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Im Berliner Hotel Novena findet ein Zimmermädchen die nackte Leiche einer Frau, die an Armen und Beinen am Bett gefesselt ist. Kommissar Stephan Friedrich, 47 Jahre alt, übergewichtig, ein Genussmensch, leitet das ermittelnde Team der Berliner Kriminalpolizei. Bei der Toten handelt sich um die Chefärztin Prof. Dr. Monika Betram aus Dresden. Sie starb auf grausame Weise an massivem Blutverlust. Die Verdächtigen: Ein ehemaliger Assistenzarzt, dessen Leben nach der Kündigung aus den Fugen gerät, ein konkurrierender Wissenschaftler, ein Patient, dessen Handlungen in seinem psychotischen Erleben andere ängstigt, eine Mutter, die verbittert nach dem Suizid ihrer Tochter andere dafür verantwortlich macht, eine Affäre, an der eine Familie zu zerbrechen droht und ein korrupter Geschäftsführer.
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Seitenzahl: 308
Veröffentlichungsjahr: 2018
Frank Godemann
Kommissar Friedrichs 1. Fall
© 2018 Frank Godemann
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7469-0426-9
Hardcover:
978-3-7469-0427-6
e-Book:
978-3-7469-0428-3
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Er hatte sich immer gewünscht, eingeäschert zu werden. Der Wind sollte seine Asche über die Ostsee davontragen. Er war überzeugter Atheist, fühlte sich in seinen sozialistischen Ideen mit der Welt verbunden. Gerechtigkeit ist ein harter Kampf, welcher manchmal ungewöhnliche Maßnahmen erfordert. Dieses bedeutet, den Feind zu infiltrieren, ihn zu beobachten, schneller als er zu sein, seine Schritte vorauszuahnen, auf ein dichtes Netz abhängiger Spione zurückzugreifen. Seine Menschenkenntnis machte es ihm möglich, auf der Klaviatur der Erpressungen zum Wohle der Deutschen Demokratischen Republik zu spielen. Jeder hatte seine Schwäche. Ob Geld oder sexuelle Andersartigkeit, ob Neid oder persönliche Feindschaft – jedes dieser menschlichen Motive konnte Ausgangspunkt sein, um Menschen für die eigenen Zwecke einzusetzen. 1989 hatte die Verwirklichung seiner Ideale Kratzer bekommen, er selbst wurde zum Gehetzten und musste ungewöhnliche Wege gehen, um sich selbst zu retten. Deshalb seine eigenen Ideale aufgeben? Nein, selbstverständlich nicht. Es war notwendig, Prioritäten zu setzen. Und er würde bei einer späteren Revolution wichtiger sein als die, die er an den Bundesnachrichtendienst verraten hatte. Und jetzt? Ein Schlag traf ihn auf den Hinterkopf. Er konnte nicht sehen, von wem dieser ausgeführt wurde, auch wenn er nicht beim ersten Schlag das Bewusstsein verlor. Der Gegenstand? Vielleicht ein Spaten, sicherlich nichts, was von der Natur zur Verfügung gestellt wurde. Dann war er weg, konnte froh sein, denn der weitere Weg in die Ewigkeit war mit einer heftigen Brutalität verbunden. Der Hass des Mörders war groß. Eine friedliche Pistolenkugel hätte es auch getan. Aber vielleicht standen praktische Erwägungen im Vordergrund. Der Körper, in kleine Stücke aufgeteilt, war leichter zu vergraben. Dabei wollte er nur sein kleines Häuschen am See in Brandenburg genießen. In den frühen Morgenstunden herausschwimmen. Ein friedlicher Ort. Es gehen nicht alle Wünsche in Erfüllung. Für einen Toten gibt es vermutlich Wichtigeres als die Frage nach der Konsistenz seines toten Körpers.
1969
Die Ausbildung war hart. Durch den Dreck robben, mehrfach in der Nacht antreten, 20 km Gewaltmärsche in voller Ausrüstung, das Wieger Maschinengewehr 960 schultern und immer wieder die eigene Treffsicherheit verbessern. Ihm war früh in der Schule nahegelegt worden, eine Ausbildung bei den Grenzsoldaten zu absolvieren. Er war sportlich, ehrgeizig, vor allen Dingen gefestigt in den Idealen seines Heimatlandes. Die Augen seiner Eltern leuchteten stolz, als er von der Möglichkeit sprach, nach der Ausbildung studieren zu können. Der Erste in der Familie, dem diese Tür offenstand.
Er genoss die Kameradschaft. Nur gemeinsam bewältigten sie die harten Aufgaben der militärischen Ausbildung, ertrugen die drastischen Demütigungen der Ausbilder, ließen sich nicht beugen. Dies war es wert. Das Feindbild war klar und überzeugend. Sie kämpften für eine gerechte Welt. Auf dem Weg dahin war der Weg manchmal schmerzhaft, aber das Ziel klar: Der kapitalistische Feind musste innerhalb und außerhalb des Landes unter Kontrolle gehalten werden.
Er konnte ihn täglich sehen, wenn er an der Grenze auf Patrouille ging. Auf der anderen Seite liefen sie meist zu zweit, starrten mit ihren Feldstechern zu ihnen herüber.
Häufig wurden ihm mit vier anderen Kameraden besondere Aufgaben übertragen. Komplexe Grenzabschnitte im Blick behalten. Bewohner in der Nähe der Grenzanlage kontrollieren. Bauarbeiter überwachen, die am Ausbau des sozialistischen Schutzwalls beteiligt waren. Immer die Waffe im Anschlag.
Überraschend kam das Angebot. Gemeinsamer Kampf mit den anderen vier Kameraden in der Hauptverwaltung Aufklärung, die verantwortlich für die Kontraspionage war. Die Hauptverwaltung sicherte die Heimat im Ausland, die fünf Kameraden sollten die Keimzelle für viele erfolgreiche Operationen im Feindesland werden.
