Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken - Isabel Waidner - E-Book

Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken E-Book

Isabel Waidner

0,0
22,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sterling Beckenbauer wird auf offener Straße attackiert und dann verhaftet, ohne etwas verbrochen zu haben. In eine erschreckende und unsinnige Welt gestürzt, nimmt Sterling den Kampf gegen ein im Herzen konservatives System auf. Isabel Waidner erzählt von queerem Leben im heutigen London, von den Fallstricken des Vereinsfußballs, von Zeitreisen und Migration, von Freundschaft und Liebe. Von Autoritäten, die nichts unversucht lassen, um die auszugrenzen, die in keine Schublade passen. Von einem Kampf um Leben und Tod – weil es in einem Stierkampf kein Unentschieden gibt. Ein schillernder, unbändiger Roman, der nicht Geschlechteridentität verhandelt, sondern das Recht auf ein Leben ohne Diskriminierung. »Waidners explosive Sensibilität und Stil sind so weit von mittelmäßiger Prosa und bürgerlichem Habitus entfernt, wie man es sich nur vorstellen kann. Allein das ist ein Grund, dieses Buch zu lesen.« Bernardine Evaristo

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 177

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Sterling Beckenbauer wird auf offener Straße attackiert und dann verhaftet, ohne etwas verbrochen zu haben. In eine erschreckende und unsinnige Welt gestürzt, nimmt Sterling den Kampf gegen ein im Herzen konservatives System auf.

Ein schillernder, unbändiger Roman, der nicht Geschlechteridentität verhandelt, sondern das Recht auf ein Leben ohne Diskriminierung.

»Die moralische Klarheit, die Waidner mit ununterbrochenem Witz und Einfallsreichtum vermittelt, ist nicht nur bewundernswert, sondern macht diesen Roman auch zu einem Lesevergnügen.«

The New York Times

»Ein provokanter Akt des Widerstands gegen unsere moralisch wenig gefestigte Zeit. Waidner zu lesen ist, als würde man in eine Steckdose voller Sprache und Ideen fassen.«

The Guardian

»Ein Stück geflügelte Originalität«

Ali Smith

© Robin Silas Christian

Isabel Waidner lebt und arbeitet in London. Mit ›Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken‹ gewann Waidner den Goldsmiths Prize 2021 und war mit anderen Werken für den Orwell Prize for Political Fiction 2022 und den Republic of Consciousness Prize 2018, 2020 und 2022 nominiert. Waidner lehrt an der School of English and Drama der Queen Mary University of London. 2020 erschien Waidners Debütroman ›Geile Deko‹ auf Deutsch.

Ann Cotten wurde 1982 in Iowa geboren und lebt in Wien und Berlin. Cottens literarische Arbeit wurde vielfach prämiert, zuletzt mit dem Gert-Jonke-Preis 2021 und dem Hugo-Ball-Preis 2017. Für die Übersetzung von Isabel Waidners ›Geile Deko‹ wurde Cotten 2020 vom Haus der Kulturen der Welt und der Stiftung Elementarteilchen mit dem Internationalen Literaturpreis ausgezeichnet.

Isabel Waidner

Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken RomanAus dem Englischen von Ann Cotten

Das Zitat von Samuel R. Delany stammt aus About Writing: Seven Essays, Four

Letters, & Five Interviews, © 2013. Wesleyan University Press, Middletown CT.

Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber.

Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel ›Sterling Karat Gold‹ bei Peninsula Press, London.

© Isabel Waidner 2021

E-Book 2024

© 2024 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Ann Cotten

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Satz: Fagott, Ffm

E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book 978-3-7558-1007-0

www.dumont-buchverlag.de

Ann Cotten arbeitet seit 2017 mit dem »polnischen Gendering«, eine unter vielen Formen gendersensibler/-gerechter Sprache. Dabei werden alle für alle Gender benötigten Buchstaben in gefälliger Reihenfolge ans Wortende gelegt.

»Bei hochqualitativer Erzählkunst geht es um Geld.«

1

Ganz Camden Town ist ein einziger Stierkampf, den niemand besingt.

Ich bin Sterling. Meinen Vater holte AIDS, meine Mutter der Alkoholismus. Mein Land die Konservativen, meine Sprache PTBS. Hab aber dieses England. Hab diesen Körper, dieses reine Herz.

