Via Fatalis Reise ins Unheil Teil 1 - C. J. Roccar - E-Book

Via Fatalis Reise ins Unheil Teil 1 E-Book

C. J. Roccar

0,0

Beschreibung

Die fünfunddreißigjährige Französin Joëlle und ihr Bruder schließen sich einer dreiköpfigen Wandergruppe an, um mit ihnen gemeinsam eine mehrtägige Wandertour durch die südlichen Appalachen zu unternehmen. Nur ein paar Tage die Natur genießen, mehr sollte es nicht werden. Aber dann kommt alles ganz anders. Bereits nach einigen Stunden sind sie sich nicht mehr sicher, ob sie noch auf dem richtigen Weg sind, sie begegnen keinen anderen Wanderern, die Karten scheinen nicht zu stimmen, Handys und GPS funktionieren nicht. Merkwürdige Schatten und seltsame Geräusche sind nur der Anfang der Schrecken, die sie erwarten. Schwarze Gestalten und andere beängstigende Wesen beginnen sie zu verfolgen. Zwei von ihnen verschwinden, die Suche nach ihnen bleibt zunächst ergebnislos, aber unerwartet tauchen die beiden Vermissten, mehr oder weniger ihres Verstandes beraubt, wieder auf. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie sich allerdings längst verirrt, waren in seltsame, unbekannte Wälder gelangt, wo es keine Wege zu geben schien, die sie wieder hinausführten. Der Wald gab sie nicht mehr frei. Ihre verzweifelten Bemühungen, doch noch einen Ausweg zu finden, führten sie nur tiefer ins Unheil.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 797

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23

C. J. Roccar

VIA FATALIS

REISE INS UNHEIL

Teil I

Das Dunkel der alten Wälder

Roman

Alle in diesem Buch handelnden Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Impressum

Texte: ©2025 Copyright by Alexandra Bader

Umschlaggestaltung: © 2025 Copyright by Alexandra Bader,

Canva KI bearbeitet

Verlag:

Alexandra Bader

Stadelbachstr. 34

82380 Peißenberg

[email protected]

Herstellung:

epubli – ein Service der Neopubli GmbH,

Köpenicker Straße 154a

10997 Berlin

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:

[email protected]

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 1

Dabei hatte alles so harmlos begonnen. Urlaub in den USA. Zusammen mit einem Freund und dessen Bekannten das Teilstück des Appalachian Trail in den Smoky Mountains erwandern. Jetzt hatten sich die Dinge gedreht. Es gab nur noch den Wald jenseits der Wälder.

Von Asheville aus waren sie der Interstate Vierzig gefolgt und hatten nach etwa eineinhalb Stunden Fahrzeit die Ausfahrt Richtung Waterville genommen, von wo aus sie sich zum Big-Creek durchschlugen. Nach gefühlten siebzehn Mal Abbiegen und dank guter Landkarten, erreichten sie schließlich die Big-Creek-Entrance-Road, die sie bis zum vereinbarten Treffpunkt brachte, dem Big-Creek-Group-Camp, ein einfacher Campingplatz mitten in der Wildnis.

Das Gelände war übersichtlich, eigentlich nur ein ringförmiger Wiesenstreifen, begrenzt vom Wald. Die Stellplätze lagen um eine großzügige Wendeschleife herum, die wiederum eine Grünfläche mit Feuerstelle umschloss. Nahe der Einfahrt stand ein ziemlich desolat wirkendes Sanitärgebäude.

Maurice stellte den Camper auf etwa hundertzwanzig Grad des Kreises ab, von wo aus man die Einfahrt gut im Blick hatte. Sie waren momentan die einzigen hier, aber sie erwarteten noch ihren Bekannten Aaron und ein Ehepaar aus Hannover, mit denen zusammen sie das Teilstück des Appalachian Trails gehen wollten, das durch den Great-Smoky-Mountains Nationalpark führte.

Sie öffnete die Tür und ließ sich vom Sitz nach draußen gleiten, eigentlich rutschte sie eher aus dem Auto heraus, hundemüde von der langen Reise. Sie fühlte sich, als müsste es mindestens eine Woche her sein, seit ihr Bruder und sie von Paris Orly aus in Richtung Tennessee, USA gestartet waren. Eine Woche, in der sie mehrere Nächte durchgemacht hatte. Sie streckte sich und atmete tief die kühle, feuchte Abendluft ein. Danach fühlte sie sich etwas munterer.

Es dämmerte bereits, welke Blätter lagen über die Wiese verstreut, ihre bunten Farben verblassten jedoch im schwächer werdenden Licht. Dahinter standen düster und kahl einige Bäume, unter denen man ein Zelt aufschlagen konnte, und dann kam der Wald, der das Gelände wie eine finstere Palisade umfing. Sie lauschte, hörte jedoch nichts, überhaupt nichts, nicht das geringste Geräusch, nicht einmal ein entferntes Flugzeug. Dann öffnete Maurice die Fahrertür und stieg ebenfalls aus. Sie vernahm das leise Knistern seiner Schritte im Gras, als er zu ihr herüberkam.

„Und, Joe? Wie findest du es? Ist doch genau wie im Prospekt beschrieben“, bemerkte er und blickte sie aufmunternd an. Er sprach Französisch, das taten sie relativ häufig untereinander, manchmal auch Deutsch oder eine Mischung aus beidem.

Sie waren Zwillinge, ihr Verhältnis zueinander war immer schon sehr eng gewesen, besonders während ihrer Kindheit. Jahrzehnte, die seither vergangen waren, hatten jedoch nichts daran geändert, dass sie nach wie vor eher wie zwei Hälften eines Ganzen waren. Allerdings auch nicht daran, dass Maurice sie immer noch ‚Joe‘ oder ‚Joey‘ nannte, anstelle von Joëlle. Immerhin sprach er es Französisch aus, ohne D am Anfang, und nicht Englisch.

Sie grinste. „Ja, wirklich ausgesprochen nett hier. Besonders die Cocktail-Lounge und den Swimmingpool finde ich richtig toll! Sollte der Rest der Truppe nicht eigentlich auch längst hier sein?“, fuhr sie dann, wieder ernst werdend, fort.

Maurice warf einen Blick auf sein Smartphone, runzelte leicht die Stirn und steckte es kommentarlos wieder in die Innentasche seiner Lederjacke. Sie nahm an, das bedeutete: kein Netz. „Entweder ihr Flug hat Verspätung oder sie sind noch irgendwo da draußen unterwegs“, meinte er dann mit einem Schulterzucken. „Möchtest du noch einen kleinen Spaziergang machen, bevor es dunkel wird? Nach dem langen Sitzen täte uns ein wenig Bewegung vielleicht ganz gut.“

Sie schreckte auf, war sich nicht sicher, ob sie vielleicht kurz eingeschlafen gewesen war und nickte, hoffend, dass wenigstens ihre Füße noch wach waren. „In der Nähe beginnt der Big-Creek-Trail, auf den Photos sah er recht bequem aus, zumindest nicht so, als würde man sofort in einen Abgrund stürzen.“ Es musste ungefähr siebzehn Uhr sein, lange würde es Anfang November nicht mehr hell bleiben.

„Na, dann los!“ Er reichte ihr die Hand und sie marschierten den Schotterweg entlang, der von lichtem Laubwald gesäumt wurde, licht, weil die Bäume kaum noch Blätter trugen, im Hochsommer vermutlich eine grüne Wand. Nach wenigen Minuten erreichten sie eine Abzweigung. Ein mit welkem Laub bedeckter Weg führte rechts den Hang entlang, gerade breit genug, dass zwei Personen einigermaßen nebeneinander gehen konnten. Ein Stück weiter unten hörte sie leise Wasser rauschen, der Big Creek. Die Luft war kühl und feucht, feine Nebelschwaden hingen wie Schleier zwischen den Bäumen.

Die Nebelfrauen tanzen ihren Tanz.

„Ich hoffe, diese Marina und dieser Wolfgang Strathmann sind nicht allzu norddeutsch?“, sinnierte sie, nachdem ihr der Gedanke an Nebelfrauen nicht sonderlich gefiel.

„Ich dachte, du kennst sie.“

„Nein, leider nicht. Aaron hat mir nur erzählt, dass sie des öfteren ihren Urlaub in Mittenwald verbracht und ihn dann jedes Mal als Bergführer engagiert hätten. Jetzt hatten sie ihn wohl gebeten, sie auf dieser Tour durch die Smoky Mountains zu begleiten. Und nachdem ich ihm irgendwann erzählt hatte, dass ich schrecklich gerne mal den Appalachian Trail gehen würde, hat er mich angerufen und gefragt, ob ich mitkommen möchte. Na ja, und ich habe dann eben dich gefragt, ob du auch mitkommen möchtest.“

„Hmhm, gefragt, nennst du das“, konstatierte ihr Bruder und lächelte still in sich hinein.

„Ja, gut, vielleicht habe ich ein bisschen nachhaltiger gefragt. Aber es war über ein halbes Jahr her, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Und hätte Aaron nicht angerufen, wären wir beide in zehn Jahren immer noch nicht hier gewesen.“

„Sagen wir zwanzig“, brummte Maurice. „Außerdem weiß Aaron in den Bergen, was er tut.“

Aaron hatte nach dem Abitur das Studium abgebrochen und war nun seit über fünfzehn Jahren Bergführer im Sommer und Skilehrer im Winter. Er lebte seitdem in Mittenwald, kurz vor der österreichischen Grenze, und sie hatten in den letzten Jahren ab und an eine Bergtour zusammen unternommen. Sie kannte Aaron seit der Oberstufe des Gymnasiums. Schon lange bestand zwar nur noch ein loser Kontakt, dennoch hatten sie sich nicht völlig aus den Augen verloren. Daneben war er ein erfahrener Bergführer und in dieser Hinsicht war Verlass auf ihn.

