Viel Glück, mein Kind - Irene Rodrian - E-Book

Viel Glück, mein Kind E-Book

Irene Rodrian

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Beschreibung

Wir haben doch immer über alles geredet, meinen Ingrids Eltern. Und das stimmt! Mit Arno und Hilde, den Eltern, kann Ingrid wirklich über alles reden – über ihre Tätigkeit bei der Schülerzeitung, über ihre politische Arbeit und über ihre Freunde. Aber jetzt, als die sechzehnjährige Ingrid ein Kind erwartet, in einer Situation ist, die ihrem Leben eine ganz andere Richtung geben kann, möchte sie allein entscheiden, was richtig für sie ist. Wird sie es schaffen?

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Seitenzahl: 163

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Irene Rodrian

Viel Glück, mein Kind

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Wir haben doch immer über alles geredet, meinen Ingrids Eltern. Und das stimmt! Mit Arno und Hilde, den Eltern, kann Ingrid wirklich über alles reden – über ihre Tätigkeit bei der Schülerzeitung, über ihre politische Arbeit und über ihre Freunde. Aber jetzt, als die sechzehnjährige Ingrid ein Kind erwartet, in einer Situation ist, die ihrem Leben eine ganz andere Richtung geben kann, möchte sie allein entscheiden, was richtig für sie ist. Wird sie es schaffen?

Über Irene Rodrian

Irene Rodrian: nach dem Abitur Ausbildung in Werbung, Grafik, Film und Fernsehen; Reisen und diverse Tätigkeiten in verschiedenen Berufen; lebt als «freie» Schriftstellerin in München.

Veröffentlichungen: bisher zahlreiche Kinder- und Jugendbücher (Auswahlliste zum Deutschen Jugendbuchpreis, Übersetzungen) u.a. «Der Mann im Schatten»; «Blöd, wenn der Typ draufgeht»; schreibt außerdem Kriminalromane (rororo-thriller, Edgar-Wallace-Preis, Verfilmungen); Kurzgeschichten, Hörspiele, Drehbücher.

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel

1

Er hatte kein Gesicht.

Nur Augen, die sie ansahen, Lippen, die sie festhielten, Hände, die sie berührten. Ich liebe dich.

Das Summen setzte fast lautlos ein, steigerte sich langsam, atemlos, lauerte eine Sekunde lang, um dann plötzlich in schrilles Klingeln umzukippen.

Ingrid vergrub sich tiefer in das Kissen, konnte die spitzen Zähne der Glocke, die nach ihr schnappten, nicht abwehren, drehte sich auf die Seite und streckte einen Arm unter der Decke hervor. Ihre Hand tastete blind über den Nachttisch, fand den Wecker, stellte ihn ab. Tastete weiter, traf auf die Brille, nahm sie hoch und holte sie in das warme Bett herein.

Sie machte die Augen auf. Graues Tageslicht schob sich in verschwommenen Streifen durch die Lamellen der Jalousie. Sie setzte die Brille auf, und die Konturen der Möbel und Poster krallten sich scharf in die weiß gekalkte Tapete. Sie schwitzte etwas, hatte keine Lust, sich von der heißen Bettdecke zu trennen, versuchte vergeblich, den Traum zurückzuholen. Der alte Teddybär grinste wehmütig mit einem Auge. Heute gabs Deutsch raus. Scheiße. Und dann war Redaktionssitzung. Dreimal Scheiße. Sie hatte den Artikel noch nicht fertig. Ingrid stand auf und reckte sich. Sie konnte weder Nachthemden noch Schlafanzüge ausstehen. Sie gähnte und öffnete die Schranktür, schaute in den langen Spiegel. Sah ihren Körper. Klein, mager, mit vorstehenden Hüftknochen und winzigen Brüsten, die entschieden weniger auffielen als die Rippenbogen. Die anderen Mädchen in ihrer Klasse sahen aus wie Frauen und nicht wie Kinder, auch wenn sie erst 15 waren. Ingrid nahm die Brille ab. Sah eine weiche Linie von den Beinen zur Taille aufsteigen, volle Brustschatten, Blödsinn. Sie setzte die Brille wieder auf und starrte auf das kleine, dreieckige Gesicht unter dem rotblonden Lockenwust und die grauen Augen, die durch die Brillengläser auch nicht gerade größer wirkten. Der Mund mit den Negerlippen, viel zu groß, und diese albernen Sommersprossen, die mehr Platz einnahmen, als auf der Nase vorhanden war. Sehr komisch. Ingrid zog sich Jeans an und ein T-shirt und ging ins Bad hinüber.