Heute trage ich ein weißes Fußballtrikot, um die Taille gebunden, rockartig. Ich trage ein rotsamtenes Stierkämpfernnniejackett und einen schwarzen montera, den traditionellen Hut der Stierkämpfernnnie. Gelbe Fußballsocken, schwarze Loafers aus Leder. Vor meiner Wohnung auf der Delancey Street in Camden Town kommen sechs oder sieben wirkliche Stierkämpfernnnie auf mich zu und machen mich an. »Huh«, sagen sie. Mein Kopf bleibt gesenkt. Konzentration auf die Loafers und den vertrauten Tarmac. Noch einmal, »Huh!« Kehliger Laut, den Stierkämpfernnnie benutzen, um die Aufmerksamkeit des kämpfenden Stiers zu wecken. Ich setze meinen Gang fort, den Kopf weiter gesenkt. Sie folgen mir.

Ein torero schwenkt ein rosa und goldenes Umhängchen, einen Stierkampf-Umhang. Rosagold. Rosa. Gold. Rosarosagoldrosagold. Ich verliere die Orientierung. Die Stierkämpfernnnie rempeln mich die Arlington Road entlang, in Mary Terrace hinein, von der Hauptstraße ab. Fühle mich umhergetreten wie ein Fußball.

Mein Vater Franz Beckenbauer spielte für Heimatkaff FC. Er trug oft meine Schwester auf einem Arm und mich auf dem anderen, während er Balltricks übte. Ich habe ihn an Elfmeter verloren, meine Schwester an internationale Migration. Ich verlor meine Mutter an Insolvenz. Verlor den Ball. Holte ihn zurück.

Three Fields Estate umgibt Mary Terrace, die Fenster wie die Augen von ebenso vielen emotionalen Kindern. Im sechsten Stock von Fairfield House ist ein Fenster offen. Man erkennt ein blau-weißes Poster von Karlsruhe SC an der Wand, 2. Bundesliga. Hier unten rosa und gold. Ich attackiere blindlings. Die Stierkämpfernnnie schnippen ihre kleinen Umhänge weg und haben entscheidende Einsichten in mein Abwehrverhalten gewonnen.

Berittenre Picador geht mit einer Stierkampflanze auf mich los. Picador ist einre von zwei Berittenen des traditionellen Stierkampfs, dier den Stier mit einer Lanze anstechen, und auch ein britisches Verlagshaus. Das süße Pferd trägt nicht den peto, jenen matratzenartigen Stoßdämpfer, der mindestens seit den 20er-Jahren Standard ist. Instinktiv recke ich meine Hörner. Ich greife an und treffe das Pferd in die Flanke. Pferd geht zu Boden. Dier abgestiegene Berittene zieht sich eilig zurück. Außer Gefecht gesetzt, geht sier und setzt sich auf die handbetriebene Schranke, die die Estate dem Durchgangsverkehr verschließt. Eien zweitre Picador, auf einerm anderen, ebenso wenig geschützten Pferd, geht auf mich los. Seihrne Lanze trifft mich direkt hinter dem morrillo, dem Muskelkomplex am Nacken des Kampfstiers. Blut. Der Zweck des tercio de varas, der ersten von drei Phasen in einem traditionellen Stierkampf, ist es, die Nackenmuskulatur des Stiers zu schwächen und ihm die Regeln des Kampfes aufzuzwingen.

Liegt es an mir? Habe ich die Gewalt heraufbeschworen, oder habe ich sie nur nicht verhindern können? Meine Jacke, zu viel? Nicht genug? Die Stutzen? Ich kannte einne Schwulne, dier straight aussah wie aus der Gap-Werbung. Wurde trotzdem angegangen. Als stünde Mädchenbluse in riesigen Lettern auf seihrnem neutralen T-Shirt.

Zweite Phase, tercio de banderillas. Drei banderilleros, sogenannte, stechen mit englischen banderillas, mit Widerhaken versehenen Stecken, umwickelt mit den Farben des Georgskreuzes, in meine Schultern. Drei oder vier hängen schon an mir herunter, wie Deko, wie patriotische Haarnadeln. Banderillero nähert sich mit erhobenen banderillas, zielend. Versenkt sie und verdünnisiert sich.