1981
Sie hatten ihn auf vielfache Weise gequält, misshandelt. Er ließ sich nicht beugen. Das Ministerium für Staatssicherheit erklärte ihn zum Staatsfeind Nr. 1. Er musste aus der DDR hinausgeworfen werden, um ihn an seinem Engagement für die Menschenrechte zu hindern. Als er in der Bundesrepublik Deutschland leben musste, engagierte er sich für die Verfolgten in der DDR. Ein Teil seines Herzes blieb in seiner Heimat zurück. Scharfschützen wurden auf ihn angesetzt. Er überlebte. Thallium wurde ihm untergemischt. Nicht genug, um ihn in eine andere Welt zu befördern. Er erlitt unsägliche Schmerzen – über mehrere Monate. Seine Nervenfasern blieben auf Dauer geschädigt. Er konnte nie wieder sicher laufen. All dies ertrug er. Aber dass das MfS soweit ging, nicht vor dem Leben seiner Frau und seines Sohnes zurückzuschrecken. Dies war die größte Qual, die diese Verbrecher ihm zufügen konnten.
Wer steckte dahinter? Wer verfolgte ihn auf seinen Reisen, an seinem Wohnort, bei Treffen mit der Presse, bei öffentlichen Auftritten. Jeder Freund war verdächtig. Ein ständiger Kampf gegen das Misstrauen. Er war dies aus der DDR gewohnt, aber über die Jahre zermürbte es. Um zu überleben, entschied er sich, niemanden mehr zu verdächtigen, da alle verdächtig waren. Er dachte darüber nach, sich als Fluchthelfer zu betätigen. Aber es war zu riskant. Er selbst war bereit, das Risiko einzugehen. Aber durch die Stasi überwacht setzte er Menschen Risiken aus, die unkalkulierbar waren. Dies konnte er nicht verantworten. (Wolfgang Welsch)
1981
Der Druck nahm immer weiter zu. Sie drohten, ihr das Kind wegzunehmen. Ihren Paul, den sie über alles liebte. Auf ihrem Arbeitsplatz war sie auf eine Stelle versetzt worden, auf der sie zum Nichtstun gezwungen war. Der Tag zog sich in seiner Unendlichkeit hin, die schwer zu ertragen war. Sie war agil, voller Ideen, hatte sich im volkseigenen Betrieb nach oben gearbeitet. Sie war für den Vertrieb von Klamotten zuständig. Gewesen. Nachdem ihr Ehemann von einer Auslandsreise in die Bundesrepublik Deutschland nicht zurückkehrte, war sie gebrandmarkt. Eine Frau, welcher der Staat nicht mehr vertraute. Sie stand im Verdacht, ihm geholfen zu haben, noch immer mit ihm in Kontakt zu sein. Was sollte sie tun? Sie willigte in die Schnellscheidung ein. Es war erstaunlich, wie effizient die Behörden sein konnten. Keine acht Wochen dauerte es und sie war eine freie Frau. Sie liebte ihn, trotz des Verrats, den er an ihr begangen hatte. Wie konnte er sie und seinen Sohn alleine lassen? Er wusste, was die Flucht bedeutete. Sein Kind würde er nie wiedersehen. Aber war er nicht immer egoistisch gewesen? Sie hatte es ihm immer verziehen. Erfolg war mit Selbstbezogenheit verbunden. Und er war nun einmal ein erfolgreicher Fußballer. Seine Zeitplanung bestimmte ihre. Wenn sich eine Lücke fand, war sie bereit gewesen aufzuspringen, um etwas Zeit mit ihm zu verbringen. Seit Paul da war, war dies nur noch eingeschränkt möglich. Sie konnte nicht ständig Pauls Zeitrhythmus durcheinanderbringen. Die Anzahl der Verhöre, die sie über sich ergehen lassen musste, hatte sie irgendwann aufgehört zu zählen. „Sie haben von den Fluchtplänen gewusst. Geben Sie es zu!“ Zum Glück sprang ihre Mutter ein, um sich um Paul zu kümmern. Manche Nächte ließen sie sie kaum schlafen, weckten sie, um ihre weiteren bescheuerten Fragen zu stellen. „Nein, ich wusste nichts davon. Nein, ich wusste nichts davon. Nein, ich wusste nichts davon!“ Wie oft sollte sie es noch sagen. Besonders unangenehm, arrogant, aggressiv, drohend, aufdringlich, anzüglich war ein Mann, der sich nicht mit Namen vorstellte. Das taten sie alle nicht. Diese Feiglinge blieben anonym. Sie hasste ihn, besonders nachdem er sie an ihren Brüsten anfasste und zwischen ihre Beine griff. Als sie aufzuschreien versuchte, hielt er ihr rabiat den Mund zu. Und was hätte ihm auch passieren können? Geschützt hätte sie niemand.
1984
Sie war ganz dicht an ihm dran. Der Lohn, den sie erwartete, war fürstlich. Mit dem Geld konnten sie sich ihren wichtigsten Wunsch erfüllen. Dies würde nicht lange vorhalten, aber für einige Zeit führte es zu einem Zustand tiefster Zufriedenheit und großer Selbstsicherheit. Der Zweifel würde erst später zurückkommen. Sie selbst sah sich nicht als Prosituierte. Sie verkaufte nicht ihren Körper, sondern kaufte sich die Möglichkeit, ihren Körper zu gestalten. 20 000,- DM kostete die Operation der Brüste. Sie sollten vergrößert werden. Körbchengröße G war das Ziel. Die Büstenhalter hatte sie sich schon gekauft, mit ihnen vor dem Spiegel posiert. Natürlich vorher die fehlende Füllung durch Watte ergänzt, was das Gefühl des aktuellen Mangels verstärkte. Ihre Brüste waren zu klein. Besonders von der Seite betrachtet war dies offensichtlich. Männer waren in ihrem sexuellen Verlangen blind. Auch ihre Zielperson. Daher bekam sie eine Chance, sich einen großen Fisch zu angeln.
Als Gerhard Spichler sie ansprach, mit ihr einige Mal ausging, vereinzelt mit ihr das Bett aufsuchte, ahnte sie nicht, dass er ihre Lösung sein könnte. Er war sensibel, entdeckte im Bett ihre feinen Operationsnarben, fragte nach und sie erzählte ihm offen von ihrem verunstalteten Körper. Er zeigte sich nur kurz überrascht, versuchte nicht, ihre Vorzüge zu preisen, bemerkte, dass er auf taube Ohren stoßen würde. Sie eröffnete ihm, Schulden angehäuft zu haben, um die bisherigen Operationen zu finanzieren. Und dann kam das Angebot, Kontakt zu einem prominenten Politiker aufzunehmen, mit ihm zu flirten, ihn ins Bett zu locken, Filme von ihm zu machen und die Bilder Gerhard Spichler zu übergeben. Damit wäre ihre Aufgabe erledigt und das Geld würde fließen. Dies würde sie zeitweise aus ihrer psychisch brutalen Situation befreien. Sie wusste schon jetzt, zu welchem Operateur sie gehen würde. Nicht jeder Schönheitschirurg konnte alles. Die Auswahl war bei einer geplanten Vergrößerung der eigenen Brüste umfangreicher als bei Korrekturen im Gesicht. Es musste Vertrauen im persönlichen Kontakt wachsen. Sie lebte schon lange in Bonn, hatte mit 17 Jahren einen kleinen Ort im Schwarzwald verlassen und nicht vor, je dorthin zurück zu kehren.
