Vienna's Secrets - Roland W. Tschische - E-Book
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Roland W. Tschische

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Beschreibung

Was würdest du tun, wenn dein liebster Mensch plötzlich spurlos verschwände? Würdest du nicht Himmel und Hölle in Bewegung setzen? Dein Albtraum aber wird wahr, wenn jene, von denen du Hilfe erwartest, deine Gegner sind. Der charismatische, aber unerfahrene Privatdetektiv Andorian van Anders wird beauftragt, eine vermisste Studentin zu suchen. Das Ausmaß dieses Falls kann er nicht im Mindesten erahnen. Auch die härteste Kommissarin des Wiener LKA, Danny Friedmann, wird plötzlich in die Geschehnisse involviert. Kann es diesem ungleichen Ermittlerpaar gelingen, den Fall zu lösen? Finde es heraus! Der spannendste Newcomer des Jahres verspricht einen Abstieg in die tiefsten und dunkelsten Abgründe Wiens. Bist du mutig genug? Klicke auf den Kaufbutton und begleite Andorian und Danny! Kämpfe mit ihnen gegen einen schier unüberwindbaren Gegner!

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Ähnliche


Roland W. Tschische

Vienna's Secrets

Privatdetektiv Andorian van Anders ermittelt am Tatort Wien. Ein Krimi

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Roland Werner Tschische

Vienna's Secrets

© 2022 Roland Werner Tschische

Lastenstraße 23

1230 Wien

Illustration (Cover): Sonja Huber, www.diehuber.at

Umschlagmotiv unter Verwendung von

© Tobias Stonjeck/unsplash.com (Himmel);

© Sandro Gonzalez/unsplash.com (Hofburg);

© RonnyDesign/freepik.com (Blut)

Lektorat/Korrektorat: Mag. Nora PAUL, www.silbenfluss.at

Druck und Vertrieb im Auftrag des Autors: Tredition

ISBN PB: 978-3-384-04884-4

ISBN EB: 978-3-384-04885-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Für meinen geliebten Sohn

Timo Leon

2003–2022

Prolog

Die Schwärze, die sie umgab, war allumfassend. Sie tastete mit ihren Fingern vorsichtig umher, erkundete ihre Umgebung wie kleine Ameisen, die sich auf die Suche nach Nahrung machten, etwa einem vergossenen Tropfen Honig auf der Terrasse. Vorsichtig die Umwelt sondierend, tastend. Ihre Nahrung war das Licht. Sie hungerte nach Licht … und Luft … Das Atmen fiel ihr schwer. Die Dunkelheit lag wie ein tonnenschwerer Stein auf ihrer Brust. Die Finger ertasteten Holz. Rechts und links von ihr. Raues Holz, grob geschnitten. Ihr Hirn schickte den Befehl an ihre Zehen, sich eben-falls umzusehen. Das Ergebnis war das Gleiche. Jede Bewegung war unmöglich.

„Eine Kiste, ein Sarg, lebendig begraben“, schoss es ihr durch den Geist und sie merkte, wie sich eine Träne aus ihrem linken Auge löste und wie ein zu langsames Insekt kitzelnd an ihrer Schläfe Richtung Ohr lief. Ihre Zunge klebte an ihrem Gaumen. Durch rhythmische Kontraktionen ihrer Zungenmuskulatur versuchte sie ihre Speicheldrüsen zu aktivieren, um etwas Flüssigkeit in die Mundhöhle zu pumpen. Es gelang nicht. Nicht weil es keinen Speichel mehr gab, sondern weil jede Bewegung schmerzte, als ihre Zunge über schroffe und scharfkantige Zacken fuhr, die einst ihre Zähne gewesen sein mussten. „Achte auf deine Zähne, sie sind dein Aushängeschild!“, hatte ihre Großmutter ständig gepredigt. Sie hatte sich täglich bemüht. Ihr Atem roch sauer. Aber nicht nur, da war noch etwas anderes mit dabei. Es erinnerte sie an den Geruch des alten Eisenwarenhändlers bei Regen, den sie immer passieren musste, wenn sie zur Schule ging. Blut, es musste Blut sein. Ihre Brust begann zu beben. Ihr Atem ging schnell. Panik setzte ein. Tränen quollen aus den Augen, Schweiß drang aus jeder Pore.

In seinen Mails war immer gestanden, sie solle ein fliederfarbenes Kleid tragen, es würde gut zu ihren Haaren passen. Er war so zuvorkommend gewesen, so höflich, ein wahrer Kavalier. Das leichte Hinken seines Beins hatte sie gar nicht gestört. Es hatte ihn interessant gemacht. Sie war zu höflich, um es zu bemerken, und er lächelte verschmitzt, weil er dies erkannte. Er führte sie ins Imperial am Kärntner Ring aus. Gute Gespräche, sehr eloquent und stilvoll. Der Wonnemonat Mai. Sie fühlte sich so wohl in seiner Nähe. Ganz anders als sonst in der Gegenwart von Männern. Seine Augen waren betörend, sein Lächeln charmant und ansteckend. Verlegene Blicke, mit der Hand die Haare hinters Ohr streifend, zufällige Berührungen mit den Fingerspitzen. Mit ihm wollte sie es tun, er hätte nicht erst schmeicheln und flirten, sie mit Geschenken und Blumen oder feinen Restaurants verführen müssen. Er roch gut und seine Hände waren immer fein und manikürt. Dann hatte er sie geholt. Wie ein Monster, das in der Nacht durch das offene Fenster krachte.

Ihr Geist sagte ihr, dass solche Dinge immer nur anderen passierten. Aber sie passierten. Nur nicht einem selbst. Irgendwo in ihrem Geiste lauerte eine Schwere, die sich ihrer Lider zu bemächtigen drohte. So sehr sie auch dagegen ankämpfte, sie drückte ihre Augen zu. Und ihr Verstand zog die Notbremse. Sie glitt ab in eine dumpfe und beklemmende Ohnmacht.

Geräusche. Dumpfe Laute, Scharren, dann Gelächter. Gelächter? Die Realität öffnete sich langsam und schwerfällig wie das Bild eines alten Röhrenfernsehers. Sie sah Füße, mehrere Füße. In Schuhen. Kerzenschein. Sie sah Gesichter, mehrere Gesichter, Männer, viele Männer und das charmante Gesicht mit dem hinkenden Bein. Es kam auf sie zu, das charmante Lächeln, löste sich aus der Gruppe der grauen Schemen, klein und unnahbar stand es vor ihr, wie durch einen kilometerlangen Tunnel beobachtet. Sie versuchte, sich zu bewegen. Sie hing. Sie hing wie Leonardo da Vincis vitruvianischer Mensch, einem X gleich, fixiert an Ketten, an einer Wand, ihre nackten Füße auf groben Holzklötzen. Überall Plastikfolie am Boden. Sie sah wie durch ein umgekehrtes Fernglas das charmante Gesicht auf sie zukommen. Worte dröhnten in ihren Ohren, die sie nicht verstehen konnte, überdeckt von ihrem rauschenden Blut, verzerrt wie ein schlecht eingestellter Radiosender.

Sie wusste, dass sie sterben würde, als er mit einem Teppichmesser ihr Kleid, jenes Kleid, das er sich so oft gewünscht hatte, von oben nach unten aufschlitzte.

10. August

„Every thing’s gonna be alright boys, help is on the way

Hold your head up high now, there’s no need to cry now

We’re not running anymore…“

(Home of the Brave – Toto; © David Paich, Jimmy Webb, Joseph William, Steven Lukather, 1988)

Der Text von Totos Protestsong „Home of the brave“ knallte wie jeden Tag als Weckton durch das Soundsystem im Schlafzimmer und ließ Andorian van Anders auffahren. Die Klänge des Schlagzeuges hallten von den mit Stuck verzierten Wänden der Jahrhundertwendevilla wider, die in einem mit feinstem englischem Rasen gepflegten Garten in Wiens Nobelbezirk Hietzing stand. Andorian, der achtunddreißigjährige Milliardärssohn, erhob sich aus dem Bett. Dies tat er mit einem geschmeidigen Sit-up. Jemand hatte ihm einmal gesagt, dass dies ein Anzeiger für das fortschreitende Alter sei. „Wenn du nicht mehr mit einem Sit-up von der Matratze hochkommst, bist du offiziell alt oder zu fett oder beides!“ Er ließ sich fallen und begann sein morgendliches Sportprogramm abzuspulen. Liegestütze, Crunches, ein paar Klimmzüge an der extra dafür angebrachten Stange. „Mens sana in corpore sano“ lautete sein Motto. Sein japanischer Privatlehrer hatte dieses wohl in jeder Kultur dieser Welt bekannte Sprichwort immer und immer wieder gepredigt. Ein gesunder Geist wohnt in einem gesunden Körper. Wer sollte da schon widersprechen. Nach der täglichen halben Stunde der körperlichen Ertüchtigung widmete sich van Anders der Körperpflege, natürlich aus zuvor genannten Gründen. Er war in Japan sozialisiert worden, dem Land der Rituale und Strukturen. Seine Füße schlurften über das Ebenholzparkett in Richtung Badezimmer. Die klare Stimme Bobby Kimballs aus den Lautsprechern begleitete ihn und sorgte noch immer für wohlige Schauer, auch in der tausendsten Wiederholung dieses Songs. Aus seinem Spiegel blickte ihm ein stattlicher junger Mann entgegen, etwa zwei Meter groß, athletisch, aber durchaus noch ausbaufähig. Andorian hatte keine Probleme mit der Selbstdisziplin. Sein natürlicher dunkler Hautton war der italienischen Urgroßmutter zu verdanken. Ebenso sein langes und lockiges Haar. Andorian van Anders war Single. Nicht überzeugter Single, aber er war von Grund auf misstrauisch. In den Anfangszeiten hier in Wien, als er als junger Mann reich und ungebunden und ohne Verantwortung aus Japan zurückgekehrt war, hatte alle Welt sein Freund sein wollen. Er hatte in seiner weltoffenen Art jedem sein Haus geöffnet und wurde dabei schamlos ausgenützt. Irgendwann, etwa ein Jahr später, besann er sich auf seine Erziehung, beendete die Ausschweifungen schlagartig und zog sich in eine Art Schildkrötenpanzer zurück. Seitdem hatte er eine Handvoll Menschen um sich, denen er bedingungslos vertraute. Er war für sie da und sie für ihn.