»Foul!«, rufe ich. »Bestechung!« Die Stierkämpfernnnie haben es auf mich abgesehen. »Schiedsrichter, bist du blind? Gelbe Karte?!« Aber leider, kein Schiedsrichter in Sicht.

Kein Freistoß, tercio de muerte – das tödliche Spieldrittel. Matador, Hauptbully im traditionellen Lichtergewand, benannt nach der polierten Deko, wedelt mit einer muleta, einem hölzernen Stock, an dem ein kleineres rotes Tuch pendelt. Ich attackiere, mir stehen nur die grundlegendsten Abwehren zur Verfügung. Der hohlspiegelförmige Körper des Matadors zickt die muleta davon. Ich wende, neuer Anlauf. Wieder hat der Matador die muleta verschwinden lassen, sobald ich sie erreiche. Wir machen so weiter, bis ich erledigt bin. Ich stehe. Meine Zunge hängt heraus. Matador bringt mich in Position. Mit der Spitze nach unten hebt er sein Stierkampfschwert über meinen Kopf –.

Eine Person in Freizeithosen (FZH) und einem Pulli, mit kurzem Haar und hartem Seitenscheitel, geht die Delancey Street herunter mit einem Fußball. Sieht mich, meine Lage. »Hey«, ruft sier, »hey!« FZH rennt in unsere Richtung los, wie wild auf einer Schiedsrichterpfeife tutend. Als sier ankommt, zieht sier eine rote Karte aus der Arschtasche. Zeigt sie, nicht dem Matador, sondern mir.

»Was im Ernst, Schiri?! Ich soll vom Platz gehen?« sage ich. »Unfair!«

FZH schaut mich eindringlich an, ich soll mitspielen. Der Groschen fällt, mir wird ein möglicher Abgang an die Hand gereicht. Ich hebe die Arme – schuldig im Sinne der Anklage – und verlasse das Feld folgend den Regeln des Vereinsfußballs.

Meinem Vater Franz Beckenbauer war es immens wichtig, den Ball in der Luft zu halten. Meine Mutter gab die Fußballmillionen vom Franz aus, und als sie zu Ende waren, gab sie Millionen aus, die Franz nicht hatte. Ich verlor meine Mutter an zwanghaftes Kaufverhalten und meinen Vater an Ballhochhalten. Das war, bevor ich ihn an HIV/AIDS verlor.

Nicht so schnell, die banderilleros blockieren meinen Abgang. Wer habe gesagt, dass ich gehen dürfe? Sie verlangen einen Elfmeter. Matador steht im Tor.

FZH ist einverstanden. Unter der Bedingung, dass das Stierkampfschwert des Matadors gegen den Fußball getauscht wird.

Der Vorschlag wird mit Zögern aufgenommen.

»Wollt ihr den Strafstoß oder nicht?«, fragt FZH.

Widerwillig gibt der Matador das Schwert her und nimmt den Fußball. Legt ihn auf die Elfmetermarke, genau elf Meter von der Schranke entfernt, unserem designierten Tor.

»Bei euch ist niemand im Tor«, fällt dem Matador auf.

FZH erkundigt sich nach Freiwilligen.

»Nicht mich anschauen«, sage ich, »Meine Genetik ist hundert Prozent Mittelfeld.«

»Es ist aber sonst niemand in deinem Team«, sagt FZH. Ich oder ein offenes Tor.

Ich schürze meine gelben Stutzen. Keine Schienbeinschoner. Mit erhobenem Kopf gehe ich an den Stierkämpfernnnie vorbei und stelle mich vor das Tor. Regungslos stehe ich da, während sich die Blicke von Matador und mir verkeilen. Ich blinzle nicht, gebe nicht preis, in welche Richtung ich mich werfen werde. Nichts wird verraten. Ich friere ein, als würden Torpfosten sich nicht bewegen.

Matador geht rückwärts, entfernt sich vom Ball. FZH gibt das Spiel frei, ein kurzer Triller. Schütze rennt los. Ich rühre mich nicht und er schießt den Ball direkt in meine Hände.

Phviet! Abpfiff, phviet-phviet! Spiel vorbei. Unentschieden?! 0:0?

