Vielleicht der schönste Sommer - Eleonore Holmgren - E-Book

Vielleicht der schönste Sommer E-Book

Eleonore Holmgren

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Beschreibung

Das Glück einer außergewöhnlichen Freundschaft Der zwanzigjährige Adam wird von seiner Mutter vor die Tür gesetzt. Er hat Schulden, das Leben läuft aus dem Ruder. Ohne Ziel und Perspektive streunt er über die Insel Lindö und steigt schließlich in ein vermeintlich leerstehendes Haus ein. Und macht am nächsten Morgen Bekanntschaft mit der 86-jährigen Britta. Die wiederum hat der Stadt den Rücken gekehrt und Zuflucht in ihrem Landhäuschen gesucht, obwohl die Tochter es ihr streng verboten hat. Nach einem Kreuzverhör lässt Britta den jungen Mann bei sich wohnen – aber er muss zupacken und ihr in Haus und Garten helfen. Ohne dass sie es ahnen, steht den beiden ein magisch schöner Sommer bevor ...

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Seitenzahl: 412

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Eleonore Holmgren

Vielleicht der schönste Sommer

Roman

Deutsch von Annika Ernst

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Britta

Sie war ihrem Ziel so nah, dass sie schon glaubte, die vertrauten Geräusche und die Gerüche wahrzunehmen, die zu Lindö gehörten. All das, was sie glücklich machte.

Bisher lief die Sache nach Plan, nur ein paar Kleinigkeiten musste Britta noch erledigen. Aber müde war sie, immerhin war sie seit fünf Uhr auf den Beinen. Trotzdem hatte sie mit dem Duschen und Haarewaschen bis um sechs gewartet, um die Nachbarn nicht zu stören. Denn die alten Leitungen jammerten und heulten seltsam, wenn man das Wasser laufen ließ. Und Britta war nun wirklich kein Mensch, der seine Nachbarn unnötig belästigte.

Der Schlüssel zum Abstellraum und die Zettel mit den Anweisungen lagen fein säuberlich sortiert in Klarsichthüllen auf dem Küchentisch. Eine Farbe für jedes Anliegen. Britta rückte sie zurecht, auch wenn das gar nicht nötig gewesen wäre, hier hatte ohnehin alles seine Ordnung.

Den Besuch der Bezirkskrankenschwester hätte Britta in ihrer Aufregung, endlich fortzukommen, allerdings beinahe vergessen. Der Blutdruck war wie üblich stabil, aber ein wenig zu hoch. Der Schmerz im Fuß kam und ging, dagegen konnte man nicht viel machen.

»Wären doch nur alle über Achtzigjährigen so rüstig wie Sie, Britta«, sagte sie und rollte die Blutdruckmanschette auf. Ihr Pferdeschwanz wippte keck hin und her, wenn sie den Kopf bewegte.

»Rüstig? Da bin ich mir nicht so sicher.« Britta verspürte ein unbehagliches Ziehen im Bauch, wenn sie an die bevorstehende Reise dachte.

Die Krankenschwester machte Notizen. Voller Ungeduld schielte Britta auf die Uhr. Trotzdem beging sie den Fehler, eine Tasse Kaffee anzubieten, und die junge Frau, die sonst immer auf dem Sprung war, nahm die Einladung zu Brittas Verdruss auch noch an. In der Küche seufzte Britta leise. Jetzt würde sie so viel Zeit verlieren. Außerdem war ihr selbst gar nicht nach Kaffee zumute. Gleichgültig legte sie einige Pfefferkuchen auf den geblümten Kuchenteller, während der Kaffee in der Maschine brodelte. Die hätte sie längst entkalken müssen.

Als die Krankenschwester endlich ging, hatte Britta es eilig. Es gab noch einige Punkte von ihrer Liste abzuarbeiten.

Der Fettfleck auf dem marineblauen Kleid beschäftigte sie eine Weile. Gestern, beim Leichenschmaus nach Lydia Jonssons Beerdigung, war Britta ein wenig von der pikanten Käsetorte aufs Kleid gefallen. Natürlich mit der Mayonnaise-Seite nach unten. Das Gröbste entfernte sie mit Löschpapier und Bügeleisen, den Rest mit Gallseife. Dann föhnte sie die Stelle. Zu irgendetwas war die Haushaltsschule doch nutze, auf die sie ihr Vater gezwungen hatte, »um eine gute und treusorgende Ehegattin zu werden«. Während Britta an dem Fleck herumwerkelte, kam ihr die zarte Lydia wieder in den Sinn. Sie fröstelte beim Gedanken daran, wie schwach und welk die Freundin am Ende ihrem Tod entgegengedämmert hatte … So wollte Britta nicht enden.

Sie nahm das Programm der Trauerfeier zur Hand, auf dem ein Foto von Lydia zu sehen war. In einer raschen Bewegung strich sie mit dem Finger darüber, ehe sie es in die Schachtel legte, in der sie all die anderen Nachrufe und Sterbebildchen aufbewahrte. In den letzten Jahren hatte es so oft Käsetorte und Häppchen gegeben, dass sie aufgehört hatte zu zählen. Und der gummiartigen Garnelen aus dem Glas mit Dillzweigen, die keinem schmeckten, war sie längst überdrüssig.

Auf ihrer Beerdigung sollte es eine warme Mahlzeit geben. Am besten Braten mit Sahnesoße und Frühkartoffeln, in Butter, Semmelbröseln und Petersilie geschwenkt. Außerdem Zuckererbsen, Gurkensalat und Gelee. Wenn es denn gelingen würde, ein Restaurant zu finden, das heutzutage noch solche Gerichte zubereitete. Zum Dessert sollten dann Kaffee und Mandelbisquit serviert werden. Falls jemand auch ein Glas Wein haben wollte, sie hätte nichts dagegen. Das Geld für die Bestattung lag separat auf einem eigenen Konto. Die Anweisungen dazu steckten in der grünen Klarsichthülle mit dem Vermerk Meine Beerdigung. Im Lauf der Jahre hatte es einige Änderungen und Zusätze gegeben, aber Brittas Wünsche dürften dennoch nicht schwer zu verstehen sein.

Sie hängte das gereinigte Kleid in den großen Schrank. Die Perlenkette hatte sie in die längliche, mit dunkelblauem Samt gefütterte Schachtel gelegt. Jetzt wickelte sie das Etui in ein Frotteehandtuch und stopfte es ganz hinten in das Gefrierfach, zu dem anderen Schmuck. Sollten irgendwelche Unholde bei ihr einbrechen, müssten sie hinter dem Paket Erbsen und den tiefgefrorenen Himbeeren, die seit Jahren dort lagen, ordentlich suchen. Iris hatte ihr den Tipp mit dem Versteck gegeben. Schließlich war sie mit einem Polizisten verheiratet gewesen, wie Britta ja wohl wusste.

Vielleicht hätte sie die Küche vor ihrer Abreise staubsaugen sollen, kam ihr jetzt in den Sinn. Man sollte sie keinesfalls für eine Schlamperliese halten. Britta fuhr ein paarmal mit dem Besen über den Boden, um nicht mit dem unhandlichen Staubsauger kämpfen zu müssen, und geriet schon dabei außer Puste.

Sie fürchtete sich ein wenig vor der Busfahrt. Im vergangenen Jahr war sie unterwegs eingeschlafen und erst wieder aufgewacht, als sich der Bus bereits auf der Rückfahrt befand. Sie hatte sich so geschämt, obwohl der Busfahrer freundlich und diskret war und sie schließlich nahezu bis vor die Haustür kutschiert hatte.

Nein, sie durfte jetzt nicht in Grübeleien versinken. Entschlossen sah sie sich um. Die verderblichen Lebensmittel mussten noch in den Rollkoffer gepackt werden, dann war alles bereit.