Andorian hatte nicht viele Schwächen, keine Drogen, kein Nikotin, Autos vielleicht, Motorräder, eventuell, na ja, noch ausgefallene Klamotten, selbst designt, und weiße Schokolade, ja, weiße Schokolade. Sonst nichts. Und vielleicht Frauen, die sich von gängigen Internetklischees abhoben, keine Hungerhaken, kräftiger gebaut, Plus-Size eben. Er verstand sich auch als Plus-Size. In so ziemlich jeder Lebenslage. Er schmunzelte beim Gedanken an viele Erinnerungen mit solchen Frauen und öffnete die Tür zu seiner Regendusche.

Der Eintritt in die Realität erfolgte etwa dreißig Minuten später. Dies wurde unterstützt durch eine lange Wechseldusche und einen Schuss Vetiver auf seinem Oberkörper. Dieser Duft weckte sämtliche Lebensgeister. Andorians starke feminine Persönlichkeits-hälfte trieb besonders in seinem Kleiderkasten bunte Blüten. Van Anders hasste Eintönigkeit. Er hasste die beige, graue, blaue Männermode. Bevorzugte stattdessen mit Leib und Seele alles Bunte. Nicht schrill, aber bunt. Vor vielen Jahren schon hatte er es aufgegeben, Mode für seinen Geschmack in den Boutiquen finden zu wollen. Stattdessen war er dazu übergegangen, alles seinem Körper und seinen Ansprüchen entsprechend maßschneidern zu lassen. Sein Schneider war ein talentierter Perser, der eine kleine Werkstatt im Stadtteil Währing betrieb. Er hatte ihn durch Zufall kennengelernt. Anfangs war Ahmad irritiert gewesen, als ein Hüne von fast zwei Metern Größe rosa Hemden mit hellblauem Paisley an Ärmeln und Kragen sowie Jeans in Flamingorosa von ihm haben wollte. Nach einigen Wochen schon zog er nicht mehr seine Augenbrauen hoch. So stand van Anders nun in seinem Kleiderkasten, der einem Regenbogen glich. Seine Haushaltshilfe Maria, ein Segen von einem Menschen, machte sich einen Spaß daraus, seine Hemden und Hosen nach Farben sortiert auf die Stangen zu ordnen. Links Hemden, Hosen, Wäsche, rechts die passenden Gürtel und Schuhe und Eau de Toilette, das er direkt vom Hersteller in Literflaschen bestellte. Maßgefertigt versteht sich. Er war eine Prinzessin und er wusste es. Und es war ihm egal. Er hatte keine Schwächen.

In maßgeschneiderte Jeans und ein Hemd gehüllt, das ebenso individuell wie ausgefallen war, trabte van Anders über die geschwungene Marmortreppe seines zweiundzwanzig Zimmer umfassenden Domizils in das Erdgeschoss, wo die Küche lag. Früher war es oft vorgekommen, dass er bei dieser Gelegenheit zu Tode erschrocken war, weil dort bereits Menschen gesessen waren und sich an seinem Kühlschrank bedient hatten. Menschen, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Die als übel riechender Wurmfortsatz einer Hausparty hier überdauerten, weil seine Vorräte an Spirituosen, vornehmlich Rum und Gin, niemals zu Ende zu gehen schienen. Sie begrüßten ihn mit „Hey, Alter, was geht!“, was in ihm meistens den Drang auslöste, sich umzudrehen, zurück ins Bett zu verschwinden und am nächsten Tag nochmals wiederzukommen. Diese Hauspartys waren sein, wie gesagt, fast einziges Laster, aber etwas, das er gewissermaßen nicht unter Kontrolle hatte. Meist begann es im kleinen Kreis mit einer Partie Billard und endete mit einhundertfünfzig Menschen in seinem Haus, von denen er gut sieben Achtel nicht kannte. Am Tag danach hatte er sich immer dafür gehasst. Verhindern hatte er es trotzdem nicht können.

Jetzt war es aber schon seit einigen Jahren still. Welch ein Genuss! Auf der Anrichte lag sein Smartphone. Sechsunddreißig versäumte Anrufe. Wie lange hatte er geschlafen? Vier Wochen? Er forschte nach. Das Lösen der Bildschirmsperre offenbarte das schlichte Wort Büro als Verursacher des Telefonterrors. Isa, seine Sekretärin, hatte wohl den Finger auf der Wahlwiederholung. Er schaltete die Kaffeemaschine ein und äußerte auf dem Touchdisplay den Wunsch: Latte macchiato. Gurgelnd erwachte der elektronische Barista zum Leben und sendete Schockwellen aufregenden Kaffeeduftes an Andorians Gehirn. Er blickte sich um, warf einen Blick über die Terrasse in seinen Garten, griff versonnen nach seinem Telefon und wählte die Nummer des Büros. Nach dem zweiten Wählton meldete sich eine freundliche Stimme, die mechanisch verkündete: „Detektivbüro Andorian van Anders, derzeit sind alle unsere Leitungen besetzt und unsere Mitarbeiter mit dringenden Anfragen beschäftigt. Sofort nach Freiwerden einer Leitung …“ Das Schnarren der Ansage wurde jäh von einer weiblichen Stimme unterbrochen.

„Wo bist du, Andorian? Du solltest längst hier sein, eine Klientin sitzt in deinem Büro und wartet. Sie will sich auch nicht ab-wimmeln lassen. Weißt du, wir haben Öffnungszeiten. Laut Google von neun bis achtzehn Uhr, und zwar an fünf Tagen die Woche.“

„Hi, Isa, ich mache mich auf den Weg. Erzähl ihr, ich hätte einen wichtigen Notfall, irgendeine Geschichte! Ich setz mich ins Auto und komme sofort, in vierzig Minuten bin ich da. Ruf im ‚Kameel‘ an, die sollen Kaffee und Brötchen liefern!“

Isa entgegnete: „Wird gemacht! Bis gleich, Boss!“

Dann wurde eingehängt. Er nahm einen Schluck und ließ sich vom Hauslift in die Garage bringen, um in seinen rosafarbenen 1959er-Cadillac Series 62 Convertible zu steigen. Eine Fernbedienung ließ surrend das Verdeck zurück und das Rollgitter zur Garage hochfahren. Er trank seinen Kaffee aus und stellte die Tasse auf die Werkbank in der Garage. Dort standen schon vier Tassen. Gott sei Dank kam Maria heute wieder und alles würde sauber sein, glänzen und gut duften, wenn er abends wieder heimkam. Er drehte den Zündschlüssel im Schloss, der mächtige Achtzylinder erwachte zum Leben und gurgelte langsam durch das Tor auf die Straße.

Andorian war Privatdetektiv, nicht weil er das Geld brauchte, sondern aus Leidenschaft, aus Lust und romantischen Beweg-gründen. Zuerst hatte er es mit der Polizeischule versucht, aber sehr schnell gemerkt, dass ihm das alles viel zu straff und militärisch organisiert war. Schließlich suchte er nicht nach einer Arbeit, sondern eine fordernde Beschäftigung, ein anspruchsvolles Hobby gewissermaßen. Seine Eltern hatten ihm so viel Geld vermacht, als sie bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, dass er es in sechs Leben nicht hätte ausgeben können, egal wie sehr er sich bemühte. Es hatte ihn jedoch abgeschreckt, Tag für Tag zuhause zu sitzen, sich wie weite Teile des Jetsets im Konsum und in Partys zu ergehen und immer depressiver zu werden, weil die Aufmerksamkeit und die Zahl der Follower auf Instagram und anderen Social-Media-Plattformen dahinschmolz, wenn man nicht regelmäßig Skandale produzierte. Andorian waren diese hohlen Gestalten zuwider.

So hatte er sich, motiviert durch die Geschichten von Sherlock Holmes und natürlich den aus seiner Kindheit stammenden „Drei Fragezeichen“, entschlossen, ein Privatdetektivunternehmen zu gründen. Er war ein Kassettenkind. Sein Vater hatte ihm von jeder seiner Geschäftsreisen ein neues Abenteuer der jungen Detektive aus Rocky Beach mitgebracht. Alle dafür vorgesehenen Ausbildungen hatte er gemacht. In seinen Vorstellungen gestaltete sich dieses Leben romantisch, voll verzwickter Fälle und aufregender Verfolgungsjagden durch die Altstadt von Wien oder an fernen Orten, die vor Abenteuer nur so trieften. Die Tatsache aber war, sein berufliches Leben bestand aus Männern und Frauen, die ihre Ehepartner bespitzeln lassen wollten, im Verdacht, betrogen zu werden. Ab und zu, meistens um die Weihnachtszeit, wurde er von einem größeren, sehr noblen Einkaufshaus in der Wiener Kärntner Straße gebucht, um Ladendiebstähle zu verhindern beziehungsweise aufzuklären, denn auch die eine oder andere Societyschnecke entblödete sich nicht, den Versuch zu starten, eine Louis-Vuitton-Tasche in einer mitgebrachten Tasche des Konkurrenzdesigners aus dem Geschäft zu schmuggeln. Nach dem Motto: „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“ Solche Menschen widerten ihn an.

