Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Wir schreiben das Jahr 1899. Bruno Rose ist ein junger, hervorragender Zigeunermusikant. Er verdient sich seit Jahren sein Geld indem er mit einem Planwagen durch die süddeutschen Lande zieht, und überall dort mit seiner wunderbaren Geige Gloria aufspielt, wo ein guter Musikant gebraucht wird. - Mit dabei sind seine temperamentvolle Frau Anna, eine Wahrsagerin, und sein halbwüchsiger Sohn Luca. In vielen Orten des deutschen Südens ist Bruno durch sein Geigenspiel bekannt und auch herzlich willkommen. Doch als Bruno bei einem mysteriösen Kartenspiel seine Geige und sein gesamtes Hab und Gut verspielt, ist die Not groß, zudem liegt plötzlich ein Mensch in seinem Blut. Bruno wird verhaftet und wandert, natürlich als Schuldiger, ins Gefängnis. Anna seine hübsche Frau, nimmt einen abenteuerlichen Weg über die Berge nach Tirol auf sich, um Hilfe für ihren Mann zu organisieren. Nicht weit, wird sie hoch oben in den kalten Bergen eingeschneit. Sie muss versuchen sich in der Bergwildnis durchzuschlagen um für Brunos Freiheit am Leben zu bleiben! Aber das Überleben im Hochgebirge wird zu einem einzigen Kampf, dem sie hilflos ausgeliefert ist, bis ein neues, spannendes Abenteuer Rettung verspricht. Im Tal macht sich ein katholischer Priester für Bruno stark, weil er an Bruno glaubt. Ein packender und abenteuerlicher Roman über Liebe und Leid einer jungen Sinti- Familie.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 677
Veröffentlichungsjahr: 2023
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Eine gewisse Sehnsucht Abenteuer zu erleben, schlummert sicherlich in vielen Menschen, so auch in mir, und zwar mein ganzes Leben lang. Und als dann Alexandra das Lied vom „Zigeunerjungen“ sang, und ich es wieder und wieder hörte, dachte ich mir, darüber schreibst du einmal.
Ja, und dann plötzlich heiratete ich eines Tages, sehr abenteuerlich, in eine große Sintifamilie hinein. Die vielen Erfahrungen, die ich während dieser Ehe machte, machten es mir leicht über Liebe und Leid, über Tod und Verlust, über Familientradition und über den unglaublichen Zusammenhalt der Sintifamilien zu schreiben.
Es war mir eine Freude und ein riesiges Abenteuer dieses besondere Buch zu schreiben, und ich danke allen Menschen, die damals um mich waren und mich als Sippenfremden annahmen. Ganz besonderer Dank gilt meiner damaligen Schwiegermutter Traubela, die mir Sitten und Gebräuche nahebrachte und mir eine ehrliche Freundin war.
Verworrene Wege ist eine freierfundene Geschichte, daher sind Namensgleichheiten rein zufällig.
Brigitte Christina Trautmann-Keller
Gleichmäßig ratternd rollten die Eisen beschlagenen Räder des hölzernen Zigeunerwagens über die holprige Landstraße. Der davor gespannte, klapperdürre Gaul schnaubte unwillig unter der Last, die er zu ziehen hatte. Auf der festen Lattenbank, die vor dem rumpelnden Wagen angebracht war, saß, den speckigen Hut in den Nacken geschoben und an einem Grashalm kauend, Bruno der Musikant. Bruno war ein Spross einer Zigeunersippe, die sich in nicht korrekt nachzuweisenden Zeiten, bei einer Art Völkerwanderung, von Osten kommend das westliche Europa zur Wahlheimat erkor, und sich durch beständige Wanderschaft den Deutschen Landstrich aussuchte, in dem sie reisen wollten.
Die wachsende Sippe war ständig in Bewegung und reiste von Süd nach Nord, von Ost nach West. Diese Menschen handelten mit guten Stoffen und Garnen, sie betrieben meist recht erfolgreich Pferdehandel. Sie verdingten sich als Spielleute, oder machten sich als temperamentvolle Musikanten in vielen Gegenden einen Namen. Manche von ihnen beherrschten die Kunst der Magie und vielerlei unerklärlicher Zaubereien. Andere wieder verdienten sich als Hellseher und mit dem Lesen aus den Lebenslinien, als geschickte Kartenleger und Deuter, als zukunftsauslotende Pendler, die gerne von Frauen mit Kinderwunsch besucht wurden, ihren bescheidenen Lebensunterhalt. So hatte sich ein jeder nach seiner Fertigkeit, seiner Klugheit, manchmal auch mit ein wenig Scharlatanerie und List eine Basis für sein eigenes Leben geschaffen.
Wo man die Zigeuner bereits kannte, und keine schlechten Erfahrungen gemacht hatte, wurden sie oft ein wenig abseits vom dörflichen Leben geduldet. Sie wurden von einigen geliebt, von anderen verteufelt. Sie konnten sich ihr Brot verdienen, dann, wenn nur ein kleiner Teil der einheimischen Bevölkerung dazu bereit war den Zigeunern die Möglichkeit dazu zu geben.
Hauptsächlich die Frauen, mit ihrem schönen, fremdländischen Aussehen waren es, die geschickt ihre Waren anboten und damit zu den Haupternährern in den Familien wurden. Auch dann waren Frauen und Mütter unermüdlich unterwegs, wenn es manchmal nicht ganz einfach war, Dinge an den Mann zu bringen, weil sich die Einheimischen reserviert und vorsichtig zeigten.
Ein Großteil der Frauen ließen sich selten beirren. Sie verfolgten zäh und ausdauernd ihr Ziel. Hatten sie hier kein Glück, so konnte das an der nächsten Türe schon wieder ganz anders aussehen! Ohne müde zu werden, schleppten sie Körbe bis zum Rand mit Ware vollgestopft, von Haus zu Haus, von Bauernhof zu Bauernhof. Viele der hübschen Zigeunerinnen überzeugten die Menschen, die sich mit ihnen einließen, geschickt vom Gegenteil derer Meinung. Frauen handelten und tauschten ihre Waren klug gegen Grundlebensmittel, Fleisch, Gemüse und Eier, denn sie hatten große Familien für die sie sorgten!
Die Sippe aus der Bruno stammte, konnte sich daher im Laufe von Generationen zu deutschen Zigeunern entwickeln, die später langsam, im Groben und mühsam, die deutsche Sprache erlernten. Die Vorfahren von Brunos Frau waren ebenfalls Sinti (Zigeuner). Sie entstammte einer nicht mit Bruno verwandten Sippe. Diese Familie reiste ebenfalls mit Pferden, Wagen und Trossen durch Deutschland. Viele ihrer Urväter lebten lange vor ihr in Deutschland und hatten gelernt sich zu behaupten.
Den Musikanten zog es jedes Jahr, spätestens dann, wenn sich die ersten Sonnenstrahlen zeigten, mit seinem Wagen, seinem Pferd, dem alten stämmigen Haflinger Max durch die Welt.
Man schrieb das Jahr 1899.
Seit Wochen trieb es Bruno umher. Unrast und Unruhe hatte sein Herz beschlichen. Es war nicht genau zu beschreiben, wie sehr sich sein Wesen veränderte. Immer an der gleichen Stelle verweilen, stets dieselben Gesichter, die gleichen Arbeiten, die man fast mechanisch erledigte! Lange schon hielt er Ausschau nach Fetzen von blauem Himmel und Sonnenzipfel, die die gefrorene Erde sanft berührten. Bruno konnte es kaum erwarten, dass sich der Frühling zeigte. Und mit jedem neuen Frühling zog auch wieder die Sehnsucht in sein Herz ein, die Sehnsucht, die nur ein reisender Mensch sein Eigen nennt!
Es war jedes Jahr das Gleiche. Nun wurde er sich wieder bewusst, es war die Freiheit, die ihn lockte, die sein Blut, dachte er an die Reise, in wilden Schüben durch seinen Körper jagte und Bruno ein Prickeln in den Venen verspüren ließ, dass er meinte, er müsse vergehen! Wie eine gleichmäßig schlagende Uhr, die jede Minute, jede Sekunde zählt, wartete Bruno auf den Aufbruch zu neuen Abenteuern.
Auch in diesem Jahr hatte Bruno frühzeitig den kleinen Karren angespannt. Das gebogene Dach des Wagens war mit fester Leinwand überzogen. Eine Menge wichtiger Gegenstände, die man nicht im Wagen unterbringen konnte, da dieser zu klein und zu eng war, hing rings um den Wagen herum, sie klirrten und klapperten während den Fahrten. Es waren eiserne Töpfe und Lampen aus fein ziseliertem, glänzendem Messing, zudem vielerlei nötige Werkzeuge, um mit eigener Hand Reparaturen ausführen zu können.
Bruno reiste meist gut gelaunt und pfeifend mit seinem treuen Haflinger durch das grüne Hügelland in Deutschlands Süden. Bei seinen Reisen wurde Bruno nicht nur von seiner jungen Frau Anna begleitet, sondern auch von seinem halbwüchsigen Sohn Luca. Die junge Familie hatte sich nach einer Auseinandersetzung mit anderen Familienmitgliedern entschlossen, für eine gewisse Zeit einen eigenen Weg einzuschlagen.
Auf den Reisen, die die Familie durch die verschiedensten Gegenden führten, in denen sie oft tagelang fuhren ohne auf ein Dorf oder eine kleine Stadt zu treffen, durften die wichtigsten Dinge nicht vergessen werden! Einer dieser Dinge war der riesige, blanke Kupferkessel, in dem Anna die köstlichsten Suppen aus gutem abgehangenem Rindfleisch oder zarten fetten Hühnern in feinen Gemüsen, dazu herzhaftem frischem Knoblauch, garte. Anna brodelte darin ihre temperamentvollen, feurigen Eintöpfe die sie aus kräftig gerauchtem und gutdurchwachsenem Balingermass (Schweinefleisch) mit dicken Bohnen zubereitete. Es waren Gerichte, die jedem der in die Nähe geriet, das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.