Wie sehr sie sich nach diesem Tag gesehnt hatte. Im Grunde, seit sie letztes Jahr im Spätsommer in die Stadt zurückgekehrt war. Damals wurde sie der Trauer darüber, wohl nicht mehr auf die Insel zurückzukehren, kaum Herr. Doch nun hatte sie sich selbst eine Möglichkeit geschaffen. Und sie würde keinen Hauch von der kostbaren Zeit mehr vergeuden, die ihr noch blieb.

Das Klingeln des Telefons durchschnitt die Stille. Britta musste sich einige Male räuspern.

»Rosén.«

»Na, das dauert ja, bis du dich meldest, Mama … Ich wollte dir nur rasch Bescheid geben, dass ich heute einen Termin in Stockholm habe und am Abend bei dir vorbeikomme. Ich bringe eine Kleinigkeit mit, dann können wir zusammen essen. Wir haben uns ja schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.«

Britta hörte, wie gestresst die Stimme ihrer Tochter klang. Susanne, nach deren Anrufen man normalerweise die Uhr stellen konnte: dienstags um halb sieben und freitags gegen fünf, ein Anruf aus dem Auto heraus, auf dem Heimweg von der Arbeit. Dann teilte sie Britta mit schönster Regelmäßigkeit mit, wie viel sie um die Ohren hatte. Die Arbeit. Die dämliche Wohnung in Spanien. Den Chor. Die Kinder.

Warum um alles in der Welt rief Susanne also ausgerechnet heute an?

»Gibt es etwas Bestimmtes?« Britta versuchte, ruhig zu klingen, doch die Unruhe flatterte wie ein ängstlicher Schmetterling in ihrer Brust.

»Ich wollte nur nett sein. Das habe ich nun davon …« Susannes Kommentar wurde von einem kleinen Lachen begleitet, das ihn vermutlich beschönigen sollte. »Du jammerst immer, dass ich dich nie besuche, und wenn ich kommen will, freust du dich gar nicht.«

Britta seufzte tief. Ihr Griff um den Telefonhörer verkrampfte sich. »Es ist schwierig für mich, wenn du dich so kurzfristig meldest.«

»Spielt das denn eine Rolle? Du unternimmst doch abends sowieso nichts. Oder hast du irgendeinen Unsinn vor, von dem ich nichts weiß?«

Britta wurde eiskalt. Ahnte Susanne etwas? Warum sonst sollte sie vorbeikommen wollen, außer um zu schnüffeln? Sie hatte schon immer die Fähigkeit zu erspüren, wenn etwas im Busch war.

Britta straffte die Schultern. »Ich bin abends müde und möchte gerne wissen, ob ich Besuch bekomme oder nicht. Findest du das merkwürdig?«, antwortete sie ein wenig barsch.

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.

»Wir fahren am Freitag nach Marbella, und ich will vorher noch einmal nach dir sehen«, erklärte Susanne dann. »Jetzt muss ich auflegen … sie rufen mich.«

Brüsk beendete sie das Gespräch, als hätte Britta angerufen und gestört und nicht umgekehrt. Eine Weile blieb sie mit dem Hörer in der Hand sitzen. Sie hatte an alles gedacht, und jetzt platzte ihr Plan in letzter Minute.

Adam

Geduldig wartete Adam, dass sich auf Abbes Gesicht ein breites Grinsen legte. Jeden Moment würde der Freund einen Schritt zur Seite gehen und Adam hereinlassen. Er würde sagen, dass er nur einen Witz gemacht hatte, und Adam auf den Rücken klopfen. Ihm den Arm um die Schultern legen und fragen, ob er hungrig war.

Aber das geschah nicht. Abbes Blick flackerte, er wagte es nicht einmal, Adam in die Augen zu sehen. Durch die geöffnete Tür strömte Wärme aus dem Haus, und es roch nach frisch gebrühtem Kaffee und Bienenwachs.

»Jenny wird so was von sauer, wenn ich dich reinlasse.« Abbe warf einen unruhigen Blick über die Schulter und senkte die Stimme. »Wir haben doch jetzt ein Kind, und ich habe versprochen, mit meinem alten Leben zu brechen.« Er blickte beschützend auf das Baby hinab, das in einer Trage vor seiner Brust hing.

Adam ergriff eine der kleinen Hände und spürte, wie sich die warmen Fingerchen reflexartig um seinen eiskalten Daumen schlossen. »Echt scheißniedlich.« Er meinte das tatsächlich so.

Abbes Miene hellte sich auf, aber das Lächeln erlosch ebenso rasch wieder. »Im Ernst, Jennys Eltern lassen uns in ihrem Häuschen hier wohnen, aber unter einer Bedingung: Ich darf keinen von euch treffen. Verstehst du?«

»Ach, komm schon, Abbe, ich bin es, ich brauche deine Hilfe, nicht irgendwer … Ein paar Nächte werde ich wohl auf dem Sofa pennen können, bis sich alles beruhigt hat?«

Abbes Hand umklammerte fest die Klinke. So, als wollte er schnellstmöglich die Tür zuschlagen und abschließen. Sein Blick fixierte einen Punkt hinter Adams Kopf.

»Früher hätte ich für dich zum Teufel was alles gemacht«, sagte er schließlich, so leise, dass Adam ihn kaum hören konnte. »Aber ich will nicht in den Scheiß reingezogen werden, mit dem du dich abgibst. Ich werde weder meine Familie riskieren noch das, was ich versuche aufzubauen. Vor allem nicht, nachdem du offenbar immer noch für Samir, diesen Idioten, arbeitest.«

Adam drehte sich um und stieg die Treppe hinunter. Allmählich begriff er. Er war geliefert. Als er nach der Klinke der Gartentür griff, rief Abbe ihm etwas nach. Er wandte sich um und sah gerade noch, dass sich hinter den Gardinen des Küchenfensters etwas bewegte. Vermutlich Abbes Freundin, Jenny, die ihn beobachtete. Sein bester Freund hatte sie ihm vorgezogen. Obwohl er und Abbe beinahe ihr ganzes Leben miteinander verbracht hatten. Außerdem wusste Abbe ganz genau, wie hart Adams Leben in den letzten Jahren gewesen war. Er ballte die Hände in den Taschen zu Fäusten und kämpfte dagegen an, Jenny den Mittelfinger zu zeigen.

Abbe wedelte mit einer Tüte und winkte ihn zurück. Übertrieben langsam ging Adam die Treppe wieder hinauf, wo Abbe wartete. »Hast du vielleicht Hunger? Jenny hat Brote gemacht. In der Tüte ist auch eine Cola.«

Ein paar Butterbrote als Trostpflaster … Eigentlich hätte Adam auf diese erbärmliche Geste gern gepfiffen. Aber der Hunger nagte in ihm, also schluckte er seinen Stolz hinunter und nahm den Beutel. »Nice! Du hast nicht zufällig auch eine Zigarette?«

»Sorry, Adam, aber ich habe aufgehört, als ich erfahren habe, dass ich Vater werde«, antwortete Abbe. Verlegen schob er die Hände in die Hosentaschen. Barfuß stand er in der Türöffnung, den einen Fuß auf dem anderen. »Du fährst jetzt zurück in die Stadt, oder?«

Adam hatte nicht die Kraft zu antworten. Den Verrat der anderen konnte er verkraften, aber Abbes Verhalten, das war total krank. Er versuchte so zu tun, als wäre es ihm egal und als hätte er einen ausgeklügelten Plan im Kopf, aber es gelang ihm nicht. Also drehte er sich um und ging davon. Vermutlich stand Abbe noch da und schaute ihm nach. Dies nicht zu überprüfen kostete Adam gewaltige Anstrengung.