„Der Appalachian Trail müsste direkt über uns sein, richtig?“, wechselte sie das Thema und bemerkte, dass Maurice sie prüfend betrachtete.

„Ja, irgendwo dort oben auf dem Kamm“, erwiderte er und wies mit dem Kopf in Richtung des Berghanges zu ihrer Rechten. „Ich hoffe, wir können morgen Vormittag aufbrechen. Ist dir kalt?“

„Ja, das hoffe ich auch, und nein, nur ein bisschen gruselig hier“, antwortete sie der Reihe nach.

„Ich fürchte, was ‚gruselig‘ betrifft, hast du das Beste noch vor dir“, bemerkte er mit einem Schmunzeln.

Das wusste sie, sollte heißen, etliche Nächte im Zelt, irgendwo im Nirgendwo in einem der ältesten Wälder der Erde und größten Urwald der USA.

Sie gingen weiter, bis sie auf eine Holzbrücke stießen, unter der das Wasser tosend über Felsbrocken rauschte, die Gischt spritzte bis hier oben. Es musste kürzlich wohl einiges an Niederschlägen gegeben haben, sonst hätte der Big Creek im Spätherbst vermutlich eher wenig Wasser geführt.

„Lass uns umkehren, vielleicht sind die anderen angekommen, außerdem wird es ziemlich finster.“ Maurice’ markantes Profil wirkte wie ein Scherenschnitt und sie konnte gerade noch erkennen, dass er zustimmend nickte. Der Rest seiner Gestalt verschmolz fast perfekt mit der Umgebung, weil er, wie gewöhnlich, ganz in Schwarz gekleidet war.

Der Rückweg dauerte länger, das enge Flusstal und die Bäume schirmten das spärliche Licht der vergehenden Dämmerung fast vollständig ab. Düster und schweigend schien der Wald an den Weg heranzurücken, heimlich und still, nicht wahrnehmbar für menschliche Sinne.

Sie hätte es zwar nie zugegeben, aber sie war erleichtert, als sie wieder auf den breiten Schotterweg stießen. Aus Richtung des Campingplatzes glaubte sie leise Stimmen zu hören.

Als sie näher kamen, konnte sie einen schwachen Lichtschein zwischen den Bäumen ausmachen. Tatsächlich waren Aaron und das niedersächsische Ehepaar eingetroffen, die beiden mühten sich im Licht der Autoscheinwerfer mit dem Aufbau ihres Zeltes ab.

Aaron blickte auf und kam ihnen entgegen. „Hallo, ihr zwei. Wo man sich nicht überall über den Weg läuft!“ Aus seinem hellbraunen Vollbart ertönte ein halb gebrummtes Lachen, das sie immer zum Schmunzeln brachte.

„Ja, wirklich frappierend“, grinste Maurice und sprach nun Deutsch. Er hatte Deutsch so nebenbei von ihr gelernt, zwangsläufig hatte er das, sprach es schon seit langem fließend und wenn er wollte sogar akzentfrei - das wollte er allerdings selten. „Ich hatte schon befürchtet, dass irgendwann ein Anruf aus der Gegend von Los Angeles kommt, weil ihr eine Abzweigung verpasst habt.“

„Um ehrlich zu sein, ich habe versucht, euch zu erreichen, muss so kurz vor Phoenix gewesen sein. Aber vielleicht schaltest du bei deinem verfluchten Telefon auch einfach mal den Ton an? Schön, dass ihr gekommen seid!“ Es folgte Händeschütteln, Schulterklopfen, Küsschen rechts, Küsschen links, das Übliche eben.

Dann beugte sich Aaron leicht zu ihnen vor. „Hört mal, es hat sich was geändert“, fuhr er mit verhaltener Stimme und nun in ernstem Tonfall fort. „Die beiden da, das sind nicht die Strathmanns, will meinen, ich kenne diese Leute nicht. Ich habe das leider auch erst am Flughafen in München per SMS mitgeteilt bekommen. Herr Strathmann hat, ganz kurz bevor das Ehepaar aufbrechen wollte, einen Gehörsturz erlitten und jetzt ist sein Gleichgewichtssinn gestört, weshalb die Strathmanns abgesagt haben. Das dort ist eine Cousine zweiten Grades von Frau Strathmann mit ihrem Mann. Frau Strathmann hat mir geschrieben, dass sie ihnen das, was sie bereits gekauft und bezahlt hatten, geschenkt haben. Zum einen wegen der Stornogebühren, meinte sie, und zum anderen weil die beiden da schon länger keinen Job und daher kein Geld für Urlaub haben, aber eben deshalb auch die einzigen waren, die kurzfristig Zeit hatten. Es kann also unter Umständen Probleme geben. Die zwei da sind nie und nimmer auf einen mehrtägige Wanderung vorbereitet. Nur damit ihr Bescheid wisst.“ Aaron richtete sich wieder auf und wendete sich um.

Sie wechselte einen kurzen Blick mit ihrem Bruder, der hob lediglich die Augenbrauen und zuckte leicht die Schultern. Abwarten.

„Darf ich vorstellen, das sind Frauke und Gero Böckelbauer aus Neustadt am Rübenberge“, sagte Aaron und wies mit der Hand in Richtung des Ehepaares. „Und das sind unsere beiden Franzosen, Joëlle und Maurice Méroq du Cournais, von denen ich euch erzählt habe.“ Die Hand wies nun in ihrer beider Richtung.

Sie hatte alle Mühe nicht loszuprusten, es gelang ihr gerade eben noch das Lachen auf ein Lächeln zu reduzieren, das hoffentlich noch als erfreutes durchging. Aber Böckelbauer in Verbindung mit Rübenberge fand sie schlichterdings urkomisch (was wahrscheinlich mit daran lag, dass sie völlig übermüdet war).

Aaron hatte recht, es konnte wirklich zu Problemen kommen, diese Böckelbauers waren weder jung, noch wirkten sie in irgendeiner Weise sportlich. Sie mussten beide um die fünfzig sein, hatten bereits deutlich Zivilisationsspeck angesetzt und wirkten eher, als wären sie vor dem Fernseher und in der Kneipe um die Ecke zu Hause, aber ganz sicher nicht auf Wanderwegen in den Bergen.

Der Mann, Gero, ließ das Zeltgestänge, das er in der Hand hatte, fallen und richtete sich auf. Er war nicht sonderlich groß, höchstens einen Meter siebzig, und damit gut einen halben Kopf kleiner als Maurice. Gero wirkte irgendwie gedrungen, so als sei er zu kurz, dafür aber zu breit geraten. Ein ansehnlicher Bauch wölbte sich über den Bund seiner Hose, ihn beleibt zu nennen traf es eigentlich ganz gut. Er trug die Haare extrem kurz in einer Art Militärschnitt dazu einen Schnauzbart, viel mehr konnte sie nicht erkennen, sein Gesicht lag im Schatten, die Scheinwerfer waren in ihre Richtung gerichtet. Er hielt kurz inne, als er zu ihnen herübersah.

„Hallo, na das is ja ma ne hübsche Überraschung“, sagte er dann und kam auf sie zu, ein langer Schatten eilte ihm voraus. Er schüttelte ihnen die Hand, sein Händedruck war seltsam lasch, dafür der Blick, mit der er sie ansah umso intensiver. Die Frau, Frauke, blickte nur kurz auf, sagte beiläufig „Hallo“ und wurstelte dann umständlich an dem Zelt weiter. Sie wirkte wie eine typische Niedersächsin, wuchtiger Knochenbau, relativ groß, breite Hüften, blonde Haare, insgesamt ein wenig grobschlächtig und auch alles andere als schlank, eher gut pummelig.

Sie erwiderten die Begrüßung mit den gängigen Floskeln.

„Braucht ihr Hilfe?“, erkundigte sich Maurice und wies in Richtung des Zeltes, das wie ein gestrandeter Wal auf dem Boden lag.

„Ja, das wäre super. Vielleicht hätten wir es zu Hause doch mal ausprobieren sollen“, murrte Frauke, dabei warf sie Gero einen ärgerlichen Blick zu, und streifte gleich im Anschluss Maurice mit einem kleinen, liebreizenden Lächeln, das in diesem eher ‚rustikal‘ zu nennenden Gesichtszügen ein wenig wie eine abseitige Idee wirkte.

Gero drehte sich zu seiner Frau um. „Jetzt maul nicht rum, hättest es ja nur zu tun brauchen.“

„Lass gut sein, ich helfe euch“, versuchte Maurice zu schlichten. „Das haben wir gleich.“ Er ging in Richtung des Zeltes davon.

Gero maß sie noch mit einem unverfrorenen Blick vom Scheitel bis zur Sohle, zwinkerte ihr mit einem penetranten Grinsen zu, und folgte dann Maurice.

Sie wendete sich etwas überhastet ab, ihr Immunsystem schlug Alarm, dieser Mann löste eine massive allergische Reaktion aus.

„Du brauchst wohl keine Hilfe?“, fragte sie Aaron. Der schüttelte den Kopf. „Na gut, dann kümmere ich mich mal um das Abendessen.“ Sie ging zum Wohnmobil zurück, Abstand schaffen zwischen sich und diese norddeutschen Typen. Es war durchaus nicht so, dass sie Vorurteile gegen Menschen hegte, die auf welche Weise auch immer ans Ende der sozialen Leiter gerutscht waren, aber diese Böckelbauers vom Rübenberge waren ihr auf Anhieb unsympathisch, schienen ihr auch nicht gerade sonderlich freundliche Menschen zu sein.

Sie holte einen Campingtisch und fünf Stühle aus dem dafür vorgesehenen Stauraum und baute alles vor dem Wohnmobil auf. Danach stellte sie ein Windlicht auf den Tisch, entzündete die Kerze und machte sich auf die Suche nach Tellern und Besteck.