Das Allerwichtigste aber für Bruno war Gloria, eine Geige. Gloria, war die allesüberragende Göttin seiner musikbegabten Zigeunerseele! Gloria schuf ein genialer Meister des Geigenbaues aus dem nördlichen Italien, einem Landstrich, den man die Lombardei nannte. Er war ein späterer Meister, der aus der berühmten Schule der Geigenbauerfamilie Amati stammte, die im 17. Jahrhundert eine weltbekannte Geigenbauerschule in Cremona, der Hauptstadt der Lombardei, gegründet hatte. Der berühmteste Sohn dieser Geigen bauenden Familie war Nicola Amati. Seine hervorragenden Geigen gelangten zu Weltruhm. Aus dieser Geigenbauerschule gingen die namhaften Schüler Antonio Stradivari und Guiseppe Guarnieri hervor. Sie gelangten zu hohem Ansehen und verliehen der Schule bis weit in das 18. Jahrhundert, Glanz und Ruhm. Gloria stammte zuverlässig aus den geschickten Händen eines der Nachfolger dieser Geigenbauerschule, und wurde nach alten Plänen in liebevoller Kleinarbeit erschaffen. Der elegante, geschwungene Korpus dieser Geige war aus den wertvollsten Hölzern, den besten Materialien geschnitten, geformt und mit unendlicher Liebe zum Detail gearbeitet worden.
Gloria war des Geigers Brunos ständige Begleiterin und sein ganzer Stolz! Sie war unverzichtbar für ihn und kostbarer als alles Gold der Welt. Und er, Bruno der Zigeuner, durfte diese schönste aller Geigen sein Eigentum nennen. Mit seiner Geige hatte sich Bruno zu einem Leben in bescheidenem Wohlstand hochgearbeitet. Seine kleine Familie wurde immer satt, und für ein wenig Habe und ein bisschen bunten Firlefanz, den die junge Anna so liebte, hatte es auch immer gereicht.
Bruno war im Laufe der Jahre zu einem genialen Virtuosen geworden. Sein Leben galt fast ausschließlich der Musik. Für Bruno war es fast so, als wäre diese wundervolle, schlanke Violine, eine heißbegehrte Geliebte! Sie wurde für Bruno zu seiner Wundergeige, die all sein Denken und seine gesamte Gefühlswelt bestimmte.
Im nahenden Herbst, wenn der Wind begann, die ersten Blätter von den Bäumen zu blasen, zog es Bruno mit Familie, mit Pferd und Wagen über die mächtigen Schneeberge ins wärmere Tirol. Begann die Reise dorthin zeitig genug, reisten sie, erlaubte es auch noch die Witterung, gerne viele Tagesreisen weiter, bis ins auch im Winter noch sonnigere Italien. Jedes Mal, wenn Bruno im Herbst mit seinem Gespann, seiner Frau und seinem Sohn über die Tiroler Berge zockelte, packte Bruno die Sehnsucht nach dem Süden so stark, dass er gerne die Strapazen einer längerdauernden Reise auf sich nahm! Dann fuhr er mit seinem Gefährt nicht den vorgesehenen Überwinterungsplatz an, sondern schlug kurzerhand und ohne eine Widerreden zu dulden, weiter südlich, der lockenden italienischen Sonne nach.
Des Zigeuners feuriges Herz hüpfte vor Freude, als der Brennerpass hinter ihnen war, und auch das Penserjoch, immer steil abwärts, geschafft war. Wenn das kleine Gefährt auf der schmalen Wegstrecke, die durch das von hohen Bergen gerahmte Sarntal führte, gemütlich dahinschaukelte, fand Bruno seine Seelenruhe wieder!
Er betrachtete die trutzigen Burgen, alter, adliger Tiroler Geschlechter mit Wohlwollen, die sich mächtig zu den mit Laubbäumen bewachsenen, schroffen Bergwänden hinstreckten. Der Weg, der nach Bozen im schönen Etschland führte, war holprig und unsanft. Aber Bruno nahm das ungemütliche Reisen ohne Murren in Kauf, brachte sie doch jeder neue Landstrich, jeder schöne Ort, näher dem ersehnten Süden Italiens entgegen.
Die gleichmäßige und gutbefahrbare Landstraße, die bis hin zu norditalienischen Stadt Verona führte, war für Pferd und Wagen leichter zu bewältigen als die hinter ihnen liegende Strecke. Das alte Verona, eine gemütliche Stadt, die durch die bewegte Geschichte des unglücklichen antiken Liebespaares, Romeo und Julia, weithin bekannt war, lag, wie Bozen, im Einzugsgebiet der wilden Etsch. Nach kurzer Nachtruhe fuhren sie, kaum war die Sonne aufgegangen, ohne Morgenkaffee weiter, dem erstrebten Ziel entgegen.
Immer wieder waren schlechte Wege und löchrige, gestampfte Straßenabschnitte anzutreffen, die den Wagen schaukeln ließen, als wäre er ein Schiff in stürmischer See. Doch Bruno sah keinen Grund für ein Aufgeben ihres Vorhabens, denn je südlicher sie kamen, um so überwältigender zeigte sich ihnen die italienische Landschaft.
Als Bruno den Tross durch die Stadt Bologna, der ältesten europäischen Universitätsstadt lenkte, zog er ehrfürchtig den Hut. Bruno achtete engagierte Menschen, die sich einem langen und oft auch kostspieligem Studium verschrieben hatten. Er selbst hatte niemals das Glück gehabt, auch nicht als junger wissensdurstiger Mensch, dass er auch nur eine einzige Schulklasse in einer Volksschule ständig besuchen konnte. „Jedem das Seine“, tröstete er sich, dafür war er zum Vollblutmusiker geboren und konnte die Menschen mit seiner Musik glücklich machen. „Das war fast so, als wenn ein tüchtiger Dramaskro (Arzt), seine Patienten mit allerlei bitteren Pillen, stinkenden Tinkturen, oft aus hochgiftigen Pflanzen hergestellten Arzneien und Salben, die beißende Gerüche ausströmten, heilen könne, meinte Bruno von sich überzeugt. Nur, er hatte es nicht mit kranken Menschen, mit deren Blut, Eiter und anderen ekeligen Sekreten zu tun, sondern mit Menschen deren Seelen erkrankt waren, die durch seine Musik gesundeten. Ja, er war in der Tat zu einer Art Arzt geworden! Er war Seelenarzt geworden und konnte Menschen mit seiner Musik glücklich machen, dachte Bruno stolz. Nur das mit einem ständigen Einkommen, das wollte und wollte nicht so richtig gelingen!
Nachdem sich die kleine Familie auf der antiken Piazza in Bologna in einer rauchigen Trattoria, nach Gusto eine reichbelegte, duftende Pizza, dampfenden Kaffee, schwarz und köstlich, zu Gemüte geführt hatten, setzten sie ihren Weg flott und in bester Laune fort.
Langsam verbreiterten sich die staubigen Straßen und an den sanften Bergen und Tälern wuchsen weitausladende Pinien und dunkle, spitze Zypressen. Mehr als die Hälfte des Weges den sie in Italien zurücklegen mussten, hatten sie bereits hinter sich gebracht. Freilich war es im Süden während der Winterzeit auch kalt und regnerisch, aber die Sonne ließ sich dort doch öfter sehen als an den schroffen Hängen und in den engen Tälern und Schluchten, zwischen den Bergen auf der Südseite der Alpen. Hier schien auch im Winter die Sonne, zwar weniger heiß und kraftstrotzend, doch sie schenkte ihren milden Wintersonnenschein dem hügeligen Toskana-Land. Sie erhellte mit ihrem milchigen, leicht gefrorenem Lichtschein auch in winterlichen Tagen das öde Dunkel der nach Sonne lechzenden Menschenseelen.
Es reizte Bruno der Gedanke, dass sie kaum eine halbe Tagesreise weiter südwestlich von Florenz, in der gastlichen Toskana die Möglichkeit hatten, ihren Winter auf einem verwitterten Weingut zu verbringen. Hier fühlten sich Bruno und seine Familie heimisch und glücklich. Sie kannten jeden hübschen Ort, jeden Landstrich. Die häufigen Besuche in der Gegend um das Städtchen Massa Marittima ließ die Familie sich hier zugehörig fühlen. Die dem Weingut nahegelegene alte Stadt Massa Marittima wurde zu ihrem Anlaufort. Massa Marittima, die befestigte Stadt, die sich einen hohen Berg hinaufzog, thronte wie ein schönes Juwel mitten in der grünen, meist von samtenen, flachen Hügeln durchzogenen Landschaft. Massa Marittimas wuchtiges Gotteshaus, ein prächtiger Dom, war vor langen Jahrhunderten aus mächtigen Steinquadern in schweißtreibender Arbeit erbaut worden. Der Doma war an der Vorderfront mit unzähligen schlanken Türmchen verziert und hatte schmale, hohe, nach oben hin gebogene Fenster. Eine schwere, aus dunklem Hartholz gefertigte Eingangstüre lud zum Besuch und einem in sich gekehrten Gebet ein. Verwinkelte Stufen führten zum Gotteshaus empor. Die Menschen verweilten andachtsvoll und betrachteten mit erhobenem Haupt den gewaltigen Kampanile. Er erhob seinen viereckigen Glockenturm filigran, mit unzähligen fenstergleichen Öffnungen versehen, dem schwarzblauen Nachthimmel und den funkelnden Sternen entgegen. „Hier bin ich!“, schien der Glockenturm dem Himmelzelt mit seinen weithin tönenden Glocken entgegenzurufen!