Ich lege den Ball auf den Boden und richte mir mit gemessener Gestik die Stierkampfjacke. Ich richte mir die montera, deren Ausbuchtungen links und rechts den Hörnern eines Stiers nachempfunden sind. FZH und ich kommunizieren mit einem Blick. Wir warten nicht, bis die gegnerische Mannschaft ihre Sinne wieder beisammenhat, um den Ausgang zu diskutieren, wir nehmen die Beine in die Hand. In verschiedene Richtungen. Wir wissen beide ganz genau, dass dies kein Unentschieden war und ganz bestimmt nicht das Spielende. Ganz Camden Town ist ein einziger Stierkampf, den niemand besingt.

»Bull«, sagt Chachki, im Sinn von BS, bullshit. Chachki Smok, eien großre, weißre Schwulre mit brutalem Aussehen, kritisch scharfen Sinnen und einer ausgeprägten Mutterliebe, ist meien bestre Freundni. Wir sind in meiner Wohnung – dem wenig dekorierten oberen Stockwerk eines Bürogebäudes aus den 60- er-Jahren an der Ecke Delancey und Albert Street. Inoffizielle Privatmiete, billig. »Du musst es glauben, Chachki. Stierkämpfernnnie auf Pferden. Kamen die Delancey runter, haben mich in die Arlington reinmanövriert«, sage ich. Chachki lebt mit seihrner Mutter in einem niedrigstöckigen Sozialbau ein Stück die Straße hinunter, auch auf Delancey. Ein Pferd, das an meiner Wohnung vorbeigeht, geht auch an Chachkis Wohnung vorbei. »Stierkampf im Wohngebiet?«, sagt sier. »Überrascht mich jetzt nicht. Es ist die logische Verlängerung des Klassenkampfs, der Anti-Einwanderungspolitik, der transphoben Medien und des staatlich sanktionierten Rassismus.« Ist BS. Ist Camden Town.

Chachki sitzt an der Nähmaschine und verwandelt glänzenden Stoff und etwas Füllmaterial in eine abgeschnittene Steppweste. Beige, was soll daraus werden, wenn es fertig ist. Ich bin blond.

»Was noch«, fragt Chachki.

»Endete unentschieden«, sage ich.

»Sicher nicht«, sagt sier. Unentschieden gibt es nicht bei Stierkämpfen. Ein Stierkampf ist kein Wettbewerb, sondern eine ritualisierte Tragödie. Der Ausgang steht nicht auf dem Spiel; der Stier stirbt immer. Falls, was selten passiert, eien Matador den Todesstoß nicht anbringt, wird der Stier aus dem Ring geführt und bekommt den Gnadenstoß in den Rücken. Also nein, kein Unentschieden.

»Seit wann kennst du dich mit Stierkampf aus, Ki.«

»Immer schon«, sagt Chachki. Im Süden von Polen, wo seihrne Vorfahren herkommen, gibt es eine kleine, aber bedeutende Stierkampftradition. Aber auch wenn sier nicht so viel über Stierkampf wüsste, etwa weil sier noch nie einen Fuß auf den Boden Südpolens gesetzt hat, merkt sier genau, wenn ein Wettbewerb manipuliert ist. Sier weiß, wie es ist, am empfangenden Ende eines Systems zu sein, das sich gegen siehn in Stellung bringt; wie es ist, als Angreiferni, als die Gefahr dargestellt zu werden, obwohl man der anderen Seite komplett unterlegen ist. Ob ich, Sterling, gewusst habe, dass das Ziel einer Walka Byków, so heißt Stierkampf auf Polnisch, darin bestehe, den im Grunde harmlosen Stier durch ritualisierte Bewegungen gefährlich zu machen? Dass die Kunst der großen toreros darin bestehe, die Täuschung zu produzieren, der Stier sei ein ebenbürtiger und würdiger Gegner? Ist sehr fies.

»Sehr«, finde ich auch.

Trotzdem. Der Stierkampf endete unentschieden.

Müde stelle ich mir vor, wie ich hinter der müden indigenen Person auf dem müden Pferd sitze, die auf dem Albumcover von Surf’s Up von den Beach Boys abgebildet sind. Alle drei fallen wir nach vorne – flaschengrüne Figuren, laschgekämpft, vor einem flaschengrünen Hintergrund. Der Unterschied ist, Indigene werden seit 1492 in Amerika genozidiert, ich wurde heute Nachmittag in Camden Town stiergekämpft.