„Ich hätt echt nich gedacht, dass wir den ganzen Campingplatz für uns allein haben“, sagte Frauke plötzlich in ihrem Rücken. Sie zuckte leicht zusammen, sie hatte sie nicht näherkommen hören.

„Es ist auch mehr ein einfacher Übernachtungsplatz als das, was wir unter einem Campingplatz verstehen“, erwiderte sie. „Außerdem ist es schon ziemlich spät im Jahr.“ Sie stieg mit einem Stapel Melamingeschirr in der Hand aus dem Wohnmobil.

„Wär’s eigentlich in Ordnung, wenn wir beim Vornamen bleiben? Euer Nachname klang echt furchtbar kompliziert.“ Frauke machte ein leicht verlegenes Gesicht, allerdings lag darin auch ein kleiner Vorwurf.

Sie schüttelte den Kopf, während sie das Geschirr auf dem Tisch abstellte. „Nein, natürlich nicht. Wenn es euch beiden recht ist, können wir auch gerne Du sagen. Ich täte mich mit dem Sie wahrscheinlich sowieso etwas schwer, nachdem wir eine Woche lang zusammen wandern wollen.“

„Ja, prima, ist mir recht.“ Frauke blickte sie einen Moment lang grüblerisch an. „Schohell? Ist das richtig?“

„Ja, kommt hin“, grinste sie, obwohl ihr Name eher wie die in bayrischer Mundart ausgesprochene Frage ‚schon hell‘ klang.

„Und wie war der Nachname nochmal? Ich hab echt nix verstanden.“

„Mach dir nichts draus, scheint kaum einem besser zu gehen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich mich eines schönen Tages zu Tode buchstabieren werde.“ Sie lächelte kurz und förmlich. „Méroq du Cournais“, fügte sie dann langsam und deutlich hinzu.

„Woah, das klingt aber toll! Ich hab ja keine Ahnung von Französisch“, bekannte Frauke freimütig, „aber es hört sich irgendwie adelig an. Kann das sein?“

„Ja, ist aber schon lange nicht mehr von Relevanz. Ein Adelstitel ist in Frankreich einem Vornamen gleichgestellt, bedeutet also nichts mehr“, wich sie aus, sie wollte nicht darüber sprechen.

„Da hast du blöderweise recht. Ich find das nur irgendwie schade, klingt immer alles total romantisch für mich.“

„Mag ja sein, aber ich befürchte das ist heutzutage nur noch in irgendwelchen Herzschmerz-Romanen so“, entgegnete sie etwas ungeduldig und begann, den Tisch zu decken.

„Man merkt es euch beiden aber trotzdem irgendwie an.“

Das verblüffte sie nun wirklich. „Im Ernst? Glaub ich nicht!“, erwiderte sie lapidar, eher schon unhöflich.

„Doch, so’n bisschen schon.“

Sie fand es überaus bemerkenswert, dass Frauke sie nach den paar Worten, die sie gewechselt hatten, bereits wesentlich besser kannte als sie sich selbst. „Sollte das tatsächlich so sein, entschuldige ich mich hiermit in aller Form“, entgegnete sie zynisch. Wie viel Unsinn fiel dieser Frau eigentlich noch ein?

Frauke fand ihre Antwort offenbar komisch, denn sie winkte lachend ab. „Ich hatt ja schon befürchtet, dass wir uns vielleicht gar nich unterhalten können, nachdem Aaron das mit den Franzosen gesagt hat. Aber zum Glück sprichst du ja richtig super Deutsch“, wechselte sie dann endlich das Thema, sah sie aber schon wieder neugierig an. Ihre Gesichtszüge hatten ein bisschen was von einem Pferd. Eine Schönheit war sie wahrhaftig nicht.

Sie zuckte mit den Schultern, weil sie das im Grunde irrelevant fand. „Danke, aber das hat nicht viel mit Glück zu tun, ich bin in Deutschland aufgewachsen und zur Zeit wohne ich auch gerade wieder dort.“

„Ach, dann ist nur dein Mann Franzose?“

„Nein, ich bin auch Französin. Und er ist nicht mein Ehemann, er ist mein Bruder.“

„Ach, darum! Ich dachte mir vorhin schon, dass ihr euch ja so was von ähnlich seht.“

„Ja, mag sein, wir sind Zwillinge.“

„Ooh, echt? Das ist ja süß!“ Frauke lächelte entsprechend. „Dann steht ihr euch bestimmt sehr nahe. Ist doch gewöhnlich so, oder?“

„Ja, so ist es, und ja, das tun wir“, erwiderte sie geduldig, aber innerlich stöhnend, konnte sich auch nicht recht erklären, was an Zwillingen nun so besonders ‚süß’ war, während sie noch einmal ins Wohnmobil stieg und etliche Schubladen aufzog, um herauszufinden, wo sich das Besteck verbergen mochte.

„Und diese Ähnlichkeit zwischen euch …, echt unglaublich“, fuhr Frauke indes unbeirrt fort. „Ich meine, klar, einmal die weibliche und einmal die männliche Ausgabe, aber euer Gesicht, die grünen Augen, die dunklen Haare….“ Frauke gab ein kleines, verlegenes Kichern von sich, das sich anhörte wie von einer Zwölf- oder Dreizehnjährigen. „Jedenfalls kann man bei sonem Bruder glatt neidisch werden, man könnt sich auf den ersten Blick in ihn verknallen.“

‚Na dann, viel Glück und gutes Gelingen‘, dachte sie nicht ohne Häme, fand endlich das Besteck.

„Nun ja, ich achte da nicht groß drauf, so als Schwester hast du sowieso lebenslänglich, da gewöhnst du dich an alles“, erwiderte sie schnodderig und stieg wieder aus dem Wohnmobil, sie wollte nicht auch noch Öl ins Feuer gießen. „Und was diese Ähnlichkeit angeht…, wir sehen beide unserem Vater ähnlich, aber eigentlich ist das doch auch völlig egal. Manche Dinge sind eben ganz schlicht so, wie sie sind.“ Sie knallte das Besteck auf den Tisch. „Ich nehme an, ihr habt auch noch nichts gegessen?“, beendete sie dann schnurstracks dieses Thema, weil sie diese ‚Ganz-die-Mutter-Gespräche‘ nicht ausstehen konnte. Daneben verspürte sie nicht die geringste Lust einen detaillierten Lebenslauf abzugeben.

Frauke schien kurz irritiert, dann schüttelte sie den Kopf. „Nö, das, was meine Cousine uns gegeben hat, steckt alles schon in den Rucksäcken. Die hat uns nämlich ihren Urlaub einfach so geschenkt, weil ihr Mann krank geworden ist.“

„Ja, das hat Aaron vorhin kurz erwähnt. Das ist wirklich Pech für deine Cousine und ihren Mann.“

„Ja, schon, aber andererseits komm ich so endlich ma raus.“ Frauke grinste breit. „Ich kann mich nich ma mehr erinnern, wann ich das letzte Mal in Urlaub war.“

Sie warf der Frau einen kurzen, missbilligenden Blick zu. „Das wird aber kein Urlaub zum Faulenzen werden, fürchte ich. Also, stärken wir uns am besten nochmal, bevor es losgeht.“

„Ja, das ist super! Wir hätten für heute Abend gar nix zu essen gehabt.“ Frauke hatte die Finger ineinander verschränkt und hielt sie vor ihr Kinn, fast als würde sie beten.

„Als hätten wir‘s geahnt!“, schmunzelte sie. „Wir mussten sowieso noch einiges für die Tour besorgen und da dachte ich mir, ein letztes Abendessen, wäre vielleicht auch nicht übel, bevor wir anfangen müssen Hasen und Wildschweine zu jagen.“

„Na dann, Waidmanns Heil“, brummte Maurice leise und setzte sich auf einen Stuhl. Gero ließ sich auf einen anderen sinken. Die Autoscheinwerfer waren aus, das Zelt schien zu stehen.

„Guck ma, Gero, Abendessen! Ist das nich echt toll? Und dann auch noch so’n richtiges Kenne-Latiner“, verkündete Frauke schwärmerisch.

„Was?“, fragten Aaron und sie verwirrt wie aus einem Mund.

„Candlelight Dinner“, verbesserte Maurice etwas lustlos.

Frauke ignorierte ihn. „Hach Gott ja, und einen richtigen Stuhl gibt’s auch dazu, bevor ich mich eine Woche lang auf die Erde hocken darf. Das ist ja so was von süß von euch.“

„Es wird nicht gerade ein Fünf-Sterne-Menü werden, aber immerhin ist es etwas, um den Magen zu füllen“, bemerkte sie betont nüchtern, sie konnte dieses ‚Aufgescheuchtes-Huhn-Gehabe‘ ebenso wenig ausstehen wie ‚Ganz-die-Mutter-Gespräche‘, und begann, den Kühlschrank auszuräumen.

Frauke wandte sich den Männern zu. „Schülie und ich hamm uns übrigens auf’s Du geeinigt, nur bevor ihr anfangt, euch zu verbiegen.“

„Tja, also wir hamm erst gar nicht mit dem Verbiegen angefangen“, brummte Gero, wobei er jede ihrer Bewegungen mit Blicken verfolgte, wie eine Katze kurz bevor sie die Maus schlug. „Wir sind nämlich gar nich auf die Idee gekommen, uns zu siezen. Außerdem krieg ich euren Nachnamen eh nicht hin.“

„Wenn wir uns jeden Tag zehn Minuten zusammensetzen, hast du ihn in einer Woche garantiert drauf“, erwiderte Maurice, es klang distanziert, in keinster Weise scherzhaft. Sie ahnte den Grund.