Im Inneren der Kirche erhob sich ein massiver, gelblicher Marmoraltar. Das schwere, nach oben gezogene Altardach, das einen spitzen Aufbau trug auf dessen Mittelteil zu allen Seiten, je ein Engelskopf, umgeben von aufgefalteten, goldenen Flügeln thronte, zog alle Betrachter in seinen Bann. Der prächtige Hauptaltar wurde von zwölf gigantisch, großen Marmorsäulen getragen. Durch ein riesiges Rundfenster, in Blau und Gelbtönen gehalten, links gegenüber des Altares, flutete mäßig helles Licht und beleuchtete silberschimmernd die wuchtigen Säulen. In spitzen Hausdächern ähnelnden Nischen mit Lilien, Schnörkseln und zierlichen Bögen geschmückt, getragen von marmornen Sockeln, standen menschengroße Heiligenfiguren mit andächtig geneigten Gesichtern und gefalteten Händen.
Dunkle, teilweise verwitterte Heiligenbilder, die Patina der Jahrhunderte tragend, hingen an den Längsseiten des Kirchenschiffes. Unter manchem der imposanten Bilder waren schmale, steinerne Altartische angebracht, von denen gestärkte Deckchen mit feiner Lochstickerei herabhingen. Die einfache Bestuhlung war glänzend und ebenholzfarbig
Von der Eingangstüre aus rechts über den Mittelgang, stand ein prächtiges Taufbecken aus gelblichem Marmor. Kunstvoll eingemeißelte, halbhohe Heiligenfiguren zierten die Seiten. Kerzen in geschmiedeten, silbrig glänzenden Kerzenhaltern spendeten ihr kleines Licht den niedrigen Kniebänken unter den Seitenaltaren. Sie ermutigten die Kirchenbesucher zu einem stillen Gebet. Die schönste und erhabenste aller Frauen, die heilige Mutter Gottes, war hier so schön und lieblich wie nirgends anderswo in einem Gotteshaus, fand Bruno, der niemals Massa Marittima besuchte ohne den Fuß in den Dom zu setzten, um dort für eine Weile Ruhe und Kraft zu schöpfen.
Das Provinzstädtchen Massa Marittima mit seinen massiven, mehrstöckigen Stadtgebäuden, deren rote Ziegeldächer von trutzigen Zinnen gesäumt waren, die aus dem etruskischen Zeitalter stammten, bot sich Bruno und seiner Familie als glänzende Perle des Südens dar. Der weitgereiste Zigeuner hatte seine Freude am Durchstreifen der engen Gassen, des Erklimmens der steilen, gepflasterten Wege, die hinauf in die Oberstadt führten. Hunderte von flachen, steilen Treppenstufen führten, gewunden oder schnurgerade vorüber an verwittertem, grasbewachsenem Gemäuer. Vorüber an idyllischen, gebogten Toren und Törchen. Vorbei an schnuckeligen Häuschen im landestypischen Stil, weit empor, hoch über die Dächer der alten Stadt, zum imposanten Porta Candeliere, dem Tor des Lichtes, in die Neue Stadt, die ihre erste Grundsteinlegung im frühen 12. Jahrhundert beurkundet hat.
Diese lebendige Kleinstadt an der toskanischen Weinstraße bot Bruno und den Seinen eine gute Gelegenheit sich in den Bottegas, Allimentarias, Panetterias, mit Brot, Fleisch, frischem Käse und auch sonst mit allem Nötigen zu versorgen. Hatte Bruno Muse, dann setzte er sich gemütlich mit den Einheimischen zusammen. Zum größten Teil kannte er die Leute schon jahrelang. Man setzte sich an einem der Tischchen zusammen, trank genüsslich ein oder zwei Gläschen Rotwein. Man tischkerierte mit Händen und Füßen, man kratzte alle im Gedächtnis hängen gebliebenen fremden Worte zusammen, man lachte das Lachen das keiner Sprache bedarf, und es kam mit temperamentvollen Gebärden und Gesten zur guten Verständigung. Man fand neue Freunde!
Bruno sehnte sich mit allen Fasern seines Herzens danach, seine hungrige Seele baumeln zu lassen und im folgenden Frühling das beginnende Erblühen der Toskana, das Blühen der vielen Zitronenbäume, und des gelben, würzig duftenden Ginsters zu erleben. Der Musikant roch förmlich den verführerischen Duft der weiß blühenden Akazienbäume. Tausende Singvögel zwitscherten ihre süßen Melodien in die Welt hinaus. Lebendige Tagträume spiegelten ihm die Bilder der sich unendlich aneinanderreihenden, saftig grünen Hügel vor, leuchtend und in den allerschönsten Farben, die die Natur zu bieten hatte. Glühende Teppiche von erblühenden Pflanzen, die sich an den Rändern zu Wein- und Olivengärten hinzogen, kamen Bruno in den Sinn. Er träumte von riesigen Feldern, dick und dick bewachsen mit hochroten Mohnblumen, die auf ihren hellgrünen, behaarten Stängeln mitten im Frühjahrswind wogten. Brunos Herz und seine Sinne versanken in einem Meer aus schillernden Farben und den herrlichsten Düften. Hier konnte seine Fiedel singen wie nirgendwo anders! In diesem Land konnte man das Leben in sich fühlen! Jeder einzelne Atemzug erfüllte Brunos Herz mit prickelnder Leichtigkeit. Hier war es Lust zu leben, hier wollte er sein! Wohin das Auge reichte, überall konnten sich Bruno und Anna an der Hügellandschaft erfreuen. Eingerahmt von tiefgrünen Zypressen tauchten immer wieder sandsteinrote, bäuerliche Anwesen auf. Die weiten Felder waren von knorrigen Rebstöcken und grünsilbern schimmernden Olivenbäumen bedeckt. „Der Hauch des Südens begrüßte sie!“ Es war schön ein reisender Mensch zu sein, dachte Bruno in diesen Augenblicken! Die ganze Welt lag ihm zu Füßen. Die Freiheit, sie war ein unersetzbares, kostbares Geschenk!
Ihre Überwinterung auf dem, schon ein wenig verfallenen Weingut kostete der jungen Zigeunerfamilie fast nichts. Die Bauern in deren Hof sie stehen durften, waren einfach und wohl auch nicht begütert. Der Reichtum dieser Menschen war die Familie. Es waren die sanften Weinhügel, die prächtigen Olivengärten, die die toskanische Familie mit Liebe und Hingabe bewirtschaftete.
Man hatte sich arrangiert. Bruno, der geschickt in vielen handwerklichen Dingen war, half im Gegenzug zu dem Wagenstellplatz und dem Wasser, das sie für das tägliche Leben benötigten bei Reparaturen von Wagen und Ackergeräten, kurz bei allem was bevor die nächste Sommerzeit da war, gerichtet werden musste. Eine Hand wusch immer die andere!
Nach getaner Arbeit saß Bruno erschöpft, aber glücklich, zusammen mit seiner Romni (Frau), seinem Tschabo (Sohn) und den gebräunten Weinbauern am gedeckten Tisch vor dem rustikalen Steinhaus. Die Bauernfamilie lud ihre Gäste zum Abendbrot. Alle Zusammengekommenen erfreuten sich an würzigem, regionalem Käse und duftendem weißem Brot. Dazu bot die Bäuerin herzhaftgeräucherten Schinken aus Parma und getrocknete, norditalienische Salami an. Sie aßen mit Herzenslust Mengen von aromatischen getrockneten Tomaten, die in frisch gepresstem Olivenöl und Kräutern eingelegt waren. Auf großen, roten Keramikplatten lagen hübsch angeordnet, grüne, rote, und gelbe, zartwürzige Paprikafilets. Sie waren leise geschmurgelt in gutem Öl, mit frischen Knoblauchzehen und Thymianzweigen zur Verfeinerung des Geschmackes. Der überwältigende Geruch von frischem Pane, von Pasta Peperoni und eingelegtem Knoblauch zogen durch Hof und Garten. Und man aß Oliven dazu, Oliven frisch vom Baum. Und man aß riesige Oliven raffiniert mariniert, mit zartem Paprika oder geschälten Mandeln gefüllt. Verführung jeden Auges und jeder Zunge. Es gab keine Mahlzeit ohne den dort heimischen, trockenen Chianti. Er wurde aus drei kräftigen Rebsorten zusammengestellt: der weißen Malvasia, und zwei weiteren, roten Rebsorten, dem würzigen San Siorete und dem erdigen Canasolo. Zu einem großen Teil wuchs dieser kernige Wein um den stark sonnenbeschienenen, mittelhohen Berg herum, den Monte San Michele, der stattliche 893 Meter hoch war. Dieser sorglos getrunkene Wein brachte Schwung und Leichtigkeit in die Abende. Alle Menschen amüsierten sich und waren ausgelassen. Man trank den Chianti reichlich, und in großen Zügen. Man prostete sich freundlich zu. Bruno spielte, glücklich und voller überschäumender Lebensfreude auf seiner feinen Fiedel. Und wäre es nicht so schwer den Tag nach solch einem Gelage wieder in Gang zu bringen, dann hätte sich Bruno sicherlich Öfter im verführerischen Chianti ersäuft.
Wochen vorher:
Auch für dieses Jahr hatten sich Anna und Bruno fest vorgenommen in den frühen Herbsttagen mit Sack und Pack über die Alpenpässe nach Tirol zu reisen. Aber erst, wenn der Proviant und die nötigen Dinge für die Reise besorgt und auch alles andere geordnet wäre. Zuerst mussten die abgelaufenen Hufe des Pferdes beschlagen werden. Der Wagen sollte der Sicherheit wegen vor der Abfahrt überprüft sein, und auch die Eisenräder mussten nachgesehen werden. Später brauchte man ordentlich Proviant. Dann sollte sie eigentlich wieder beginnen, die ersehnte Reise nach Tirol. Und wer konnte dann schon genau sagen, ob es nicht, wie in so manchem anderen Jahr, weiter hinunter in den warmen Süden gehen könnte!