Es roch nach Arnos Rasierschaum. Sie nahm die Brille wieder ab, um sich zu waschen, und schaute noch einmal in den Spiegel. Wassertropfen im Gesicht. Davor die Tuben und Tiegel von Hilde. Reinigungsöl, Nährcreme, Tagespampe. Ingrid setzte die Brille wieder auf und las die Etiketten. Weizenkeimbasis. Dazwischen eine flache runde Plastikscheibe. Sie nahm sie hoch. Mo, Di, Mi, die Wochentage. Heute war Fr, und die Pille fehlte. Hilde schluckte immer morgens. Ingrid ging wieder hinaus. In der Küche sang Bob Dylan, gleich würden die Nachrichten kommen. Sieben Uhr.

Arno machte Toast und paßte gleichzeitig auf das Kaffeewasser auf, Hilde las einen Artikel aus der Zeitung vor. Neue Verhandlungen mit der IG Metall.

«Morgen», Ingrid setzte sich hin, Hilde lächelte und schob ihr weiches Ei zu ihr hin.

«Iß meins, ich habe keinen Hunger.»

Ingrid strich Butter auf eine heiße Toastscheibe, Honig, der am Messer festklebte und mit der Butter verschmolz. «Sag mal», sie sah Hilde nicht an, «wenn du deine Pillen immer im Bad liegen hast, dann kannst du sie ja gar nicht nehmen, wenn du mal nachts weg bist.»

«Wenn ich sie ein paar Stunden später nehme, schadet das doch auch nichts.»

«Wieviel Stunden später?»

«Zwölf oder so.» Hilde aß Wurst oder Käse zum Frühstück. Ingrid sah sie an. Albern, daß sie sich nicht die Haare wachsen ließ. Oder mal eine andere Hose anzog. Obwohl sie auf ihre Art schon Geschmack hatte. Sah jedenfalls unheimlich jung aus, für 35. Wenn sie da an die anderen Mütter dachte. «Ich meine, wenn du mal richtig wegbleiben würdest, eine ganze Nacht und noch einen Tag oder so.»

«Dann nehm ich sie eben mit.» Hilde lächelte. Wartete auf weitere Fragen. Lauerte geradezu. Es machte ihr Spaß, mit Ingrid zu diskutieren. Ehrlich, offen. Ingrid biß in ihr Brot, kaute.

«Ich meine», sagte sie langsam, «wenn du das vorher nicht weißt, wenn du plötzlich jemand kennenlernst, verstehst du, wenn du nicht mit Arno zusammen bist.» Sie sah zu Arno hinüber, der sich über den Tisch beugte, um das Salz zu holen. Sie anlachte.

«Dein Ei wird kalt. Wenn du’s nicht magst, dann gib es mir.» Sie schob es zu ihm hin. «Du wirst dick.» Er grinste nur, nahm das Ei und klopfte es auf. Die Nachrichten brachten nichts Neues, das Wetter blieb unbeständig. Dann gab sie Arno den Entwurf für ihren Artikel zu lesen, während sie ihre Sachen zusammenpackte und die Jacke anzog. Arno las konzentriert. Schaute sie an. «Ich denke, du bist nicht für Gewaltanwendung.»

«Aber in diesem Fall läßt es sich doch nicht vermeiden. Oder wie hätten sie reagieren sollen?»

«Hör mal, die Studenten und Schüler haben ein Haus besetzt. Das war juristisch angreifbar. Also mußten sie mit Maßnahmen der Polizei rechnen.»

«Aber das Haus stand leer. Und sie haben es doch nicht für sich gemacht, sondern für die Gastarbeiterfamilien, die praktisch auf der Straße saßen.»

«Komm», Arno gab ihr den Artikel zurück, «das ist doch keine Argumentation. Praktisch auf der Straße! Du mußt genau dokumentieren, was für Familien das waren, und weshalb sie keine andere Wohnung bekamen. Und dann vor allem, wie die Polizei eingriff. Dann war die Gewalt der Studenten nur eine Reaktion.»