Sein Vater, ein milliardenschwerer Großindustrieller, hatte ihm immer gepredigt: „Du kannst nicht Kaviar essen, wenn andere nur Brot haben. Entweder isst du auch Brot oder du sorgst dafür, dass alle Kaviar essen können.“ Diese Glaubenssätze, die in seiner Kindheit und Jugend tausendfach repetiert worden waren, hatten sich so in Andorians Geist festgesetzt, dass ihm eine tief verwurzelte Bescheidenheit inne war, obgleich dies natürlich nach außen hin kaum sichtbar war. Wo immer er konnte, handelte er wohltätig und bot auch seine Dienste für einen sehr bescheidenen Lohn an, den er ausschließlich seiner Sekretärin Isa neben ihrem großzügigen Gehalt als Bonus zur Verfügung stellte.

Die ersten zweiundzwanzig Jahre seines Lebens hatte er auf der Insel Hokkaido in Japan verbracht, quasi im Ursprung aller Bescheidenheit. Sein Privatlehrer Kenjiro Kashida hatte, sowohl durch seinen humanistischen Unterricht als auch durch seine Unterweisung in der Kampfkunst Aikido, die einen friedfertigen Lösungsweg predigte, aus ihm das gemacht, was seine Großmutter als „guten Buben“ bezeichnet hatte. Jemand, der zuerst an andere und dann erst an sich selbst dachte.

Nach der prophezeiten Fahrzeit bog er mit seiner offenen Limousine in die Tiefgarage in der Weihburggasse ein. Wenige Augenblicke später stand er vor Isa, der Vorzimmerdame, Sekretärin, Managerin, Beichtschwester, Freundin, dem Mädchen für alles. Hinter ihrer keck auf die Nasenspitze gerutschten Brille mit Goldrand hob sich die linke Augenbraue, was in ihrem Sprachcode ungefähr bedeutete: „Wir haben einen Ruf zu verlieren, jetzt aber flott ans Werk!“ Dann nickte sie in Richtung seines Büros. Er lächelte gewinnend und bat sie, voranzugehen. Sie öffnete die Bürotür, blieb in der Tür stehen und sagte: „Frau Bergmüller, dies ist Andorian van Anders. Ich lasse Sie nun allein und danke Ihnen für Ihre Geduld!“

Dann drehte sie sich um und stöckelte davon.

Sein Büro war ein großer, hoher und heller Raum von etwa achtzig Quadratmetern. Drei große Fenster warfen das Licht des Tages ins Innere. Schwere Ölgemälde, die seine Eltern in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens zeigten, hingen an den Wänden. Ein dicker Teppich vermittelte den Eindruck, auf Watte zu gehen. Links seines Schreibtisches hingen verschiedene japanische Schwerter, sogenannte Katanas, Langschwerter der Samurai, und Wakizashis, die Kurzschwerter. Er war ein Aikido-Großmeister, sein Lehrer hatte ihn bis zum fünften Dan geführt.

Andorian räusperte sich, verbeugte sich leicht, wie er es in Japan gelernt hatte, und sagte: „Guten Tag, es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Bitte verzeihen Sie die Verzögerung meines Eintreffens. Manchmal erfordert mein Beruf Überstunden zu ungewöhnlichen Zeiten. Aus diesem Grunde habe ich nach einer sehr kurzen Nacht heute verschlafen. Ich hoffe, meine Assistentin hat Ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich gemacht.“

Christiane Bergmüller lächelte gezwungen, ein höfliches, aber unechtes Lächeln, ein „Kein-Problem-Lächeln“. Andorian glitt um seinen Schreibtisch herum, wies Frau Bergmüller einen Platz auf dem schweren Lehnstuhl zu, der dem Schreibtisch gegenüberstand, und ließ sich selbst in den schweren dunkelgrünen Bürostuhl fallen, der hinter seinem schweren, aus alten Schiffsbrettern gezimmerten Schreibtisch stand. Er war ein großer Fan von Vintage- und Upcycling-Gegenständen für den Alltag.

„Wie darf ich behilflich sein, geschätzte Frau Bergmüller?“, fragte er aufrichtig interessiert, in Erwartung der nächsten ins Haus stehenden Scheidung.

Sie sah betreten zu Boden, rang sichtlich um Fassung, atmete tief durch und öffnete den Reißverschluss ihrer Handtasche. Ein Foto in einem Rahmen kam zutage, ein Rahmen, der irgendwo auf einem Nachtkästchen gestanden war, in dem ein längst verloschener Moment für die Ewigkeit gebannt worden war, ein geliebter Mensch, ein Haustier, eingefangen in einem maschinell gefertigten Raum. Sie drehte den Rahmen um und sagte: „Herr Anders, es geht um meine Tochter. Sie ist fünfundzwanzig. Ihr Name ist Ariane, sie studiert hier in Wien. Ihre ganze Leidenschaft ist die Juristerei, sie steht kurz vor ihrem Abschluss in Rechtswissenschaften. Sie studiert sehr erfolgreich, bis dato ohne Zeitverlust. Wir stehen einander sehr nahe seit dem Tod ihres Vaters vor einiger Zeit. Das hat uns zusammengeschweißt. Wir haben täglich Kontakt zueinander.“

Van Anders nickte und gab zustimmende Laute von sich, die ein aktives Zuhören suggerierten.

„Vor etwa sechs Monaten wurde der Kontakt weniger. Seit zwei Wochen ist er völlig weg. Kein Anruf, keine Zeile mehr. Das ist sehr atypisch für mein Kind.“

Er nickte, blickte Frau Bergmüller ins Gesicht und sagte: „Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass sich Ihre Tochter, ohne Sie zu informieren, auf Reisen begeben hat? Das wäre doch ein plausibler Grund für ihre Abwesenheit.“

Christiane Bergmüller schüttelte energisch den Kopf. „Nein, das hätte sie niemals getan. Es war ein stilles Abkommen, dass wir immer voneinander wussten. Sie hat es mir sogar gesagt, wenn sie bei ihrem langjährigen Freund in der Wohnung übernachtete. So ein Verhalten hat es noch nie vorher gegeben. Für mich besteht kein Zweifel, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Sie würden mir sofort recht geben, glauben Sie mir, wenn Sie unser bisheriges Verhältnis kennen würden. Ich habe sie auch schon der Polizei als vermisst gemeldet, möchte aber alle Eventualitäten ausschöpfen, daher komme ich zu Ihnen! Bitte finden Sie meine Tochter!“

Sie reichte mit zitternden Fingern das Bild über den breiten Tisch und seufzte dabei auf. „Ich bin mir sicher, das geht nicht mit rechten Dingen zu!“

Andorian drehte den Rahmen und blickte in das Gesicht einer sehr hübschen jungen Frau. Eine voluminöse naturrote Mähne umrahmte ebenmäßige Züge mit hoch liegenden Wangenknochen, vollen Lippen und einer schönen, symmetrischen Nase, eingebettet in ein mit Sommersprossen übersätes, gleichmäßig dunkel pigmentiertes Gesicht. Das Highlight in diesem Gesicht allerdings waren stechend grüne Augen. Sie lächelte und entblößte dabei natürlich weiße Zähne. Die Ehrlichkeit in diesem Schnappschuss wurde bestätigt durch die unzähligen kleinen Fältchen rings um Augen und Mundwinkel. Diese junge Frau hätte definitiv auch von einer Vanity Fair oder einem Vogue-Cover lächeln können.

„Es sind die Augen!“, sagte Frau Bergmüller. „Es sind immer die Augen!“

Andorian bemerkte, dass sein Mund offen stand, hüstelte und spürte, wie ihm sein unprofessionelles Verhalten eine leichte Röte ins Gesicht trieb. „Sie ist unglaublich hübsch … und ja … Sie haben recht, die Augen sind bestechend!“

Frau Bergmüller nickte und lächelte traurig. „Wissen Sie, sie hat so viele Verehrer an der Uni und trotzdem war sie so standhaft, so fokussiert auf ihr Studium. Sie war nicht abgehoben oder gar arrogant. Und …“ Sie machte eine Pause. „… eine treue Seele. Bis Weihnachten letztes Jahr ist sie noch jedes zweite Wochenende nachhause gekommen, um bei mir zu sein. Wir leben in Krems an der Donau. Dann hat sie der Endspurt im Studium zu sehr in Anspruch genommen. Sie ist auch jetzt über die Sommerferien in Wien geblieben, um zu lernen, da im September gleich drei wichtige Prüfungen anstehen. Aber telefoniert haben wir jeden zweiten Tag. Oft nur ganz kurz, aber doch. Wir haben einander gehört.“

Andorian hörte konzentriert zu. „Frau Bergmüller, wann hat die letzte Kontaktaufnahme stattgefunden?“

„Sie rief mich am Freitag vor zwei Wochen an. Wir hatten ein kurzes Telefonat. Sie sagte, dass sie bis über beide Ohren in Arbeit stecke. Sobald es etwas leichter gehe, komme sie wieder nachhause. Und sie sagte noch, dass sie dies hoch und heilig verspreche. Ganz nebenbei, und das erstaunte mich doch sehr, sagte sie, dass sie sich von Christof getrennt hat.“

„Warum war das erstaunlich für Sie?“

„Nun, es war erstaunlich, weil sich die beiden erst im November des letzten Jahres verlobt hatten. Ich habe aber nicht weiter nachgefragt, weil mir dies als indiskret erschien. Vielleicht hätte ich es tun sollen. Wer weiß, was dahintersteckt.“

Christiane Bergmüller blickte zu Boden und schluchzte. „Seitdem ist Funkstille, nichts mehr, kein Ton mehr und auch keine Reaktion auf meine Anrufe. Wenn sie nicht normalerweise funktionieren würde wie ein Uhrwerk, hätte ich mir keine Gedanken gemacht. Drei Tage hab ich‘s ausgehalten, dann habe ich in der WG an-gerufen und bei ihrem Freund, Christof Neubauer. Nichts, keine Spur. Also habe ich es mit der Angst bekommen. Gestern habe ich die Polizei informiert und heute bin ich bei Ihnen.“