Wie immer ratterte der scheppernde Wagen eintönig über die Landstraße dahin. Bruno schwang die Peitsche und schnalzte übermütig über dem alten Pferd, um ihm das Laufen beizubringen! Max war heute träge als hätte er bereits eine lange Tagesfahrt hinter sich gebracht.
Hin und wieder gab es triste Tage, in denen nichts, aber auch gar nichts gelingen wollte. Bruno war an solchen Tagen ein wahrer Teufel. Er bockte, war missmutig, gereizt und er fluchte vor sich hin, was das Zeug hielt. Alles was ihm vor die Füße kam stieß er launisch beiseite. Und schmeckte ihm gar das vorgesetzte Essen nicht, verschwor er sich auf seine selige Mutter, dass er nie mehr einen Bissen aus der Küche seiner Frau essen würde. Dann kam Luca. Er hielt seinem schimpfenden Vater die Fiedel vor das zornige Gesicht und nickte ernsthaft. Er blitzte ihn mit seinen dunklen Augen an und gab Bruno den Bogen in die geballte Hand: „Spiel!“, bedeutete das. Behutsam fuhr der Musikant über sein Instrument, küsste zärtlich den Korpus der Violine, setzte sie auf die linke Schulter unter sein Kinn, schielte auf Luca zu, zupfte mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand locker an einer der Saiten, um schließlich beschwingt mit dem Bogen aus Pferdehaar über die gespannten Saiten zu tanzen. Brunos Seele hatte sich mit den süßen Lauten der Geige vereint und ließ sein Herz unkontrollierte Saltos der Verzückung schlagen! Wie fortgeflogen war jeder Unwille, die schlechte Laune. Sein zorniges Antlitz wurde weich und schön. Gloria, die Wundergeige hatte aus Bruno wieder einen verträglichen Menschen gezaubert.
Abends, wenn die mühsame Tagesfahrt ihr Ende hatte, wenn sie gemeinsam am hellflackernden Lagerfeuer saßen, die duftende Suppe im Kessel brodelte, entlockte Bruno seiner Violine solch glockenhelle Melodien, dass es Luca, der sich wünschte, später einmal ein großer Geiger zu werden, heimlich die Tränen in die Augen trieb. Dann legte er den müden Kopf in den Schoß seiner Mutter und träumte. Lucas Mutter begann zu singen, sie sang mit schönster Stimme alte wehmütige Zigeunerlieder.
Wo brauchas me Lobi,
Was brauch ich Geld?
Wo brauchas me Sonnegei?
Was brauch ich Gold?
Miro raupelepen, miro Wago,
Meine Familie, mein Wagen,
miro Grai,
Mein Pferd,
aber du hane gei!
aber du bist dabei!
Diese alten Lieder erzählten von herrlichen wilden Pferden, von schönen Wagen, heißer Liebe und von tiefem Glück, das niemals enden sollte. Diese alten Lieder erzählten aber auch von Leid, von schrecklichen Kämpfen und von dem Tod, dem keiner entkam!
Der säuselnde Wind trug die wunderschöne Stimme Annas in die Nacht und Luca entschlummerte in das Land seiner Träume. Frühmorgens, wenn die Vögel in Wald und Feld das Trällern begannen, der Tau noch schwer auf Gräsern und Halmen lag, zog Bruno mit seinem schweren Wagen weiter. Die alte Ziege, die ihnen noch immer täglich einen Krug Milch spendete, trottete bockig hintendrein.
Der neue Tag versprach dem Musikanten und seiner Familie ein neues Abendteuer. In dem bayerischen Dorf Bichl wurde eine Bauernhochzeit gefeiert. Der wohlhabende Vater der Braut hatte viele Gäste aus nah und fern geladen. Er hatte Bruno gebeten, während des Tages für die Unterhaltung seiner Gäste mit der Fiedel zu sorgen und abends zum beschwingten Tänzchen aufzuspielen.
Lucas Mutter Anna hatte zu diesem besonderen Anlass ihr bestes Kleid aus der alten Truhe geholt, und sich mit feinen, glitzernden Ohrringen geschmückt. Aus den schwarzen Augen seines gutgelaunten Vaters konnte Luca lesen, dass dieser sehr stolz auf seine kleine Frau war. „Weiß Gott!“, dachte auch Luca, dass seine kleine Mutter wohl die schuckerste Romni (schönste Frau) auf der Welt sei!
Die Fahrt auf der gewundenen Landstraße zog sich hin. Immer wieder zog Bruno sein kariertes Taschentuch hervor, um sich damit über die schweißglänzende Stirn zu fahren. Endlich war es so weit. In der nebeligen Ferne tauchte ein bunter Kirchturm auf und man konnte sehen, wie sich der metallene Wetterhahn im Wind bewegte. Lucas junges Herz pochte vor Erwartung. Bruno zog irgendwann eine langaufgesparte letzte Zigarre hinter dem Ohr hervor, beleckte sie genüsslich, biss einmal kräftig in das Mundstück hinein, spuckte im hohen Bogen, roch daran, rieb sie zwischen den Fingern hin und her, dass es knisterte und zündete schließlich die Zigarre an. Dieses Zigarre-Anzünden war ein strenger Ritus. Luca sah jedes Mal wie gebannt zu. Voll Behagen sog Bruno den Zigarrenrauch in seine Lungen ein, hüstelte, schob seinen Hut in den Nacken zurück und kratzte sich hinter seinem Ohr. Dann erhob er stolz die Brust, drehte an seinem glänzenden Schnurrbart und summte eine beschwingte Melodie dazu.
Das Dorf Bichl war nähergekommen. An allen Straßenrändern standen lachende Kinder und winkten mit Blumen. Alle Einwohner schienen auf den Beinen zu sein! Alt und Jung, jeder hatte sich in Schale geworfen und sich so schön wie möglich gemacht, für diesen einen besonderen Tag. „Bruno, der Zigeuner kommt!“, schrien die Kinder und hüpften freudig von einem auf das andere Bein.
In dem Dorf Bichl war Bruno längst kein Fremder mehr. Mehrere Male war er bereits in diesem Ort gewesen. Auf dem Krämermarkt, der einmal im Jahr stattfand, hatte Bruno mit seiner Violine schon oft Musik gemacht. Er hatte sich immer gut unterhalten und sich mit interessanten Leuten angefreundet, man wusste ja nie so genau!
Die scheue Anna hatte Frauen und Männern aus der Hand gelesen, oder ihnen die magischen Karten gelegt. Fiel das Ergebnis gut aus, bekam die junge Zigeunerin oft mehr gelöhnt als sie verlangte. Wahrscheinlich war das was sie voraussagte eingetroffen, denn die Menschen waren der Familie wohlgesinnt. Überhaupt war Brunos Frau eine kluge und besonnene Frau, denn sie plauderte nur über die guten Dinge der Zukunft: „Schlechte Ereignisse würden sich von allein finden!“, sagte sie.
Die junge Sinteza Anna war von besonderer Schönheit und hatte schön geformte, feine Hände. Sie hatte es nicht allzu zu schwer in ihrem Berufsleben, denn alle Leute die sie betrachteten, mochten Annas Wesen. Bruno strich, als sie ins Dorf einfuhren, über Annas leichtgerötete Wangen, dann erreichten sie ihr Ziel.
Die Hochzeit war bereits in vollem Gange als sie eintrafen. Aus der Dorfkirche quoll das Ende der Menschenmenge heraus, die der Hochzeit beiwohnen wollten und doch keinen Platz fanden. Es war eine große Hochzeit. Vor der geschmückten Dorfschenke standen reihenweise Bänke und mit Wiesenblumen geschmückte Tische. Man roch den Weihrauch, der dem Weihrauchkessel entströmte, welchen ein rotbackiger Ministrand ehrfürchtig schwenkte, während er in kleinen Schritten vor Hochwürden herlief.
„Endlich vorbei!“, ungeduldig trippelte Luca von dem einem Bein auf das andere. Die Menschen bildeten eine Gasse und dem glücklichen Brautpaar voraus, schritt freundlich blickend, Hochwürden. Der Bräutigam führte seine ihm eben angetraute Frau. Sie war von elfenhafter Blässe und trug schimmernde Tränen in den Augen. Kräftig wurden Hände geschüttelt, man umarmte sich, küsste hin und her, und man gratulierte endlos. Es wurden Geschenke überreicht und Blumensträuße durch Kinder abgegeben. Kleine Bengel spielten Fangen zwischen den Beinen der Erwachsenen. Die Zeit dehnte sich und schien langsam zu einer kleinen Ewigkeit zu werden. Während der gesamten Zeit stand Luca mit seinen Eltern abseits und langweilte sich tödlich. Dann kam der Brautvater hinzu, brachte einen Krug Wein, begrüßte Bruno mit einem kräftigen Schlag auf die Schulter und forderte den Geiger freundlich auf aufzuspielen. Und der Musikant spielte! Er spielte jede Melodie, jedes fröhliche Lied das er kannte. Seine Geige lachte und weinte. Brunos Hand hüpfte sachte und flink über die gespannten Saiten hin, und zackige, tanzbeschwingte Töne animierten die Hochzeitsgäste lustig das Tanzbein zu schwingen. Alle waren zufrieden und klatschten nach jedem neuen Stück begeistert in die Hände. Manch einer wischte sich, bewegt von der Musik, Tränen aus den Augen.
Dann kam der kühlere Abend, es wurden Lichter angezündet. Mütter brachten ihre müden Kinder zu Hause zu Bett. Und Bruno spielte weiter und weiter. Man trank Wein und Bier und ließ sich die vielen aufgetischten Speisen schmecken, und irgendwann begann man zu singen.