«Hör doch auf.» Hilde faltete die Zeitung zusammen. «Warum läßt du Ingrid nicht auf ihre Art schreiben. Schwäch sie doch nicht dauernd ab.»

«Ich schwäch sie doch nicht ab. Ich will nur, daß sie logisch begründet, was sie mit Schlagworten fordert.»

«Eine Hausbesetzung ist ein Notfall. Eine Situation, in der es zu spät zum Diskutieren ist.»

Ingrid sah von Hilde zu Arno und wieder zu Hilde. Schaltete sich wieder in das Gespräch ein. «Wir wollen auch mitmachen.» Beide starrten sie an.

«Wobei mitmachen?»

«Bei der Hausbesetzung. Wir wollen heute nach der Schule hin und mitmachen.»

«Die ganze Schule?» Arno bekam etwas sehr Kindliches, wenn er so entgeistert dreinschaute. Richtig naiv konnte er aussehen.

«Die Oberstufe.»

«Seit wann ist die 10. schon Oberstufe?» Hilde. Das hätte sie nicht erwartet, daß Hilde ihr in den Rücken fallen würde. Sie hob nur die Schultern und ging zur Tür. Aber Hilde ließ nicht locker. «Und wenn die Polizei Wasser einsetzt. Oder noch mehr. Wenn du verletzt wirst?» Ingrid sah die beiden an. Sah die Angst in ihren Gesichtern. Bei Arno, der sich sonst nie um so etwas Reales kümmerte, und bei Hilde, die immer für radikale Maßnahmen eintrat. Normalerweise jedenfalls. Sie freute sich, wußte nicht warum. Glaubte im ersten Moment, es sei, weil sie die beiden bei einem Widerspruch entdeckt habe. Aber es war etwas anderes. Ein seltsames Gefühl der Zusammengehörigkeit. Weil die zwei sie auf einmal für voll nahmen, nicht nur in der Theorie, nicht nur als Zuhörer und Diskussionspartner, sondern als Beteiligten. Weil sie Angst um sie hatten.

Ingrid stand in der Tür. Sah die Küche mit dem Abwasch von gestern abend, die alten Korbmöbel und das Durcheinander auf dem Tisch. Und Hilde und Arno. War glücklich. Lief plötzlich auf die beiden zu, umarmte Hilde. «Tschüs, ich geh.» Küßte Arno auf die Backe. Sah ihr hilfloses Lächeln, ihre verwirrte Unbeweglichkeit, ihre unsicheren Arme, die unfähig waren, zu reagieren.

Das Glücksgefühl versickerte. Ingrid nahm ihre Tasche auf und ging zur Tür. «Warte», sagte Hilde, «ich muß auch gleich los. Ich nehm dich mit.»

«Danke nein», Ingrid lief hinaus, «ich fahr mit dem Bus.»

Als sie auf die Straße kam, merkte sie, daß sie sich nicht warm genug angezogen hatte. Sie fror.

2

Miggi und Lydia standen in der Ecke beisammen und gackerten affektiert. Lydias rechter Lidschatten war etwas ausgelaufen. Sah aus, als hätte ihr einer die Faust aufs Auge geknallt. «Hey», «Servus». Django und Nike lehnten an der Wand, taten, als würden sie die Mädchen nicht bemerken und redeten ungeheuer wichtig über Helms neues Moped. Nike mit einem geblümten Seidenhemd und drei Goldketten wie ein mittelalterlicher Bürgermeister. Fehlte nur der Bauch. Ingrid setzte sich auf ihren Platz und nahm den Herndon heraus, um weiterzulesen. Gert kam erst beim Läuten, ließ sich außer Atem neben ihr auf den Stuhl fallen.

«Hast du Mathe?»

Ingrid nickte. «Kannst du in Bio abschreiben.» Las weiter. Gert kramte in seiner Mappe, gab ihr ein Buch zurück.

«Hier, der Rauter, danke.»

«Hast du’s gelesen?»

Gert zuckte die Achseln. «Na ja, schon. Bißchen langweilig.» Beugte sich zu ihr herüber. «Was liest du denn da?» Sie zeigte ihm den Titel. Er lachte. «‹Die Schule überleben›. Mann, das scheint mir wirklich wichtig.» Ingrid las weiter.