„Gut, ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen“, sagte van Anders. „Ich würde mir gern einen Abzug des Fotos machen, wenn das okay ist. Danach habe ich noch ein paar Fragen.“

Er zog sein Telefon heraus, nahm das Bild aus dem Rahmen und fotografierte das Gesicht der jungen Frau. „Wer ist seitens der Polizei für den Fall verantwortlich?“

„Die Anzeige hat ein Revierinspektor Kramer im Wachzimmer Wattgasse aufgenommen. Ich bin dort hingegangen, weil die Wohn-gemeinschaft in der Speckbachergasse gleich ums Eck liegt.“

„Welche Gewohnheiten oder Tagesabläufe hat Ihre Tochter?“

Christiane Bergmüller fuhr sich mit zwei Fingern über den Nasen-rücken. „Das Studium nimmt sie voll in Anspruch und zweimal die Woche ist sie in einem Fitnesscenter in der Nähe der Wohnung. Weitere Hobbys hat sie nicht. Sicher geht sie ab und zu aus, trifft sich mit Freunden oder übernachtet bei Christof im 15. Bezirk. Aber dies geschieht meines Wissens nicht in einer kalendarischen Regelmäßigkeit.“

Andorian brummte zustimmend und nickte langsam mit dem Kopf. Dies schienen keine verwertbaren Informationen zu sein, zumal eine gewisse Abnabelung bereits stattgefunden hatte. Er ging davon aus, dass Ariane ihre Mutter nicht über alle Details ihres Lebens in Kenntnis gesetzt hatte.

Er atmete tief ein, stützte seine Ellbogen auf dem Tisch ab und formte seine Hände zu einer Pyramide. Frau Bergmüller sah ihm aufrecht und kerzengerade in die Augen.

„Ich beauftrage Sie damit, das Abbleiben meiner Tochter Ariane Bergmüller zu untersuchen. Wie halten Sie es mit der Verrechnung?“

Andorian erwiderte den Blick der verzweifelten Frau und sagte nochmals: „Danke für Ihr Vertrauen. Mein Tagessatz beläuft sich auf fünfhundert Euro, dies beinhaltet Spesen und Fahrtkosten, zahlbar nach Erhalt der minutengenauen Abrechnung.“

Frau Bergmüller kramte wieder in ihrer Tasche. Sie zog ein weißes Kuvert mit der Aufschrift einer Bank heraus und sagte: „Ich möchte gerne ein Depot von fünftausend Euro anlegen, damit uns die Honorarfrage nicht im Wege steht.“

Van Anders griff danach und legte es, ohne hineinzusehen, in die oberste Schublade seines Tisches. „Ich werde mich umgehend an die Arbeit machen. Sie erhalten täglich zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr ein Update über Telefon, egal wie erkenntnisreich der Tag war.“

Er erhob sich und umrundete seinen Schreibtisch, bis er der mitleiderregenden Frau gegenüberstand. Sie nickte und sah ihn an. Ein Weinkrampf erstickte ihre Stimme. Er umarmte sie und beschloss im Geiste, nicht eher zu ruhen, bis dieses Rätsel geklärt war. Dann geleitete er Christiane Bergmüller zur Türe.

„Alo, salut, sunt eu, un haiduc

Si te rog, iubirea mea, primeste fericirea

Alo, alo, sunt eu Picasso

Ti-am dat beep, si sunt voinic…“

(Dragostea din tei – O-Zone; © Dan Bălan, 2003)

Die Bässe und eingängigen Zeilen der Lyrics zu dem längst in die Jahre gekommenen Hit der Boyband O-Zone brachten die Party-menge zum Grölen. Es war stickig und verraucht im Golden Beach Dance Club am Strand von Warna in Bulgarien. Verschwitzte Leiber drängten sich auf der Tanzfläche aneinander und bebten gemeinsam im Rhythmus der Musik. Alkohol floss in Strömen, hier und da wurden mehr oder weniger öffentlich Drogen unter-schiedlichster Natur vertickt. Die Käufer hatten das Ziel, die Nacht noch ekstatischer zu gestalten, als sie durch Alkohol und Urlaubsfeeling sowieso schon gewesen wäre. Das Durchschnitts-alter im Club betrug keine fünfundzwanzig Jahre.

Die Strände rund um die bulgarische Schwarzmeerstadt Warna waren in den letzten Jahren eine tragende Konkurrenz zu Ibiza oder Mallorca geworden. Der Vorteil, als junger Mensch am Schwarzen Meer seinen Urlaub zu verbringen, lag darin, dass auch der Lohn eines Ferialjobgehalts hier Luxus versprach. Wo andernorts horrende Summen allein für den Eintritt in einen Club zu berappen waren und Cocktails zwischen fünfzehn und zwanzig Euro kosteten, konnte man hier für das gleiche Geld schon einen partytauglichen Pegel lukrieren. Keine Frage also, dass junge Menschen aus aller Welt den dreieinhalb Kilometer langen Strandabschnitt überschwemmten und die umliegenden Geschäftsleute dies als willkommene Gelegenheit sahen, ihre Taschen reichlich mit Geld zu füllen. Es war eine Win-win-Situation für alle Beteiligten. Daher hatten umliegende Gastronomen Apartments und Hotels aus dem Boden gestampft, um die anreisenden Touristen zufriedenzustellen. Junge Menschen aus aller Welt erhofften sich neben den aufregenden Besuchen in den direkt am Strand liegenden Clubs, Bars und Diskotheken auch einen Urlaubsflirt, der ihren Aufenthalt am Goldstrand zwanglos versüßen sollte. Auch die einheimischen Twens, egal ob männlich oder weiblich, spielten nur allzu gerne dieses romantische Spiel der Urlaubsbekanntschaft mit, wenn es darum ging, kostenlos durch einen Partyabend zu kommen oder vielleicht einen Mann oder eine Frau fürs Leben zu finden, was einem Ticket zu Wohlstand und Freiheit gleichkam.

Unter ihnen war auch Thomas Schmidt, ein gutaussehender Mittzwanziger mit einem Namen, der nicht unverfänglicher hätte sein können. Wie auch? Er wechselte ihn jeden Tag, heute war er Thomas Schmidt, morgen jemand ganz anderer. Er war allein hier an die Küste gekommen, um Geschäft und Erholung miteinander zu verbinden. Thomas Schmidt, aus Wien stammend, war seit längerer Zeit hier ansässig. Er war Geschäftsmann und für diese Geschäfte suchte er Nachwuchstalente. Talente, die er weiterempfehlen konnte, die ihm viel Geld einbrachten. Sein Ziel war der Osten Europas, weil die Mädchen hier willig waren und die Ansprüche wesentlich niedriger als in Schweden, der Bundesrepublik oder gar in Frankreich oder Großbritannien. Die Menschen hier waren hungrig danach, den westlichen Lebensstandard, dessen Auswüchse längst visuell über die Social-Media-Plattformen dieser Welt auch bei den letzten Menschen auf diesem Planeten gelandet waren, zu erreichen. Popvideos waren das Benzin im Motor dieser Entwicklungen. Videos von kaum erwachsenen Männern und Frauen, die im Reichtum und Luxus schwammen. Er konnte all diesen Bedürfnissen gerecht werden. Geld und Macht und materieller Erfüllung. Nicht ganz ohne Kompromisse für das Talent, das er zu rekrutieren hatte, aber wenn die Person es geschickt anstellte, dann wartete ein Haufen Geld und Luxus. Zumindest für ihn selbst. Alles andere war ihm dann auch nicht so wichtig. Sein Auftrag war klar: Finde Talente für den Vertrieb eines Nischenprodukts. Ein Produkt, das sich nicht viele leisten konnten. Aber die, die es konnten, waren bereit, dafür viel Geld auszugeben.

Seit Stunden tanzte er zu rasenden Housebeats mit einer rassigen Blonden, deren Namen er in all dem Lärm nicht verstanden hatte. Verführerisch rieb sie ihren Po an seiner Körpermitte und warf ihre blonde Lockenmähne in den Nacken. Er roch den Duft ihres sommerlichen Parfums. Ihre Klamotten waren billig, aber sexy: hochhackige Riemchensandalen und ein einteiliges schwarzes

Minikleid – wahrscheinlich hatte sie es von irgendeinem Erotik-artikelversand – dessen Tüllapplikationen mehr zeigten, als sie verbargen. Es war bereits klar, dass sie keine Unterwäsche trug. Alles an ihrem Auftritt sagte ihm, dass er sie haben konnte, wenn er sie haben wollte. Und er wollte. Jedoch waren die Enge des Raumes und die Lautstärke der Musik hier in diesem Vorhaben sehr hinderlich. Die Lichter des Stroboskops ließen sie einem Roboter gleich vor seinem Körper tanzen. Keine Frage, dass dies heute ein erfolgreicher Abend werden würde. Sie drehte sich um, schlang ihre Arme um seinen Nacken und zog ihn an sich heran. Er spürte das weiche, aber stramme Wippen ihres festen Busens und küsste sie. Ihre schweißnasse Haut glänzte im Schein der LEDs und verlieh ihr einen magischen Touch. Sie lächelte verführerisch und nickte in Richtung Bar. Er folgte ihr durch das Gewühl und stellte erstaunt fest, dass sie mit den Sandalen beinahe so groß war wie er, etwa einen Meter und neunzig Zentimeter. Ihre Proportionen waren perfekt und er schmunzelte, als er ihr Hinterteil betrachtete, das durch die mindestens zehn Zentimeter hohen Absätze besonders zur Geltung kam. Ein erfolgreicher Abend.