Die einkehrende Nacht war ruhig, nur die Grillen zirpten ihr Lied der Sehnsucht. Zwischen Grashalmen leuchteten Glühwürmchen, leiser Wind wehte. Luca, müde von den besonderen Erlebnissen, mit überfülltem Magen, kauerte sich auf eine Bank und schlief den Schlaf des Gerechten.
Nach herzlichen Abschiedsworten, beladen mit anerkennenden Gastgeschenken, und etwas mehr Geld im Säckel, verließen der Musikant und seine Familie den gastlichen Ort.
D ie Raisa, die Reise musste weiter gehen. Bruno konnte nicht rasten. Kaum hatte er sein Geigenspiel während der Hochzeit hinter sich gebracht, packte ihn erneut die Unruhe und zog ihn weiter.
Unermüdlich zog das alte Pferd den Wagen über Berge und durch Täler. Sie kamen durch einsame, frösteln machende Gegenden. Gegenden, die Anna die Gänsehaut über den Rücken jagten. Hier und da gönnte man sich trotz lähmender Unsicherheit kurze Verschnaufpausen, in denen das Pferd zur Ruhe kommen sollte.
Sich den großen Stadi (Hut) ins Gesicht ziehend, legte sich Bruno, hatten sie einen guten Platz gefunden, gerne in den Schatten eines alten Baumes, während Anna die Ziege für einen Becher Milch melkte. Luca, jung, voller Energie und Tatendrang, schwang sich kraftvoll in die Bäume und kletterte, wie ein Affe von Ast zu Ast, um sich dann erschöpft ins weiche Gras sinken zu lassen.
Am plätschernden Bach wusch Anna, von ihrem Mann liebevoll Traubela genannt, weil sie zur Zeit der Traubenlese geboren war, mühsam, aber ohne Zeitdruck die Wäsche. Es waren Tage die Bruno liebte. Tage ohne Hast und Eile, Tage des Friedens und der inneren Ruhe!
Eines Tages erzählte der Musikant seiner Familie, dass man sich nun auf den Weg zum jährlich stattfindenden Treffen der Sinti machen wolle. Traubela, Lucas Mutter schien ziemlich aufgeregt als sie davon hörte. Dann erzählte sie ihrem Sohn, dass sie, es sei nicht allzu lange her, auf solch einem Treffen Lucas Vater zum ersten Mal sah.
Es trafen sich viele Sippen. Nahe Verwandte, ferne Verwandte. Wildfremde Menschen aus nah und fern, fanden sich nach und nach auf dem Gelände ein! Fremdanmutende, stolze, und reiche ungarische Zigeuner trudelten ein, und suchten sich unbeirrbar, hocherhobenen Hauptes die besten Stellplätze nahe des Wassers. Von den Ungarn erzählte man sich, dass sie sich ihre Frauen kaufen würden, und zwar in jedem Land durch das sie mit ihren Wagen zogen. Und sie bekamen was sie wollten, weil sie Unsummen für gesunde, junge Frauen bezahlen würden. Mancher tschorbelo Sinto (arme Zigeuner) verkaufte‘ auf diesem Wege seinen größten Schatz, seine bildhübsche Tochter, auf die die ganze Familie stolz war, weil er seiner Tochter und seiner Familie ein besseres Leben gönnen wollte. Ihr junges Leben wurde in purem Gold aufgewogen.
Durch die Ehe mit einem reichen Roma (Zigeuner) aus dem östlichen Teil Europas, verbesserte sich meist die wirtschaftliche Situation der Brautfamilie. Denn diese bekam durch die Ehe der Tochter, die Chance eines Tages ebenfalls zu bescheidenem Wohlstand zu gelangen.
War die junge Frau klug und konnte sich mit der Roma-Sippe arrangieren, und konnte dieses Mädchen auch noch durch ihre Jugend und ihren Anmut den Mann, den sie heiraten musste (meist handelte es sich um ältere Männer, die bereits einen guten Teil ihres Lebens hinter sich hatten, die aber gerade deswegen reich und verwegen waren), um den Finger wickeln, dann hatte sie gesiegt. In solchen Fällen stand den jungen Frauen meist ein verwöhntes, reiches Leben bevor. Sollte eine junge Frau aber nicht willig sein, oder sich gar gegen den ungeliebten Rom (Gatten) wehren, dann geriet die Frau in die schwierige Situation zu einer tschumli bediza (schmutzigen Magd) für ihren ungeliebten Mann und dessen Familie zu werden. Nicht selten wurden diese jungen Geschöpfe von Sippenmitgliedern misshandelt, geschlagen, oder auf jede mögliche Art gepeinigt und gezwungen, sämtliche niedrigen Arbeiten in der Sippe zu verrichten.
Traf man dann mit der Familie der jungen Frau zusammen, gab man die unwürdige Frau unter schlimmsten Beschimpfungen zurück, und forderte am Ende gar den Brautpreis zurück, auf Tod und Verderben
Waren in Städten oder Dörfern arme, private Menschen anzutreffen, die lieber ein Maul weniger stopfen wollten, dann konnten sie leicht mit den fremden Roma ins Geschäft kommen. Es war auch möglich Wickelkinder unterzubringen, denn je jünger das Menschlein, umso besser konnte es in die neue Familie integriert werden, für gute, klingende Münze versteht sich. Bei diesem fremden Stämmen konnte das Balg dann aufwachsen, wie ein eigenes Kind.
Meist waren die Ungarn Pferdehändler, oder handelten mit seltenem Schmuck und alten Münzen. Öfter war auch ein wenig Lumperei dabei, weil das Gold nicht so rein war, wie man versprach. Vielleicht lahmte auch mal das erstandene Pferd, oder es hatte sonst noch Mängel, die nicht offenkundig waren. Diese Menschen waren sehr oft wahre Meister der Überzeugungskunst.
Die eitlen Männer trugen straffe, lederne Hosen, die im Knie endeten. Sie waren mit silbernen Schnallen verziert und reich bestickt. Dazu trug man hochpolierte, lange Stulpenstiefel. Ein weites, naturfarbenes Hemd mit aufwendiger Stickerei an den weiten, trompetenförmigen Ärmeln, wurde unter einem kurzen, schwarzem Wams getragen, und machte einen schönen Kontrast zu dem Dunkel der übrigen Kleidung. Der etwa knielange, geschlitzte und engtaillierte schwarze Mantel, mit schönen Borten und goldfarbenen Kugelknöpfen angetan, machte die typisch ungarische Kleidung zu einer wahren Augenweide. Auf seinem Kopf trug der ungarische Zigeuner einen flachen, schwarzen Hut. Stolz präsentierte er sich mit Ohrringen und einer Vielzahl an wertvollen Ringen an seinen Fingern. Die vom Großvater ererbte, wertvolle Gambana (Taschenuhr) durfte auf keinen Fall fehlen, selbst dann, wenn man nicht imstande war die Uhr zu lesen.
Die Ungarn waren feurig und stolz. Wenn sie lachten, blitzten goldene Zahnreihen aus ihren Mündern. Sie waren ohne Zweifel großartige, tollkühne Reiter. Mit der langen, mit Silber verzierten Peitsche kreisten und knallten sie wild über ihren Köpfen und ritten stehend, im teuflischen Galopp, nur mit den Zügeln in der Hand auf ihren edlen Pferden.
Auch ihre sehr dunklen Frauen waren besonders gekleidet. Über ihren breiten, schwarzen Zöpfen trugen die Rakia (Mädchen) und Sintezas (Zigeunerfrauen), enganliegende rote und bunte Tücher, die im Nacken zum festen Knoten zusammengebunden waren. In die Stirn hingen blinkende goldene Münzen. Schweres goldenes Ohrgehänge verlieh den Frauen ein besonders stolzes, fremdes Aussehen.
Die meist schönen Frauen trugen wallende und bodenlange Faltenkleider mit Schürzen, die mit gedrehten Bändern und blitzenden Metallspangen verziert waren. In den Innenseiten der weiten, unterfütterten Röcke waren große Taschen eingenäht, in denen man etwas Wichtiges verstecken konnte. Baumwollene, bunte Tücher wurden lose um die Schultern der schlanken Frauen geschlungen.
Die ungarischen Sippen unterschieden sich stark von den meisten anderen Sintis. Sie protzten gerne mit dem was sie hatten. Oft waren sie unangemessen überheblich, hektisch, angriffslustig, und sehr laut, wenn sie feierten.
Über die Berge kamen die österreichischen Sintis. Sie kamen in großen Scharen, denn die Reise war nicht so lange und auch nicht so anstrengend wie die Anreise der Roma aus den Balkanländern. Trotzdem, auch wenn es weit war, wer es sich irgendwie leisten konnte, folgte dem Ruf zum Sippentreffen.
Sie kamen mit Pferden und Wagen. Waren reich und arm. Sie handelten und tauschten. Männer sprachen über Pferde. Sie tranken gerne und viel, sie sangen ihre alten, überlieferten Lieder. Die Musikanten spielten ihre Weisen auf den verschiedensten Blech und Holzinstrumenten, ein riesiges Lagerfeuer brannte.
Geschwätzige Frauen hockten im Feuerschein zusammen und flüsterten sich lachend und kichernd, mit vorgehaltener Hand, kleine intime Geheimnisse zu. Irgendwann begannen die Zigeuner zu tanzen. Es wurde ein wildes Fest. Das große Feuer prasselte glühendrot dem Himmel entgegen. Die laue Nachtluft war geschwängert mit dem wunderbaren Duft von latscho Balingermass, Schuttleschach und dato Madreli (guten Schweinefleisch mit Sauerkraut und heißen Kartoffeln).