«Ist auch kein Krimi. Sicher zu schwer für dich.»

«Tu bloß nicht so intellektuell!»

Ingrid gab ihm die Matheaufgaben, und Gert begann sie abzuschreiben. Ingrid sah ihm zu. «Tu ich gar nicht. Ich find die Bücher nur wichtig. Für uns alle. Denn hier in der Schule bringt uns ja keiner das Denken bei.»

«Ist das hier eine 4 oder eine 7?»

«7.»

«Du hast vielleicht eine Klaue. Willst du Medizin studieren?»

Bio war harmlos und langweilig wie immer, dann kam Gerber und schrieb eine Gleichung an die Tafel, bei der er a und b verwechselte. Ingrid machte ihn darauf aufmerksam, die Klasse lachte. Gerber ließ sie an der Tafel weiterrechnen und stakste zwischen den Bänken auf und ab. Blieb an ihrem Platz stehen. Nahm die beiden Bücher hoch. Las einen Titel: «‹Wie eine Meinung in einem Kopf entsteht … Über das Herstellen von Untertanen.› Aha, Völker, das ist also die Lektüre, die Sie bevorzugen.» Ingrid drehte sich um, antwortete aber nicht. Gerber starrte sie an, es war sehr still. «Und das während des Unterrichts.»

«Erstens haben Sie ja selbst gesehen, daß ich dem Unterricht sehr wohl folgen kann, und zweitens wollen Sie mir doch nicht vorschreiben, was ich zu lesen habe? Denn dann würden Sie den Titel ja nur bestätigen.»

«Setzen Sie sich wieder hin.» Gerber legte die Bücher zurück. «Die Schule überleben. Das würde ich auch gern.»

«Ja eben.» Ingrid lächelte, als sie zu ihrem Platz zurückging. «Für Lehrer ist das Buch auch wichtig.» Sie ärgerte sich, als die anderen wieder lachten. Gerber war eigentlich ganz in Ordnung, und diese kindische Reaktion war bestimmt nicht das, was sie gewollt hatte. Gerber rechnete weiter, ohne darauf einzugehen. Was hätte er auch groß sagen sollen. Sie stand sowieso auf 1.

In der Pause suchte sie Norbert im Hof. Er stand mit Axel und Harry beim Springbrunnen. Sie sahen ihr entgegen.

«Alles abgeblasen», sagte Axel. «Das Haus ist geräumt.»

«Was?» Ingrid starrte sie an.

«Na ja, heute nacht. War einer vom Stadtrat da. Hat so durchblicken lassen, daß man einige Gastarbeiter ausweisen würde, wenn die Studenten das Haus nicht aufgeben wollten. Was blieb da anderes übrig.»

«Aber das ist ja reinste Erpressung!»

«Genau.» Harry sah auf die Uhr. «Heute nachmittag um drei ist Redaktionssitzung. Wir geben eine Sondernummer des GIFTPFEIL raus und verteilen die auch noch an den anderen Schulen. Hast du am Wochenende Zeit?»

«Ja. Was ist mit der Schulsprecherwahl?»

«Auf nächste Woche verschoben.»

«Okay. Bis um drei dann.»

 

Jahn machte ein tragisches Gesicht, wie immer, wenn er Arbeiten rausgab. Verteilte die Aufsätze wie Todesurteile und sparte nicht mit entsprechenden Bemerkungen. «Vielleicht sollten Sie es doch lieber lassen, Bergmann. Wie ich gehört habe, verdient ein Müllfahrer auch nicht schlecht.» Er blieb stehen, blickte versonnen auf den nächsten Aufsatz. «Ach ja, Isa Weide, auch eine Glanzleistung. Aber Sie gehen ja sicher mal zum Film. Es soll ja da so Rollen geben, für die man nicht unbedingt lesen und schreiben können muß. Und wenn Sie sich körperlich weiter so aktiv entwickeln, werden Sie sicher berühmt.» Einige lachten, Isa begann zu weinen. Versuchte, es zu unterdrücken, das Lachen wurde lauter. Isa schluchzte hysterisch auf. Jahn ließ ihren Aufsatz auf die Bank flattern. «Na so was, Weide, Ihre Talente auf diesem Sektor sind ja ausgesprochen vielseitig.»