An der Bar bestellten sie zwei Cubas Libres, gewissermaßen als Auftakt für einen exotischen Abend. Der Rum war billig, aber die Menge dafür dem Vorhaben entsprechend gut. Hand in Hand verließen sie den Club und steuerten auf den Strand zu. Die Plastikliegestühle, die dem müden Partyvolk tagsüber als Erholung dienten, standen in geordneten Reihen immer paarweise aufgestellt, getrennt durch etwas Abstand zu dem direkten Nachbarn und in Einheit mit einem einbetonierten Sonnenschirm. Die Liegestühle waren aus Gründen der Diebstahlsicherung mit Ketten und Vorhängeschlössern an den Sonnenschirm gekettet. Das Mädchen, sie hatte sich als Maria vorgestellt, hatte ihre Sandalen ausgezogen und beide wateten durch die unendlichen Reihen von Plastik im weichen Sand. Auf einigen Liegestühlen hatten sich Paare niedergelassen. Manche sahen in den Himmel, um die sternenklare Nacht zu genießen. Dann gab es die, die mit offenem Mund laut schnarchend ihren Rausch ausschliefen, und jene, die sich eng umschlungen, vielleicht vom Alkohol enthemmt, innig auf dem Plastikgestühl liebten. Die Polizei, die auf diesem Strandabschnitt hin und wieder auf und ab marschierte, sah bei diesen Dingen in den Himmel, denn auch sie wusste, dass diese Menschen, die hier ein dekadentes und oft ausschweifendes Leben zelebrierten, harte Dollars und Euros in die Kassen spülten.

Sie wanderten eine Zeit lang umher, still und ohne ein Wort zu sagen. Dann wandte sie sich ihm zu und deutete auf einen Liegestuhl in der ersten Reihe. Er richtete die Lehne auf und setzte sich hin. Sie streckte ihre langen Beine durch die Lehne und war im Nu rittlings auf seinem Schoß.

„Sprichst du Englisch?“, fragte sie ihn mit erstklassiger Aussprache. Er nickte und antwortete ihr gleichzeitig. Maria überlegte, ob sie ihn nach dem Grund seiner Reise fragen solle, ließ es dann aber sein, weil sie nicht aufdringlich sein wollte.

„Maria, sag mir, wie fühlt es sich an, im Paradies zu leben?“, fragte er, um ihr zu schmeicheln.

„Paradies? Meinst du das hier?“, entgegnete sie und machte dabei eine ausholende Handbewegung, die den ganzen Strand einschloss. „Das, mein Lieber, ist nicht das Paradies. Es ist noch nicht einmal sein Vorgarten. Ich studiere Politikwissenschaften und Wirtschaft. Sobald ich die Gelegenheit habe, bin ich weg hier. Leider können sich meine Eltern kein Studium im Ausland leisten, sie sind arm. Ich habe immer davon geträumt, im Ausland zu studieren, in England oder Deutschland. Ich spreche perfekt Englisch und bin mir sicher, ich hätte es schaffen können. Aber lass uns nicht über die Sorgen und Träume sprechen. Lass uns den Abend genießen“, sagte sie und senkte ihre Lippen langsam auf seine.

Er erwiderte ihren Kuss. Zart, sanft, fordernd. Sie hatte den Mund leicht geöffnet und er schmeckte den Rum auf ihren Lippen. Die von dem Eis im Cocktail gekühlte Zunge berührte seine Lippen. Er erschauderte und spürte ihre Gänsehaut auf den Armen. Die Leidenschaft wollte sich nicht zügeln lassen. Hinter ihnen das pulsierende Nachtleben, vor ihnen das rauschende Meer. Herz, was willst du mehr!

Die beiden Cubas Libres standen neben dem Liegestuhl im Sand und der Rest in den Plastikbechern würde heute wohl nicht mehr getrunken werden. Die Eiswürfel waren längst geschmolzen und einzelne Insekten hatten den Weg zu der zuckrigen Flüssigkeit gefunden, während sie mit vorsichtigen Fingern den Körper des anderen erforschten und sich leidenschaftlich und drängend küssten. Im Hintergrund wummerten noch immer die Bässe aus den Clubs und Thomas vergrub seine Finger in der blonden Mähne Marias und genoss sichtlich, im Mittelpunkt ihrer Begierde zu stehen.

Sie fragte ihn: „Wohnst du hier in der Nähe?“

Er nickte. „Keine fünf Minuten von hier. Ich habe ein Apartmenthaus gemietet. Ich bin nicht nur zum Vergnügen hier, sondern auch geschäftlich“, grummelte er. „Ich weiß nicht, ob ich das tun sollte, ich muss morgen früh raus!“

Sie löste sich von ihm und zog einen süßen Schmollmund. „Ich denke, ich habe gute Argumente gegen diesen Gedanken.“

Sie führte langsam seine rechte Hand an den Ansatz ihres Schenkels, dann schob sie mit seiner Hand den Saum ihres Kleides etwas nach oben. Er hatte recht. Keine Unterwäsche. Sie stand auf, griff in ihr Täschchen und förderte eine Handvoll Kondome zutage.

„Die wollen heute noch verbraucht werden. Wenn du es willst …“, flüsterte sie in sein Ohr.

Er stutzte. „Du bist gut vorbereitet. Aber ich weiß nicht, das fühlt sich nicht richtig an“, gab er ihr zu verstehen. Er war so ein Gentleman.

Sie war verliebt, sie war so verliebt in diesen Mann, den sie gerade erst kennengelernt hatte. Oder war es der Alkohol? Nein, sie war verliebt und sie spürte es mit jeder Faser ihres bebenden Körpers. Sie hatte auf jemanden wie ihn gewartet, konnte es kaum erwarten, ihn zu spüren. Und sie war aufgeregt.

„Komm schon“, sagte sie. „An die Arbeit kannst du morgen auch noch denken. Lass uns ein wenig Spaß haben, du siehst mich danach nie wieder.“

„Genau davor fürchte ich mich ja!“, sagte er schelmisch. Dann stand er auf und lächelte. „Okay, du hast völlig recht. Lass uns das Leben und die Liebe und die Leidenschaft genießen! Gehen wir!“

Arm in Arm schlenderten sie an der Diskothek vorbei. Sie bahnten sich den Weg durch einen augenscheinlich unendlichen Strom aus Menschen, der ihnen entgegenkam. Manche lachend, manche betrunken, alle fröhlich, alle in Partylaune. Er blickte Maria an und lächelte. Einen Herzschlag später spürte er, wie dieses Lächeln einen festeren Griff um seine Hüfte nach sich zog. Sie konnte seine Finger nicht von ihm lassen und er fühlte sich geschmeichelt. Er genoss die Aufmerksamkeit und ihre Vorfreude, die ihm entgegenschlug. Sie passierten die ersten Hotels, schlängelten sich durch die verwinkelten Gänge, die die Gäste zum Strand und in die Speisesäle geleiten sollten, und gelangten auf eine Straße, die von Kiosken und Verkaufsbuden gesäumt war. Dort führte Thomas Maria einen leichten Hügel hinauf, auf ein großes Haus zu. Es hatte eine moderne Fassade und war in nüchternem Weiß gehalten. Er steckte die Schlüssel ins Schloss, gab danach einen sechsstelligen Code in ein Tastenfeld ein und sie betraten das großzügig eingerichtete Apartment. Alles wirkte edel und sehr stylish. Sie traute ihren Augen nicht, das Wohnzimmer war riesig. Eine überdimensionale weiße Couch, ihre klaren Linien passten perfekt zum Ambiente, stand mitten im Raum, ihr gegenüber ein großer Fernseher, der an der Wand montiert war, vor ihr ein hochfloriger, klassisch schöner Teppich. Er drehte sie zu sich und sagte: „Mein Haus ist dein Haus!“

Sie lächelte, küsste ihn und fragte: „Wo ist das Badezimmer, Thomas? Ich will schnell unter die Dusche!“

Er führte sie einen Gang hinunter und öffnete eine Türe. Hinter dieser verbarg sich ein geräumiges Schlafzimmer mit dem größten Bett, das Maria je gesehen hatte. Zu ihrer Linken war eine weitere Türe sichtbar.

„Hier links!“, sagte Thomas. Mit wenigen Schritten öffnete er die Tür und wies ihr den Weg. „Ich bereite in der Zwischenzeit die Drinks vor. Ist Champagner okay für dich?“

Sie sah über die Schulter, hob den rechten Daumen als Zeichen des Einverständnisses, ließ ihr Kleid fallen und schlenderte mit gekonntem Hüftschwung auf die Dusche zu. Dann schloss sich die Badezimmertüre und nur Augenblicke später erfüllte ein wohliges Rauschen die Atmosphäre. Er lächelte versonnen, während er mit einem leisen Plopp den Korken des Ruinart Rosé aus der Flasche steigen ließ. Die Mädels liebten diesen Rosé. Nicht der beste Champagner, aber ein verlässlicher Helfer. Es war stets so einfach. Manchmal hatte er deswegen Gewissensbisse. Ein erfolgreicher Abend, keine Frage …

Maria kam aus dem Badezimmer. Als die Türe sich öffnete, trat etwas Dampf ins Zimmer, sie musste heiß geduscht haben. Er lag auf dem Bett. Sie sah ihm in die Augen, näherte sich ihm an und legte sich neben ihm aufs Bett. Ihre rechte Hand streichelte seine Wange und er küsste sie. Er drehte sie auf den Rücken, während sie die Knöpfe seines Hemdes öffnete. Nur Sekunden später liebten sie sich. Dann tranken sie Champagner und liebten sich wieder. Stunden später, ein neuer Morgen brach sich bereits Bahn durch die Dunkelheit der Nacht, duschte sie nochmals. Er lag im Bett und hatte die Augen geschlossen. Maria trat, mit einem Handtuch um den Körper gewickelt, auf ihn zu und lächelte. Sie legte sich zu ihm auf das Bett.