Aber Gero schien nicht gerade vor Intelligenz zu strahlen, denn er grinste und bedankte sich, trotz der doch eher etwas impertinenten Aussage, mit einer knappen Geste bei Maurice. „Wollt ihr das Wohnmobil eigentlich hier stehen lassen?“, erkundigte er sich dann.

„Sicher. Was sonst? Mitnehmen kann man es ja wohl schlecht“, erwiderte Maurice. „Wir werden uns nach der Wanderung noch etwas das Land ansehen. Es gibt hier in der Umgebung noch einiges an Sehenswertem.“

„Also mir reicht’s dann mit Wald und Grünzeug“, sagte Frauke in herablassendem Ton, wobei sie ihr einen seltsam abschätzigen Blick zuwarf. „Aber gut, einem geschenkten Gaul, schaut man nicht ins Maul. Ich wär ja lieber mal nach Florida, aber meine Cousine und ihr Menne haben danach noch eine Woche Vegas gebucht. Also fahren wir eben dahin.“

„Ja was?! Ist doch super! Wenn wir schon diesen blöden Fernwanderweg latschen müssen, sollte danach ja wohl ein bisschen Spaß drin sein“, erwiderte Gero mürrisch, zwinkerte ihr dann vielsagend zu.

Mit unbewegter Miene taxierte Maurice die beiden kurz, hob dann eine Augenbraue und warf ihr einen Blick zu.

Sie verzog leicht den Mund und zuckte mit den Schultern.

„Meine Fresse, als ob es bei uns nicht genug Wanderwege gäbe“, fuhr Gero indes verdrießlich fort. „Ich bin jedenfalls heilfroh, dass ich hier nicht auch noch Englisch sprechen muss, das hab ich nicht so drauf. Wo kommt ihr eigentlich her?“

Maurice Züge wechselten den Ausdruck so schnell, als hätte er eine Buchseite umgeblättert. „Das lässt sich schwer in einem Satz beantworten, sagen wir einfach zur Zeit aus Deutschland und aus Frankreich.“

Geros Gesichtsausdruck wurde aufmerksam, fast schon lauernd. „Ach, lebt ihr getrennt oder so?“

Einen Augenblick lang lag ein fast schon amüsiertes Lächeln auf Maurice Lippen, in der folgenden Sekunde schien es sich jedoch in seinem Dreitagebart verlaufen zu haben, denn es verschwand so schnell wie es aufgetaucht war. „Geschwister sind niemals wirklich getrennt, der eine ist immer im Herzen des anderen“, erwiderte er dann mit verhaltener Ironie, wobei der geringschätzige Blick, mit dem er Gero maß, nicht so recht zu dieser fast schon philosophischen Aussage passen wollte.

Sie konnte den Denkvorgang auf Geros Gesicht Schritt für Schritt nachverfolgen. „Aaahha, so ist das! Die Zuckerpuppe ist also deine Schwester!“ Geros Blick streifte sie, blieb kurz auf ihr haften, es war jedoch lange genug, dass sie etwas in seinen Augen aufblitzen sah, das ihr überhaupt nicht gefiel.

„Die Zuckerpuppe hat einen Namen und heißt für dich ausschließlich Joëlle, mein Freund“, berichtigte Maurice ihn eisig und in gestochenem Hochdeutsch (erfahrungsgemäß ein sehr schlechtes Zeichen), wobei er Gero scharf ansah.

Ganz große Klasse, das konnte ja heiter werden! Sie hatte vorher schon keine große Lust auf das Essen gehabt, jetzt verging sie ihr vollends. Sie hatte sowieso nur zweimal von ihrer sehr amerikanischen, gummiartigen und geschmacksneutralen Brotscheibe abgebissen (ein Königreich für ein Baguette, Leute!), als sie feststellte, dass sie keinen Bissen mehr davon hinunterbekam. Sie legte das angebissene Brot dezent zurück auf ihren Teller, das Zeug schmeckte grauenhaft, außerdem war sie todmüde.

Maurice wandte sich von Gero ab und sah sie mit einem kurzen, aber eindringlichen Blick an, der ungefähr besagte: Iss noch was, du musst morgen laufen. Sie schenkte ihm jedoch nur ein Naserümpfen als Antwort. Immerhin funktionierte die Kommunikation zwischen ihnen stets auch ohne Worte perfekt. Er schob ihr wortlos ein Stück Käse zu, der schmeckte ihr aber auch nicht.

„Und, wie sieht der Plan aus?“, erkundigte sich Maurice nach dem Essen bei Aaron.

„Ich würde sagen, wir gehen ein Stück die Straße zurück und biegen dann links auf den Chestnut Branch Trail ab, Richtung Mount Cammerer“, schlug Aaron vor. „Dann stoßen wir weiter oben auf den Appalachian Trail.“

Maurice nickte. „Ich habe es mir während des Flugs auf der Karte angesehen, das wäre ein guter Einstieg. Habt ihr bestimmte Etappen geplant?“

„Nö, wir haben uns gedacht, dass wir uns einfach nen Schlafplatz suchen, wo wir an dem Tag gerade ankommen“, erwiderte Gero und unterstrich seine Worte mit einer ausladenden Geste, als wollte er bereits im Vorfeld den Platz für sein Zelt ebnen. Dabei grinste er sie unverschämt an.

Blödmann!

„Also, Marina hat mir erzählt, im Nationalpark wär zelten nur auf ganz bestimmten Plätzen erlaubt“, widersprach Frauke, den Blick in Maurice’ Profil vertieft.

Sie begann sich zu fragen, was das eigentlich für schräge Vögel waren, die Aaron da aufgehalst bekommen hatte, und ob diese beiden tatsächlich die Absicht hatten zu wandern oder sich vielleicht doch eher etwas wie einen Swinger-Club vorgestellt hatten. Irgendwie fand sie das Benehmen von Frauke und Gero wirklich äußerst befremdlich. Eigentlich hatte sie keine große Lust mehr, eine Woche mit diesen Leuten zu verbringen.

„Ja, du hast recht und im Grunde ist das ja auch vernünftig“, meinte Aaron, „aber bevor wir im Dunkeln weitergehen, zelten wir lieber wild. Außerdem scheint hier ja nichts mehr los zu sein. Wo kein Kläger, da kein Richter.“

„Klingt vernünftig für mich“, sagte sie. „Also dann, morgen früh spätestens neun Uhr Aufbruch?“ Sie warf einen Blick in die Runde, alle nickten zustimmend, Gero lächelte, es wirkte eher wie ein Zähnefletschen.

Aaron nahm sein Glas, als wolle er darauf trinken. „Okay, na dann bleibt nur noch zu hoffen, dass alle alles dabei haben!“

„Ich schätze, diese Hoffnung teilen wir alle mit dir“, bemerkte Maurice ironisch.

Aaron grinste zurück. „Na ja, wenn wir Glück haben, hat wenigstens nur der eine dies und der andere was anderes vergessen.“

„Das käme dem Idealfall ja schon ziemlich nahe.“ Maurice blickte sie an, seine smaragdgrünen Augen hatten im Kerzenlicht einen eigenartigen Gelbton. „Dann würde ich vorschlagen, wir gehen schlafen, sonst kommen wir morgen früh nicht aus den Federn.“

„Gerne“, seufzte sie, allmählich fühlte es sich an, als würde sie in einer alten Gruft sitzen. Die kühle, feuchte Abendluft begann ihre Kleidung zu durchdringen und sich langsam in ihre Knochen vorzuarbeiten. Natürlich hatte sie Anfang November nicht mehr mit warmen Sommerabenden gerechnet und entsprechende Sachen eingepackt, aber das änderte nichts daran, dass sie fröstelte. Sie wusste allerdings auch, dass sie nicht nur das Beste an gruselig, sondern ebenso das Beste an kalt noch vor sich hatte, wenn sie erst ein paar hundert Höhenmeter aufgestiegen waren.

Aaron stand auf, klappte seinen Stuhl zusammen und lehnte ihn ans Wohnmobil. „Dann wünsche ich euch eine gute und erholsame Nacht, damit wir morgen alle fit sind für den Aufstieg.“

Gero schenkte ihr noch ein plump-vertrauliches Augenzwinkern, bevor er seiner Frau zu den Waschräumen folgte. Dieser Typ stand ihr schon jetzt bis ganz oben.

Eine halbe Stunde später schlief sie tief und fest, oben im Alkoven des Wohnmobils. Sie wurde nur einmal wach und als sie schlaftrunken hinunterblickte, bemerkte sie, dass Maurice am Fenster stand.

Sie versuchte ihre langen Haare irgendwie aus dem Gesicht zu bekommen, um besser sehen zu können. „Stimmt was nicht?“ Sie spürte seine angespannte Aufmerksamkeit.

„Irgendetwas ist da draußen“, sagte er, so beiläufig, als verlese er den Wetterbericht.

Angestrengt blickte sie aus dem schmalen Fenster hinter ihrem Kopfkissen, sah aber nichts außer pechschwarzer Finsternis. „So weit ich weiß gibt es hier Schwarzbären, Wölfe, Luchse, Dachse und was weiß ich noch alles, irgendeiner von denen wird es schon sein.“ Sie gähnte verhalten.

„Ja, vermutlich.“ Er kam zu ihr herüber und gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. „Schlaf weiter, Joey.“

Sie nahm seine Hand. „Das solltest du vielleicht auch lieber tun. In der nächsten Woche werden sich noch genug Gelegenheiten ergeben, um schlecht zu schlafen.“

KAPITEL 2

Gero passte sie in den Waschräumen ab.

„Morgen, Püppchen!“ Er tat so, als würde er sich lediglich die Haare vor einem fast blinden Spiegel kämmen.

(Schon klar, purer Zufall!)

