlemen zu kümmern. Wenn sie da sind, versorge ich ihre Wohnung und mache ihnen das Frühstück. Die anderen Mahlzeiten nehmen sie draußen ein.«

»Das klingt ja wundervoll, und so wie ich dich kenne, bemutterst du sie alle, wie du mich früher bemuttert hast.«

Nanny zwinkerte mit den Augen.

»Manchmal brauchen sie das«, sagte Nanny ernst. »Dabei ist der ältere der beiden Brüder ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle, würde ich sagen. Anders der Jüngere ein richtiger Schwerenöter, wenn Sie mich fragen. Aber symphytisch. Man muss ihn einfach gernhaben. Und er versteht es immer, seinen Willen durchzusetzen.«

In diesem Moment ging die Tür auf. Ein Mann, nur mit Hemd und Hose bekleidet, betrat die Küche.

Nanny ging auf ihn zu und sagte:

»Ah, da bist du ja, Fred. Wurde auch Zeit für dich! Wir haben Besuch. Miss Sally St. Vincent, deren Kindermädchen ich früher war. Ich hab' dir oft genug von ihr erzählt, und drüben auf dem Kamin steht ein Foto von ihr. Schau es dir an, wenn du mir nicht glauben willst.«

»Hallo«, sagte Sally, stand auf und reichte ihm die Hand. »Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich Nanny schon so früh am Tag einen Besuch abstatte.«

»Durchaus nicht, Miss«, murmelte Mr. Bird heiser. »Bin sicher, dass sie sich riesig gefreut hat.«

Sally merkte, dass er sich unbehaglich fühlte. Er griff sich mit der Hand an den Hals, als wäre er sich seines kragenlosen Zustandes peinlich bewusst. Verlegen zog er sich die Hosen hoch und blickte hilfesuchend seine Frau an.

»Ich glaube, ich mache mich jetzt auf den Weg«, sagte Sally. »Sobald ich mich etwas eingewöhnt habe, siehst du mich wieder, Nanny, das verspreche ich dir.«

Nanny machte keinen Versuch, sie aufzuhalten. Auch sie hatte bemerkt, dass der frühe Besuch ihrem Mann unangenehm war.

»Nun, auf Wiedersehen dann, Nanny«, sagte Sally und ging zur Tür.

»Nein, Augenblick«, rief Nanny. »Hier entlang!«

»Bin ich nicht durch diese Tür gekommen?«

»Das schon«, erwiderte Mrs. Bird. »Aber hinaus gehen Sie durch die richtige Haustür. Wo gibt’s denn das, dass eine St. Vincent die Kellertür benutzt!«

»Mein Gott, Nanny, wir leben nicht mehr vor dem Krieg.«

»Ich wohl«, sagte Nanny bestimmt und öffnete eine, andere Tür. »Hier die Stufen hinauf. Sie führen direkt ins Treppenhaus. Ich bleibe gleich hier, wenn’s Ihnen nichts ausmacht. Sie können den Ausgang nicht verfehlen. Mister Bird wartet auf sein Frühstück.«

»Aber natürlich, Nanny. Auf Wiedersehen, Liebste. Und vielen, vielen Dank für die freundliche Bewirtung.«

Sally winkte und lief die Stufen hinauf. Sie kam durch einen schmalen Gang und stand in einem prächtigen Treppenhaus. Ihr Blick fiel auf eine kunstvoll geschnitzte Tür mit einem silbernen Türklopfer. Offenbar der Eingang zu der Wohnung im Erdgeschoß.

Sally wandte sich zur Haustür, durch deren geschliffene Glasscheiben die frühe Morgensonne schien. Sie drückte die Klinke nach unten und sah, dass jemand das Haus betreten wollte.

Sally zog die Tür auf und stand einem Gentleman gegenüber, der einen Schlüssel in der Rechten hielt und im Begriff war, die Haustür aufzuschließen.

Hinter ihm holte ein Chauffeur gerade einen Koffer aus einem Auto, und neben ihm stand, mit freudig wedelndem Schwanz und treuherzig erhobenem Blick, ein goldbrauner Spaniel.