Mit raschen Schritten lief er den gewundenen Kiesweg entlang, ohne auch nur einen Schimmer davon zu haben, wo er sich gerade befand. Oder wo er hinsollte. Das GPS hatte den Handyakku geleert, daher fand Adam den Weg zur Bushaltestelle nicht mehr. Sein Orientierungssinn war nie besonders gut gewesen, und in dieser Umgebung mit all den sich kreuzenden Sträßchen war es ihm vollkommen unmöglich, den Überblick zu behalten.

Als es zu regnen begann, lief er in den Wald, um Schutz zu suchen. Hinter der kleinen Anhöhe müsste die Straße liegen, die er suchte. Von dort schienen Motorengeräusche zu kommen. Hastig schlitterte er über die glatten Steine, blieb aber immer wieder an Wurzeln hängen. Als er keuchend die Kuppe erreichte, passierte es. Er rutschte aus, stürzte zu Boden und kullerte ein ganzes Stück auf der anderen Seite hinab. Hart landete er unter einem Baum. Sein Fuß schmerzte. Eigentlich tat ihm sein ganzer Körper wahnsinnig weh. Er spürte ein Brennen in den Augen. Aber er riss sich zusammen, schließlich war er nicht weinerlich. Er hatte nicht einmal geheult, als er sich in der dritten Klasse den Arm gebrochen hatte, obwohl es ein doppelter Bruch war. Oder als Vater starb und das ganze Leben nur noch schwarz und haltlos wurde. Als die gesamte Familie kaputtging.

Er setzte sich unter dem Baum auf und dachte noch einmal an Abbes Verrat. Bemühte sich zu verdauen, was eben passiert war. Klar, ihr Verhältnis war nicht gerade megagut, seit Abbe vor mehreren Monaten die Stadt verlassen hatte, direkt, nachdem er Vater geworden war. Schon vor einer ganzen Weile hatten sich ihre Wege getrennt. Abbe hatte davon geredet, dass er lernen und sein Leben in den Griff kriegen würde, und zwar mit ihm. Aber Adam wollte noch einige Zeit für Samir arbeiten. Er genoss die Aufmerksamkeit, die er bekam, und den Nervenkitzel und das Geld. Plötzlich kam ihm Abbe spießig und langweilig vor.

Aber dann passierte, was nicht hätte passieren dürfen. Adam vermasselte es sich komplett mit Samir, und diese Neuigkeit machte blitzschnell die Runde. Die anderen Jungs hielten sich sofort von ihm fern, sie wollten auf keinen Fall mit ihm in Verbindung gebracht werden. Die meisten antworteten nicht einmal, als er versuchte, sie zu kontaktieren. Damit konnte er leben. Aber dass Abbe ihm den Rücken gekehrt hatte, war echt schwer auszuhalten. Abbe und er hatten schon als kleine Kinder immer zusammengesteckt, fast wie Brüder …

Nachdem Abbe weggezogen war, hörten sie kaum mehr voneinander, und trotzdem war es für Adam vollkommen logisch, mit dem Bus zu ihm zu fahren, als er Hilfe brauchte. Mit jeder Haltestelle, die vorbeizog, atmete er leichter. So weit von der Stadt entfernt würde Samir niemals nach ihm suchen. Er hatte Adam ein paar Monate gegeben, um das Geld zusammenzubekommen und seine Schulden zu begleichen, aber Adam vertraute dem nicht. Samir war absolut unberechenbar, und manchmal änderte er seine Meinung von einer Sekunde auf die andere. Das hatte Adam schon oft beobachtet.

Natürlich hätte er die Lage mit Abbe erst abchecken müssen, bevor er sich auf den Weg gemacht hatte. Was für ein Riesenidiot er doch war. Was sollte er nun tun? Mitten im Nirgendwo, in einer scheintoten Ferienhaussiedlung?

Der Regen nahm an Stärke zu, und der Wind riss und zerrte an den Ästen über ihm. Kleine Rinnsale Regenwasser liefen ihm durch die Haare in den Nacken. Er fror. Zitternd zog er sich die Kapuze seines Hoodies über den Kopf und schlang die Arme um die Knie, um sich warm zu halten.

Der vergangene Tag lief wie ein Film in seinem Kopf ab – immer und immer wieder. Adam blieb an Details hängen und prüfte immer wieder, ob er etwas übersehen hatte. Nachdem seine Mutter ihn hinausgeworfen hatte, war er zu Sara gegangen. Er zögerte, bevor er klingelte, aber insgeheim hoffte er, wenn er bat und bettelte, würde sie sich erweichen lassen und ihn nicht wegschicken. Diese Hoffnung zerplatzte jedoch sofort. Ohne ein Wort schlug sie ihm die Tür vor der Nase zu.

Dafür musste er sich selbst die Schuld geben, er hatte Sara behandelt wie den letzten Dreck, daran dachte er besser gar nicht. Aber die Erinnerung an sie wärmte ihn. Es gelang ihm, ein wenig zu entspannen, als er an den Abend zurückdachte, an dem sie sich auf einem Fest kennenlernten, beim Freund eines Freundes, und daran, als sie einige Tage später zusammen in Gamla stan Kaffee tranken. Er bestellte nur eine Tasse, durfte aber einen Bissen von ihrer Vanilleschnecke haben. Kichernd hielt sie ihm das Gebäck hin, und er biss sie beinahe in den Finger. Sie hatte Zucker auf der Nase, den er vorsichtig wegwischte. Ihre Hände waren wie Vogelflügel in der Luft, wenn sie redete, und ihre Stimme klang ein wenig heiser, sobald ihr etwas wichtig war. Sie wollte Journalistin werden, über Ungerechtigkeit berichten, und sprach von dem Krieg in Syrien. »Sag mir, wenn ich dir ein Loch in den Bauch rede«, meinte sie lachend.

Sara hatte eine starke Meinung und Pläne für die Zukunft, sie las wahnsinnig viele Bücher, wollte über Politik diskutieren und war ernsthaft daran interessiert, mehr über ihn und seine Herkunft zu erfahren. Wenn sie zuhörte, stützte sie den Kopf in die Hand und lächelte, wobei ihre schiefen Schneidezähne sichtbar wurden. Hin und wieder lud sie ihn nach Hause zu ihrer Familie ein, wo alle waren wie sie – warmherzig, neugierig und sehr gesprächig. Adam wurde mit offenen Armen empfangen, obwohl er in ihrer Gesellschaft nervös und unbeholfen war. Alles war ungewohnt und anders.

Mehrere Monate trafen sie sich fast täglich, und er schlief bei ihr in der winzigen Bude, die sie zur Untermiete bewohnte. Mit Saras Arm um seine Taille und ihrem tiefen Atem im Nacken fühlte er sich zum ersten Mal seit dem Tod seines Vaters wie ein ganzer Mensch. Sara riss die Fassade nieder, die er gegen die Welt um sich herum errichtet hatte, und wenn er mit ihr allein war, konnte Adam er selbst sein. Doch je mehr Zeit verstrich, desto größer wurde seine Furcht, sie könnte jemanden anderen kennenlernen, jemanden, der ihr ähnlich war. Während er selbst keine genauen Pläne hatte, für gar nichts.