Und durch den Schein des hochflammenden Feuers entdeckte Bruno, bei den geschwätzigen Frauen sitzend, die schuckerste Rakli (das schönste Mädchen), das er jemals gesehen hatte. Bruno hatte sich sofort in diese Rakli (Mädchen) verschaut. Diese schuckere, tschi puri, gali Tschai (Schöne, junge, schwarze Frau) hatte ihn restlos verhext. Brunos Augen hingen an ihren purpurnen vollen Lippen, er sah ihre sinnlichen, tiefschwarzen Augen, die wie die reinsten Feuersterne sprühten! Er war verloren, war gefangen von ihren ebenmäßigen Gesichtszügen, von ihrer zierlichen, geraden Nase, den schöngeschwungenen dunklen Augenbrauen und der karamellfarbenen Haut. Niemals hatte Bruno ein anmutigeres, schöneres Mädchen gesehen. Bruno bestaunte das galo Bal (schwarze Haar), das dieses Mädchen wie ein wallender Mantel umfing, und ihr weit über die schmalen Hüften fiel. Das war sie! Sie war die Göttin seines Herzens! Er wollte dieses Mädchen erobern, oder er wollte sterben!
Viele der Väter verheiraten ihre Töchter während des Festes, genau dazu kam man zusammen! Es war ein Heiratsmarkt, wie er im Orient praktiziert wurde. Auch die älteren, vielleicht weniger gut ansehnlichen Töchter wurden, gab es eine stattliche Mitgift an den ‚Mann‘ gebracht. So hatte alles im Zigeunerleben seinen Sinn!
Anna hatte von Anfang an nichts gegen diesen wilden Burschen einzuwenden, der, das fühlte sie, sie mit glühenden Blicken verschlang. Er war ein hübscher, drahtiger Bursche, braungebrannt, mit wunderschönen weißen Zähnen. Sein Körperbau war muskulös und sehnig, außerdem hatte er eine stattliche Größe, gerade so, wie sich Anna ihren zukünftigen Beschützer vorstellte. Dieser Mann gefiel Anna!
Die Väter feilschten um die Mitgift, Anna kostete ordentlich Brautgeld. Als sich das Fest dem Ende zuneigte, ritt Bruno mit seinem Pferd vorbei, hob die junge Zigeunerin zu sich hinauf und verschwand mit ihr in der Nacht. Bruno hatte seine Braut getschort (gestohlen, entführt). Ein alter, überlieferter Brauch.
Am nächsten Tag wurde standesgemäß und voller überschäumender Freude romadino (Sinti-Hochzeit) gefeiert. Drei Tage und drei Nächte lang. Der Bräutigam und seine Braut mussten sich, so war es Sitte, bei allen älteren angesehenen Onkels und Tanten, Paten und Patinnen, abmangern (die Heirat erbetteln oder aushandeln). Die heimliche Heirat wurde bekannt gegeben. So, dass das romadino (die Heirat), von allen Sippenangehörigen gestattet wurde! Damit nichts gegen einen Zusammenschluss der Familien sprach.
Es war wichtig zu verhindern, dass verfeindete Sippen durch eine unmögliche Heirat verbunden wurden und Schwierigkeiten entstanden. Jegliche Unklarheit musste am Hochzeitstag aus dem Weg geschafft werden! War alles klar, so reichte ein kleiner Schlag, ausgeführt durch die wichtigsten Familienangehörigen, Großvater, Großmutter, Vater, Mutter, Brüder, auf die Wangen der Brautleute, das bekundete das Einverständnis. Wurde die Verbindung nicht durch die Sippe stattgegeben, galt die Kurzehe als Ausrutscher, und als nicht geschlossen.
Lucas Mutter glühte als sie mit ihrer Erzählung fertig war. Sie streichelte ihren Sohn und neigte ihren Kopf zu ihm. „Freilich“ fuhr sie fort, „gab es auch Treffen, die schlecht endeten!“
Wenn sich zum Beispiel eine verheiratete Frau, oder auch ein Mann, vergaßen, sie während des Feierns einem anderen mit aufreizenden Blicken Avancen machten, oder sie gar auf der Stelle ein heimliches Techtelmechtel begannen, untreu waren! Wenn sie sich neu verliebten, so war dies ein schweres Vergehen und wurde, um die Ehre der Familien wiederherzustellen, mit dem Hurenschnitt bestraft.
Diesen Schnitt führte entweder der Ehepartner, ein Bruder, oder gar die Mutter des gehörnten, in der Ehre verletzten Familienangehörigen aus, indem man dem untreuen Partner ein scharfes Rasiermesser durch das Gesicht zog. So waren diese untreuen Personen für ihr Leben gekennzeichnet. Ein Hurenmensch, konnte jeder erkennen!
Wenn eine Verbindung durch eine Heirat zwischen zwei verschiedenen Sippen zustande gekommen war, und der Untreue die Ehre einer anderen Sippe besudelte, kam es nicht selten vor, dass es zu einer gewaltigen Sippenfeindschaft kam. Jeder Angehörige hielt treu zu seinen Menschi (eigenen Leute).So kam es häufig vor, dass die restlose Genugtuung nur im Kampf zwischen den jeweiligen Familien ausgefochten werden konnte. Und zwar mit allen Mitteln! Dem Ehrlosen wurde oft, trotz des Beistandes der Familie, das Recht auf das Leben in der eigenen Großfamilie für längere Zeit entzogen! Er musste sich beweisen und geläutert sein. Ein strenger Ehrenkodex der Sippe gegenüber, der unbedingt einzuhalten war. Glücklicherweise kamen solch gravierende Ereignisse nicht allzu häufig vor.
Treffen, die unter normalen Umständen verliefen, gerieten trotzdem oft durch den Genuss des unmäßig getrunkenen Alkohols, oder irgendwelcher Rauschmittel, die auch gerne mal gepafft wurden, aus der Fassung. Dann war es möglich, dass gezankt, geschubst, geschlagen, geschossen oder gestochen wurde. Nur allzu leicht käme das heiße Zigeunerblut in Wallung. Der nächste Tag brachte dann die schmerzliche Ernüchterung!
Lucas Mutter warnte davor, die Gefühle allzu sehr tanzen zu lassen, das brächte meist Unheil!
Es war noch Zeit bis zum großen Treffen mit den vielen anderen Sinti aus nah und fern, und Bruno hatte sich fest vorgenommen beim Vorbeiziehen im Gut Lärchenhof vorbeischauen. Mit dem Gutsherrn verband Bruno eine lange und herzliche Freundschaft.
Es war viele Jahre her. Bruno war damals noch ein junger, forscher Mann, als er gutgelaunt mit dem Einspänner durch den luftigen Sommerwald fuhr. Ein wenig vom Weg ab, sah Bruno plötzlich ein gesatteltes Pferd, ohne Reiter grasen. Er fing das Reitpferd ein und machte sich, nichts Gutes ahnend, auf die Suche nach dem Reiter. Zwei Steinwurf entfernt, entdeckte Bruno den besinnungslosen Reiter zwischen Laub und Gras auf dem Waldboden liegen. Vorsichtig legte er den verletzten Mann in seinen Wagen und brachte ihn auf dem schnellsten Weg ins nächste Dorf zu einem Landarzt.
Lange hatte man um das Leben des Verletzten gebangt. Dieser erholte sich nach schwerer, langer Zeit von seinen schlimmen Verletzungen und kam schließlich wieder zu neuen Kräften.
Viele Tage und Nächte waren seither ins Land gezogen und Bruno war längst mit seinem Pferdespann weitergezogen. Er zog es vor, über diesen Vorfall nicht weiter nachzudenken, schließlich war das Hilfeleisten ein Gebot der Nächstenliebe! Klar dachte er hin und wieder einmal daran, und daran, ob es diesem armen Menschen gut ging. Doch sein eigenes Leben war dadurch nicht verändert worden, also war auch für ihn alles gut!
Irgendwann stellte sich jedoch heraus, dass dieser verunglückte Mensch der Herr des großen Gutshofes war, in dessen Nähe sie im Sommer öfters ihr Nachtquartier aufschlugen. „Es war ein guter Platz, den sie dort hin und wieder anfuhren!“, dachte sich Bruno nachdenklich. „Dieser Platz war genauso wie sie ihn brauchten. Es gab große, saftige Wiesen um ein hungriges Pferd grasen zu lassen, es gab einen wunderbar klaren und fischreichen Bach, der ordentlich Wasser mit sich führte, sodass man auch manchmal ein kühles Bad wagen konnte!“ Schließlich wurde bekannt, dass der Herr des Gutshofes glücklich war, den schweren Sturz überlebt zu haben, und er war dem freundlichen Unbekannten, von dem man sagte, dass dieser Zigeuner sei, unendlich dankbar, dass ihm dieser ohne Umschweife in seiner Notlage geholfen hatte. Und der Gutsbesitzer bemühte sich seinen barmherzigen Retter irgendwie ausfindig zu machen, um ihm für seine Hilfe zu danken.
Es versetzte Bruno dann auch in Erstaunen, als man ihn eines Tages bat, als Gast mit seinem Wagengespann zum Gut Lärchenhof zu kommen.
Das war der Anfang einer langen, guten Freundschaft. Und genau heute freute sich der Musikant darauf seinen, für einen deutschen Zigeuner ungewöhnlichen Freund, einen Gutsherrn, herzlich zu begrüßen. Aus diesem einen Grunde holte Bruno seine schlanke Gloria, die schöne Geige aus der alten Holztruhe im Inneren des Wagens und spielte, während er über Stock und Stein fuhr, frohe Weisen zu spielen.