Dann lächelte er sie mit schief stehenden Zähnen schräg von der Seite an. Vermutlich hielt Gero das für charmant, es wirkte auf sie jedoch eher wie ein geifern. „Naa? Gut geschlafen?“

„Danke, ja“, erwiderte sie gleichgültig, beachtete ihn nicht weiter und blieb vor dem am weitesten von Gero entfernten Waschbecken stehen. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass er zu einem der Pissoirs hinüberging, allerdings nicht zu dem, wo er ihr den Rücken zugewendet hätte. Sie verzog kurz missbilligend die Lippen und begann in ihrem Necessaire zu kramen. Sie wollte keinesfalls, dass er die Unruhe bemerkte, die sich in ihr einnistete, wie eine verseuchte Ratte.

„Ich hätt echt nich erwartet, hier mitten in der Wildnis so ner süßen Frau zu begegnen.“ Geros Stimme klang rau. Er brauchte auch bemerkenswert lange, um seine Notdurft zu verrichten, befand sie, sie wollte jedoch nicht wissen, wieso. „Du siehst aus wie’n Engelchen, weißt du das? Einfach klasse!“

Sie stöhnte voll Überdruss, wenn auch nur gedanklich, aber wenn sie ehrlich war, hatte sie ebenfalls nicht damit gerechnet, hier mitten in der Wildnis auf so einen Vollpfosten zu treffen.

„Vielleicht solltest, du mal über eine Brille nachdenken, lieber Gero“, erwiderte sie eisig. „Meines Wissens sind Engelchen grundsätzlich blond, die Schwarzhaarigen sind immer die Bösen, weißt du.“ Irgendwie hoffte sie ja, dass es nur an ihrem etwas südländischen Aussehen lag, darauf waren norddeutsche Männer schon immer abgefahren, und der Kerl sich wieder einkriegte.

Gero blickte sie mit einem Gesichtsausdruck an, der an mental retardiert denken ließ, scheinbar fiel ihm keine passende Erwiderung auf diese Plattitüde ein (was wiederum mit mental retardiert zusammenhängen mochte). Endlich verließ er das Pissoir und kam zu dem Waschbecken unmittelbar neben ihr herüber.

„Sag mal Gero, traut ihr beiden euch eigentlich eine einwöchige Bergtour zu?“, erkundigte sie sich ohne großartiges Interesse, während sie sich die Haare bürstete. Sie wollte das Thema wechseln, egal womit. „Neustadt am Rübenberge liegt doch irgendwo im Norden von Hannover mitten in der norddeutschen Tiefebene.“

„Na und? Denkst wohl ich gehör’ schon zum alten Eisen, was Kleine?“ Er ließ ungefähr drei Tropfen Wasser über seine Hände laufen, sah sie dabei dreist an. „Gelegenheit wär’ top, hätt’ eh grad ne dicke Hose. Soll ich dir ma zeigen, was ich noch so drauf hab?“

Sie warf die Bürste mit einer energischen Bewegung in den Kulturbeutel zurück. „Nein, herzlichen Dank, und ich bin nicht deine Kleine, merk dir das“, knurrte sie, versuchte nicht laut zu werden. Sie hatte wirklich niemals irgendeinem Mann (ja, gut, ausgenommen Maurice, aber das war etwas ganz anderes) erlaubt, sie mit einem dieser idiotischen Kosenamen zu titulieren, und bei diesem Proleten würde sie ganz bestimmt nicht damit anfangen. Außerdem, wenn ihr Bruder etwas hiervon mitbekam, würde Gero höchstwahrscheinlich heute nicht mehr wandern gehen. Morgen vielleicht wieder. Oder übermorgen. „Geh gefälligst deiner eigenen Frau auf die Nerven und lass mich mit deinem Gequassel in Ruhe.“

„Würd ich ja, wenn die alte Schreckschraube nur halb so schnuckelig aussäh wie du!“ Er gab ein abfälliges Lachen von sich, kam noch einen Schritt näher.

„Ist ja merkwürdig!“ Sie gab diesem Satz einen abfälligen Unterton. „So was in der Art habe ich bezüglich deines Aussehens und das von meinem Bruder auch gerade gedacht.“ Sie schoss Gero einen bitterbösen Blick zu. „Du benimmst dich ganz schön mies deiner Frau gegenüber. Weißt du das?“

„Soll ich dir was sagen!? Is mir scheißegal!“ Er grinste sie unverfroren an. „Also, wie wär’s? Möchteste ma rausfinden, wie fit ich noch bin?“

Es kostete sie all ihre Selbstbeherrschung, aber sie verzog keine Miene. „Klar, wenn du unbedingt möchtest, dann beweise es mir!“, fuhr sie mit vor Unschuld triefender Stimme fort. „Fang doch für’s erste einfach mal mit fünfzig Liegestützen und zwanzig Sit-ups an! Maurice und Aaron schaffen das nämlich locker. Na los, Gero, auf geht’s! Was die beiden können, kannst du doch bestimmt schon lange. Du bist doch hier der große Macker.“ Sie ließ ein maliziöses Lächeln folgen.

Gero blickte sie zunächst völlig konfus an, scheinbar hatte sie ihn aus dem Konzept gebracht, dann verfärbte sich seine Haut in Richtung der Nuance Granatapfel. „Hast du sie noch alle, du Kröte!?“, keifte er wütend. „Einen Scheißdreck werde ich! Ich bin doch kein so’n Fitness-Heini. (Nun, das lag eigentlich klar auf der Hand.) Lass von mir aus diesen blonden Penner und deinen bescheuerten Bruder für dich ackern, aber glaub bloß nicht, dass ich so blöd bin wie die!“

Sie nickte übertrieben verständnisvoll, immer noch dieses bösartige Lächeln auf den Lippen. „Verstehe“, erwiderte sie kühl. „Nun, mein Guter, nachdem du selbst ja leider auch nicht einmal halb so klasse aussiehst wie Aaron oder mein Bruder, bleibt für dich wohl nur, selbst ist der Mann. Tja, Pech gehabt!“

Sie stieß den schon wieder verdutzten Gero unsanft zur Seite und rauschte zur Tür hinaus. Schnell, wohl wissend, dass sie tunlichst in Maurice’ Dunstkreis sein sollte, bevor Gero sich von seiner Überraschung erholen konnte.

KAPITEL 3

Der Himmel war mit Wolken bedeckt, als sie aufbrachen. Sehr schöne Wolken allerdings (sie mochte Wolken), hellgrau mit weißen, bauschigen Rändern und dunklen Bäuchen. Aber soweit sie das beurteilen konnte, sah es nicht nach Regen aus, ideales Wanderwetter also. Die Smoky Mountains machten ihrem Namen alle Ehre, durchscheinen9de Dunstschwaden schmiegten sich wie bläulicher Rauch an die bewaldeten Flanken der Berge, die Wälder wirkten düster und geheimnisumwoben.

Bedauerlicherweise hatte Frauke das Bedürfnis, ein Gespräch unter Frauen mit ihr zu führen, und auf eine ihr selbst absonderlich erscheinende Art, tat ihr diese Frau sogar ein bisschen leid. Nur konnte sie Gero deshalb im Augenblick schlecht aus dem Weg gehen, sie fühlte sich ausgesprochen unwohl dabei.

Während sie die Schotterstraße entlang marschierten, erzählte Frauke ihr von ihrem Zuhause, ganz tolle, super billige Wohnung mit Balkönchen (vermutlich charmanter Sozialbau); diesem einen blöden Backrezept, das auch beim fünften Versuch nicht funktioniert hatte (dran bleiben!); was für ein schickes Kleid sie für ein Butterbrot und ein Ei erwischt hätte (schreiendes Rot mit tiefem Ausschnitt hatte immer etwas richtig Edles); dass Maurice bei Tageslicht ja noch besser aussähe, wie eine Mischung aus einem Da..., dessen Nachname auf -di oder so endete, vielleicht das Ganze auch mit B (sie verstand so gut wie nichts davon, weil Gero etliche Male lautstark nieste) und einem Joe, der Fraukes Aussprache zufolge, unter Umständen so ähnlich wie Manchego heißen mochte; jedenfalls wäre ihr Bruder einfach nur zum Dahinschmelzen (da waren schon ganz andere geschmolzen – außerdem, wer waren diese Typen überhaupt, Dadi und Manchego?); was sie von Gero zum Geburtstag bekommen hatte, so eine niedliche, goldene Kette mit Bärchenanhänger (passte sicher hervorragnend zum roten Kleid); wie ihre Tante bei einem Unfall ums Leben gekommen war, nämlich indem sie mitten auf der Straße mit dem Absatz in einem Gullydeckel steckengeblieben wäre (nun, irgendwie tragisch-komisch)…. Sie redete und redete ohne Unterlass, eigentlich musste sie nur immer an den richtigen Stellen Nicken oder den Kopf schütteln. Dann erklärte sie ihr ausführlich, wie sie mit den Strathmanns verwandt war und was sie alles von ihrer Cousine noch geschenkt bekommen hätte, einfach unglaublich.

„Meine Cousine hat mir erzählt, sie hamm die Wanderung so spät im Jahr geplant wegen der bunten Wälder. Ich sehe aber nix Buntes“, meinte Frauke dann mit offener Enttäuschung in der Stimme.

„Die Bäume scheinen das meiste Laub bereits verloren zu haben, möglicherweise gibt es einen frühen Winter“, meinte sie, während sie beim Gehen zusammengewehte Häufen welker Blätter aufstöberte, nur um den Kopf gesenkt halten zu können und sich irgendwie zu beschäftigen. Maurice und Aaron liefen ein Stück vor ihnen, sie konnte ihre Stimmen hören, verstand die Worte aber nicht.