Seine Gefühle für sie machten ihn stark und glücklich, zugleich kam er sich aber auch schwächlich und armselig vor. Sara war ganz einfach zu gut für ihn. Vielleicht benahm er sich deshalb schließlich wie ein Schwein. Sie kam ihm zu nahe, und er wartete nur darauf, enttarnt zu werden. Denn er war mit all dem, worüber sie sprach, nicht vertraut. Worüber sie sprach, davon hatte er keinen Schimmer. Er las keine Bücher, sondern liebte Videospiele und schaute gerne Fußball. Und er hing mit seinen Freunden ab. Jederzeit konnte Sara dahinterkommen, wie hohl er war. Außerdem würde sie niemals akzeptieren, auf welche Weise er sein Geld verdiente. Ihre gesamte Beziehung war auf einer fetten Lüge aufgebaut. Lieber machte er sich aus dem Staub, bevor er selbst verlassen würde. Aber er schaffte es nicht, Schluss zu machen. Stattdessen meldete er sich einfach nicht mehr bei ihr und antwortete ihr auch nicht. Er hielt sich unter dem Radar, bis sie begriff, was für ein Idiot er war, und aufgab. Wie hatte er nur denken können, sie würde ihm danach verzeihen?

Offenbar hatte er jede wichtige Brücke in seinem Leben abgefackelt. Zu seiner Mutter, zu Sara, den Kumpeln – und sogar zu Abbe. Was sollte er jetzt machen? Nach Hause fahren? Er hatte nicht einmal mehr ein Zuhause.

Lustlos zog Adam die Cola aus der Tüte. Und gerade, als er die Flasche an die Lippen setzte, entdeckte er durch die Zweige hindurch die Umrisse eines großen Hauses. Fast märchenhaft war es von den grauen Regenwolken umschlossen. Aber es schien tatsächlich zu existieren.

Britta

Im Grunde machte es nichts, wenn Susanne heute Abend zum Schnüffeln kam, ein Tag Verspätung war in Ordnung. Britta würde morgen den Zehn-Uhr-Bus nehmen, tröstete sie sich, als sich die erste Enttäuschung gelegt hatte. Sie sehnte sich schon so lange nach Lindö, da spielte ein Tag hin oder her keine Rolle. Und nach ihrem Besuch heute würde Susanne sie sicherlich eine ganze Weile nicht mehr behelligen. Britta versteckte ihr Gepäck im Schlafzimmerschrank, schob den Rollkoffer unter das Bett und achtete darauf, dass der Überwurf bis auf den Boden hinabreichte.

Sie setzte sich in den Sessel, reckte sich nach dem Telefon und wählte die bekannte Nummer. Iris meldete sich sofort, als hätte sie gewusst, dass Britta anrufen würde.

»Na, bist du schon dort?«, hörte Britta die vertraute, spröde Stimme der Freundin.

Brittas Enthusiasmus war ansteckend, weshalb Iris nun mit von der Partie sein wollte. In den letzten Jahren konnte die Freundin nicht so oft nach Lindö fahren, wie Britta es sich gewünscht hätte, denn ihr Herz machte Zicken. Doch ohne Iris war es leer und einsam dort. Wenn das Ganze ein gelungenes Unterfangen werden sollte, dann müssten sie schon beide auf Lindö sein. Darin waren sie sich einig.

Im Winter hatte Iris endlich einen Herzschrittmacher bekommen und versucht, zu Kräften zu kommen. Bestimmt würde sie jetzt einen Sommer in ihrem Häuschen verbringen können. Außerdem war bei Iris alles viel einfacher und praktischer. Die Schwiegertochter putzte für sie und füllte den Kühlschrank mit vorgekochten Mahlzeiten. Außerdem musste Iris niemanden um Erlaubnis fragen, ob sie nach Lindö fahren durfte, wie Britta es musste, als wäre sie ein kleines Kind.

Iris hatte ihr Haus auf Lindö schon gehabt, als Britta zum ersten Mal dorthin kam. Das Leben der beiden hatte sich seither Jahr um Jahr enger verflochten, und nicht nur auf Lindö, sondern auch in der Stadt. Auch hier wohnten sie nur einen Steinwurf voneinander entfernt. Mehrmals am Tag riefen sie einander an, obwohl es selten Neues zu erzählen gab.

»Na, nicht so schlimm. Es bleibt dabei, wir fahren, und das hätte ich im Herbst nie geglaubt«, sagte Iris, nachdem Britta ihr berichtet hatte, dass die Reise um einen Tag verschoben werden müsste. »Als ich von deinem Plan gehört habe, den Sommer auf Lindö zu verbringen, dachte ich schon, du wärst komplett übergeschnappt. Immerhin hattest du solche Schmerzen, dass du kaum laufen konntest, du Arme.«

»Aber du weißt, wenn ich mal einen Entschluss gefasst habe …«

»Ja, das weiß ich nur allzu gut.« Iris lachte. »Auch wenn ich der Meinung bin, du solltest abwarten, bis es wärmer ist. Der Frühling ist dieses Jahr ungewöhnlich kühl. Kannst du dich nicht noch ein paar Wochen gedulden?«

»Ich will nicht länger warten.«

»Dann komme ich nach, so schnell ich kann, das verspreche ich dir. Melde dich, bevor du morgen früh fährst, damit ich Bescheid weiß.«

Britta breitete eine Decke über ihre Beine aus und lehnte sich im Sessel zurück. Sie seufzte tief, als sie an den unglückseligen Tag dachte, an dem alles auch leicht zu Ende hätte gehen können. Schon im Oktober hatte der Wetterbericht das erste Mal vor Blitzeis gewarnt. Aber Britta war kribbelig vom Herumsitzen, und ihr fehlte der tägliche Spaziergang rund um den Block. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus.

Weiter als bis vor die Haustür war sie jedoch nicht gekommen, denn der faule Hausmeister hatte wie gewöhnlich mit dem Streusand gegeizt. Britta rutschte böse aus und fiel der Länge nach hin. Die Nachbarn aus dem ersten Stock riefen den Krankenwagen. Dann begleitete die junge Frau Britta in die Notaufnahme und hielt ihre Hand, bis Susanne angerauscht kam, mit wehendem Mantel und zerzaustem Haar. Doch Britta hatte zu große Schmerzen, um den Auftritt zu kommentieren.

Ärgerlicherweise waren mehrere Knochen im Fuß gebrochen, und sie musste sofort operiert werden. In den Minuten, bevor sie einschlief, hatte sie eine Prophezeiung. Vielleicht spielten die Narkotika, mit denen man sie vollgepumpt hatte, eine gewisse Rolle. Jedenfalls hatte sie eine deutliche Vision, wie sie in ihrem Bett auf Lindö lag. Es schien, als würde sie schlafen – obwohl sie tot war –, das Fenster stand offen, und das Kreuzworträtselheft lag neben ihr. Der ganze Raum war vom Duft des großen Jasminstrauchs im Vorgarten erfüllt. Auch das Rauschen in den Baumkronen, wenn der Wind sie erfasste, konnte sie deutlich hören. Die vom leichten Sommerregen feuchte Luft streichelte ihre Wangen. Es war still und schön, wirklich und unwirklich zugleich. Dieses Erlebnis erfüllte sie mit großer Ruhe und enormer Entschlusskraft. Nun wusste sie, wie ihre Tage enden würden und dass sie zusehen musste, einen letzten Sommer auf Lindö zu verbringen. Noch ein letztes Mal wollte sie all das Großartige dort erleben.

Während ihrer langen Reha-Zeit schmiedete sie Pläne. Es galt, zahlreiche Hindernisse zu überwinden. Der Fuß. Die Schwäche. Die Kinder. Die Gedanken irrten in die eine und die andere Richtung. Aber eigentlich war es gar nicht so schwer. Sie musste lediglich dafür sorgen, dass sie zu Kräften kam. Vor Ort würde sich alles Weitere fügen.

Die Kinder würden Einwände haben, natürlich. Schon im vergangenen Sommer hatte Susanne gedroht, sie werde Britta keinesfalls auch nur eine Minute allein auf Lindö verbringen lassen. Das war nach der missglückten Busfahrt gewesen. Bis heute wusste Britta nicht, wer Susanne davon erzählt hatte. Sie selbst hatte den Vorfall ausschließlich Iris gegenüber erwähnt, und die hatte bestimmt nicht gepetzt, da war sich Britta absolut sicher. Dass die Kinder davon Wind bekommen hatten, machte die Sache jedoch nicht gerade leichter – und dass Britta hin und wieder einen Stich in der Herzgegend verspürte, auch nicht.