Holger Jurschke, Bundestagsabgeordneter, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses war ihr operatives Ziel. Es gab Gerüchte, dass er eine Schwäche für amouröse Beziehungen hatte, aber es blieb immer bei den Gerüchten. Er war verheiratet, hatte zwei Kinder. Die Idylle eines christdemokratischen, erfolgreichen Politikers. Es gefiel ihm, mit diesem Idyll bei seiner Wählerschaft zu punkten, viele wählten ihn, weil er das Bild einer intakten Familie repräsentierte. Ein Fels in der Fragmentierung der familiären Strukturen. Sie hatten sich bisher zwei Mal alleine im Café getroffen, geschickt hatte sie ihn dazu gebracht, mit ihr zu flirten. Er musste den Eindruck haben, die Begegnung zu steuern. Heute sollte das große Finale stattfinden. Das Hotelzimmer war präpariert. Die Rezeption des Hotels wusste, welches Zimmer zugewiesen werden sollte. Herr Jurschke musste Sandra Heller nur noch die Einladung aussprechen. Dann würde alles seinen Gang gehen.
1988
Liebte sie ihn? Er war ein mächtiger Mann und sie fand mächtige Männer attraktiv. Regelmäßig trafen sie sich in einer abgeschiedenen Hütte, reisten getrennt an, um nicht gemeinsam gesehen zu werden. Direkt am See. Ein idyllisches Plätzchen. Erfrischend am Morgen der Sprung ins kalte Wasser. Die Luft war von einer Klarheit. Als ob der Pfefferminzbonbon Kaumint einen Hauch über die Wasseroberfläche geschickt hätte. In der Hütte hingen ihre Bilder. Kraftvolle Körper von Männer und Frauen bei der Arbeit. Er lobte sie, stand immer wieder vor ihnen, versprach ihr, bald eine Ausstellung möglich zu machen. Sie glaubte ihm. Seine Frau wollte er nicht verlassen. Besser so. Ihr Selbstverständnis als Künstlerin beinhaltete Ungebundenheit. Ein Klischee? Klar, aber das war ihr egal. Verlässlichkeit in Beziehungen hatte sie noch nie erlebt. Wenn sie nach dem Akt nackt auf der Bettkante saßen, sprach er über die klaren Aussagen ihrer Bilder, die edle, ungeschönte, gleichzeitig verführerische Darstellung des Wegs zur sozialistischen Gesellschaft, lästerte dann über die westdeutschen Künstler der Moderne, die sich in ihrer Ziellosigkeit verlieren würden. Heike Hildemann hörte seine Worte, setzte auf ihn, glaubte ihm, vertraute auf ihn. Mit ihm würde ihr der künstlerische Durchbruch gelingen.
1989
Stasi-Hauptzentrale. Bürgerrechtler, einfache Bürger, wütende Nachbarn stürmten das Haus, versuchten zu verhindern, dass die dortigen Akten vernichtet wurden.
Die Hauptverwaltung Aufklärung blieb weitgehend verschont. Fast ungestört wurden Tag und Nacht die Akten durch den Reißwolf gejagt. Einzelne Geräte gaben dabei ihren Geist auf. Es fehlten ihnen die Ruhepausen. Täglich bestand die Sorge, dass dieses große Aufräumen gestoppt werden könnte. Eine Gefahr für tausende von Menschen, die die BRD erfolgreich infiltriert hatten. Es ging zu langsam. Die Reißwölfe waren für den Hausgebrauch gekauft, nicht für die Abwicklung eines ganzen Geheimdienstes, der über Jahrzehnte gewissenhaft seine Arbeit getan hatte. Die Mikrofilme waren wasserdicht verpackt und hätten Überschwemmungen durch die Spree überstanden.
Auf Lastwagen wurden die Akten in getarnte Druckereien verfrachtet, um den Vorgang der Zerstörung zu beschleunigen. Erfolgreich. Nur 20 Meter Akten blieben übrig. Diese stellten weiterhin eine Bedrohung für ehemalige Spione dar. Es gab Gerüchte, dass die USA weitere Akten erbeutet hatten.
1990
Wozu konnte das Netzwerk loyaler Mitarbeitern gut sein? Perfekt ausgebildet für die Überwachung Dritter, trainiert, um jede körperliche Auseinandersetzung zu bestehen, treffsichere Schützen, verschwiegen, zuverlässig, ohne Skrupel, wenn sie Befehle erhielten. In der Bundesrepublik Deutschland waren sie überflüssig. ihre Fähigkeiten wurden nicht gebraucht. Einige warb der Bundesnachrichtendienst an. Sie liefen zum Feind über. Dies war für die meisten Genossen nicht akzeptabel. Und die Führungsoffiziere konnten sich nicht vorstellen, als Portier zu beginnen. Sie waren es gewohnt, zu leiten, zu herrschen, zu befehlen. Sie hatten viel Geld beiseitegeschafft. Im Wendechaos verloren alle den Überblick. Außer ihnen, die es gewohnt waren, im Geheimen zu agieren.
Sicherheitsfirmen und Detekteien wurden gegründet, der Ostmarkt aufgeteilt. Gerhard Spichler war gut im Geschäft. In Adlershof hatte er ein schickes Büro angemietet, zwanzig Ehemalige – er kannte alle seit ihrer Jugend – waren Teil seiner Elite-Sicherheitsfirma. Es machte richtig Freude, die Ausrüstung einzukaufen. Der westliche Markt war vielfältiger. Dies musste er neidlos eingestehen. Ob spezielle Sicherheitswesten, Möglichkeiten zum Orten zu observierender Zielpersonen, die Ausstattung des Waffenarsenals – die Auswahl war groß.