„Frauke hat vielleicht nen Stress gemacht. Bis die mal alles dabei hatte für diese blöde Tour hier“, nörgelte Gero. „Hätte mal besser noch fix ein paar Kniebeugen machen sollen, die kommt kaum ne Treppe hoch. Ich bin ja voll auf Draht, aber die.“

Sie machte den Fehler aufzusehen, denn sofort zwinkerte Gero ihr zu, sendete ihr die Botschaft ‚ich krieg dich noch‘ und grinste anzüglich. Sein extravaganter Schnurrbart, der bereits von etlichen grauen Strähnen durchsetzt war, wippte dabei komisch auf und ab.

„Als ob irgendwer von Fußball gucken und mit seinen Kumpels dabei Bier saufen Kondition bekäme“, erwiderte Frauke mürrisch. Dann atmete sie tief durch. „Marina hat gesagt, wenns uns hier gefällt, laden sie uns nächstes Jahr vielleicht nach Mittenwald in den Urlaub ein. Da fahren die sonst nämlich immer hin.“

„Da ist es ja auch sehr schön“ erwiderte sie, fragte sich im Stillen, ob Frauke eigentlich blind oder einfältig war, einfach nur konzentriert wegsah oder diese dauernde Anmache tatsächlich völlig in Ordnung fand. „Maurice und ich sind auch schon einige Male mit Aaron durch die Alpen gewandert. Er ist ein wirklich guter Bergführer mit viel Erfahrung.“ Sie verzog die Lippen zu einem höflichen Lächeln und fing den nächsten eindeutigen Blick von Gero auf.

Sie starrte zurück und Gero sah als erster weg. Na bitte, gewonnen.

„Das wär doch die Gelegenheit, dann komm doch nächstes Jahr einfach auch hin“, meinte er dann, schielte jetzt jedoch nur noch zu ihr herüber.

(Genau, das könnte dir so passen, alter Bock!)

Sie zuckte die Schultern. „Mal sehen, ich weiß nicht, ob ich Zeit haben werde“, erwiderte sie ausweichend.

„Guck doch ma auf die Karte, Gero, nicht dass wir noch die Abzweigung verpassen“, mischte sich Frauke ein.

Sie war Frauke mehr als dankbar für diese Unterbrechung.

„Oh, mir fällt gerade ein, ich muss Maurice fragen, ob er diesen ähm…, Trinkwasseraufbereiter mitgenommen hat.“ Sie lächelte förmlich: „Entschuldigt mich“, und lief dann, so schnell es der schwere Rucksack zuließ, den beiden Männern hinterher. Irgendwann war jedermanns Geduld und Opferbereitschaft aufgebraucht. Sie hatte Glück, denn Aaron und Maurice blieben stehen und drehten sich um.

„He, mach langsam“, grinste Aaron, „du hast noch gut tausend Höhenmeter vor dir!“

Sie glaubte, dass ebenso viele bereits hinter ihr lagen. „Ist das der Chestnut-sonstewie-Weg?“, erkundigte sie sich etwas außer Atem und betrachtete den schmalen Pfad, der links bergauf in den Wald führte.

„Genau, und den nehmen wir jetzt.“ Aaron wies mit ausladender Geste auf den Weg, um den beiden Nachfolgenden zu bedeuten, dass sie hier abbiegen sollten.

Gero hob die Hand und nickte, zum Zeichen, dass er verstanden hatte.

Sie stellte fest, dass Maurice sie mit fragend hochgezogenen Augenbrauen ansah. Sie machte kurz ein verdrießliches Gesicht, verdrehte die Augen und bewegte den Kopf mit minimaler Bewegung in Richtung Frauke und Gero.

Er nickte verstehend, legte die Hand auf ihren Rücken und dirigierte sie in Richtung des Bergpfades. „Na, dann los, geh voran, Joe. Immer die Kleinsten zuerst, damit die anderen eine Chance haben das Loch, in dem sie verschwindet, noch rechtzeitig zu bemerken.“

Sie murrte ein missmutiges „Allmächtiger!“ und setzte sich in Bewegung. Sobald sie die ersten Schritte in den Wald getan hatte, änderte sich die Luft, sie wurde schwerer, irgendwie dichter, feuchter. Ein feiner Dunst lag zwischen den Bäumen. Überall um sie herum knisterte es leise, welke Blätter segelten behäbig zu Boden, feine Wassertropfen fielen von den Zweigen, irgendwo rief ein Vogel, vielleicht eine Waldtaube, ein anderer antwortete.

Der schmale Pfad stieg stetig an, oft durchzogen von Wurzelgeflecht, das rutschig war von nassem Laub. Eicheln und Rosskastanien, die von den Bäumen gefallen waren, rollten immer wieder unter den Füßen weg. Daneben war der Weg stufig, von größeren und kleineren Felsbrocken durchsetzt, die man wegen der vielen heruntergefallenen Blätter kaum sah. Sie ging nicht allzu schnell, sogar etwas langsamer, als es ihr, und ebenso Maurice’ und Aarons normaler Wanderschritt war, aber sie hatte schon bald bemerkt, dass Aaron immer wieder stehenblieb und auf die beiden Norddeutschen wartete. Ab und an vernahm sie von weiter hinten leise Flüche, vermutlich wenn Gero über etwas gestolpert war, oder ein erschrockenes ‚Huch‘, wenn Frauke wieder ausrutschte. Das Ganze durchsetzt von angestrengtem Stöhnen. Das konnte ja heiter werden.

„Geht schon mal vor“, sagte Aaron nach etwa einer Stunde. „Solltet ihr auf eine Abzweigung stoßen, wartet dort einfach auf uns. Ich komme mit den beiden nach.“ Er hob beide Hände. „Hilft ja nix, wenn man dafür bezahlt wird.“

„Kein Ding, so bekomme ich immerhin ein Bonus-Päuschen“, bemerkte sie.

Aaron grinste, hob kurz die Hand und machte sich daran, den Weg wieder hinabzusteigen, um Frauke und Gero einzusammeln.

Sie stapften weiter, ein paarmal glitt auch ihr der Fuß auf dem schmierigen Untergrund weg, aber solange es bergauf ging, war das nicht weiter tragisch. Je höher sie kamen desto mehr verdichtete sich der Dunst zu Nebel, die Nässe nahm zu. Irgendwann konnte sie Frauke, Gero und Aaron nicht mehr sehen, als sie sich umwendete und einen Blick zurückwarf.

„Ich habe sie vor Kurzem noch sprechen hören“, sagte Maurice, der in kurzem Abstand hinter ihr herging, feine Wassertröpfchen hingen in seinem dunklen Haar.

„Ist aber schon einige Zeit her, oder?“ Sie ging ein paar Schritte rückwärts, um besser hören zu können, vernahm aber keine menschlichen Stimmen. Andererseits, Maurice und sie hatten auch nur wenige Worte gewechselt.

„Sag mal, Joe, wie viel Ärger macht dieser Typ?“

Sie holte ihren Blick aus dem nebelverschleierten Wald zurück und sah ihn an. Seine ebenmäßigen Züge verrieten ihr nichts darüber, was er wissen mochte und was nicht. „Ach, nur das Übliche. Kommt wohl gerade in die ‚Wechseljahre‘. Vergiss es einfach!“

Ihr Fuß verfing sich an irgendetwas, das sie natürlich nicht hatte sehen können, weil sie immer noch rückwärts ging. Sie geriet ins Taumeln und kurz bevor sie engere Bekanntschaft mit dem feuchten Waldboden machen konnte, erwischte Maurice ihre Hand und brachte sie wieder ins Gleichgewicht.

„Nein, werde ich nicht.“ Sein Blick hielt sie noch einen Moment gefangen. „Und jetzt sieh lieber nach vorne und erspar dir die nasse Hose. Die kommen schon.“

Nach etwa einer Viertelstunde erreichten sie einen Bergrücken, auf dem ein anderer schmaler Pfad ihren Weg kreuzte. Man hatte keinen Ausblick von hier, sie befanden sich nach wie vor mitten im Wald, Bäume und Nebel nahmen ihnen jegliche Sicht.

Sie blieb schwer atmend stehen, mit dem schweren Rucksack war der Anstieg doch anstrengend gewesen, obwohl er nicht besonders steil gewesen war. „Na, dann warten wir mal.“

Maurice schloss zu ihr auf. „Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, führen beide Wege auf den Mount Cammerer, aber ich weiß nicht, welchen Aaron nehmen will.“

„Ich hoffe, den linken“, seufzte sie, „sonst gehen wir ein ganzes Stück bergab, das wir später nur wieder hochlaufen müssen.“ Sie sah sich um, entdeckte einen Baumstamm von passabler Sitzhöhe und steuerte darauf zu. Sie zog ihre Jacke so weit es ging nach unten und ließ sich auf dem feuchten Holz nieder. Mit einem Seufzer der Erleichterung streifte sie den Rucksack ab und kramte ihre Wasserflasche heraus, um ein paar Schlucke zu trinken. Dann machte sie sich daran den Zopf, den sie heute morgen geflochten hatte wieder zu lösen, weil es ihr im Nacken zu kühl wurde.

„Geht es mit dem Rucksack?“, fragte Maurice und setzte sich zu ihr.

Sie wusste, wenn sie jetzt ein falsches Wort sagte oder bloß das Gesicht verzog, dann würde er ihr den Rest auch noch abnehmen und ihren Rucksack für sie weiterschleppen, aber sie hatte ohnehin schon nur die leichteren Sachen bekommen.

„Nicht anfassen, da ist mein Zigarettenvorrat drin“, murrte sie also mit drohendem Unterton.