Einmal, als Susanne nach der Operation zu Besuch ins Krankenhaus kam, schnitt Britta das Thema vorsichtig an. Susanne war schon im Begriff gewesen zu gehen, sie stand im Mantel und mit dem Telefon in der Hand da.

»Ich habe mir überlegt, den Sommer wie gewöhnlich auf Lindö zu sein.«

»Mit dem Fuß!« Susanne hatte schrill aufgelacht, aber als sie bemerkte, wie ernst es Britta war, änderte sich ihr Ton. Sie behauptete steif und fest, Britta wäre bestimmt nicht ausgerutscht und hätte sich den Fuß gebrochen, wenn sie nicht einen Schwächeanfall erlitten hätte.

Britta hatte sich den Mund fransig geredet, die Kinder blieben bei ihrer Meinung. Nach Lindö sollte sie auf keinen Fall ohne Begleitung fahren. Aber benötigte Britta wirklich die Erlaubnis ihrer Kinder? So einen Unfug wollte sie nicht länger hinnehmen. Und für unmündig hatte man sie, soweit sie wusste, ja nicht erklärt. Ihr Einwand erzielte jedoch nicht die gewünschte Wirkung.

»Na, was nicht ist, kann ja noch werden«, hatte Susanne entnervt gemurmelt.

Also gab es nur noch eine Möglichkeit, überlegte Britta. Unter dem Radar fliegen, so wie sie es schon immer getan hatte, wenn sie sich durchsetzen wollte. Das Ziel vor Augen übte sie, sooft sie konnte, um den Fuß zu stärken. Sie zwang sich zu mörderisch anstrengenden und gleichzeitig langweiligen Übungen beim Physiotherapeuten und benutzte morgens und abends den großen Briefbeschwerer als Hantel, um ihre Arme zu kräftigen. Und sie stieg bei jeder Gelegenheit die Stufen im Treppenhaus hinauf und hinunter.

In all diesen Tagen, Wochen und Monaten seit dem Sturz war die Vorfreude gestiegen. Und jetzt, wo endlich der Frühling kam, konnte Britta es kaum mehr erwarten.

Am meisten freute sie sich darüber, dass Iris dabei sein würde. Stundenlang sprachen sie jeden Tag über die schönen Dinge, die sie in der Vergangenheit auf der Insel erlebt hatten. Über alles, was sie unternehmen wollten, ehe es zu spät war. Sonst war Iris immer so zurückhaltend, doch diesmal hatte sie Britta sogar dazu ermuntert, sich gegen die Kinder aufzulehnen und heimlich zu fahren.

»Obwohl ich etwas besorgt bin, wenn ich an dich allein in dem großen Haus denke.«

Britta schrak zusammen. Sie war so in Gedanken gewesen, dass sie Iris nicht mehr zugehört hatte.

»Ich war doch früher auch allein dort«, beeilte sie sich einzuwenden.

»Ja, schon, aber du bist nicht gerade jünger geworden …«

»Ich habe doch Karlsson.«

»Und mich. Ich komme, das verspreche ich.«

Und so verabschiedeten sich die beiden Freundinnen.

 

Britta hatte an alles gedacht. Im Februar war sie mit Susannes Tochter Alexandra und deren Freund Erik nach Lindö gefahren. Noch immer lagen Schneehaufen an den Straßenrändern, und sie musste im Wagen bleiben, bis Alexandra und Erik den Weg zum Haus freigeschaufelt hatten. Dann aßen sie Suppe, die Alexandra in einer Thermoskanne mitgebracht hatte. Der Radiator in der Küche lief auf Hochtouren, auch wenn sich Britta Sorgen wegen der Stromrechnung machte. Die Fenster waren beschlagen, und auf den Bäumen lag hübsch der Raureif. Nach dem Essen schob Britta, als keiner sie sah, Suppenbeutel und eine Dose Rote Bete, gut verpackt, hinter die Luke des Kachelofens im Wohnzimmer. Die Sherryflasche, die sie zu Weihnachten bekommen hatte, stellte sie in die Vitrine.

Dann dauerte es ein paar Wochen, bis Britta wieder nach Lindö kam. Doch schließlich hatte Susanne eine Lücke in ihrem prallvollen Terminkalender gefunden und widmete Britta einen ganzen Tag. Es war ein sonniger Märztag, und Susanne musste schließlich zugeben, dass es auf Lindö wirklich schön war. Verstohlen versteckte Britta Konservendosen in den großen Krügen auf den Fensterbrettern im Flur. Schließlich würde sie nicht verlangen können, dass Karlsson zu jeder Unzeit für sie einkaufen fuhr.

Dann gingen Susanne und sie zusammen eine Runde über das Grundstück, Britta nur noch auf einen Stock gestützt. Die Schneewälle begannen sichtlich zu schmelzen, auf dem Rasen lagen nur noch einige weiße Flecken Schnee, und aus den Dachrinnen tropfte das Wasser.

Regenrinnen reinigen, schrieb Britta mit ihrem grünen Füller auf ein Blatt Papier und ein Stück weiter, oben bei der Toilette, Baum neben Plumpsklo wegräumen.

»Vielleicht nehmen wir uns in den Ferien einen Tag Zeit und kümmern uns darum«, murmelte Susanne. »Wenn du möchtest, kannst du ja mitkommen.«

Britta lächelte ihre Tochter an, sehr bemüht, froh und dankbar zu erscheinen, auch wenn sie innerlich vor Wut kochte. Ein einziger Tag auf Lindö sollte eine Verlockung für sie sein?

 

Beinahe wäre Britta unter ihrer gehäkelten Decke eingeschlafen, aber es war schön, darüber nachzudenken, wie gut sich alles fügte und wie wunderbar sie es haben würde. Niemand würde sie daran hindern können, noch einen Sommer auf Lindö zu erleben. Nicht einmal ihr Fuß, der im Moment grimmig pochte. Vermutlich, weil sie in den vergangenen Tagen so viel auf den Beinen gewesen war.

Dass sich die Abreise um einen Tag verzögerte, kam ihr jetzt zupass. Allein, sich die Schuhe anzuziehen, hätte heute ein echtes Unterfangen dargestellt. Auch wenn Britta extra neue, weiche gekauft hatte, in die man den Fuß nur hineinschieben musste.

Adam

Adam ließ das Haus nicht aus den Augen, während er die Brote hinunterschlang, die er von Abbe bekommen hatte. Er kaute kaum, so hungrig war er. Als er sich an einem Stück verschluckte, musste er sich kräftig auf die Brust schlagen. Sein Magen schrie nach mehr. Er zog das Handy hervor, um zu sehen, wie spät es war, und fluchte frustriert, weil ihm einfiel, dass der Akku ja leer war. Dennoch widerstand er dem Drang, das Telefon in den Wald zu werfen. Es war erst wenige Wochen alt und eines der neusten Modelle. Gekauft mit der Kohle, wegen der er nun in der Scheiße saß.

Seine Tasche ließ er zurück, als er sich zu dem Haus schlich. Kein Licht, kein geparktes Auto davor. Nirgendwo eine Spur von Leben. Er humpelte zurück zu seinem Baum. Es regnete immer noch, aber wenn er sich gegen den Stamm presste, bot die Krone einen gewissen Schutz.

Missmutig blickte er auf seine schweineteuren weißen Sneakers mit den mokkafarbenen Verzierungen. Sie trieften vor Nässe und waren vollkommen mit Erde und Blättern verschmiert. Er hatte sie erst vor ein paar Wochen gekauft.