Unwillkürlich stieß Sally ein überraschtes »Oh« aus, als sie den Mann erkannte, den sie auf dem Bahnhof vor der Brücke gesehen hatte.

Ja, es war der Gentleman mit dem Spaniel. Er machte einen Schritt zur Seite, um sie vorbeizulassen. Sally blickte zu ihm auf, als sie die Stufen hinunterging, und da sie ganz sicher war, dass er es war, lächelte sie ihn an. Aber er reagierte nicht.

Kalt, fast verächtlich, wie ihr schien, sah er auf sie nieder. Das Lächeln erstarb auf ihren Lippen, und sie senkte verlegen den Blick.

Mit einem kaum merklichen Schulterzucken wandte er sich ab und betrat die Halle.

Sally ging die Hill Street hinunter Richtung Berkeley Square. Die Sonne schien die blass goldene Sonne des frühen Morgens. Doch Sally hatte plötzlich das Gefühl von Kälte und tiefster Einsamkeit.

Würde Lynn sich freuen, wenn sie plötzlich vor der Tür stand?

Sie hatte Angst...

II

Lynn betrachtete ihr Abbild in dem goldgerahmten Spiegel. Sie war sehr schön.

Das zarte ovale Gesicht war wundervoll in seinen Konturen, die graugrünen Augen leuchteten geheimnisvoll, und der Schwung ihrer roten Lippen war eine einzige Einladung. Sie verengte die Augen zu einem schmalen Spalt und erinnerte sich daran, dass ein Kritiker von ihr geschrieben hatte, sie sehe aus wie das personifizierte Verlangen, wenn sie so blickte wie jetzt.

»Achtunddreißig im nächsten Monat«, sagte sie laut, »und ich wette, dass niemand außer dir es auch nur vermutet.«

»Natürlich nicht«, antwortete die Angeredete ruhig, mit einer Spur Amüsiertheit in der Stimme. »Ich begreife nicht, weshalb du nicht damit aufhörst, dich selbst immer wieder daran zu erinnern, Lynn. Ist doch gar nicht gut für deine Haut. Es macht Falten, wenn eine Frau ständig irgendwelchen Problemen nachgrübelt.«

Lynn Lystell wandte dem Spiegel den Rücken und drehte sich zu ihrer Sekretärin um.

»Ich weiß nicht, was schädlicher für mich ist, das Grübeln oder deine Ratschläge, mich davor zu hüten.«

Mary Studd lachte. Sie war eine hübsche Frau, ohne den Anspruch erheben zu können, eine Schönheit zu sein. Sie besaß einen ganz eigenen Charme und war fast unwiderstehlich, wenn sie lächelte.

»Du siehst keinen Tag älter aus als zwanzig, Lynn, Liebes«, sagte sie. »Das möchtest du doch von mir hören, nicht wahr? Und obwohl dies nicht ganz der Wahrheit, entspricht, werde ich dir etwas sagen, was hundertprozentig zutrifft. Du bist heute viel, viel attraktiver als jemals zuvor in deiner Karriere. Hast du verstanden? Was ich dir da gesagt habe, ist wirklich die Wahrheit also solltest du mir einmal sehr aufmerksam zuhören!«

»Zuhören, zuhören! Das tue ich ja. Es ist doch genau das, was ich hören wollte. Sprich ruhig weiter, Mary.«

Mary klappte ihre Stenokladde mit einem leichten Knall zu.

»Mehr ist dazu nicht zu sagen«, erwiderte sie. »Außerdem hast du das schon von unzähligen Leuten gehört. Du bist eine schöne Frau, Lynn, und wenn ich du wäre, würde ich mein Alter vergessen!«

»Wie kann ich das, wenn du ständig in meiner Nähe bist?« fragte Lynn aufsässig.