Luca, Brunos Sohn, hing unterdessen seine nackten Füße hinten aus dem Karren heraus und ließ diese durch das weiche Gras gleiten. Auch für ihn war der Gutshof eine willkommene Abwechslung. Er liebte das langgestreckte Gebäude mit seiner herrlichen steinernen Veranda, die von wuchtigen marmornen Säulen getragen wurde. Mächtig freute er sich auf die schnurrenden Kätzchen und auf Wotan, den riesigen, bunten Bernhardiner. Vor allem aber freute sich Luca auf die vielen prächtigen Pferde des Gestüts. Hier auf dem Hof durfte Luca reiten solange er wollte. Er konnte mit Wotan den Bergwald, der mit hohen Lärchen bewachsen war, durchstreifen. Und wenn er abends müde zu Bett ging, umlagerte ihn fast ein Dutzend miauende, schnurrende Kätzchen.
Ungeduldig freute sich Luca darauf dem Gutsherrn zu zeigen, was er in mühevoller Arbeit mit und durch seinen Vater gelernt hatte. Seit mehr als zwei Jahren war Luca seines Vaters eifrigster Geigenschüler. Und nun konnte er aller Welt beweisen, er war wirklich der Sohn seines Vaters, denn auch er konnte „Gloria“, die kostbare Geige seines Vaters spielen! Genau wie sein Vater konnte Luca der Geige Gloria Sinne berauschende Klänge entlocken. Süße, schwere Melodien voller Melancholie, oder auch Melodien, die so voller Temperament und Kraft waren, dass sie jeden Menschen erbeben lassen konnten!
Langsam ratterte der hölzerne Wagen in die mit Steinen gepflasterte Einfahrt zum Gutshof. Um alles besser beobachten zu können kletterte Luca vom Inneren des Zigeunerwagens auf den hölzernen Kutschbock hinaus. Alles war unverändert, stellte er fest. Der Rasen war kurzgehalten, die alte steinerne Parkbank stand, genau wie im letzten Jahr, noch immer auf drei Beinen. Und auch auf dem Dach des niedrigen Gesindehauses fehlten noch immer jede Menge rostrote Ziegel.
Laut bellend sprang ihnen der große Hund entgegen, er wedelte freudig mit seinem buschigen Schwanz. Wotan hatte seinen Spielgefährten wiedererkannt. Freudestrahlend, kreischend und quietschend, kam den durch das Tor einfahrenden Menschen die rotbäckige Kinderschar des Verwalters entgegengestoben.
Leichtfüßig sprang Luca vom fahrenden Wagen, dem schwänzelnden Hund und den tobenden Kindern entgegen. Schrill durch seine Finger pfeifend, schnellte Bruno in einem Satz hoch auf den Sitz des Kutschbocks und griff sich die lockeren Zügel. Kurz ließ er sie schleifen, langte temperamentvoll nach der langen Peitsche und knallte mehrmals laut, indem er sie mit Schwung mehrmals über sich im Kreis drehte und schließlich auf den Erdboden peitschen ließ. Dann fuhr er die letzten Meter laut lachend, im höllischen Trab bis vor das Herrenhaus, um dann mit, „brrrr“, die Zügel starr zum Bremsen anzuziehen! Der alte Holzwagen ächzte und knarrte, als wollte er zerbersten. Ängstlich spitzte Anna, sich krampfhaft festhaltend, hinter dem schweren Veloursvorhang vor, der vor dem Wageneingang angebracht war.
„Brrrr!“ rief Bruno noch einmal laut. Kieselsteine wirbelten durch die Luft. Dicke Staubwolken ließen alle Umherstehenden den Atem anhalten. Max gehorchte und hielt, wie befohlen, an, in dem er sich mit den Vorderhufen leicht aufbäumte und kräftig schnaubte, um seine Gefühle kundzutun. Der Karren ächzte und quietschte. Und langsam senkten sich die riesigen Staubwolken. Jetzt war es allen auf dem Gutshof klar: Bruno, der wildblütige Zigeuner war wieder im Land!
Mit einem großen Satz sprang Bruno tollkühn über Zügel und Peitsche und landete wippend wie ein Ball, sicher auf seinen bestiefelten Füßen. Er zwirbelte seinen schwarzglänzenden Schnurrbart und eilte strahlend auf Albert, den sichtlich erfreuten Gutsherrn zu. Ihn hatte das laute Peitschengeknall und das schrille Geschrei der Kinder aufmerksam gemacht. Nun eilte er, sein ergrautes Haar aus der Stirn streifend, mit ausgebreiteten Armen durch die offene Verandatüre, seinem Freund entgegen. Es war ein schöner Anblick. Der von Kraft strotzende Musikant, mit den unsagbar weichen Händen, voller Gefühl, voller Vitalität und von Lebenslust überschäumend, und Albert der drahtige Gutsherr. Alle Güte der Welt leuchtete aus seinem kantigen Antlitz. Seine tiefblauen Augen erweckten das Gefühl, als könne es keine Lügen und kein Unrecht in der Welt geben. Der allererste Blick hatte es Bruno, dem Sinto verraten, hatte man Albert zum Freund, dann war es für immer und ohne jegliche Konsequenz!
Lucas Mutter Anna hüpfte federnd aus dem alten Gefährt, schüttelte ihr schwarzes Haar zurecht, ordnete die Falten ihres bunten Rockes und eilte den quatschenden, sich umarmenden Männern entgegen. Hier, an diesem Ort, hier hatten sie ein kleines Stückchen warmes zuhause gefunden! In der strahlenden Idylle des Gutshofes und seiner Länderei durften sie sich wohl und sicher fühlen!
Während der Begrüßung der Eltern mit deren Freund, rangelte Luca mit den Buben des Gutshofes auf der Wiese hinter dem Herrnhaus herum. Er begann gerade damit, sich mit Karl, dem blondgelockten Sohn des Verwalters anzufreunden. Beide Jungen verglichen bunte Murmeln und tauschten hin und her. Luca, bereits geschäftstüchtig denkend, achtete listig darauf, dass er sich geschickt die eine oder andere besonders schöne Kugel erschwindeln konnte. Und Karl, der großzügige Verwaltersohn tat so, als bemerke er die kleinen Tricks des jungen Sinto nicht. Schließlich sollte man, begänne man eine neue Freundschaft, nicht zu geizig denken, überspielte er klug das jungenhafte Geschehen. Die beiden ungleichen Jungen striffen begeistert durch die blühenden Wiesen. Sie versteckten sich in den hohen Maisfeldern und beobachteten die geschäftigen Waldameisen, wie diese ihre Puppen flink von einem zum anderen Ameisenhügel beförderten. Luca und Karl fingen kreischend Frösche und Kröten, deren Rücken voller hässlicher Warzen waren. Sie sammelten Blindschleichen und badeten ihre kleinen, glühenden Füße im kühlenden Bach. Es war gut für beide geworden, denn jetzt waren sie endgültig zu Freunden geworden.
Langsam kam der Abend. Die weißen Nebel stiegen wie Schleier aus den Wiesen und hüllten alles in ihren Schutz ein. Am dahinplätschernden Bach trällerte die Nachtigall ihr Liedchen. Und von diesem Tag an waren die beiden wilden Buben unzertrennliche Freunde.
Auf der hellerleuchteten Veranda des Lärchenhofes war noch lange reges Leben. Es wurde erzählt und gelacht, gegessen und getrunken, und es brach bereits der frühe Morgen an, als man sich gute Nacht sagte.
Gut gelaunt bat Albert Bruno, ihn am nächsten Morgen zum Pferdemarkt in einer nahen Gemeinde zu begleiten. Als großer Pferdeliebhaber wusste Bruno genau, welches Pferd man wo kaufen durfte. Von Kindesbeinen an war ihm von seinem seligen Dadda (verstorbenen Vater) beigebracht worden, wie man erkannte welche Merkmale ein gutes Ross zu haben hatte. Leider war Bruno trotz allem Wissen stets nur ein armer Musikant geblieben, der zwar im Herzen glücklich war, sich aber dennoch immer sehnsüchtig ein eigenes junges Pferd wünschte. Es machte Bruno stolz, von Albert eingeladen worden zu sein. Nicht zu oft gab es für die beiden Freunde die Möglichkeit, ohne Anhang, ohne Kind und Kegel, einfach nur ein paar Stunden gemeinsam zu verbringen, nur sie beide. Doch hatten sie irgendwann die Gelegenheit, dann wurde es schamlos von ihnen ausgenützt. Dann konnten sie fachsimpeln, konnten sich austauschen, oder auch einmal einen richtig groben, herzerquickenden Witz reißen, der nichts für andere Ohren war! Albert war zu jedem Spaß zu haben und er freute sich, genau wie Bruno auf eine kurzweilige Ausfahrt zum weitbekannten Pferdemarkt in der nächsten Gemeinde.
Er war ein stattliches Gestüt, dieser Lärchenhof. Des Gutsherrn schöne und gepflegte Tiere waren weithin bekannt und berühmt. Zu gewissen Zeiten sorgte er für frisches Blut bei seinen Zuchttieren, und genau heute war es wieder so weit, der Gutsherr wollte für seinen dreijährigen Schimmelhengst Ragna eine gute Zuchtstute erstehen. Sie sollte Ragna ebenbürtig sein. Edel und Temperamentvoll sollte sie sein, hatte er sich vorgestellt. Dennoch, nicht immer war es einfach, das richtige Pferd zu finden, denn auch solide erscheinende Pferdehändler waren oft gnadenlose Trickganoven, die Fehler gut übertuschen konnten. Und zwar so genial, dass man sie erst viel zu spät erkannte! Und wenn man sich bereits an das Tier gewöhnt hatte, und es vielleicht auch schon mochte, hatte man auch kaum noch die moralische Chance dazu, einen schmerzenden Rücktausch vorzunehmen. Bruno Rose kannte aus eigener Erfahrung, wie man mit weniger guten Tieren zugange war, und wie man aus einem alten Gaul ein gutes Pferd machte. Auch ihm hatte schon ein wenig Ruß, getöntes Wachs, kleine Mengen Fett, kurz an eingerissenen Hufen herumfeilen, und wenn nötig, ein wenig an den braunen Zähnen herumschleifen, manch gute Barschaft eingebracht!