Nur die Konkurrenz war stark. Viele wollten mitmischen. Und er hatte nicht zu allen Ehemaligen einen warmherzigen Kontakt. Mit Jacob Meyer war nicht zu reden. Er hielt sich nicht an Absprachen oder weigerte sich von Beginn an, überhaupt Absprachen zu tätigen. Bei der Bewachung der ostdeutschen Bahnhöfe unterbot er sein Angebot. Die Preise waren selbstzerstörerisch. Er musste eingreifen. Der Kunde ist König. Und seinen Kunden konnte er nur gute Qualität bieten, wenn der Preis stimmte. Er griff auf Tricks aus der Mottenkiste zurück. Waffen unterschieben, ein wenig Drogen, die Polizei verständigen und schon geht es in Untersuchungshaft.
Er würde nur eine kurze Strafe erhalten, aber ausreichend, um ihn vom lukrativen Markt fernzuhalten. Während Meyer in Untersuchungshaft saß, machte Gerhard Spichler an dessen Mitarbeitern Angebote, die sie nicht ablehnen konnten.
1991
Die Handschellen schnappten zu. Die Verhaftung fand in aller Stille statt. Jemand von der Hauptverwaltung Aufklärung musste ihn verraten haben. Seine Tarnung war perfekt. Er hatte nach der Wende einfach sein Leben weitergeführt. Als Mitarbeiter einer Rüstungsschmiede hatten sie ihn 1982 angeworben. Sie wussten von seiner Spielsucht. Wie sie es herausgefunden hatten – es blieb ihm ein Rätsel. Aber sein Leben wurde bis zur Wende leichter.
Er stellte einige technische Zeichnungen zur Verfügung, sie bezahlten ihm seine Schulden und stellten ihm großzügig Geldmittel zur Verfügung, damit er weiterhin seiner Leidenschaft nachgehen konnte. Dieser Thrill am Spieltisch. Ein unglaubliches Erlebnis. Unvergleichlich. Alleine beim Gedanken daran zitterte er innerlich. Er hatte keine Verpflichtungen. Seine Ehe war geschieden, gemeinsame Kinder hatten sie nicht.
Seine Geldvorräte gingen langsam zu Ende, die Wohnung war hoch verschuldet. Dennoch konnte er nicht vom Spielen lassen. Immer wieder fuhr er nach Stuttgart in die Spielbank. Täglich sagte er sich, dass er sein Leben ändern, sich Hilfe suchen müsse. Er hatte eine Liste von Therapieeinrichtungen zusammengestellt, nie die Kraft gehabt, seine Scham zu überwinden. Was für eine Niederlage! Niemand wusste davon. Was sollte er dem Arbeitgeber sagen?
Dieser Verrat änderte alles. Er wusste sofort, dass er damit alles verlieren würde. Seinen Job, seine Wohnung. Die Schulden würden während der Untersuchungshaft nicht mehr so schnell steigen. Nur die Zinsen vermehrten seine Schulden. Ein schwacher Trost.
1992
Vier der fünf Kameraden trafen sich an ihrem alten Treffpunkt. Eine freundliche Kneipe in Ostberlin. Köstrizer Schwarzbier füllte ihre Gläser. Wenigstens etwas, was die Wende überstanden hatte. Die Seilschaften hatten den Wechsel in das neue System abgefedert. Ob Sicherheitsfirma oder Immobilienmakler – alle hatten ihr Auskommen gefunden.
Die Stimmung war nicht gut. Einzelne Spione waren verhaftet worden. Die Auslandkontakte liefen vorrangig über Gerhard Spichler. Sie hatten ihn observiert. Ihr Expertenwissen ausgenutzt. Jetzt waren sie sich sicher, dass Spichler das Leck war.
Es war nicht schade um die Spione. Zumeist prinzipienlose Speichellecker, Abzocker ohne innere Verpflichtung für den Sozialismus. Aber er redete. Warum auch immer. Er galt immer als besonders verlässlich. Die fünf waren entsetzt darüber, wie der Treueste Verrat begehen konnte.
Jetzt waren sie selbst in Gefahr. Es war nur eine Frage der Zeit. Dann würde er sie verraten. Verkaufte er sich gegen Geld? Oder gab es andere Motive. Sie konnten es nicht akzeptieren, mussten handeln. Es kostete sie keine große Mühe, die Aufgaben zu verteilen. Effizienz und Effektivität, gepaart mit Gewissenlosigkeit und Brutalität – das war immer ihr Markenzeichen gewesen.
Friedrich schnaufte zufrieden vor sich hin. Er hatte mit seiner Mannschaft einen Mörder zur Strecke gebracht. Es war zwar nicht sein favorisierter Täter gewesen, aber jetzt konnte seine geliebte Langeweile wieder eintreten. Genussvoll den Weg zur Arbeit zurücklegen, natürlich mit seinem Auto, dem klapprig-gemütlichen Mercedes, Zwischenstopps bei verschiedenen Lebensmittelläden zelebrieren, einige Köstlichkeiten kaufen, den Abendbrottisch im Geiste decken und in seiner Phantasie – ja, was sollte er heute Abend kochen? – schon einmal in ausgewählte Delikatessen beißen. Neben ihm lag seine Teilzeitbeziehung Christie Schilte, eine attraktive Frau, seine langjährige Kochpartnerin. Sie hatten tatsächlich gemeinsame erotische Momente in dieser Nacht erlebt. Würden sie eventuell die Teilzeit aus ihrer Beziehung streichen? Umso mehr war er von dem Hinterhalt überrascht, der ihn sprachlos machte. Schilte öffnete die Augen, lächelte ihn an und lobte die Erlebnisse der Nacht. Er wollte gerade in seiner Eitelkeit noch detaillierter erfahren, wie groß ihre Begeisterung war. Immerhin hatte er sein Bestes gegeben. Soweit war noch alles gut.
„Du denkst sicherlich darüber nach, ob wir unsere Kochbeziehung umfangreicher ausgestalten. Ich bin nicht abgeneigt. Aber ich finde es unerträglich, mit einem dicken, unästhetischen Mann zusammen zu sein. Ich wundere mich selbst, warum ich dies heute Nacht ausblenden konnte. Aber auf Dauer? Keine Chance!“
Sie sprach so bestimmt, dass Friedrich keinen Zweifel hatte, dass die Betonung seiner vielen anderen Stärken keinen Einfluss auf ihre Einschätzung haben würde. „Was soll ich tun?“ Er biss sich sofort auf die Zunge. Warum sollte er etwas tun? Er schnaufte dieses Mal innerlich. Sie hatte ihn in der Hand.