»Nun, ich bin zwei Jahre älter als du«, erwiderte Mary. »Und so habe ich auch immer ausgesehen. Weißt du noch, wie wir uns das erste Mal begegnet sind und ich dich für siebzehn hielt?«

»Erinnere mich nur nicht an diese fürchterliche Vorsprechprobe«, bat Lynn. »Mein Gott, hatte ich eine Angst!«

»Aber du sahst wundervoll aus«, erinnerte sich Mary. »Und von Jahr zu Jahr bist du attraktiver geworden. Wenn du mich fragst, ich würde dich nie gegen die fünfundzwanzigjährige Lynn von damals austauschen wollen. Und dieser Meinung sind auch deine Fans!«

Sie sprach die beiden letzten Worte in einem leicht spöttischen Ton, der Lynn allerdings zu entgehen schien.

»Meine Fans«, wiederholte Lynn völlig ernst. »Sie ängstigen mich, Mary. Zum ersten Mal in meinem Leben.«

»Unsinn!« sagte Mary schroff.

»Nein, es ist kein Unsinn«, widersprach Lynn. »Sie könnten nicht damit einverstanden sein, dass ich einen Südamerikaner heirate.«

»Nun.« Mary verstummte und zuckte fast unmerklich die Schultern. Dann fuhr sie fort: »Wenn ich ehrlich bin, habe ich mir diese Frage auch schon gestellt. Aber Erico da Silva ist ein ganz besonderer Südamerikaner. Du kannst sogar sagen, er ist eine internationale Persönlichkeit. Außerdem ist er eine ungewöhnlich glanzvolle Erscheinung mit seinen Rennpferden, seinem Privatjet, dem Erfolg seiner Polomannschaft. All diese Dinge haben ihm in England zu einer Popularität verholfen, die es deinen Bewunderern leichter machen wird, ihn als deinen Ehemann zu akzeptieren.«

»Ich hoffe es«, sagte Lynn. »Aber ich habe in der letzten Zeit eine solche Publicity als Englands berühmteste Schauspielerin erlangt, dass ich fast das Gefühl habe, der Union Jack wäre auf meiner Stirn eingebrannt.«

»Wir sind alle sehr stolz auf dich!«

Wieder klang leichter Spott in Marys Worten mit.

»Oh, reden wir nicht mehr davon!« rief Lynn. »Die Sache ist entschieden. In zwei Tagen geht die Anzeige heraus, und der Himmel mag mich davor bewahren, dass einer dieser neugierigen Reporter mein wirkliches Alter herausfindet.«

»Das halte ich für sehr unwahrscheinlich«, meinte Mary. »Es ist uns doch all die Jahre gelungen, es geheim zu halten. Die letzte Vermutung, die von der Presse angestellt wurde, ging dahin... lass mich suchen! Ich muss die Meldung irgendwo hingelegt haben.«

»Zweiunddreißig«, stieß Lynn mit gepresster Stimme hervor. »Und das ist wie du dich erinnern wirst haargenau Ericos Alter.«

»Passt doch ausgezeichnet!«

»Ausgezeichnet«, erwiderte Lynn resigniert.

Es gab keinen Zweifel, dass sie immer noch bedrückt war, als sie sich vom Ankleidetisch erhob und über den blassblauen Teppich zum Fenster hinüberging. Sie zog die schweren pfirsichfarbenen Vorhänge zur Seite und blickte hinunter auf den Berkeley Square.

Es war typisch für Lynn, dass sie ein Haus auf dem Berkeley Square bewohnte, und genauso typisch war der langgestreckte grausilberne Rolls Royce draußen vor der Tür. Lynn Lystell war nicht nur eine Berühmtheit, sie besaß auch alle Rangabzeichen des Ruhms.

Einer der großen Theaterregisseure Englands hatte kürzlich geschrieben, dass sie die einzige Schauspielerin auf der englischen Bühne sei, die wirklich die Qualität einer solchen besitze.

Es war schwierig, Lynns Ausstrahlung in Worte zu fassen oder zu erklären, doch sie war unleugbar da, zeigte sich in jeder ihrer Bewegungen, in der Art, wie sie einen Raum betrat, wie sie die Augen aufschlug und ihr Gegenüber anblickte.

Leute, die sie nicht mochten, behaupteten, Lynn habe Unterricht genommen in der Kunst der Verführung, und vielleicht stimmte dies sogar, denn jedes Wort, das sie sprach, jede ihrer Gesten und Bewegungen waren wohlüberlegt und zielstrebig auf Wirkung abgestellt.