„Es tut mir leid, Thomas, dass ich deine Pläne durcheinander-gebracht habe. Du wirst heute völlig übermüdet bei deinem Geschäftstermin ankommen.“

Er drehte sich um, lächelte zärtlich und sagte: „Keine Sorge, Maria, wirklich durcheinander sind meine Pläne nicht!“ Dann drückte er ihr das Baumwolltuch ins Gesicht, das er zuvor mit Chloroform getränkt hatte. Sie starrte ihn mit aufgerissenen Augen an, versuchte, sich zu wehren. Dann erschlaffte sie.

Thomas Schmidt griff zum Telefon und wählte eine Nummer. Vier Minuten später betraten zwei Männer die Wohnung. Sie schulterten Maria und trugen sie in das Apartment einen Stock tiefer. Dort legten sie die junge Frau auf ein Bett. Ein aknenarbiger Typ mit Stiernacken griff nach Marias Tasche und durchsuchte sie. Er fand ihr Telefon, warf es auf einen Haufen anderer Smartphones und nahm ihren Reisepass. Diesen fotografierte er. Das Bild schickte er über das Smartphone an eine Nummer in Warna. Es folgte alles immer genau dem gleichen Schema. So waren Fehler fast unmöglich.

Im Zimmer nebenan entkleidete ein anderer Mann die junge Frau und fesselte ihre Handgelenke an das Bettgestell. Dann zog er sein Smartphone und machte ein paar Fotos. Diese schickte er an dieselbe Nummer, an die zuvor das Bild des Reisedokuments gegangen war.

Etwa gegen neun Uhr morgens läutete es an der Türe einer Wohnung in der Petar-Raychev-Straße. Sofia Petrescu öffnete die Türe, sie war eine müde aussehende Frau Ende vierzig. Die Lockenwickler im Haar und der Bademantel am Körper ließen darauf schließen, dass sie sich fertig machte, um einer Arbeit nachzugehen. Sie lächelte den Polizisten müde an und sagte: „Was kann ich für Sie tun?“

Der Mann zeigte ihr ein Foto. In Sekunden war jede Farbe aus Sofia Petrescus Gesicht gewichen. Sie trat einen Schritt zurück, um Abstand zu dem Mann zu gewinnen, der ihr Leben gerade nachhaltig verändert hatte.

Er sagte: „Was Sie für mich tun können? Nun … tun Sie einfach gar nichts, dann bleiben Sie und Ihre anderen Töchter am Leben. Verständigen Sie die Polizei, sind Sie und Ihre Familie bald mit Maria vereint. Im Jenseits. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie es aussieht, wenn zehn erwachsene Männer gleichzeitig Ihre zwölfjährige Tochter vergewaltigen? Nein? Wenn Sie diese Erfahrung nicht machen wollen, dann tun Sie so, als hätte dieses Gespräch nie stattgefunden, als hätte es Ihre Tochter Maria nie gegeben. Sagen Sie den Nachbarn, sie würde im Ausland studieren. Ist das klar?!“

Sofia Petrescu lehnte an der Wand ihres Vorzimmers, die sie davor bewahrte, wie ein gefällter Baum umzufallen. Der Mann drehte sich um und ging. Er wusste, Sofia Petrescu würde nichts sagen, niemand sagte jemals etwas. Dann meldete sich das Telefon. Er hatte einen Eingang von tausend Euro auf dem Konto. Als Verwendungszweck war „Botendienst“ angegeben. Er lächelte, verließ den ärmlichen Wohnblock und stieg in seinen Dienstwagen.

Vor einiger Zeit

Ariane Bergmüller hatte ihren Kopf auf der Brust ihres Freundes liegen. Sie atmeten tief und ruhig. Der Sonntag im September war durchsetzt von einer angenehmen Kühle. Die Partynacht war hingegen heiß und aufregend gewesen. Die beiden liebten es, mit ihrer Clique durch die Bars der Wiener Innenstadt zu ziehen, um dann im Palace, dem angesagtesten Danceclub der Stadt, bis in die frühen Morgenstunden zu chilligen Trancebeats abzutanzen. So war es auch gestern gewesen. Am Donnerstag zuvor hatten die beiden eine Prüfung im Studium der Rechtswissenschaften erfolgreich abgelegt und waren ihrem Ziel, das Studienabschluss hieß, wieder ein Stück nähergekommen. Die beiden waren fleißige und äußerst erfolgreiche Studenten, nicht elitär, aber bis dato ohne Verzögerung in der Studienzeit.

Wie aus einem fernen Nebel nahmen sie die Klingeltöne des Telefons wahr, das im Wohnzimmer auf dem Couchtisch lag und leise vor sich hin summte. Ariane war es, die schließlich ächzend aus dem Bett kroch und ihr Telefon aufnahm, welches auf dem Display drängend verkündete, dass Mama nach Aufmerksamkeit verlangte. Sie nahm ab.

„Hallo, Mama!“, sagte sie mit belegter Stimme.

„Hallo, mein Spätzchen!“, sagte ihre Mutter. „Es tut mir leid, dass ich dich wecke. Du weißt, dass ich es nicht tun würde, wenn es nicht dringend wäre. Es ist so weit, das Krankenhaus hat mich angerufen. Wir sollen uns von Papa verabschieden, es geht ihm sehr schlecht die letzten Tage, es geht zu Ende. Komm bitte gleich nach Sankt Pölten ins Krankenhaus.“

Dass dieser Tag kommen würde, war nur eine Frage der Zeit gewesen. Ariane hatte das gewusst, mithilfe der Krankenhaus-seelsorgerin und einer befreundeten Psychologin versucht, sich darauf vorzubereiten. Aber es war unmöglich, sich auf diesen Tag vorzubereiten. Das Gehirn sagte, dass dieser Tag kommen würde. Das Herz sagte, dass morgen alles ganz anders sei, dass alle wieder glücklich und zufrieden wären.

Es war nicht viel Zeit vergangen, fünf Monate, seit ihr Vater wegen eines vermeintlichen Bandscheibenvorfalls zur Computer-tomographie gegangen war und eine halbe Stunde später im Hinterzimmer des Diagnosezentrums erfahren hatte, das der Krebs in der Lunge, der Leber, der Wirbelsäule und im Gehirn wütete.

„Es tut mir aufrichtig leid“, sagte der Arzt abschließend, „aber klären Sie Ihre Angelegenheiten.“

Dann hatte er ihm sanft seine Hand auf die Schultern gelegt und Helmut Bergmüller, ein bis dato äußerst jung gebliebener Mittfünfziger, war wie in Watte gepackt nach Hause gefahren.

Theorie und Praxis waren zwei verschiedene Paar Schuhe. Ariane wurde von einem heftigen, stakkatoartigen Zucken erfasst und sank vor dem Sofa auf die Knie, bevor sie laut aufschluchzte. Christof Neubauer, Arianes Lebenspartner, hechtete aus dem Bett, lief ins Wohnzimmer und umarmte seine Freundin, die ihren Kopf auf die Tischplatte gestützt hatte und hemmungslos weinte.

„Mein Engel?“, fragte er. „Ist es jetzt so weit?“

Sie nickte nur.

„Komm, wir fahren“, sagte er. „Jetzt zählt jede Minute!“

Ariane erhob sich mit seiner Hilfe und schlurfte weinend zum Badezimmer.

Dreißig Minuten später waren sie auf dem Weg nach Sankt Pölten. Die Leichtigkeit der Nacht war einer Schwere gewichen, die mit der Kraft eines Felsbrockens auf ihr Herz und ihren Magen drückte. Der Fels in der Brandung wurde von unkontrolliert wuchernden Zellen dahingerafft. Ihr geliebter Papa starb.

11. August

„It’s ’bout as bad as it could be

Seems everybody’s buggin’ me

Like nothing wants to go my way, yeah, it just ain’t been my day

Nothin’s comin’ easily…“

(Up – Shania Twain; © Robert John Lange, Shania Twain, 2002)

„Es kann kein Zufall sein, dass der Sender einen Song über schlechte Tage spielt, wenn ich mich fühle, als hätte mich die U-Bahn angefahren“, dachte die Kommissarin und lächelte ihr zum Weinen aussehendes Spiegelbild an, während sie sich die Zahnbürste in den Mund steckte.

Ihr Tag hatte vor einer halben Stunde mit dem penetranten Gebimmel ihres Telefons begonnen. Ein Kollege hatte sie auf ihrem privaten Smartphone angerufen, um ihr mitzuteilen, dass es einen Leichenfund gab. Verschlafen von der letzten Doppelschicht hatte sie ihm murrend mitgeteilt, dass sie ihr Möglichstes tun werde, um sofort dorthin zu kommen, hatte sich noch einmal umgedreht, ihren Mann umarmt, geküsst und gesagt: „Eine Tote am Schottenhof, ich muss los!“

Er hatte gelächelt, ihr einen Klaps auf den Po gegeben und erwidert: „Was wäre Wien ohne seine Polizei? Was wäre Wien ohne dich?“

Aber Robert Friedmann, stellvertretender Leiter des Departments für Gerichtsmedizin an der Uni Wien, kannte es selbst nur zu gut, ohne Vorwarnung von Familienfeiern, Motorradtouren und sonstigen Annehmlichkeiten auf den Boden der beruflichen Realität geholt zu werden.

„Ich liebe dich! Halte mich auf dem Laufenden!“, sagte er.

Sie lächelte, wuschelte sich durch ihr langes braunes Haar und trollte sich schlurfend ins Badezimmer.