»Probier mal«, sagt Chachki und reicht mir die Steppweste. Mit siebenunddreißig studiert sier im ersten Jahr für einen Modeabschluss in Central Saint Martins. Britisch in zweiter Generation, als erstre aus der Familie an der Uni. Hat angefangen, Wörter zu benutzen wie »toile« und »toiles«, ich sage nichts. Vorhin hat mich Chachki in übergroße violette Hosen und ein schlichtes braunes T-Shirt gesteckt. Ich trage auch einen Gürtel mit einem langen angehefteten Schwanz. Der Schwanz reckt sich in die Höhe, umwickelt von einer minzgrünen Lage Schaumgummi, an der Spitze gekrönt von einer hellbraunen Feder. Riesige, RIESIGE Schaumstoffschuhe, auch minzgrün, mit eingeschnitzten Klauen. Chachki nennt es Pastel Dragons™, ein Designkonzept. Spricht es aus, PAS-TEL DRA-GONS TEE-EMM.

»Da war jemand in einer Freizeithose«, sage ich, in die Weste schlüpfend. Aua, mein Rücken. Tut weh. »Kurze Haare, ein Hauch Seitenscheitel. Drei oder vier Ketten.«

»Halt still«, sagt Chachki mit Stecknadeln im Mund, »ich bin noch nicht fertig.« Sier zieht eine Nahtlinie an der Seite meiner Weste hinunter. Danach holt sier einen noch unberührten Quader aus babyblauem Schaumgummi. Hackt darauf herum. Scheren. »Glaub, ich weiß, wen du meinst«, sagt Chachki. »Rodney irgendwas. Rodney Fadel. Freundesfreundni.«

Rodney Fadel. »Kommt sier zu Cataclysmic Foibles?«

»Hab siehn dort paarmal gesehen. Kommt früh, geht alleine. Aber sozial. Freundlich. Sieht krass gut aus, hot af.«

Mega scharf – kann man laut sagen.

Cataclysmic Foibles ist eine vierteljährliche Serie selbstgemachter Kunstdramen, die Chachki und ich aufführen, hier in meiner Wohnung. Ich bin fürs Schreiben verantwortlich, Chachki für die Kostüme. Es fing als harmloser Scherz an, als spontan inszenierte Performance für fünf Freundnnnie, die einmalig bleiben sollte, wann war es, 2002? oder 03? Man muss sich Chachki und mich in falsch rum angezogenen Jacken und Sportsshorts vorstellen, den minimalen Dialog von einem hastig zusammengeschusselten Skript ablesend. Wir verpassten die Einsätze und machten Fehler. Es ging hauptsächlich darum, in unsere Rollen hinein- und wieder hinauszuschlüpfen – Ziel war nicht, eine überzeugende Fantasie oder Simulation aufrechtzuerhalten, sondern den kleinen Teil der Wirklichkeit, den wir bewohnten, mit Glamour zu versehen. Nachdem wir es schon so lange machen, haben wir dafür in letzter Zeit einen Ruf bekommen und ein gewisses Level an Kompetenz erreicht.

Eine kleine Presseschau:

CATACLYSMIC FOIBLES IST ANTI-THEATER.

100 IN EINER WOHNUNG IN CAMDEN? HINTER DEN KULISSEN BEI CATACLYSMIC FOIBLES.

ERFRISCHEND – Code für »Unterschicht«.

EURO STARS, obwohl Chachki Britnie ist.

Schließlich PERFORMANCEKUNST EINMAL ANDERS, na gut, soll sein, aber was an Cataclysmic Foibles »anders« ist, sein Unique Selling Point (USP), ist uns nicht so wichtig wie das Gemeinsame; was Chachki und mich mit Zeitgenossen wie Linda Stupart und Carl Gent verbindet, deren All of Us Girls Have Been Dead For So Long am Institute of Contemporary Arts in London im Sommer 2019 lief; oder mit Alex Margo Arden und Caspar Heinemann, deren Stück The Farmyard Is Not A Violent Place and I Look Exactly Like July Garland im Cell Project Space in Hackney im Winter 2020 lief; oder was uns innerhalb längerer Traditionen wie dem Poets Theater von Kevin Killian in den USA oder Mojisola Adebayos Afriquia Theatre hier in England positioniert – um nur ein paar zu nennen.