Maurice lächelte, legte den Arm um ihre Schulter und zog sie an sich. „Sag trotzdem Bescheid, ich meine, falls dir die Zigaretten zu schwer werden.“

„Das hättest du wohl gerne.“ Blicklos sah sie einige Zeit auf die von Feuchtigkeit schwarzen Stämme, die Dunkelheit dahinter, dann seufzte sie. „So schnell sind wir doch auch wieder nicht gegangen, wo bleiben die denn?“

„Wahrscheinlich haben sie eine Pause eingelegt.“

Sie nickte, kramte die angefangene Packung Zigaretten aus ihrer Jacke und zündete zwei an, von denen sie eine kommentarlos an Maurice weiterreichte. Der Nebel fing den Rauch ein, behäbig hing er als dichte, graue Wolke vor ihren Gesichtern. „Ziemlich einsam hier“, sagte sie nach einer Weile und lehnte den Kopf an seine Schulter.

Maurice nickte und blies den Rauch vor sich in die Luft, die graue Wolke nahm die Form eines Rhinozeros an. „Ich finde es auch etwas ungewöhnlich, dass wir niemandem begegnet sind, aber andererseits: die Parkplätze unten waren leer, und Wege gibt es hier viele.“

Sie machte „Hmhm“, fühlte sich aber immer noch irgendwie ‚ausgesetzt‘, so ungefähr wie ein herrenloser Welpe auf einer Autobahnraststätte. „Ich mag diese Böckelbauers nicht besonders“, sagte sie dann. „Komische Heilige, irgendwie.“

„Ja, das kann man laut sagen“, entgegnete Maurice misslaunig. „Außerdem wirken die beiden auf mich nicht unbedingt so, als wären sie fit genug für eine Woche Wandern am Stück.“

Sie seufzte. „Scheinbar sind sie noch nicht mal fit genug für den ersten Aufstieg.“

Nachdem die Zigaretten ausgeraucht waren, waren die anderen immer noch nicht da.

„Nom de dieu! Sonst kommt der Kellner doch auch sofort mit der Suppe, sobald ich mir eine Zigarette anzünde“, bemerkte Maurice verdrießlich. Er nahm den Arm von ihrer Schulter, stand auf und ging ein paar Schritte den Weg zurück.

Ein leichter Windstoß fuhr durch die Äste und ließ einen kleinen Schauer aus Tropfen auf sie niedergehen, einer klatschte ihr mitten auf die Nase. Unter leisem fluchen wischte sie ihn ab, nahm ihren Rucksack wieder auf und folgte Maurice.

Sie horchte, der Wald knisterte, es raschelte, ein leises ‚Popp‘, als eine Kastanie fiel. „Haben wir vielleicht irgendwo eine Abzweigung verpasst?“

„Ich habe keine gesehen und auf der Karte gab es auch keine.“

Sie warteten noch eine Minute, ihr wurde allmählich kalt, weil sie vom Aufstieg noch verschwitzt war und Maurice sie nicht mehr wärmte. „Lass uns ihnen ein Stück entgegen gehen, vielleicht ist jemand gestürzt“, meinte sie schließlich, obwohl sie nicht die geringste Lust verspürte, das, was sie schon hochgegangen war, wieder abzusteigen.

Maurice nickte und bedeutete ihr, wieder voranzugehen.

Sie waren höchstens dreihundert Meter weit gekommen, als sie einen leisen Pfiff hörte. Das musste Aaron sein, das war ihr Signal, falls sie sich unterwegs verloren. Sie steckte zwei Finger in den Mund und erwiderte den Pfiff. Fast ohne Verzögerung kam die Antwort.

„Immerhin leben sie noch“, brummte Maurice. „Möchtest du hier warten?“

Sie schüttelte energisch den Kopf und ging weiter. Ein paar Minuten später tauchte schemenhaft eine Gestalt im Nebel auf, dann noch eine und noch eine. Erleichtert atmete sie auf, alle drei noch da, alle drei auf den Beinen. Schließlich erreichte Aaron sie und blieb bei ihnen stehen, er wirkte angespannt.

„Ist was passiert?“, fragte sie.

Aaron schüttelte mit missmutig zusammengezogenen Augenbrauen den Kopf. „Eigentlich nichts“, erwiderte er, „nur Frauke war plötzlich verschwunden.“

„Wie das denn?“, fragte sie verblüfft.

„Keine Ahnung, sie wollte sich nur kurz in die Büsche schlagen und dann war sie weg. Gero und ich haben bestimmt zehn Minuten nach ihr gesucht und sie endlich von weit entfernt rufen hören.“ Aaron schüttelte erneut den Kopf, er wirkte immer noch verstimmt. “Sie war ein ganzes Stück nördlich des Weges mitten im Wald, frag mich bitte nicht, wie und warum. Man könnte ja vielleicht wenigstens so viel Orientierungssinn besitzen, um sich nicht schon beim Pinkeln zu verlaufen.“ Er schnaubte ärgerlich.

Frauke und Gero schlossen zu ihnen auf. Frauke wirkte ziemlich durcheinander, die Haare zerzaust, mit ein paar Kratzern im Gesicht, Schweiß perlte auf ihrer Stirn.

„Tschuldigung, dass ihr so lange warten musstet“, keuchte Gero, völlig außer Atem vom Aufstieg. „Meine Frau hat sich mal wieder blöde angestellt.“

„Nein, hab’ ich nicht! Ich weiß nich, was passiert ist, der Weg war einfach nich mehr da!“ Frauke klang einesteils verwirrt, sogar ängstlich, daneben aber auch entrüstet.

„Der Weg war nicht mehr da? Wie meinst du das?“, fragte Maurice, und es klang ernst, gewiss nicht, als hielte er Frauke für völlig bescheuert.

Gero murmelte etwas Unverständliches, seinem Tonfall nach war es allerdings etwas nicht eben Freundliches.

Frauke hob in hilfloser Geste die Hände. „Ich bin höchstens fünf Meter weit hinter ein paar Sträucher gegangen, weil ich ma musste, und dann genau dieselben fünf Meter wieder zurück. Das hat bestimmt nich länger als zwo Minuten gedauert.“ Ihr Blick wurde gehetzt. „Aber da war nix mehr, kein Weg, kein Pfad, Gero und Aaron waren verschwunden. Ich hab sofort laut gerufen, das hätten die unbedingt hören müssen, die wollten ja nur langsam weitergehen, um auf mich zu warten – die haben mich aber nich mehr gehört.“ Sie schluckte. „Sogar wenn ich in die falsche Richtung gegangen wär, was ich verdammt noch ma nich bin, dann wär ich nur ein kleines Stück vom Wanderweg weg gewesen, dann hätten die mich doch trotzdem sofort hören müssen.“ Fraukes Blick hatte sich während ihres Berichtes offenbar an Maurice verfangen und hing nun hilfesuchend an ihm.

„Ja, das hätten sie eigentlich“, meinte er nachdenklich und sah, Frauke ignorierend, zu Aaron.

Der zuckte die Schultern. “Wir sind sogar stehengeblieben, zehn, fünfzehn Meter weiter, wir haben aber nichts gehört.“

„Seltsam...“, bemerkte Maurice kopfschüttelnd, Frauke weiterhin keinerlei Beachtung schenkend, sondern den Blick an ihr vorbei irgendwo dorthin gerichtet, wo sich der Rand des Universums befinden musste.

Seltsam… im Nebel zu wandern, ergänzte sie in Gedanken den Anfang des Gedichtes von Hermann Hesse.

„Seltsam ist gar kein Ausdruck!“, murmelte sie und fühlte ein unangenehmes Kribbeln im Magen. Sie atmete tief durch, ging zu Frauke und strich ihr beruhigend über die Schulter, weil sie ihr völlig aufgelöst und den Tränen nahe vorkam. Wie es aussah, hatte ihr Bruderherz offenbar nicht die geringste Intention, Frauke Trost zu spenden. „Ist schon gut, manchmal schlucken Wald und Nebel jedes Geräusch“, versuchte sie also Fraukes Ängste zu zerstreuen. Sie glaubte nicht, was sie da sagte. „Wir bleiben ab jetzt einfach näher beisammen, dann passiert so etwas nicht mehr.“ Auch diese Aussage hielt sie für kompletten Humbug.

Frauke nickte dankbar, nahm kurz ihre Hand und drückte sie.

„Sollen wir weitergehen?“, fragte sie und sah von Frauke zu Gero (Gero grinste hastig), dann zu Aaron. Alle stimmten zu. Aaron ging ab nun als letzter, Maurice und sie weiterhin vorneweg, aber sie drosselten ihr Tempo und warteten immer wieder bis die anderen aufgeschlossen hatten.

Schließlich erreichten sie die Wegkreuzung, an der Maurice und sie vorher umgekehrt waren. Sie machten kurz Rast, aßen und tranken etwas, weil Frauke und Gero jetzt schon behaupteten fix und fertig zu sein, und nahmen dann den Weg geradeaus, weil Aaron der Meinung war, der sei kürzer.

Eine Zeit lang ging es bergab, nicht sehr steil (trotzdem ärgerlich), hinunter in ein bewaldetes Hochtal. Der Nebel wurde so dicht, dass man kaum zehn Meter weit sehen konnte, die alten, knorrigen Bäume wirkten wie geisterhafte Schemen, die ihre Äste in ein weißes Nichts reckten. Alles sah verwaschen und unscharf aus, als gäbe es keine festen Konturen mehr und sie hatte ständig das Gefühl, schlecht zu sehen.

Sie mussten einer hinter dem anderen gehen, der Pfad wurde immer schmaler, führte schließlich zu einem Bach, den sie auf Trittsteinen überquerten, eine Brücke gab es nicht. Danach ging es ein Stück durch sumpfiges Gelände, wo man darauf achten musste, nicht bis zu den Knöcheln im Matsch zu versinken, dann erneut bergauf und weiterhin durch dichten Wald. Dornige Ranken, die sich in trockenen Halmen verbargen und niedrige, krautige Vegetation nahmen den Weg immer mehr ein und behinderten das Gehen. Irgendwann setzte sie ihre Kappe auf, die mit der Silhouette von Carcassonne. Feuchtigkeit fiel aus der Luft aus wie feiner Nieselregen und Nässe tropfte von den Bäumen, als ginge ein leichter Schauer nieder. Ihre Haarspitzen waren bereits nass und strähnig.