Daniela Friedmann war eine aparte Frau Mitte vierzig. Sie trug ihr gelocktes Haar, das ihr bis über die Schulterblätter fiel, immer offen. Leger, in Jeans und Blusen, Poloshirts oder Pullover gekleidet, war es vor allem ihre Vorliebe für Doc Martens, die Aufmerksamkeit erregte. Sie hatte diese Schuhe in ungefähr zwanzig verschiedenen Ausführungen im Schrank stehen. Friedmann hatte bald nach ihrem Eintritt in die Kriminalpolizei Wien von sich reden gemacht, als sie einen jungen Wiener dingfest hatte machen können, der in großem Stil Falschgeld und Drogen hergestellt hatte, diese ins benachbarte Ausland exportiert hatte und dabei rücksichtslos Kontrahenten aus dem Weg hatte räumen lassen. Der Erfolg bewirkte drei Dinge: Sie lernte ihren Mann kennen, da dieser ebenfalls mit dem Fall betraut war, allerdings aus der Sicht der Medizin. Der Fall brachte ihr eine Auszeichnung und Beförderung ein. Aber er machte die junge Kommissarin unbeliebt, da sie schon während der laufenden Ermittlungen auf die Faulheit und Ignoranz des Kollegen hinwies, dem sie damals, aufgrund seines höheren Dienstgrades, unterstand. Dieser hatte die Tragweite des Falles nicht erkannt und ebenfalls seine Komplexität unterschätzt. Es kam lediglich durch Hartnäckigkeit und die vielen Überstunden ihrerseits zu dem Ermittlungserfolg. Sie fuhr den Erfolg ein, der Kollege wurde gerügt und sie im Kreis der Kollegen als Kameradenschwein diffamiert. Kein leichtes Leben für eine junge Frau in den ersten Jahren des Dienstes. Gott sei Dank lösten sich aber dennoch viele Probleme von selbst und mit der Zeit, da diese verstockten und faulen Dinosaurier mittlerweile nahezu alle einen in ihren Augen wenig verdienten Ruhestand angetreten hatten.

Heute war sie selbst ein Dinosaurier auf diesem Gebiet, hatte allerdings nichts von ihrer Vitalität und Energie eingebüßt. Sie war bei den Vernehmungen clever, als Kollegin beliebt und konnte, wenn es hart auf hart kam, ordentlich zulangen, wovon die Narben diverser Rissquetschwunden im Gesicht und eine tiefe Stichverletzung im linken Oberarm zeugten. Daniela Friedmann war eine exzellente Polizistin, nüchtern und ohne Hang zur Dramatik.

Zwanzig Minuten später saß sie, gewandet in Jeans-Bluse und knöchelhohen Martens, in einem dunkelblauen BMW und raste mit aufgesetztem Blaulicht die Hadikgasse stadtauswärts. Die Sonne schien bereits warm und trocknete die vom nächtlichen Gewitter noch regenfeuchten Straßen. Der mäßige Verkehr teilte sich wie das Rote Meer vor Moses, niemand wollte im Wege stehen.

Die Ankunft gelang in der Rekordzeit von 15 Minuten. Sie bog auf den Parkplatz des Restaurants Schottenhof ein und stutzte. Feuerwehr, ein Leichenwagen der Wiener Bestattung, vier Fahrzeuge der Funkstreife und zwei Rettungsautos. „Das volle Aufgebot!“, sagte sie zu sich selbst, stieg aus und näherte sich einem kalkweißen, sehr jungen Kollegen in Uniform.

„Frau Kollegin Friedmann?“, fragte er verlegen.

„Jawohl, was gibts? Wo bringen Sie mich hin?“

„Mein Name ist Wallner, bitte folgen Sie mir. Wir gehen gleich hier rein, auf den Mountainbike-Trail, der vom Wilhelminenberg herunterführt. Wir haben etwa zweihundertfünfzig Meter Fußmarsch zurückzulegen.“

Friedmann blickte an sich herunter und lächelte ob der Wahl ihrer Schuhe. Angesichts des vom Regen in der letzten Nacht aufgeweichten Bodens waren ihre schwarzen Martens die erste Wahl gewesen. Trotz der exzellenten Entscheidung war sie nur halb so schnell wie der Kollege, der dienstbeflissen mit großen Schritten voranging.

„Machen Sie mal langsamer, Kollege! Ich habe vor einer Stunde noch gepennt und ich habe Doppelschicht gehabt. Sie rennen ja, als wäre der Teufel hinter Ihnen her!“, rief sie ihm keuchend nach. „Und warum sagt mir niemand, dass ich zu nachtschlafender Zeit den Himalaja hinaufsteigen soll?!“, fauchte sie.

Der junge Polizist errötete, sah betreten zu Boden und antwortete: „Frau Kommissarin, es tut mir leid, ich habe Sie nicht angerufen. Ich dachte mir, es wäre Eile geboten.“

„Nun … die Leiche läuft uns wohl nicht weg, oder?“

Wallner hob an, etwas zu sagen, verzichtete angesichts der Spannung in der Luft darauf, drehte sich um und ging in gemäßigterem Tempo neben ihr her.

Nach der nächsten Kurve sahen sie von Weitem bereits die rot-weißen Absperrbänder, etwa dreißig Meter neben dem Trail. Vier Kollegen von der Funkstreife, drei Feuerwehrmänner und die Spurensicherung waren da. Eine Ärztin und zwei Sanitäter kümmerten sich um eine ältere Frau, die unweit der Szene auf dem Boden saß, hyperventilierte und einen schon etwas grau gewordenen Dackel streichelte.

Schwer keuchend kamen Friedmann und Wallner an, die Uniformierten traten zur Seite und gaben den Blick auf den Fundort frei. An der Rückseite einer alten Buche saß jemand mit vom Weg abgewandtem Blick. Die Arme nach hinten gebogen, mit grobem Hanfseil gefesselt. Vor dieser Person kniete Dr. Alma Selimovic und fotografierte den Fund aus allen Perspektiven. Die gebürtige Bosnierin, die durch die Kriegswirren der Neunzigerjahre nach Österreich gekommen war, war eine Meisterin ihres Faches. Sie hatte sich Danielas Mann Robert vor einigen Jahren durch einen exzellenten Lebenslauf und eine unglaubliche Anzahl an in- und ausländischen Reputationen empfohlen. Robert hatte keine Sekunde gezögert und die talentierte Frau eingestellt, da eine Planstelle durch Pensionierung frei geworden war. Sie war zu einer guten Freundin und einem gerne gesehenen Gast im Hause Friedmann geworden.

„Hi, Danny! Wilde Sache hier, schreck dich nicht!“, sagte sie und sah dabei sehr ernst zu ihrer Freundin und Kollegin auf.

„Ooookay“, antwortete Friedmann halblaut mit deutlich gedehntem O und blieb in der Bewegung abrupt stehen. So etwas hatte sie aus dem Mund der erfahrenen Forensikerin noch nie zuvor gehört.

„Vielleicht kümmerst du dich zuerst um die Zeugin, Danny. Dann bin ich hier fertig und wir besprechen alles. Nach meinem medizinischen Dafürhalten ist sie nicht vernehmungsfähig. Aber versuch‘s mal!“, sagte Alma.

Friedmann blickte zu Wallner, bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, mitzukommen. Sie näherten sich dem Rettungsteam.

„Guten Morgen! Verzeihen Sie bitte, mein Name ist Daniela Friedmann, ich bin die ermittelnde Beamtin in diesem Fall. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?“

Der Arzt drehte sich um, eine Blutdruckmanschette in den Händen. „Guten Morgen, das ist Frau Henriette Gruber, sie steht unter Schock. Wir werden sie ins Wilhelminenspital bringen, sie braucht dringend ärztliche Betreuung. Ich denke, Sie können sie heute Abend im Krankenhaus befragen. Wir bringen die Patientin jetzt zum Parkplatz. Ihre Tochter ist gerade gekommen und übernimmt den Hund.“

Gruber bewegte sich und sah ihr aus gespenstischem Gesicht entgegen. Sie war aschfahl, die Lippen weiß von der Blutleere.

„Das arme Ding! Ich hätt‘s nicht bemerkt, wenn‘s der Poldi nicht geschnüffelt hätte. Seit dreiundfünfzig Jahren geh ich hier mit dem Hund, nicht mit dem Poldi natürlich, denn die Dackel werden nicht so alt, aber überhaupt. Sowas! Dass ich das auf meine alten Tage noch erleben muss. Na … das hab ich ’braucht!“

„Wallner, Sie gehen mit nach unten und nehmen die Personalien auf! Achten Sie aber darauf, dass Sie sich‘s von der Tochter geben lassen, die Dame scheint mir etwas zu verwirrt für genaue Angaben“, sagte die Kommissarin. Wallner nickte, wandte sich um und ging den Sanitätern nach, die den Transportsessel mehr rutschend als gehend den matschigen Abhang hinuntertrugen. Dann drehte sich Friedmann um und ging zurück zum Fundort. Alma hatte den Fotoapparat weggelegt und stand neben den Männern der Bestattung. Sie winkte ihre Freundin zu sich.

Beide umrundeten den Baum und Friedmann erstarrte. Ein Bild des Grauens eröffnete sich ihr. Vor ihr saß, mit in einem leichten V ausgestreckten Beinen, ein toter Körper. Der Person fehlten Haare und Gesicht, man hatte ihr beides vom Kopf geschnitten. Ein schlaffer Unterkiefer entblößte den Blick auf eine leere Mundhöhle, alle Zähne waren ausgeschlagen, seitlich links am Schädel war eine deutliche Deformation des Scheitelbeins feststellbar. Am Oberkörper waren die Brüste entfernt worden, wovon zwei mehr als handtellergroße Wundflächen zeugten. Der Hals war in einem Schnitt, der von der Seite betrachtet beinahe bis zur Wirbelsäule führte, durchtrennt worden. Quer über den Unterbauch führte ein gerader Schnitt, ebenso ersichtlich war eine Verstümmelung des Genitalbereichs. Die Kommissarin hätte auf den ersten Blick nicht sagen können, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, da alle spezifischen Geschlechtsmerkmale entfernt worden waren. Ein zweiter Blick offenbarte eine gewisse Zartheit, speziell im Bereich der Knochen. Friedmann wankte, drehte sich um und rang mit einem starken Brechreiz. Ihre Kollegin griff ihr unter die Arme und bedeutete den Männern der Bestattung, dass sie nun ihre traurige Arbeit verrichten konnten.