Chachki reicht mir ein Zaumzeug mit Schaumstoffstacheln in Armlänge am Rücken, das ich mir über die Steppweste ziehen soll. »Hast du das Skript?«, fragt sier. Für heute war eine Kostümprobe mit Leseprobe meines in Arbeit befindlichen Skripts geplant.

»Hab ein paar Ideen«, lüge ich. Gar nichts habe ich.

»In drei Wochen steigt Cataclysmic Foibles #40«, sagt Chachki, als ob ich daran erinnert werden müsste.

Mir wird jetzt bewusst, dass dier müde Reiterni auf dem Albumcover von Surf’s Up unter dem linken Arm eine Lanze hält, auf den Boden gerichtet. Von der Seite betrachtet könnte sier leicht als picador durchgehen, oder als Teufel.

Früher hielt ich siehn für den Teufel. Ob dier weiße U.S.-Malerni – oder eigentlich dier Bildhauerni, das Gemälde beruht auf einer historischen Skulptur, The End Of The Trail (1893) – das nun mit Absicht oder unbewusst so gestaltete, die Zöpfe, die über das gesenkte Haupt der Figur baumeln, sehen aus wie ein steifes Paar Hörner. Wisse, dass die magische Erscheinung von Hörnern, die Anrufung teuflischer Art, in Bezug auf Indigene und PoC niemals absichtlich stattfindet, wenn sie stattfindet. Hörner?! Welche Hörner? Das sind nur zwei Native American Zöpfe, die über das Haupt ders Native Americans hinüberhängen! Ich war es, dier sich zu dem Gedanken verirrt hat! Mein verdrehter Kopf! Es wäre besser, wenn ich aufhörte, mir Sachen einzubilden, und die Kunst in Ruhe ließe.

Aber mach ich nicht, die Kunst in Ruhe lassen. Wenn ich einen Teufel sehe, dann, weil dier Bildhauerni derm Reiterni Hörner gab.

Dieselbe scheinbar besiegte Reiterfigur, Zöpfe kopfüber hängend wie die Hörner eines Teufels oder eines Kampfstiers, wird im Gemälde The End Of The Trail (1976) von Robert H. Colescott abgebildet. Aber Robert H. Colescott hat dien Indigenen Reiterni als Schwarzne gedeutet, in hoch geschnittenen weißen Herrenslips und klassischen weißen Converse All Stars Trainingsschuhen. Ins Auge fällt einerm das breite Lächeln ders Schwarzen Reiternis. Aus der Erschöpfung und der Niederlage sieht sier derm Betrachterni direkt ins Gesicht hoch, mit einem Glitzern in den Augen, und man kann es nicht anders sagen, sier GRINST TEUFLISCH VERGNÜGT. Als sagte sier »BOO!«, »ERWISCHT« und »Habt wohl gedacht, ich krepiere? Nope, ich habe Tricks!« Sier kann der Teufel sein, der sier sein soll, wenn es nach euch geht – scheint sier zu sagen. Es heißt Reklamation und ja, es ist eine Drohung. Auch sier ist mit einer Lanze bewaffnet.

Chachki sitzt wieder an der ramponierten Singer-Maschine, jetzt das eigene Kostüm niederringend: Eine Variation auf meine violetten Hosen, die sich ausweiten und dann zuspitzen, auf dem Weg das Bein hinunter, und eine Puffweste im Zwillingslook. An der Stelle der Schaumstoffgummizacken sind bei dieser Weste scharf zugespitzte violette Drachenflügel am Rücken angebracht.

Während ich auf Chachki warte, schaue ich aus dem Fenster. Ich erspähe meinen Matador, oben auf der Delancey Street unter einer Straßenlaterne. Der berittene Schlägerkapitän, so tuend als wäre er ein Picador wie jedre anderre.

»Chachki, komm mal her«, sage ich.

»Einen Moment«, sagt Chachki, sier muss nur schnell, diese Stelle hier, erledigen. Igitt!