„Ich möchte es noch etwas plastischer machen. Es ist für mich ein Hochgefühl des Genusses, im Bett zu frühstücken. Und natürlich käme ab und zu auf Dich zu, das Frühstück vorzubereiten. Ein reichlich gedecktes Tablett, frisches Obst, ein Cappuccino, ein Ei, das Gelbe noch etwas weich.“
Bei der Beschreibung lief Friedrich das Wasser im Munde zusammen und ihm wurde bewusst, dass Frühstückszeit war, er ihr aber nur ein Toastbrot mit Marmelade anbieten konnte.
„Du hast einen Bierbauch! Im Bett könntest Du das Tablett nicht auf Deinen Bauch stellen. Die ganze Gemütlichkeit wäre dahin. Oder noch schlimmer. Ich müsste das Tablett auf meinen Schoss stellen, die Last alleine tragen. Nein, das geht nicht! Ich will es mal auf eine einfache Formel bringen: Bierbauch, ohne mich. Sicherlich eine Zumutung meinerseits. Aber so ist es nun mal.“
Friedrich schaute auf seinen Bauch, der bessere Zeiten erlebt hat. Oder auch nicht. Er war üppig und lebenslustig ausgestattet. „Ich werde darüber nachdenken, was ich tun kann. Stellen wir jetzt erst einmal das gemeinsame Kochen ein?“
„Natürlich nicht. Aber der Speiseplan muss sich ändern.“
Das Klingeln des Telefons rettete ihn. Er erschreckte und war überrascht, dieses Gefühl des Erschreckens überhaupt zu erleben. Diese Reaktion war ihm eigentlich fremd. Es musste mit seinem heutigen emotionalen Ausnahmezustand zu tun haben. Er schaute auf die Uhr. Es war 9 Uhr und er hätte schon auf der Arbeit sein sollen.
„Ja?“
„Hanusch. Ich habe einen seltsamen Anruf aus einem psychiatrischen Krankenhaus in der Schlossstraße in Charlottenburg erhalten. Ein Psychiater meint, dass ihm ein Patient den Aufenthaltsort einer Leiche beschrieben hat. Da es sich dabei um wohl ein Kapitalverbrechen handelte, müsse er trotz ärztlicher Schweigepflicht die Polizei informieren. Soll ich mich zum Krankenhaus begeben, um genaueres zu erfahren?“
Friedrich hatte schon Sorge gehabt, dass er wieder Arbeit bekommen würde. Aber dieser Anruf konnte nur in die Rubrik Kuriositäten eingeordnet werden. Seltsame Anrufe erhielten sie im Kommissariat häufig. Morde, die im Nachbarhaus gesehen, in der anliegenden Wohnung gehört, im Park erahnt wurden. Vermutlich würde Berlin nicht mehr unter Wohnungsmangel leiden, wenn sich alle Morde als wahr herausstellten. Ein Psychiater, der eine potentielle Leiche meldet. Das war in dieser Sammlung sicherlich etwas Besonderes.
„Fahren Sie. Klar! Sie haben meinen Segen.“ Zu Schilte gewandt. „Ich muss leider aufstehen. Keine Sorge. Ich werde mir Deine Ansage intensiv durch den Kopf gehen lassen.“
Die Klinik lag direkt am Schloss Charlottenburg. Eine wunderschöne Lage. Hans Hanusch nahm beschwingt den Fußweg, der zwischen den Häusern und dem Park verlief. Es war seine letzte Aufgabe vor dem Wochenende. Anschließend wollte er mit seiner Freundin eine Segeltour auf der Mecklenburgischen Seenplatte planen, die am nächsten Wochenende stattfinden sollte. Sie kam zum ersten Mal mit. Er war etwas nervös, ob es gut gehen würde. Immerhin war in vielen Beziehungen Bötchen fahren eine Grenzerfahrung. Entweder es war mit der Stabilität der Beziehung nicht zu vereinbaren, dass einer die Kommandos gab, in diesem Fall er, oder das Wetter entsprach – vorgeschoben - nicht den Urlaubsbedürfnissen. Zu windig, zu sonnig, zu regnerisch – der Phantasie war keine Grenzen gesetzt. Alles ein Vorwand, um die Langeweile auf dem Sonnendeck in Zukunft nicht mehr ertragen zu müssen.
Dr. Peter Kluge erwartete ihn. Er war der Anrufer, der den potentiellen Mord gemeldet hatte. Auf der Internetseite fand sich nur die Angabe, dass er Oberarzt der Gerontopsychiatrie, einer psychiatrischen Abteilung, ist, die sich auf die Behandlung älterer Menschen spezialisiert hat. Dr. Kluge trat ihm in weißem Kittel entgegen und reichte ihm freundlich die Hand. „Unter Verrückten erzähle ich Ihnen eine verrückte Geschichte, die mich verrückt erscheinen lassen muss. Aber ich kann Ihnen versichern, weder meine Patienten noch ich sind in relevantem Maße verrückter als sie.“
Sie betraten ein chaotisches Arztzimmer, Herr Kluge drückte auf den Knopf einer Cappuccino-Maschine, nicht ohne Hanusch eine Tasse anzubieten, und fläzte sich dann in einen gemütlichen Sessel.