»Imprägniere sie, bevor du sie trägst«, hatte das Mädchen im Laden ihm geraten.

»Ich kauf mir lieber neue, wenn die kaputt sind«, hatte Adam geprahlt, um sie zu beeindrucken. Dann zog er ein Bündel Scheine aus der Vordertasche seiner neuen Jeans und bezahlte in bar. Die Jungs, die mit dabei waren, lachten laut, auch wenn sie bestimmt neidisch waren. Schließlich konnten sie sich so teure Sachen nicht leisten. Anschließend lud er sie zu McDonald’s ein – mit allem Drum und Dran.

Doch jetzt drückte er sich in einem Wolkenbruch an einen Baumstamm, während seine Kumpel sicher irgendwo im Warmen chillten und sich darüber lustig machten, dass er hatte abhauen müssen.

Adam überlegte. Er saß in der Falle. Am wichtigsten war es, zurück in die Stadt zu kommen. Aber wie? Er hatte kaum mehr Geld auf der Karte und keine Kontakte. Scheiße, er hatte in letzter Zeit so viel Kohle rausgehauen. Für Zeug, das er gar nicht brauchte.

Wenn es ihm gelingen würde, in das Haus einzusteigen, könnte er vielleicht seine Klamotten trocknen und sich aufwärmen. Und mit etwas Glück gab es eine Steckdose, sodass er sein Handy aufladen konnte. Dann ließe sich ein Onlineticket zurück in die Stadt kaufen. Auf Lebensmittel zu hoffen war vielleicht zu viel verlangt, andererseits – hätte er jetzt nicht ein bisschen Glück verdient?

Aber bei dem Gedanken, in ein fremdes Haus einzubrechen, war ihm nicht wohl. Adam zögerte. Er sollte besser in die Richtung gehen, in der er die Landstraße vermutete, und per Anhalter zurückzufahren versuchen. Allerdings würde es bald dunkel werden. Und selbst wenn es ihm gelänge, in die Stadt zu kommen, wo sollte er dann hin? Seine Gedanken wanderten im Kreis. Schließlich beschloss er, in dem Haus zu übernachten. Es gab keine bessere Lösung. Noch einmal drehte er eine Runde um das düstere Gebäude, drückte alle Türklinken und hob Blumentöpfe und Fußmatten an. Vielleicht war irgendwo ein Schlüssel versteckt. Wie im Film. Aber es fand sich keiner.

Also fasste er sich ein Herz und entschied sich für ein Fenster auf der Rückseite des Hauses. Es war ein wenig hinter einem großen Busch verborgen, sodass Scherben auf dem Boden nicht auf den ersten Blick auffallen würden. Außerdem dürfte es relativ einfach sein, dort einzusteigen. Zunächst brauchte er einen Stock, um eine der kleinen Scheiben einzuschlagen. Dann könnte er die Fensterhaken im Inneren öffnen. Auf diese Weise hätte er keinen großen Schaden angerichtet. Er würde sich einfach für die Nacht ein Dach über dem Kopf leihen, sozusagen. Vielleicht könnte er dem Eigentümer später Geld für eine neue Scheibe schicken. Obwohl, dazu würde es nicht kommen. Er war pleite und stand bei Samir tief in der Kreide …

Plötzlich entdeckte er, dass der äußere Fensterflügel ein wenig vorstand. Er zog daran und biss sich sogleich auf die Lippen, um ein Lachen zu unterdrücken. Das Fenster war offen. Das war bestimmt ein Zeichen. Freier Eintritt. Weg von dem Regen und der Nässe und von seinen kreisenden Gedanken. Er rannte los, um seine Tasche zu holen. Den Schmerz im Fuß spürte er kaum noch. Das Adrenalin hatte die Regie übernommen, strömte durch seinen Körper, ließ ihn schaudern und machte ihn stark zugleich.

Er zog die Ärmel seines Sweaters über die Hände, um sich vor den spitzen Dornen des Busches zu schützen. Dann kroch er geschickt über die Fensterbank und landete im Inneren des Hauses auf dem Boden. Es fiel ihm schwer, ein lautes Keuchen zu unterdrücken. Sein Herz pochte so stark, dass er sich kaum still halten konnte. Aber er zwang sich, zusammengekauert abzuwarten und zu lauschen. Im Haus war nicht das geringste Geräusch zu hören. Nur draußen prasselte der Regen mit unverminderter Stärke.

Adam stand auf und tastete nach dem Lichtschalter. Nachdem er die Deckenbeleuchtung eingeschaltet hatte, griff er rasch nach einer braunen Decke, die über einem Stuhl hing, und warf sie über die Gardinenstange, die sich unter dem Gewicht bog. In dem Raum roch es abgestanden und muffig. Überall standen Möbel herum. Ein Kinderplanschbecken lehnte an der Wand, nur halb aufgeblasen. In einem blauen Korb mit kaputten Griffen lagen ausgeblichene Sandeimer und Schaufeln.

Adam schob sein Ladekabel in eine Steckdose. Ein Surren war zu hören. Gleich würde er wieder Kontakt zur Außenwelt aufnehmen können, stellte er erleichtert fest. Damit hatte er schon ein Ziel erreicht. Der Einbruch hatte sich gelohnt. Also, wenn man überhaupt von einem Einbruch sprechen wollte, schließlich hatte das Fenster ja offen gestanden und Adam hatte nichts zerstört. Wie auch immer, hier konnte er schlafen und sich überlegen, wie es weitergehen sollte. Guter Schlaf linderte alle Sorgen. Das hatte seine Mutter ihm von klein auf mitgegeben. Schlaf als Heilmittel gegen Schmerzen und unlösbare Probleme, einschließlich nicht erledigter Hausaufgaben.

Enttäuscht stellte er fest, dass die Heizung nicht funktionierte, obwohl er den Regler vor und zurück drehte. Es widerstrebte ihm, sich auszuziehen. Dennoch hängte er seine Jacke über eine Stuhllehne, zwängte sich aus der nassen Jeans und breitete sie auf der Sitzfläche des Stuhls aus. Seine Füße und Oberschenkel waren eiskalt, er massierte sie.

Eigentlich sollte er die Schuhe mit Zeitungspapier ausstopfen, damit sie trockneten. Eine Erinnerung an seinen Vater. Mit den Schuhen hatte Papa es immer sehr genau genommen, er bürstete jedes Paar und rieb es mit Schuhcreme ein. Könnte er Adams neue Schuhe jetzt sehen, er würde schimpfen wie verrückt. Andererseits, wäre Papa nicht gestorben, müsste sich Adam nun nicht in einem unbewohnten eiskalten Haus verstecken. Sie würden vielmehr als Familie zu Hause in der Küche sitzen und essen, was Mama gekocht hatte. Adam würde das Gymnasium besuchen, vernünftige Noten nach Hause bringen und eine Zukunft haben. Wäre Papa nicht gestorben, hätte sich Samir nicht wie eine Giftschlange in die Familie einschleichen können, mit seiner vorgegaukelten Hilfsbereitschaft und dem verlockenden Geld. Wie konnte Adam nur so blindlings in die Falle tappen? Wie konnte er sich einbilden, Samir würde es gut mit ihm meinen? Es fiel Adam schwer, diese dunklen Gedanken zu verdrängen.

Seine Augen brannten vor Müdigkeit, immerhin war er inzwischen beinahe zwei Tage und Nächte auf den Beinen. Das alte Bett in der Ecke sah nicht gerade einladend aus, aber es musste genügen. Rasch löschte er das Licht und kroch unter eine modrig riechende Decke. Das alles war so krank. Aber auf jeden Fall besser, als im Freien zu übernachten oder sich im Fahrradschuppen vor Mamas Haus zu verstecken.