Der Matador im Lichteranzug und ich in meiner glitzigen Steppweste, man würde uns doch für beste Freundnnnie halten. Ist er alleine? Kann ich nicht sehen. Ich mache das Fenster auf, um besser sehen zu können.

Der Fußfall lenkt mich ab. Vater? Franz Beckenbauer? Nicht Fußball. Fußfall. Klick klack. Es ist die schwarze Ausbruchfigur aus dem Gemälde von Robert H. Colescott, die Arlington Road hinunterreitet und in Delancey einbiegt. Trägt klassisch die weißen Herrenunterhosen und weißen Converse All Stars. Schaut hinauf zu meinem Fenster und wirft mir dieses Lächeln zu –.

1967 planten die Beach Boys, ein Konzeptalbum unter dem Titel SMiLE (Arbeitstitel Dumb Angel) herauszubringen. Es wurde nie fertiggestellt. Nach dem Plan von Brian Wilson sollte SMiLE die Einflüsse früher Americana, von Cowboyliedern, Barbershop, Feldaufnahmen, Romantischer Dichtung, Soundtracks von Disney und der aufkommenden psychedelischen Bewegung vereinen zu einer Teenagersymphonie als musikalisches Gottesopfer. Aber irgendwo auf dem Weg verlor Wilson die Orientierung und konnte sein ehrgeiziges Projekt nicht realisieren. Die Deadline im Januar verstrich, dann wurde das Release-Datum wiederholt verschoben, während er Tausende Stunden aufgenommenes Material wieder und wieder arrangierte, ohne sich für eine endgültige Version entscheiden zu können. (Analoges Editieren bedeutete, die Magnetbänder zu zerschneiden und wieder zusammenzukleben, eine aufwendige und nur sehr eingeschränkt umkehrbare Arbeit.) Die ganze Zeit fiel Wilson mental auseinander. Er litt unter paranoiden Wahnvorstellungen und glaubte, dass der Track »Fire« den Brand eines nahe gelegenen Gebäudes ausgelöst habe. Als Vorsorgemaßnahme bestand er darauf, dass alle Bandmitglieder während der Aufnahmen Feuerhelme trugen. Als sein Manager sein Porträt malte, glaubte er, dass es im wörtlichen Sinn seine Seele gefangen nahm. Die Grenze zwischen Fantasie und Realität war für Brian Wilson verrutscht, es war traurig.

Lange ruht mein Auge auf Robert H. Colescotts Reiterni draußen auf der Straße.

Unbeirrt überquert sier die Straße in Richtung des Horizonts von Delancey. Seihrne Augen fallen auf den Matador, sier hebt leicht die Lanze. Nimmt sier es mit ihm auf? Im Ernst? Ich sehe seihrn Milliarden-Watt-Lächeln nicht, aber ich weiß, dass es dort ist.

466000 Kopien des offiziellen Klappcovers von SMiLE wurden 1967 gedruckt, wer weiß, was mit ihnen passierte, als die Platte abgesägt wurde. Der Bezug zum Titel war so subtil, dass man zweimal hinschauen musste: Die Zeichnung, die auf einem verlassenen Schmuckgeschäft in Pasadena, Kalifornien, beruhte, war voller unscheinbarer Lippen – verwehter Lächeln – als Glücksbringer, auf gepolsterten Auslagenständern in Kubus- und Pyramidenform, auf Gemälden hinter den Kassen und verteilt über eine Markise vor dem Geschäft, alle leicht zu übersehen. Es war der Bootleg der 1980er, der zum ersten Mal die prominente Karikatur eines Grinsens über einer Geschäftsfassade einführte, wie eine halbe Desbutal-Tablette, am Rücken liegend. Provokativ, entblödet, als würde es sagen: Warte-drauf; Es-kommt-was-auf-dich-zu.

Colescotts Reiterni nähert sich der Höhe der Delancey Straße. Die Lanze fällt in die Offensivposition. Der Matador nimmt dies als Zeichen, sich derm Reiterni zu nähern, langsam, bedrohlich. Auch er hebt die Lanze.

»Chachki«, sage ich noch einmal, dringend. »Komm und schau dir das an.«

»Augenblick«, sagt Chachki, der linke Flügel will nicht da bleiben, wo er soll. Polnische Flüche.