Schließlich erreichte sie einen steileren Hang. Ein schmaler Pfad, kaum breiter als eine Wildspur schlängelte sich in Serpentinen nach oben, wo er sich im Nebel verlor. Sie nahm an, dass sie das Hochtal nun durchquert hatten, blieb stehen und drehte sich um. Im Augenblick sah sie nur ihren Bruder, die anderen drei waren noch ein Stück weiter hinten. Aber sie konnte hören, dass Gero sich gerade keuchend über den vermaledeiten Nebel beschwerte und wofür er wohl seinen Foto mitschleppe. Alles in Butter, wie es schien.

Sie blickte Maurice, der bei ihr stehengeblieben war, etwas unsicher an. „Denkst du, wir sind noch richtig? Ich habe seit langem keine Markierung mehr gesehen, andere Wanderer sowieso nicht und der Weg wird immer schmaler.“

Statt zu antworten zog er den Reißverschluss seiner Jacke ein Stück auf, griff in die Innentasche und holte die Karte heraus, gemeinsam beugten sie sich darüber. „Eigentlich können wir gar nicht verkehrt gegangen sein“, meinte er kurz darauf. „Sieh mal, da ist der Bach, den wir auf den Steinen überquert haben und der Weg geht im Prinzip immer geradeaus durch das Tal, laut Karte gibt es auch nur diesen einen. Wir müssten jetzt genau hier sein, am Fuß des Mount Cammerer.“ Er blickte kurz auf und sah sich um, dann zuckte er die Achseln. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir irgendwo eine Gabelung übersehen haben, dass fünf Personen das tun, ist äußerst unwahrscheinlich, Nebel hin, Nebel her.“

Sie sagte „Ja“, weil das alles stimmte, aber sie hatte ein ungutes Gefühl. Außerdem wäre diese hier die erste Wanderkarte ihres Lebens gewesen, die korrekt gewesen wäre und nicht mit reiner Fantasie entsprungenen, roten Linien aufgewartet hätte, die vermutlich lediglich zur Auflockerung des Gesamtbildes beitragen sollten.

Maurice steckte die Karte wieder ein, sah sie ein paar Sekunden lang aufmerksam an. „Ja, ich weiß und ich denke, du hast recht. Aber andererseits, wenn der Weg endet, kehren wir eben um. Allzu weit sind wir ja noch nicht gekommen und es bleibt noch vier oder fünf Stunden hell.“

Sie nickte, aber tief in ihrem Inneren blieb eine leise Irritation. Diese selbst jedoch irritierte sie wiederum, denn sie verstand nicht, was sie eigentlich beunruhigte. Sie waren schon einige Male tagelang, sogar einmal über eine Woche, durch die Alpen gewandert, wenn auch nicht mit einem Zelt, sondern von Hütte zu Hütte. Es kam ihr jedoch nicht so vor, als wäre es das, was sie störte. Maurice und sie hatten ebenso schon Urlaube mit Zelt unternommen, waren jeden Tag woanders gewesen, immer auf der Suche nach irgendwelchen antiken oder mittelalterlichen Ruinen, Höhlen, Schlössern oder was auch immer am Wegesrand lag, und dann weiter zum nächsten Ort. Das war also auch nicht wirklich neu.

„Weißt du, Joey, vielleicht ist es einfach die Weite und Abgeschiedenheit der Wälder und die Fremdheit des Landes“, sagte Maurice mit ruhiger Stimme und nahm ihre Hand. „Man stößt hier nicht irgendwo auf einen Bergbauernhof, sieht keine Kühe, die auf einer Alm weiden oder kommt irgendwann wieder in ein Bergdorf mit Hotels und Gaststätten, wenn man nur lange genug bergab geht. Außerdem ist es ungewohnt, nicht ständig auf andere Menschen zu treffen“, er lächelte kurz. „Was allerdings den Vorteil hat, dass man nicht dauernd stehen bleiben muss, um aneinander vorbeizukommen.“

Sie runzelte verdrießlich die Stirn. „Ich wäre dir wirklich sehr verbunden, wenn du aufhören würdest, in meinen Gedanken herumzustöbern.“

„Das war dieses Mal gar nicht notwendig“, erwiderte er prosaisch, „es stand dir ganz offen ins Gesicht geschrieben.“

„Vielleicht sollte ich mich um einen Nebenjob als Litfaßsäule bemühen“, bemerkte sie trocken und ließ seine Hand los. „Ich bin aber trotzdem heilfroh, dass du da bist“, fügte sie noch hastig hinzu, die anderen hatten sie fast erreicht.

„Glaub mir, ich auch“, erwiderte er mit einem abschätzigen Seitenblick auf Gero.

KAPITEL 4

Diese Route scheint wohl nicht sonderlich begangen zu sein“, meinte Aaron und trat neben Maurice auf die vergilbten, trockenen Halme einer kleinen Grasfläche, „und da oben sieht es kaum besser aus.“ Er betrachtete das Stück Steilhang, das der Nebel freigab.

Gero hatte seine ‚Hannover-96-Kappe‘ gelüftet und tupfte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Die Spitzen seines Schnurrbartes hingen nun mit einer gewissen Melancholie nach unten, an den Spitzen hatten sich Wassertropfen gesammelt, die fast wie Tränen wirkten. „Ziemlich beschwerlich zu gehen hier, mit dem ganzen Grünzeug“, maulte Gero kurzatmig, traurig war er jedenfalls nicht.

„Ach, Gerolein, nu sei doch nich immer gleich so knötterig!“ Frauke versetzte ihrem Ehemann einen kameradschaftlichen Knuff gegen die Schulter, der diesen leicht ins Taumeln brachte.

„Bin ich nich, hab nur Augen im Kopf“, erwiderte Gero barsch. „Sieh dir doch mal den Steig da vorne an! Und steil ist er auch noch.“

„Schatzilein, weißt du“, bemerkte Frauke in einem Tonfall, den man normalerweise für all die reserviert hatte, deren IQ knapp über fünfzig lag (was unter Umständen den Tatsachen ziemlich nahe kam). „Bei Bergen muss man immer bergauf gehen, wenn man hoch will, und wenn man wieder runter will bergab.“ Sie grinste.

„Elementar, mein lieber Watson“, murmelte Maurice fast unhörbar auf Französisch und seufzte.

„Ja, danke, erinnere mich dunkel“, knurrte Gero missmutig. „Was meint ihr, Leute, sollen wir hier weitergehen oder lieber kehrtmachen?“

„Ich wäre für weitergehen“, erwiderte Aaron. „Der Weg ist in all unseren Karten eingezeichnet, rauf müssen wir so oder so und umkehren wäre ein ziemlicher Umweg. Außerdem würden wir auf dem anderen Weg erst ein Stück weiter südlich auf den Appalachian Trail stoßen. Aber ich überlasse die Entscheidung selbstverständlich euch.“

„Ich bin ebenfalls für weitergehen“, sagte sie, nachdem alle ein paar Sekunden lang geschwiegen hatten und jeder scheinbar darauf wartete, dass ein anderer etwas sagte.

„Ich auch“, meinte Maurice abwesend, er hatte sein Smartphone herausgeholt und blickte kritisch darauf. „Hat eigentlich irgendjemand von euch Empfang? Bei meinem Telefon taucht nur ein einziger Balken auf und selbst der verschwindet immer wieder.“ Kopfschüttelnd schaltete er das Handy aus und steckte es weg.

Frauke, Gero und Aaron kramten ihre Telefone heraus und sahen nach, sie selbst hatte ihres gar nicht mitgenommen, weil sie befunden hatte, dass das von Maurice ausreichte.

„Nö, tote Hose“, brummte Gero.

„Tja, bei mir auch.“ Aaron schmunzelte.

„Schade für euch, Jungs“, bemerkte Frauke mit penetranter Koketterie. „Andererseits, ich bin gerade auch nicht auf Empfang, also ich meine, mein Telefon zumindest nicht.“ Sie warf Maurice einen wohl verführerisch gemeinten Augenaufschlag zu.

Maurice schüttelte nur mit einem fatalistischen Schmunzeln den Kopf. „Vielleicht liegt es am Nebel oder an den Bäumen oder an beidem zusammen“, meinte er dann, sichtlich um Ernsthaftigkeit bemüht. „Ich denke, es wäre das Vernünftigste, wenn wir einfach hier weitergingen. Solange es bergauf geht, kann es ja nicht allzu falsch sein.“ Als er geendet hatte, warf er Frauke einen kurzen, spöttischen Blick zu, der in etwa ‚Dein Ernst?!‘ zum Inhalt hatte. Fraukes Gesicht wurde dunkelrot, was einen hübschen Kontrast zu ihrem hellblauen Regenhut ergab, dann senkte sie den Kopf.

„Moment, ich hab da noch was Besseres für euch!“ Mit dem Grinsen des Siegers der letzten Tour de France hielt Aaron einen GPS Tracker hoch, der sehr teuer aussah. Er schaltete das Gerät an. Sein Grinsen gefror, dann sank es in sich zusammen, wie ein Fallschirm nach der Landung.

„Was ist?“ Maurice blickte mit zusammengezogenen Brauen auf das kleine Gerät in Aarons Händen.

„Das gibt’s doch nicht!“ Aaron wirkte völlig perplex, als habe Maurice ihm gerade erklärt, der Vatikan habe China unterjocht. „Dieses Teil hat global eine garantierte, hundertprozentige Empfangsabdeckung, weil es über ein spezielles Satellitennetzwerk läuft, natürlich unabhängig vom Funknetz. Ich habe aber keinen Empfang damit! Das kann überhaupt nicht sein!“