„Herr Schüttler ist bereit, nachher persönlich mit Ihnen zu reden, bat mich, sie vorher etwas in sein Leben einzuführen. Er wird bei uns stationär behandelt. Aber vielleicht erst einmal einige Informationen zu seiner aktuellen Situation. Er kommt ins Krankenhaus, da er Zuhause nur noch kraftlos im Bett liegt, ihn das ganze Leben anwidert, er eigentlich denkt, dass es Zeit wäre zu gehen. Sein Leben sei voller von ihm zu verantwortenden Fehler. Er hätte seine Ehefrau nicht heiraten sollen, da er ihr nur geschadet habe, er werde finanziell den Bach runtergehen und seine Frau mit in den Ruin reißen. Ihnen beiden drohe die Obdachlosigkeit. Interessanterweise bestätigt seine Frau beides nicht. Die Rente sichere ihr Leben ab und sie könne nicht erkennen, dass er schweren Schaden angerichtet habe. Bis vor einem Jahr hätten sie ihr gemeinsames Leben emotionslos voller Routine, mit zwischenzeitlichen schönen Momenten gelebt. Dann schlichen sich langsam diese destruktiven Überlegungen in sein Leben ein.“
Die Stirn von Hanusch legte sich in Falten. „Er denkt, obdachlos zu werden?“
„Er ist sich sicher.“
„Obwohl keine Gefahr besteht? Seltsam. Es müsste ihm doch nur ein Auszug aus seinem Bankkonto gezeigt werden.“
„In diesem Punkt teilt er die Realität mit uns nicht. Es ist nachzuvollziehen, dass er nicht gerade guter Dinge ist. Seine Ehefrau beobachtet seit einem Jahr, dass das Gedächtnis nachlasse, er seine Brille verlege, sich nicht mehr erinnere, was er am Vortag im Neuen Deutschland gelesen habe. Früher konnte er jeden Artikel wortwörtlich zitieren. Aber die Gewissheit zu verarmen, entbehrt jeder Grundlage.“
„Was hat dies alles mit dem angeblichen Mord zu tun?“
„Wenn das heute, hier und jetzt in einem Nebel zu verschwinden beginnt, gewinnt die Vergangenheit häufig an Bedeutung. Sie besiegt allmählich die Gegenwart. Er erinnert sich nicht mehr an das Geld, welches ausreichend auf dem Konto liegt, lang zurückliegende Erlebnisse sind ihm dagegen präsenter - als ob diese gestern passiert wären. Haben Sie nicht auch schon einmal erlebt, dass ältere Menschen umfangreicher als nötig von ihrer Vergangenheit erzählen, jedes Detail ausgestalten, Namen von Personen nennen, als ob Sie selbst ihnen gestern begegnet wären? Aber den Vetter dritten Grades kennen Sie selbst gar nicht, sind ihm noch nie begegnet. Macht nichts. Es wird weitererzählt.“
„Sie sind auch ein wenig umständlich.“ Hanusch schaute ungeduldig auf die Uhr. Der Segelturn sollte nicht in Gefahr geraten und bei der bisherigen wortreichen Ausgestaltung konnte das Segelboot durch den ärztlichen Wortschwall davongetragen werden.
„Sie haben es eilig? Ich versuche, es zu kürzen. Herr Schüttler arbeitete bei der Staatssicherheit und sagt, dass er für den Auslandsgeheimdienst tätig war. Übrigens ein interessantes Phänomen. Wenn er von seiner Tätigkeit für diesen Unrechtsstaat berichtet, zeigt er keinerlei Schuldgefühle. Im Gegenteil: Er zeigt sich Stolz, gegen den Klassenfeind vorgegangen zu sein, überall in den wichtigen Ministerien der BRD Spione untergebracht zu haben. Er lächelt besonders, wenn er von dem Rücktritt von Bundeskanzler Brandt berichtet. Ihm schwillt die Brust an und man muss Sorge haben, dass er die Nationalhymne der DDR zu singen beginnt. Er persönlich hat mit der Brandtschen Spionageaffäre nichts zu tun. Aber er war für andere geheimdienstliche Aktionen höchst selbst zuständig. Glaubwürdig? Ich kann es Ihnen nicht sagen. Das wird ihr Job sein.“
„Aber warum sollte er jetzt sein Schweigen brechen? Das macht doch keinen Sinn.“ Hanusch hatte immer mehr den Eindruck, dass sein größter Fehler war, den Hörer abzunehmen, als dieser Cappuccino trinkende Arzt ihn anrief.
„Ich vermute, weil er stolz auf sich ist. Wenn die Gedächtnisleistungen zurückgehen, wird die Emotionskontrolle schlechter. Ist nur meine Hypothese, warum er jetzt redet. Wirklich verstehe ich es auch nicht. Aber: Es ist eine aktive Leistung von ihm, zu seinen ‚Erfolgen‘ geschwiegen zu haben. Er hat seine Macht bei der Staatssicherheit genossen, entschieden, welcher Spion an-, welcher abgeschaltet wird? ‚Ich habe die Macht. Ich betätige den roten Knopf‘.“
„Es wird immer verwirrender, was sie reden.“
„In seiner aktuellen Verzweiflung sind seine Emotionen nur dunkel, der Lichtstreif am Horizont ist seine machtvolle Vergangenheit. Indem er davon erzählt, holt er sie wieder hervor, setzt seiner aktuell quälenden Situation etwas entgegen. Sie werden selbst beobachten, wie sich sein Gesicht verändert. Er lächelt nicht, aber die Gesichtszüge gewinnen an Kontur. Als ob jemand gerade ‚Still gestanden! Du bist ein Held der Arbeit‘! ruft. Seine Eitelkeit öffnet ihm den Mund.“
„Was hat er denn nun berichtet?“
„Er sprach von der ‚Operation Waldeule‘. Die Stasi war in der Namensgebung ausgesprochen kreativ. Die Stasi hatte auch nach dem Untergang der DDR die Macht, sich operativ erfolgreich zu betätigen, z.B. Verräter zu bestrafen. Gerhard Spichler, so soll der Ermordete heißen, habe nach Angaben von Hans Schüttler die sozialistischen Ideen verraten und sie haben ihn dafür bestraft. Aufgespürt, observiert, eingekreist und zugeschlagen.“
„Er hat ihn ermordet?“
„Nein, dies weist er weit von sich. Er habe sich nie die Hände schmutzig gemacht. Das Superhirn lässt andere arbeiten.“ Dr. Kluge musste grinsen. „Wenn Menschen schwere Gedächtnisstörungen erleben, ist ein Behandlungsansatz die Reminiszenztherapie. Gute Erinnerungen werden beim Patienten aktiviert, durch Bilder, Musik, Gerüche, gemeinsamem Small talk. Damit schenken sich die Menschen Momente des Glücks beim Abgleiten in die Erinnerungslosigkeit. Er aktiviert seine Spionagegeschichten, erfreut sich seiner Erfolge und der Trübsinn tritt für einige Momente zurück.“
„Warum ist Gerhard Spichler ermordet worden?“
„Er soll andere Geheimdienstler an den Bundesnachrichtendienst verraten haben, um selbst straffrei auszugehen. Sie saßen für viele Jahre im Gefängnis.“
„Hat er den Ort genannt, an dem wir den Toten finden? Personen benannt, die diesen Mord ausgeführt haben?“
„Dies wollte er nur mit einem anständigen Staatsfeind besprechen.“ Kluge schaute sich Hanusch von oben bis unten an. „Sie könnten die geeignete Person sein. Wenn Sie mit Uniform gekommen wären, wäre es noch passender gewesen.“
Hanusch kostete es Mühe, angesichts der ironischen Zwischenbemerkungen den Mund zu halten.