 

Als er aufwachte, war es draußen hell. Die Decke, die Adam vor das Fenster gehängt hatte, war heruntergefallen. Das inzwischen geladene Handy zeigte keine neuen Nachrichten.

Mehrmals war er im Lauf der Nacht aufgewacht, aus Sorge, entdeckt zu werden, und hatte nicht gleich wieder einschlafen können. Trotzdem stand er jetzt auf, öffnete das Fenster und nahm ein paar tiefe Atemzüge von der frischen Luft. Über den Baumwipfeln reihten sich Regenwolken grau und schwer aneinander. Er sollte sich besser auf den Weg machen, solange das Wetter hielt.

Die Jeans war noch feucht. Er zog sie an, auch wenn sich der raue kalte Stoff unangenehm anfühlte. Gerade als er das Handy in die Hosentasche schieben wollte, hörte er das Pling einer eingehenden Nachricht. Adam zuckte zusammen. Sie war von seiner Schwester.

Wo bist du? :(

Ihm wurde ganz flau im Magen – die kleine Isa. Die Nachricht nahm Adam so mit, dass er sich auf den Boden setzen musste. Er sah ihr Gesicht vor sich in dem Moment, als er die Wohnung verließ: Isa wandte sich ab, um nicht mitansehen zu müssen, wie er ging. Er würde ihr antworten – sobald er an einem guten Ort war. Sobald sich alles eingerenkt hatte.

Bevor er sich auf den Weg machte, brauchte er allerdings noch etwas zu essen. Er öffnete das Fenster sperrangelweit, um sich den Fluchtweg zu sichern. Dann ging er hinaus in den dunklen Flur, öffnete eine weitere Tür und betrat einen Raum, der offenbar ein Wohnzimmer war. Die Gardinen vor dem Fenster waren zugezogen und auf dem Tisch standen Plastikblumen. Die Möbel waren alt und passten nicht recht zusammen. Die Tapeten hatten sich von den Wänden gelöst, und die Farbe an der Decke war stellenweise abgeblättert. Es roch abgestanden und staubig, als würde seit Langem niemand mehr hier wohnen. Sollte Adam jedoch frische Spuren finden, würde er sofort verschwinden. Sicherheitshalber warf er einen Blick über die Schulter und versuchte sich einzuprägen, woher er gekommen war, ehe er weiter in das Haus hineinschlich.

Hin und wieder knarzten die Bodendielen. Jedes Mal pochte sein Herz so laut, dass er es hören konnte. Dennoch zwang er sich weiterzugehen. In der geräumigen Küche fauchten die Rohre, als er den Wasserhahn aufdrehte, aber es kam kein Tropfen. Der Kühlschrank war abgestellt. Neben dem Herd stand eine braune Keramikschale mit Deckel, in der sich Kristallzucker befand. Auf einem Regal entdeckte Adam einige Teebeutel und Dosen mit ausgebleichten Gewürzkräutern. Er öffnete jeden Schrank und jede Schublade, in der Hoffnung auf etwas Essbares. Ohne Erfolg.

So lautlos und effektiv wie möglich setzte Adam seine Suche fort. Am anderen Ende der Diele verdeckte ein Stoffvorhang einen schmalen vollgestellten Gang, der entlang des Hauses verlief. Abgenutzte Krocketschläger, ein Berg Überbekleidung und ein rostiger Kugelgrill drängten sich an der Außenwand. Adam öffnete die Türen zu zwei überfüllten Abstellkammern. Er wollte schon umkehren, da entdeckte er hinter der letzten Tür einen Vorratskeller. Während er ein paar Stufen hinunterstieg, schlug die Tür mit lautem Krachen hinter ihm zu. Panisch tastete er nach dem Lichtschalter und blinzelte, als eine Glühbirne aufflammte. Zwischen leeren Flaschen und Einmachgläsern stand auf einem Regal eine einsame Dose Ravioli. Der Gedanke, sich gleich den Bauch vollschlagen zu können, brachte Adam so in Fahrt, dass er noch ein wenig weitersuchte. Die Chancen, dass es in einem so großen Haus noch mehr zu futtern gab, standen ja wohl nicht schlecht.

Die Treppe knarzte bedenklich, als er kurz darauf in den ersten Stock hinaufging. Sein Herz klopfte schwer, so sehr rechnete er damit, dass jederzeit jemand aus einem der Zimmer heraussprang. Aber da war niemand. Die Konservendose noch immer in der Hand, schlich er durch ein Speisezimmer mit einem langen Tisch in der Mitte und einem enormen Kronleuchter an der Decke. Die übrigen kleineren Räume auf dem Stockwerk schienen Schlafzimmer zu sein. In einem hing an einem Haken eine Strickjacke. In einem anderen lagen eine Sonnenbrille und ein Taschenbuch auf dem Nachttisch. Es sah gemütlich aus. Sollte Adam weitere Lebensmittel finden, würde er ein paar Tage hierbleiben. Dann könnte er sich bei den Jungs melden. Sicher hatte jemand versucht, ihn zu erreichen, und war nur wegen des schlechten Empfangs nicht durchgekommen. Jetzt schien sich das Blatt zu wenden. Endlich lief es wieder.

Das Dachgeschoss musste auf seine Erkundung noch warten, Adam eilte in die Küche hinunter, um die Ravioli aufzuwärmen. Aber, hatte er da gerade etwas gehört? Die grün gestrichene Holztreppe knarzte unter seinem Gewicht, als er mitten im Schritt innehielt. Angespannt stand er da und lauschte. Draußen stürmte es stark, bestimmt spielte ihm der Wind einen Streich. Vielleicht hatte nur ein Zweig gegen die Fensterscheiben geschlagen. Adam atmete aus.

Die Küchentür ließ sich schwer öffnen. Adam stutzte, er erinnerte sich nicht, dass er sie geschlossen hatte. Er stemmte sie mit aller Kraft auf. In diesem Moment fiel die Klinke auf der anderen Seite klirrend zu Boden. Er beugte sich hinunter, um sie aufzuheben. Als er sich wieder aufrichten wollte, erblickte er zwei Füße. Mitten im Raum. Die in einem Paar gewöhnlicher schwarzer Straßenschuhe mit Gummischnürsenkeln steckten.

Britta

Zunächst war sie eher verwundert und nicht direkt erschrocken, als sie ihn sah. Trotzdem wurden ihre Knie weich und ihre Hand legte sich unwillkürlich auf ihr Herz. Nach der langen Reise ging ihr Atem noch immer schwer, ein leises Pfeifen war zu hören. Britta stützte sich am Küchentisch ab. Doch dann richtete sie sich wieder auf.

Der Jüngling vor ihr sah vollkommen schockiert aus. Offenbar hatte er sie nicht kommen hören, obwohl sie den schweren schwarzen Rollkoffer geräuschvoll durch die Diele und über die Türschwelle in die Küche gezerrt hatte. Um die Räder hatten sich kleine Regenwasserpfützen auf dem Boden gebildet. Britta schielte zu ihrem Rucksack, den sie auf dem Tisch abgeladen hatte, und strich mit der Hand über den beigefarbenen Mantel. In der Manteltasche lag das Handy. Britta räusperte sich. Zurückhaltend und zögerlich. Dann noch einmal kraftvoller. Dabei starrte sie dem jungen Mann unverwandt ins Gesicht.

»Aha«, sagte sie schließlich. »Ich vermute, du bist hier, um mich entweder umzubringen oder auszurauben.« Sie machte eine kurze Pause. Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie nach der kleinen Haarspange neben ihrem Ohr tastete. »Falls du vorhast, mich zu töten, dann zögere es bitteschön nicht zu lang hinaus. Und richte hinterher kein Durcheinander an.«

Sie zog einen Sprossenstuhl unter dem Tisch hervor. Die Stuhlbeine schrappten scharf über den Dielenboden. Dann schob sie das Sitzkissen gerade, ehe sie sich schwer darauf niederließ. Sollte es etwa so zu Ende gehen?