„Bitte direkt in die Gerichtsmedizin mit dem Leichnam!“, sagte sie zu den Männern. Diese nickten stumm.

Dann wandte sie sich an Danny. „Lass uns nach unten gehen und ich erzähle dir, was ich jetzt schon weiß. Okay?“, schlug Selimovic vor und hakte sich bei Friedmann unter.

Die vier übrigen Kollegen begannen ohne Aufforderung, die Sachen der Forensikerin aufzusammeln, zu verpacken und hernach zum Auto zu transportieren.

Zehn Minuten später saßen die beiden Frauen in der nahe gelegenen Meierei bei Wasser, Kaffee und einem doppelten Cognac. In Friedmanns Gesicht war ein wenig Farbe zurückgekehrt.

Alma lächelte aufmunternd und sagte: „Keine Sorge, deine Reaktion ist verständlich. Mich hätte das auch fast umgehaut. Sowas habe ich noch nie gesehen. Theoretisch schon, in den Lehrbüchern, aber live … Ich will gar nicht wissen, wies der Gruber ergangen ist. Da gehst du nichts ahnend durch den Wald und – bäähhmm. Eine Sekunde später ist deine Welt aus den Angeln gehoben. Die Reinkarnation von Jack the Ripper. Würde ichs nicht besser wissen …“

Daniela Friedmann nickte geistesabwesend.

„Also. Es handelt sich definitiv um eine Frauenleiche, die Struktur und der Aufbau des Körpers sowie ein Blick auf die Breite ihres Beckens lassen da keine Zweifel zu. Ich würde sie aufgrund des Hautbildes auf etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre schätzen. Wenn sie das Geld hatte, um ihre Haut regelmäßig zu pflegen, dann vielleicht auch Mitte dreißig, aber keinesfalls älter. Über ihren allgemeinen Gesundheitszustand kann ich noch nicht viel sagen, dazu muss ich sie obduzieren. Todesursache war, denke ich, entweder der Schnitt in die Kehle oder der Schlag auf den Kopf. Das Scheitelbein ist deutlich sichtbar zertrümmert, es sieht so aus, als wären Splitter in ihr Gehirn eingedrungen. Das mutmaße ich, es wird sich später noch deutlicher zeigen. Sie ist mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit nicht am Fundort getötet worden. Dafür ist zu wenig Blut vorhanden. Anhand der Beschaffenheit des Leichnams ist zu sagen, dass sie keinesfalls länger als zwölf Stunden tot ist. Es gibt keine Anzeichen von Tierfraß und auch die Anzahl der Insekten hielt sich in Grenzen, was für diese warme Jahreszeit eher ungewöhnlich ist. Gut, es hat geregnet letzte Nacht, möglicherweise ist der Insektenflug deshalb reduziert gewesen. Es wird aufgrund des Fehlens der äußeren Merkmale und auch der Zähne schwierig werden, ihre Identität zu ermitteln. Ich bin mir aber sicher, dass wir noch weitere Erkenntnisse erlangen werden, wenn sie vollständig untersucht ist. Was ich dir von der psychologischen Seite aus versichern kann, ist, dass der Täter oder die Täterin das Opfer erniedrigen wollte. Das Abschneiden oder Zerschneiden der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale deutet darauf hin. Da war viel Wut im Spiel, viel Hass, eine emotionale Eskalation. Eine Hypothese ist, dass der Täter sein Opfer für etwas bestrafen wollte. Vielleicht aus einer eigenen Unzulänglichkeit heraus, vielleicht Impotenz, oder er war ein Mobbingopfer. Vielleicht ist sie der Gruppe der Mobber zuzuordnen oder es handelt sich um einen Stellvertretermord. Er hat sie als Substitut für jemand anderen so zugerichtet. Sie ist nicht offensichtlich drogensüchtig gewesen, keine Einstiche an den Knöcheln oder in der Beuge der Ellenbogen. Ihre Erscheinung weist insgesamt auf einen guten Pflegezustand und ausreichend gehaltvolle Ernährung hin. Mehr dazu dann später, nach der Obduktion.“

Friedmann nickte fortwährend, machte zustimmende und zur Kenntnis nehmende Geräusche und notierte alles in einem Notizbuch. „Du meinst also, sie war eine ganz normale Frau?“, murmelte die Kommissarin.

„Nun, soweit ich das beurteilen kann: Die Nägel an den Händen und Füßen waren gepflegt manikürt, das weist schon auf ein gutes Maß an Selbstachtung und Selbstwert hin, vielleicht auch Geld. Kleidung und die fehlenden Körperteile haben wir nicht gefunden“, warf die Medizinerin ein.

„Gut, ich werde die Hundestaffel anfordern, die sollen die Umgebung mit den Leichenspürhunden absuchen, irgendwo müssen die fehlenden Körperteile ja hingekommen sein. Vielleicht werden sie fündig. Ich möchte jedenfalls keine Schlagzeile erleben, in der berichtet wird, dass jemand seinen Müllkübel öffnet und Leichenteile findet“, kommentierte die Polizistin ihre Notizen. „Alma, bis wann, denkst du, kannst du …“, setzte sie an, als ein jähes Summen aus der Handtasche ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie griff nach ihrem Smartphone, hob ab und sagte: „Hi, Andorian! Schön, dass du anrufst, aber es ist gerade sehr ungünstig, ich bin in einer Fallbesprechung. Ich rufe dich zurück, sobald ich Luft habe.“ Dann hielt sie kurz inne, hörte offensichtlich eine Erwiderung und legte auf.

Alma stutzte, schmunzelte und sagte: „Was will Andorian von dir um diese Zeit? Schläft er nicht normalerweise in dieser Tageshälfte?“ Beide lächelten.

„Sei nicht unfair, er ist ein lieber Kerl. Seltsam, aber lieb“, wies die Kommissarin ihre Freundin scherzhaft zurecht.

„Okay, also um auf deine nichtgestellte Frage zu antworten: Ich denke, ich habe die Obduktion bis heute Nachmittag um vier durch, Blut und sonstige Sekretproben bis um sieben abends. Passt das so für dich?“, bot Alma an.

Daniela nickte und winkte dem Kellner, um die Rechnung zu erbitten. „Das passt perfekt!“, gab sie zurück. „Ich fahre in der Zwischenzeit ins Büro, schreibe mal alles zusammen, rufe meinen Schatz an, um zu sagen, dass es heute wieder mal später wird, und checke, was unser James-Bond-Millionär will“, scherzte sie, während die beiden das Kaffeehaus verließen.

Die beiden Frauen umarmten einander zum Abschied, küssten sich gegenseitig die Wangen und gingen zu ihren Autos. Danny Friedmann griff zum Telefon und wählte die Nummer ihres Mannes.

„Hallo, mein Engel!“, kam es durch die Leitung.

„Robert, du musst mein Mistkübel sein, nur für eine Minute, okay?“ Es war still am anderen Ende der Leitung. „So etwas habe ich noch nie erlebt. Der Täter oder die Täterin hat dem Opfer den Schädel eingeschlagen, die Brüste und Genitalien entfernt, alle Zähne ausgeschlagen und den kompletten Kopf und die Gesichtshaut entfernt. Diese abgetrennten Teile sind derzeit nicht auffindbar.“

Robert stieß lange und hörbar die Luft aus. „Eskalation!“, sagte er.

„Jop, das meint Alma auch. Der Leichnam und sie sind gerade auf dem Weg ins Institut zur Obduktion. Es ist unglaublich. Der Anblick hätte mich fast umgeworfen.“

„Ich glaube, dass wir beide in einer Zeit unseren Beruf ausüben, in der es in allen Gebieten des Lebens viele Extreme gibt, so auch im Verbrechen. Es würde mich schrecken, wenn du nicht ergriffen gewesen wärst. Auf einen derartigen Anblick kann man sich nicht vorbereiten. Und wärst du nicht berührt gewesen, wärst du innerlich tot. So sehe ich das. Also … ich bin gerne dein Mistkübel, denn wir sollen füreinander da sein, das war doch immer die Basis unserer Beziehung.“

Danny konnte an seiner Stimme erkennen, wenn er lächelte. „Danke, Geliebter! Ich fahre jetzt ins Präsidium, schreibe einen ersten Bericht und bespreche die Lage mit Hoffer. Ich werde da eine SOKO brauchen, denke ich! Ich melde mich später! Ich liebe dich und … danke fürs Zuhören!“ Sie wartete die Erwiderung ab und legte dann auf. Dann wählte sie Andorian van Anders’ Nummer.

„If ever words were spoken

Painful and untrue

I said I loved but I lied…“

(This Love – Pantera, © Dimebag Darrell, Philip Hansen Anselmo,

Rex Rocker, Vinnie Paul, 1992)

Andorian saß in seinem weich gepolsterten Bürosessel, hatte die Kippfunktion eingestellt, die Füße auf dem Fensterbrett abgelegt und lauschte dem Song von Pantera. Seine Augen waren geschlossen. Die Traurigkeit und die im Refrain so geballte Wut über das Thema Liebe steckten ihn jedes Mal an. Verletzt, belogen, ausgenützt, die Liebe an sich gutheißend, aber nicht zulassend. Ein Dilemma, in dem er sich befand.