„Ich hoffe, Sie haben die Landkarten mitgebracht. Nur so kann er Ihnen den Ort des Verbrechens zeigen. Ich hole ihn jetzt.“
Hans Schüttler schleppte sich mühsam ins Arztzimmer und schaute sich ratlos um. Sein Kopf war gesenkt, er wirkte ohne Kraft, die Bewegungen waren langsam.
„Warum haben Sie mich gerufen, Doktor?“
„Sie wollten mit jemandem von der Kriminalpolizei sprechen. Können Sie sich daran erinnern?“
„Tatsächlich? Soll ich ins Gefängnis gebracht werden, da ich meine Familie ruiniert habe. Ich werde meine Kleidung packen und bin dann bereit. Es ist eine gerechte Strafe, die mich erwartet.“
„Herr Schüttler“, – Herr Kluge sprach in einem angenehm ruhigen Tonfall – „Sie werden von niemandem abgeholt. Sie sind bei uns sicher und wir werden darauf achten, dass Sie wegen finanzieller Probleme nicht ins Gefängnis kommen.“
„Warum haben Sie mich dann gerufen?“
„Sie waren in Ihrer Vergangenheit in hoher Funktion bei der Hauptverwaltung Aufklärung tätig.“
Schüttler hob erstmals den Kopf und schaute Dr. Kluge an.
„Ja, es war eine gute Zeit. Wir haben viel für unser Vaterland getan.“
„Sie haben mich gebeten, die Kriminalpolizei zu informieren, da Sie einen Mord melden wollten.“
„Ja, ja, Gerhard Spichler, dieser Verräter. Er hat damals, wann war es noch einmal, seine gerechte Strafe erhalten. 1992 oder 1993 starb er. Und wissen Sie, was das Beste ist? Wir haben alle glauben lassen, dass er nach Australien ausgewandert ist. Wie einfach es doch war, den Bundesnachrichtendienst zu täuschen. Wir waren denen immer überlegen, auch nach dem Fall des antifaschistischen Schutzwalls.“
Hanusch schaltete sich in das Gespräch ein. „Darf ich mich Ihnen vorstellen. Hanusch von der Kriminalpolizei in Berlin. Dürfte ich Ihnen einige Fragen stellen?“ Hanusch fühlte sich verunsichert, da er noch nie mit einem Menschen eine Befragung durchgeführt hatte, dessen Erinnerungen sich allmählich auflösten.
„Deshalb sind Sie doch gekommen. Sie müssen bei Befragungen etwas forscher auftreten. Bei Ihnen hat man den Eindruck, dass sie sich in einer Häkelrunde befinden. Die Zeiten ändern sich. Oder werden bei der Polizei verweichlichte Männer eingestellt?“
Hanusch biss sich auf die Zunge. Dieser arrogante Stasi-Mann sollte ihm nicht den Start ins Wochenende verderben. Also besser gleich zum entscheidenden Punkt kommen.
„Wo finden wir die Leiche?“
„Ohne Karte von Brandenburg wird es nicht möglich sein, den genauen Ort zu kennzeichnen.“
Kluge half Schüttler beim Erinnern. „Sie baten mich, dem Kommissar zu übermitteln, dass er eine Landkarte mitbringen soll.“
„Welchen Teil von Brandenburg soll ich vor Ihnen ausbreiten?“
„Die Region um den Wandlitzer See. Nicht das Sie denken, dass die Leiche beim Ferienhaus von Honecker vergraben ist. Aber in der Nähe befindet sich ein anderer See – der Liepnitzsee. An diesem See hatte Gerhard Spichler eine kleine Datscha. Dort ist er ermordet, in handliche Stücke zerlegt, gewissermaßen filetiert und vergraben worden.“
Hanusch breitete die Karte aus und Schüttler schob ihn unsanft beiseite. „Nun machen Sie mal Platz, damit ich die Karte genau inspizieren kann.“ Er benötigte einige Momente, um sich zu orientieren. „52° 45ʹ 0ʺ N, 13° 31ʹ 0ʺ O. Das sind die Koordinaten. Ein Mord passiert nicht so häufig. Daher habe ich mir die Koordinaten genau gemerkt. Bei Ützdorf müssen Sie abbiegen. Sie finden eine Blockhütte. Vielleicht ist die Vegetation auf der Rückseite etwas üppiger. Dort müssen sie graben.“
‚Ein komischer Kauz. Er hat Angst, zu verarmen, alles zu verlieren. Und dann berichtet er von einem Mord, als ob er seine Steuererklärung ausfüllen würde. Mord? Vermutlich einfach eine skurrile Geschichte.‘ Hanusch verzichtete darauf, Fragen zu stellen. Er dachte sich: ‚Erst graben, dann fragen. Ersparte ihnen vermutlich viel Zeit‘. „Vielen Dank für Ihre Informationen! Wir werden Ihrer Aussage nachgehen.“ Vermutlich war in seiner Stimme der mitschwingende Enthusiasmus zu gering ausgeprägt.
„Sie glauben mir nicht. Auch gut!“ Etwas ärgerlich verließ Schüttler das Zimmer, wusste vor dem Zimmer aber nicht, in welche Richtung er musste. Kluge sprang ihm zur Seite, plauderte währenddessen zwangslos mit ihm. Wie Freunde, die sich lange nicht gesehen hatten. Kurz drehte sich Kluge noch um. „Sie können ja wiederkommen, wenn Sie noch Fragen haben.“ Schüttler ließ erneut die Schultern hängen, wirkte wie in sich gefangen.
‚Konnte er selbst die Kollegen in Brandenburg informieren? Oder musste er erst Friedrich einbeziehen‘? Hanusch kam zu dem Schluss, diese Entscheidung selbst treffen zu können. Die Polizeihauptwache Bernau war zuständig. 10 km von Wandlitz entfernt.