Die beiden frühaufgestandenen Männer fuhren mit dem schnellen Einspänner im spritzigen Galopp zum geöffneten Tor des Gutshofes hinaus.
Auf dem Marktplatz des Ortes war dichtes Gedränge. Es roch penetrant nach Schweiß, Tabak, nach Leder und billigem Fusel. Auf den Wegen ringsumher lagen dampfende Pferdehaufen. Pfiffige Musikanten spielten und ließen nach jeder Darbietung lustig den Hut herumgehen. An hölzernen Buden konnte man leckere Bratwüste in knusprigen Wecken, geräucherte Würste und Zitronenlimonade erstehen. An Balken gebunden, tief im Stroh stehend, durfte man die gepflegten Pferde begutachten. Viele Arten wunderschöner Rosse waren zu bestaunen. Vom schweren, kraftstrotzenden Ackergaul über flinke, wiehernde Ponys, bis hin zum nervös tänzelndem Araber. Die interessierten Händler betrachteten ausgiebig Pferd und Hufe. Sie öffneten jedes Pferdemaul und sahen nach den Zähnen. Dann stand man beieinander und fachsimpelte lautstark. Man rechnete und feilschte, genoss Gelungenes und maulte über Niederlagen. Man achtete sorgsam darauf was andere taten, und man schnappte schließlich blitzschnell zu: “Gekauft!“, brüllte man unüberhörbar. Darauf schlug man sich kräftig auf die massigen Schenkel und spuckte ordentlich in die groben Bauernhände: „Man war sich einig geworden!“
Als sich Albert und Bruno auf den Heimweg machten, waren sie nicht allein. Es begleitete sie, an der Rückenlehne des Einspänners angezurrt, Freia, eine prächtige Schimmelstute. Erfreut von ihrer vortrefflichen Wahl, genossen Bruno und Albert die kurze Heimfahrt. Albert zog seine Mundharmonika aus der Joppentasche und spielte einige vergnügte Weisen.
In sachtem Schritttempo, lachend und singend, fuhren die Männer mit dem leichten Gespann an einer winzigen Wallfahrtskapelle vorbei. Sie stand auf einem grasbewachsenen Hügel und reckte ihr lustiges Zwiebeltürmchen, dessen grünkupfernes Dach in der Nachmittagssonne wie Speck glänzte, zum wolkenlosblauen Himmel hinauf. Neben dem schweren Holztor zum Inneren der Kapelle, stand auf einem kahlen Felsbrocken, ein mächtiges Kruzifix, an dem ein leidender, hölzerner Christus hing. Als die Männer an dem hohen Holzkreuz vorbeifuhren, war es beiden als würde ihnen der geschnitzte Herrgott zunicken. Bruno erschauderte in Mark und Bein, und bekreuzigte sich tief bigott vor dem bleichen sterbenden Herrgott am Kreuz. Trotzdem war hier ein guter Ort der Stille, dachte Bruno zufrieden. Später saßen zwei vollkommen verschiedene Menschen in stiller Harmonie und Eintracht nebeneinander, und es war ohne erklärende Worte alles gesagt.
Als das weit geöffnete Hoftor des Gutes in Sicht kam, war es bereits Abend geworden. Hell leuchteten die Gaslaternen vor dem Haus und Schwärme von kleinen Mücken tanzten lustig um das milchig warme Laternenglas.
Vor dem hölzernen Zigeunerwagen brannte ein flackernd heißes Lagerfeuer und aromatischer Duft von frischem Kaffee durchzog die Nasen der Heimkehrer. Rings um die Feuerstelle saßen dichtgedrängt, sich engzusammenkuschelnd die Hofkinder und lauschten der Märchen erzählenden Stimme von Lucas Mutter. Durch den wunderbaren Kaffeeduft angelockt, gesellten sich dann auch die beiden Männer, Bruno und Albert, zu der Gruppe lauschender Menschen. Anna schenkte lächelnd ein und beide Männer schlürften genüsslich eine Tasse heißen, Kaffee. Schemenhaft wiegten sich die Blätter der nachtschwarzen Bäume im Abendwind, und der fahle Mond lugte neugierig hinter dicken Wolkenbergen hervor.
Dann, ein Schrecken für alle! Die bisher unentdeckt gebliebene Stute Freia machte auf sich aufmerksam. Sie wieherte und wieherte, stieß mit der Hinterhand aus, bäumte sich auf, so dass die schlohweiße Mähne um ihren schlanken Pferdekopf wehte. „Hallo, hier bin ich,“, wollte sie wohl sagen, „kümmert euch um mich!“ Wie gebannt starrten die Anwesenden auf das wunderschöne Tier, und langsam löste sich Luca von den am Lagerfeuer sitzenden Menschen. und ging voller Entzücken auf das tobende Pferd zu. Weit hatte es die Nüstern gebläht und heißer, dampfender Atem quoll aus seinem schäumenden Maul. Nervös schnaubte es, verdrehte seine kohlschwarzen Augen unruhig. Und wie in Trance bewegte sich Luca vorwärts, Bein für Bein, und stand dann, den Atem anhaltend, staunend vor der unruhig tänzelnden, wunderschönen Stute. Luca flüsterte dem Pferd ganz leise zu. Er legte zaghaft seine feuchte Hand auf ihre geblähten Nüstern und fing an, das aufgeregte Pferd ganz sanft zu streicheln. Er strich ihr leicht über den Kopf und über ihr glänzendes Fell. Immer und immer wieder. Mit wirr in die Stirn hängenden Locken flüsterte Luca der nervösen Stute zärtlich in ihr zurückgelegtes Ohr. Er schnalzte mit seiner Zunge und sprang als er die Leine gelöst hatte, auf den ungesattelten Rücken des wilden Pferdes. Als sei ihnen die wilde Horde auf den Fersen rasten Pferd und Reiter zum geöffneten Tor des Lärchenhofes hinaus. Langsam löste sich die Starre der Menschen, die dem fantastischen Schauspiel beigewohnt hatten. Fragend blickte man dem unerschrockenen Jungen auf dem Rücken des muskulösen Pferdes nach. Bruno freute sich über den Mut seines Jungen und wünschte ihm Hals und Beinbruch! Deutlich zeichnete sich die Silhouette des Tieres und des Reiters am mondbeschienen Waldrand ab.
Einige Zeit später, als der junge Reiter mit seinem Ross zum Gut zurückkam, war aus Pferd und Reiter eine harmonische Einheit geworden. Luca strahlte aus tiefschwarzen Augen, er war glücklich! Das prächtige Tier war in einen leichten Trab gefallen. Ruhig ritt Luca die letzten Meter hinzu, bis er kurz vor dem flackernden Lagerfeuer die Zügel straff anzog und das Tier mit einem deutlichen „Brrrr“ dazu aufforderte, anzuhalten. Strahlend jubelte man dem Luca und der weißen Stute zu. Albert half Luca beim Absteigen. Er steckte dem Jungen zufrieden einige Zuckerbrocken zu, damit dieser die Schimmelstute Freia belohnen konnte. Dann war eine neue Freundschaft geschlossen.
M it Vogelgezwitscher brach der neue Tag an. Der Gutsverwalter und sein Sohn trieben die durcheinander stampfenden Pferde auf die, mit saftigem Gras bewachsene Koppel. Wotan, der gutmütige Bernhardiner lag im ersten warmen Sonnenschein des Morgens auf der Veranda, gähnte, und streckte seine großen, tapsigen Pfoten weit von sich.
Durch einen schrillen Pfiff weckte der Verwaltersohn den noch immer schlafenden Luca. Erschrocken stob dieser hoch, fuhr sich mit den Fingerspitzen durch sein ungekämmt wirres Lockenhaar, steckte seine Fingerspitzen in einen Eimer mit kaltem Wasser, der auf der Wohnwagentreppe stand, und benetzte damit sparsam seine Augen. Er schlüpfte Luca in seine neben sich liegende, abgetragene Hose, nahm einen Schluck vom heißen Kaffee, aß hastig eine mit Butter bestrichene Scheibe Schwarzbrot und lief kauend davon.
Karl hatte Luca überredet mit ihm die Schule zu besuchen. Die vierklassige Volksschule befand sich gleich im nächsten Ort. Karl hatte Luca erzählt, dass jeweils zwei Jahrgänge in einem Klassenzimmer unterrichtet würden. Luca fand es schön, dass Karl, der gleichaltrig war, ihn seinen Mitschülern und seiner Lehrerin vorstellen wollte. Karl hatte gut über die Frau Lehrerin gesprochen, deshalb fasste sich Luca ein Herz und machte sich mit Karl auf den Weg zur Schule.
Am Hoftor wartete Karls Vater mit dem Wagen auf die schwatzenden Kinder. Die lachende, rangelnde Kinderschar schob sich schubsend hinein und gleich ging es ab der Schule entgegen.
Vor dem, mit saftig grünem Efeu bewachsenen, backsteinrotem Schulhaus, das gleich neben der Kirche stand, deren hoher, spitzer Kirchturm sich wie ein bizarrer Schatten dem Sonnenlicht entgegenstreckte, hielt Karls Vater den mit johlenden Kindern überfüllten Wagen an. Sie lachten und lärmten, stießen sich gegenseitig die Ellbogen in die Seiten und sprangen leichtfüßig über die ausgetretenen Sandsteinstufen hinauf zur Schule. Im grellen Sonnenlicht blitzten die geputzten Glasscheiben der weißgestrichenen Fenster, wie lohe Feuerfunken.