Jetzt, wo sie es endlich hierhergeschafft hatte?

Was für eine Enttäuschung.

Eigentlich wirkte er gar nicht so bedrohlich, aber man konnte ja nie wissen, und immerhin war er in ihr Haus eingebrochen. Während Britta den blau geblümten Schal von ihrem Hals löste, versuchte sie, in seinem Gesicht zu lesen.

»Ich bringe niemanden um.« Der Kerl hielt den Blick gesenkt.

Offenbar war er bloß ein Grünschnabel und kein abgebrühter Verbrecher. Nicht bei diesem Aussehen.

»Aber was hast du hier zu suchen?«, fragte sie. »Was machst du in meinem Haus?«

Er stand noch immer wie angewurzelt da. Mit einer Konservendose in der Hand. Draußen nahm der Regen an Stärke zu. Wie Hammerschläge trommelten die Tropfen auf den Sims.

»Eines kann ich dir gleich sagen: Geld habe ich keines, falls du mich ausrauben willst.« Britta strich mit der Hand über die hellgelbe Wachstuchdecke auf dem Tisch. »Hier gibt es auch nicht viel von Wert. Also nicht für dich. Für mich ist alles wertvoll. Jedes Ding hat seine Geschichte.«

Britta wusste nicht, ob er ihr zuhörte.

»Die Erinnerungen eines ganzen Lebens, kann man vielleicht sagen. Aber ich nehme mal an, für dich oder jemand anderen ist das meiste einfach Gerümpel.« Sie sah sich um und schwieg eine Weile, ehe sie fortfuhr.

»Am interessantesten ist vermutlich der Sekretär im ersten Stock, in dem kleinen Flur vor meinem Zimmer. Wenn du ihn an den Richtigen verkaufst, kriegst du ein paar Tausend Kronen dafür. Allerdings ist eines der Beine lose, du musst also vorsichtig sein, wenn du das Möbelstück transportierst. Das Zertifikat liegt in einer der Schubladen. Eigentlich wollte ich den Sekretär meiner Tochter überlassen, aber es ist eher unwahrscheinlich, dass sie ihn will. Ihr jungen Leute kauft euch ja lieber etwas Neues, heutzutage.«

Sie redete, um Zeit zu gewinnen. Doch schließlich unterbrach er sie frech.

»Ich will weder Geld noch Ihre Sachen.«

»Ach ja? Kannst du mir dann vielleicht erzählen, was du hier eigentlich machst?«

Der Kerl konnte sie noch immer nicht ansehen. Er hat mehr Angst als ich, dachte Britta. Aber dann bemerkte sie seinen Blick, der an ihrer Hand hängengeblieben war.

»Ich warne dich, falls du es auf meinen Ring abgesehen hast«, gab sie ihm mit klarer Stimme zu verstehen. »Um ihn zu bekommen, musst du mich tatsächlich töten. Seit sechzig Jahren habe ich diesen Ring nicht abgenommen. Mein erster Mann hat ihn mir geschenkt. Er hat ihn von seiner Mutter bekommen. Ich kann dir sagen, mein zweiter Mann tobte vor Zorn, als ich ihn sogar bei unserer Hochzeit anbehielt. Ein Stein ist verloren gegangen.« Sie streckte die Hand aus, damit er es sehen konnte. »Den Ring soll einmal meine Enkelin erben. Allerdings wird man mir wohl erst den Finger abschneiden müssen, denn das gute Stück ist quasi mit mir verwachsen.«

In der Küche war es schummrig geworden, und Britta stand auf, um eine Lampe auf der Küchenbank anzuknipsen. Ein Spinnennetz spannte sich von der Lampe zur Küchengardine. Britta fegte es mit der Hand weg. Dann reckte sie sich nach ihrer Tasche und wühlte darin herum.

»Ich möchte dir etwas zeigen, damit du im Bilde bist. Vielleicht glaubst du, ich wäre eine betuchte Oberschicht-Oma – nur weil ich in einem schönen Haus wohne.« Sie reichte ihm eine zerknitterte Pensionsabrechnung.

Zögernd nahm er den Zettel entgegen.

»Siehst du die Summe?«

Er nickte, schien aber nicht zu begreifen, worauf sie hinauswollte.

»So viel habe ich jeden Monat zum Leben. Ich bekomme nicht einmal eine Witwenrente. Nur damit du es weißt. Erspartes habe ich auch nicht, und das Haus ist auf die Kinder überschrieben, sonst würde ich kein Wohngeld erhalten. Mein Schwiegersohn Peter sagt, das Haus wäre eine Belastung. Aber der Grund ist wertvoll. Als Rechtsanwalt dürfte er sich wohl auskennen.«

Sie hielt inne und kehrte zu ihrem Stuhl zurück. Düster blickte sie aus dem Fenster. Wenn sie nur wüsste, was dieser Kerl in ihrem Haus machte und was er von ihr wollte.

Adam

Ratlos stand Adam mit der Pensionsabrechnung der Alten in der Hand da. Merkwürdigerweise schien die Frau keine Angst vor ihm zu haben. Sie bestimmte das Gesprächsthema, egal wie pampig und lässig er auch zu sein versuchte. Er faltete das Papier zusammen und reichte es ihr.

»Ich scheiß auf Ihre Sachen. Klar ist das bescheuert, einfach irgendwo einzusteigen, und es war dumm von mir, aber ich musste dringend ins Warme und brauchte etwas zu essen.« Er hielt die Raviolidose hoch. »Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen Lebensmittel stehlen wollte. Ich muss jetzt gehen. Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben – ich bin kein Einbrecher, und ich tu auch alten Damen nichts. Ich hatte nichts Böses vor. Also werde ich jetzt meine Tasche holen und dann abhauen.«

»Wie lange warst du hier?«

»Seit gestern Abend. Ich schwöre, dass ich nichts geklaut habe. Nur die da.« Er legte die Dose auf die kleine Bank neben dem Herd. Sie rollte über den Rand und fiel scheppernd zu Boden. Unbeholfen bückte er sich und hob sie auf.

»Wie bist du denn hereingekommen?«

Sie klang nicht einmal sonderlich wütend. Vielleicht hatte sie bereits bemerkt, dass er ihren Blicken auswich, seine Hände vor Nervosität zitterten und seine Zunge am Gaumen kleben blieb, weil sein Mund so trocken war. Statt ihre Frage zu beantworten, machte er eine Kopfbewegung in Richtung Diele.

Sie bat ihn, ihr die Stelle zu zeigen. Adam musste überlegen, um den Weg zurück zu finden. Also drängte sie sich an ihm vorbei und übernahm die Führung. Adam folgte ihr in das Zimmer und prallte hart mit der Stirn gegen den niedrigen Türrahmen. Verärgert schloss die Frau das Fenster, während er verstohlen seine Sachen in die schwarze Tasche räumte. Fast hätte er seine Lederjacke vergessen.

»So sind meine Kinder und Enkel.« Die Frau drehte sich zu ihm um. »Tausendmal habe ich ihnen gesagt, dass sie nicht vergessen dürfen, die Fenster zu verriegeln. Außerdem haben sie im Herbst die Innenfenster nicht überall eingesetzt, obwohl sie es versprochen hatten. Hast du etwas kaputt gemacht?« Abrupt wandte sie sich an Adam.

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Also, ich habe das Fenster aufgestoßen und bin hereingekrochen …«

Sie musterte ihn mit ihren eisblauen Augen von oben bis unten.

»Und dann habe ich da geschlafen.« Er deutete auf das alte Bett.