«Wie soll ich das verstehen?» fragte Ingrid scharf. Jahn wandte sich ihr zu. «Sie sollen gar nichts verstehen, Völker. Sie geht das ausnahmsweise mal nichts an.»

«Ich bin Klassensprecherin, und es geht mich sehr wohl etwas an, wenn Sie eine Schülerin auf eine so völlig unsachliche und zusammenhanglose Art lächerlich machen.»

«Oh, der Zusammenhang mit ihrer Deutsch-6 scheint mir durchaus gegeben.» Jahn lächelte süffisant. «Und es ist auch nicht meine Schuld, wenn Ihre unreifen Schulkameraden etwas lächerlich finden.»

«Wenn Sie hier schon wieder keinen Zusammenhang sehen, sollten Sie am allerwenigsten über Reife und Unreife sprechen.»

Jahn blieb vor ihr stehen. Die Klasse war jetzt still, Isa hatte aufgehört zu weinen. Mit einer plötzlichen Bewegung zog Jahn einen Aufsatz aus dem Stapel heraus und legte ihn vor Ingrid hin.

«Gut, ganz sachlich und im Zusammenhang. Sie haben eine 4 geschrieben.» Er beobachtete sie mit unbewegtem Gesicht, wie sie den Aufsatz hochnahm und durchblätterte.

«Ist es nicht seltsam», meinte sie leise, «daß Sie mir bei neutralen Themen immer Einser geben müssen. Nur bei sogenannten Weltanschauungs- und Meinungsfragen entstehen plötzlich diese sonderbar weit gefächerten Notenspannen.»

«Meinen Sie, Völker?» Jahn begann wieder zu grinsen. «Gerade Sie, die doch immer solchen Wert auf logisches Denken legen, dürften nicht übersehen, daß bei dem Aufsatz nicht nach Ihrer Meinung gefragt wurde. Und auch nicht nach Ihrer Weltanschauung. Das Thema lautete klipp und klar: Jesus People, nur eine Mode, oder eine neue Religion? Und nicht: Wie steht Ingrid Völker zur Religion und zum Christentum.»

«Aber das hängt doch zusammen! Die Jesus People sind doch nicht einfach so vom Himmel gefallen. Diese Bewegung entwickelt sich ganz folgerichtig aus der Geschichte unserer Gesellschaft und aus unserer politischen Situation.»

«Das ist Ihre persönliche Meinung.»

«Nein, das läßt sich einwandfrei nachweisen. Diese Art von Traum- und Fluchtbewegungen entstehen immer in Zeiten des einseitigen Überflusses und der Verdummung.»

«Das ist doch lächerlich», Jahn grinste nicht mehr. «Ihre pubertäre Ablehnung von übergeordneten Werten und Moralbegriffen hat nichts …»

«Jetzt werden Sie schon wieder persönlich», unterbrach Ingrid ihn. Jahn wandte sich wütend ab.

«Mit Ihnen diskutiere ich doch nicht!»

«Sehr praktisch.»

«Und die Vier bleibt auch.»

«Kratzt mich nicht.»

«Das werden Sie sich vielleicht noch überlegen, wenn Sie näher ans Abitur kommen und damit an den Numerus Clausus.»

«Sehr weitblickende Einstellung für einen Pädagogen!» murmelte Ingrid. Es war nicht klar, ob Jahn es gehört hatte oder nicht. Über die Schulter zurück forderte er sie auf:

«Und nehmen Sie gefälligst diese Pamphlete vom Tisch.»

Ingrid antwortete nicht, und Jahn kümmerte sich für den Rest der Stunde nicht mehr um sie.

Nach der Schule kam Isa zu ihr. Sie hatte ihr Make-up erneuert und sah wieder lieb und herzig aus. «Du, tausend Dank, Ingrid. Das war dufte von dir, daß du mich verteidigt hast. Obwohl, jetzt hat er mich sicher extra auf dem Kieker.»

«Natürlich», fauchte Ingrid, «wenn du dauernd nur den Kopf einziehst und kuschst und dir alles gefallen läßt, dann kann er das ja auch getrost.» «Du hast gut reden. Du hast fast überall Einser.»