Der Kollege lachte. „Ein Mord, der vor 25 Jahren passiert sein soll? Berichtet von einem Mann, der sich nicht erinnert, welchen Weg er eine halbe Stunde zuvor genommen hat. Im unübersichtlichen Dschungel eines psychiatrischen Krankenhauses. Und der dann noch die Koordinaten genau benennen kann. Ich werde sofort ein Sondereinsatzkommando zusammenstellen – wegen Gefahr im Verzug.“
„Sie sind ein echter Witzbold. Mir ist auch die Absurdität der Geschichte bewusst. Aber er war ein hohes Tier bei der Hauptverwaltung Aufklärung.“
„Hauptaufklärung – was?“
„Hauptverwaltung Aufklärung - zuständig für den Auslandsgeheimdienst der DDR. Geschichte war nicht ihr Wahlfach in der Schule?“
„Es ist 25 Jahre her. Damals habe ich in der Krippe mit Bauklötzen gespielt.“
Hanusch versuchte den Adrenalinspiegel herunter zu regeln – bei seinem Kollegen und ihm. „Der Psychiater hält die Aussage für glaubwürdig. Er hat mir einen langen Vortrag zum Thema Demenz gehalten. Das einzige, was ich mir gemerkt habe ist, dass die aktuellen Erinnerungen als erstes verschwinden und alte Fakten noch sehr präsent sein können. Könnten Sie jemanden vorbeischicken? Bitte!“
„Schon gut. Ich schicke einen Wagen. Bewaffnet mit Colt und Spaten. Vielleicht werden die Kollegen es als Abwechslung sehen.“
„Es soll dort eine Blockhütte stehen. Durch das Schilf hindurch ist ein Steg gebaut. Das hat Schüttler, der den Mord angezeigt hat, noch berichtet.“
„Hat Schüttler sich denn als Mörder geoutet? Damit würden die Ermittlungen einfacher werden.“
‚Der Witzbold war schwer zu ertragen‘. „Sie melden sich bitte, um den Vorgang schnell abschließen zu können.“ - „Jawohl, Captain!“
„Kopf oder Zahl? Wer verliert muss graben. Der andere kann genüsslich seinen Tee trinken.“
„Wir wechseln uns ab und Du fängst an. Den letzten Penner habe ich vom Rathausplatz vertrieben. Der war eine furchtbare Geruchsbelästigung.“ Hubert Hennert war kein liebevoller Polizist. Er war meist genervt von seiner Tätigkeit, neigte dazu Konflikte hoch zu kochen. Mehrfach war er knapp an einer Strafanzeige vorbeigekommen.
Aaron Bellert zog es vor, zu schweigen. Zum Glück war Hennert bei der Polizei die große Ausnahme in punkto abfälligem Reden. Er zeigte sich resistent gegenüber Versuchen, sein Reden und Verhalten zu modifizieren. Von daher Schadensbegrenzung – soweit möglich. Darauf achten, möglichst selten mit ihm in einer Schicht eingeteilt zu sein. Hennert drückte sich immer vor der Arbeit. Daher der Versuch, mit dem Spiel „Kopf oder Zahl“ wenigstens zu 50% die Chance zu haben, nicht alleine im Dreck zu scharren.
Sie mussten sich durch dichtes Gestrüpp arbeiten. Sie fanden die Blockhütte, die schon lange nicht mehr genutzt worden war. Die Tür war verschlossen, die Fenster vom Dreck undurchsichtig, die Wände mit Moos bedeckt. Auf der Rückseite des Blockhauses gab es keinen Baumbestand. Hohe Gräser, kleine Büsche verteilten sich ungleichmäßig auf dem morastigen Boden.
„Mist! Hier ist alles voller Brennnesseln. Ich habe schon immer gesagt, dass die Hosen bei der Polizei zu kurz sind. Es mag sein, dass dies wieder modern ist, aber es brennt an den Beinen.“ Hennert bückte sich und kratze sich an beiden brennenden, gleichzeitig juckenden Knöcheln.
Sie fingen an zu graben. „Ich gebe uns fünf Chancen. Dann haben wir unser Bestes gegeben und können die Aktion abbrechen.“ Es war schwül und sie fingen an, heftig zu schwitzen. Schweigsam gruben sie. Ein Meter tief. So hatte es der Patient gesagt. Sie müssten ein Meter tief graben. Das erste Loch war geschafft. Außer einigen Regenwürmern stießen sie auf nichts
Auffälliges. Der Boden war feucht und schwer. Beim zweiten Loch sank die Laune ins bodenlose. Und die Sonne sank langsam. Sie wurden zu einem Festessen für die Mücken, die die Nähe des Sees und die Dämmerung liebten.
„Hier ist etwas Hartes, dass nicht wie ein Stein aussieht.“ Beide starrten in die Grube. Es war offensichtlich ein menschlicher Schädel, der sie ausgehöhlt ansah. Er schien zu grinsen, sie auszulachen. „Das ist ein Schädel!“ Bellert sprach das Offensichtliche aus. „Der alte Mann ist kein Spinner. Er hat die Wahrheit gesagt.“
Hennert hatte sich schnell gefasst. „Super, dann müssen wir wenigstens nicht weiter schwitzen. Jetzt ist die Spurensicherung dran. Nichts mehr anrühren. Tatort sichern. So eine Leiche hat ihre Faszination. 25 Jahre in der Erde. Eine lange Zeit. Was macht man eigentlich mit Leichen, die nach 25 Jahren noch nicht verwest sind? Länger werden die meisten Gräber auf Friedhöfen ja nicht gemietet. Man stößt bei in die Jahre gekommene Leichen auf Fragen, die man sich bisher noch nie gestellt hat.“
„Ich stelle mir die Frage, wer ein Absperrband aus dem Auto holt.“ Etwas sorgenvoll schaute er zum Himmel. Der Regen würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Immerhin waren sie dann die Mückenplage los. Aber sie würden im Regen auf die Spurensicherung warten müssen. Sie durften den Tatort nicht verlassen, bevor die Spurensicherung angerückt war. Er schaute auf die Uhr. Die kleine Hoffnung, die zweite Halbzeit des Halbfinales der Champions League zu sehen, konnte er begraben. „Ich hole die Bänder zum Absperren und Du rufst unsere Polizeidienststelle in Bernau an.“