«Mach dir nichts daraus», Ingrid ging an ihr vorbei. «Deine Szene war sehr wirkungsvoll.»

Gert holte sie an der Bushaltestelle ein. «Hör mal, Django gibt eine Party am Samstag. Kommst du auch?»

«Ich wäre ja wohl die letzte, die er einlädt.»

«Er hat’s aber gesagt. Du sollst kommen.»

«Ich hab keine Zeit.» Der Bus kam. «Tschüs.» Ingrid stieg ein, ohne sich noch einmal nach Gert umzusehen.

3

Hilde kam in ihr Zimmer, als sie gerade beim Packen war.

«Wie lang bleibt ihr denn dort?» Sie setzte sich auf die Bettkante. «Nur bis Sonntag.» Sie warf zwei Bücher in die Tasche. Hilde sah zu, zögerte.

«Wer fährt denn alles mit?»

«Fast alle vom GIFTPFEIL. Norbert, Hilma, Sigi, Harry, Enders, Katja und Axel natürlich. Dessen Eltern gehört ja das Wochenendhaus.»

«Aus deiner Klasse niemand?»

«Ach, das sind doch alles Kindsköpfe.»

«Nimmst du …», Hilde machte eine Pause, fuhr dann wie nebenbei fort: «Willst du nicht die neue Bluse mitnehmen?»

«Wozu denn?»

«Weil sie hübsch ist.»

«Wir fahren zum Arbeiten hin.» Sie zog den Reißverschluß der Tasche zu.

«Ihr werdet ja wohl nicht die ganze Nacht durcharbeiten, oder?»

«Warum denn nicht. Unter der Woche kommen wir doch nicht dazu.» Sie stand auf, schaute auf Hilde hinunter, sah ein paar weiße Haare zwischen den braunen. «Sag mal, was soll die Fragerei eigentlich?»

«Interesse.» Hilde lächelte, aber irgend etwas stimmte da nicht. Ingrid setzte sich wieder hin.

«Du bist erleichtert, daß ich nicht bei der Hausbesetzung mitmache, stimmts?»

«Ich weiß nicht», Hilde sah sie an. «Das ist ein komisches Gefühl. Ich bin dafür, und selber würde ich auch sofort hingehen …»

«Aber die eigene Tochter muß geschont werden. Ja?»

Hilde lachte. «Immerhin bist du ja schon so gut wie erwachsen.»

«So gut wie.» Ingrid stand wieder auf und nahm ihre Jacke vom Stuhl. Hilde schaute hoch.

«Wie schlaft ihr denn da in dem Haus? Ist es nicht ziemlich eng?»

Ingrid runzelte die Stirn, starrte Hilde an. «Sag mal, soll das heißen, daß du dir Gedanken über meine Unschuld machst?»

«Kann man denn nicht normal darüber reden?»

«Seit neuestem redest du nicht mehr normal, wenn es mich betrifft.»

«Reine Einbildung. Aber du hast eben selber gesagt, daß du so gut wie erwachsen bist, die anderen sind alle älter, Norbert ist 17 und Axel ist schon 20.»

«Ich hab dir doch gesagt, daß wir zum Arbeiten hinfahren. Nicht zum Saufen, oder Bumsen oder was du dir da sonst immer vorstellst.» Ingrid ging zur Tür, Hilde sprang auf, erreichte sie.

«Ich stell mir gar nichts vor. Ich wollte dir doch nur sagen, daß du zu mir kommen sollst, wenn irgend etwas ist.»

«Du meinst, wenn ich die Pille brauche.» Es läutete dreimal, Ingrid lief zur Wohnungstür. Schaute noch einmal zurück. «Kannst ja immer schon mal welche besorgen für mich. Am besten ne Klinikpackung.»

Hilde blieb im Flur stehen, bis die Tür hinter Ingrid zufiel und ihre Schritte das Treppenhaus hinuntergepoltert waren. Ging dann langsam zum Zimmer von Arno hinüber. Arno sah nicht auf, als sie neben seinem Schreibtisch stehenblieb.

«Arno», begann sie, «ich muß mit dir sprechen.»

«Ja, gleich.»

«Über Ingrid.»

Er sah auf, lächelte zerstreut. «Später, ja. Sei mir nicht böse, aber ich möchte das noch fertigmachen.»