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Nach einem heftigen Verkehrsunfall auf der Stadtautobahn wurde im Gepäckraum eines Wagens eine männliche Leiche gefunden. Der Kriminalhauptkommissar Andreas Habicht soll nun klären, wie es zum Mord kam und warum die Leiche im Kofferraum liegt. Auf seiner Seite ist der neue Kollege. Das Ermittlungsduo steht vor dem großen Rätsel, denn es keinen richtigen Verdächtigen gibt.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Es war kein freudiger Morgen. Grau, kalt und nass. Obwohl sich der fröhliche Monat Mai schon vor vier Tagen offiziell verabschiedet hatte, zeigte der Sommer offensichtlich keine Bereitschaft, den wechselhaften Frühling abzulösen. Vielleicht beabsichtigte der Sommer, seinen Dienst in diesem Jahr überhaupt nicht anzutreten und wollte einfach dem regnerischen Herbst Platz machen. Die letzte Vermutung schien wahr zu sein, weil es seit drei Tagen andauernd regnete, auch heute.
Der Kriminalhauptkommissar Andreas Habicht fuhr zum neuen Tatort. Von seiner Wohnung, wo er nach der Scheidung seit acht Jahren behauste, brauchte der Kommissar bis zum Tatort ungefähr vierzig Minuten mit dem Auto. Während der Fahrt warf Andreas Habicht immer wieder kurze Blicke auf den leeren Beifahrersitz. Noch vor einem Monat saß da sein ehemaliger Kollege der Kriminalhauptkommissar Martin Edwig. In der Wirklichkeit war er nicht nur ein langjähriger Kollege, sondern auch ein guter Freund, mit dem Andreas Habicht einiges durchgestanden hatte. Martin hatte viele positive Seiten, aber auch einige Besonderheiten. Außerdem wollte der Kollege Edwig bei jeder Gelegenheit gefahren werden, obwohl er einen Führerschein besaß und zu den geschicktesten Autofahrern gezählt werden konnte. Diesen Wunsch begründete Martin damit, dass er sich so besser auf den Fall konzentrierte und ihm während der Fahrt immer wieder gute ermittlungsrelevante Gedanken einfielen. Andreas Habicht hatte nie etwas gegen diese ein wenig seltsame Gewohnheit seines langjährigen Kollegen und die beiden Männer verstanden sich einwandfrei.
Gute zwölf Jahre arbeiteten die Partner zusammen, bis der Kollege Edwig aus familiären Gründen nach dem fränkischen Erlangen versetzt werden wollte. Zwei Wochen später wurde der Kriminalhauptkommissar Habicht benachrichtigt, dass er demnächst einen neuen Kollegen zur Verstärkung bekommt. Genau vor einer Woche erschien der Neue im Büro. „Ein neuer Greifvogel im Team“, sagte der Polizeidirektor Voss, „der Kriminalhauptkommissar Jens Sperber! Habicht und Sperber! Ist das nicht lustig?“ Alle Kollegen fanden das auch lustig und amüsierten sich köstlich, indem sie sich für das neue Duo liebevolle Kosenamen wie „Adleraugen“ oder „Fliegende Falken“ ausdachten.
Die harmlosen Späßchen der Kollegen beleidigten das neue Ermittlungsduo natürlich nicht und die Männer lernten allmählich einander kennen. Zum Glück gab es in letzten Tagen genug Zeit dafür, deshalb konnten die Partner Habicht und Sperber wenigstens die erste oberflächliche Bekanntschaft schließen.
Der neue Kriminalhauptkommissar Jens Sperber war zehn Jahre jünger, zehn Zentimeter größer und bestimmt zehn Kilo leichter, wenig nicht mehr, als der Kriminalhauptkommissar Andreas Habicht. Außerdem ernährte er sich vegetarisch, machte kleine Yoga-Pausen, trank keinen Kaffee und stellte ein richtiges Gegenteil vom Kollegen Habicht dar. Bis jetzt konnte Andreas Habicht keine Gemeinsamkeiten zwischen ihm und dem Neuen feststellen. Nur Unterschiede. Sogar bei der Wahl des Fortbewegungsmittels für die Arbeitsfahrten lagen die Kommissare weit voneinander. Jens Sperber kam zur Arbeit mit dem Motorrad oder mit dem Rennrad, was Andreas Habicht selbstverständlich überhaupt nicht komfortabel fand. Die Fahrt mit einem großen Kombi war für ihn praktisch, bequem und schnell. Der ehemalige Kollege Edwig mochte auch die Autofahrten und wäre nie auf die Idee gekommen, mit einem Motorrad oder einem Drahtesel, selbst wenn er einen Akku hätte, zu fahren. Martin Edwig wurde gerne gefahren, obwohl er ab und zu Andreas Habicht für seinen Fahrstil kritisierte und in diesem Augenblick hätte er bestimmt auch seine Kritik ausüben wollen, da der Kriminalhauptkommissar Habicht ungeschickt vor der roten Ampel anhielt. Das war die letzte Ampel. Gleich hinter ihr begann die kleine Straße, die als der Zubringer auf die Autobahn diente. Dass die Kripo auf die Autobahn gerufen wird, passierte äußerst selten. Wann genau diese zuletzt der Fall wäre, konnte der Kriminalhauptkommissar Habicht nicht sagen.
Die muntere Stimme des Radiomoderators teilte mit, es sei schon sechs Uhr morgens. Die große Stadt und ihre Umgebung schliefen nicht mehr, was die Autokolonnen bewiesen. Auf allen Autobahnspuren in beiden Richtungen fuhren eilig die großen und kleinen Fahrzeuge. Der morgendliche Verkehrsfluss in seiner Richtung lief noch schnell, aber Andreas Habicht ahnte schon, dass alle Eilenden in ein paar Kilometern deutlich langsamer fahren müssen. Die aktuellen Nachrichten wurden durch eine Eilmeldung über die Autobahnsperrung unterbrochen. Die Autofahrer wurden dringend gebeten, nicht auf die Autobahn zu fahren und andere Fahrwege zu benutzen. Die voraus fahrenden Fahrzeuge fuhren langsamer und langsamer und diejenigen, die von der Autobahnsperrung zu spät oder überhaupt nicht gehört haben, waren gezwungen anzuhalten und befanden sich in einer riesen großen Falle.
Der Kriminalhauptkommissar Habicht fuhr jetzt auf einer lahm gelegten Autobahnstrecke durch die gebildete Rettungsgasse. Links und rechts von ihm standen still große und kleine Fahrzeuge. Die Fahrer und ihre Mitfahrenden saßen wie gefangen in ihren Kraftwagen und konnten nichts gegen den Stillstand auf der Autobahn tun. Gestresste Pendler, immer unter dem Zeitdruck stehende Lieferanten, kopfschüttelnde Taxifahrer mit genervten Reisenden, ermüdete Nachtschichtler, blasse Studenten, Azubis und viele andere, die am heutigen frühen Morgen endlich ans Ziel, was auch immer das war, kommen wollten. Alle diese Menschen schauten missgelaunt durch die Autofenster und gaben schon die Hoffnung auf, ihre Fahrziele rechtzeitig zu erreichen. Alle saßen fest. Alle konnten sich nicht mal kurz vor dem Auto die Füße vertreten, da der Ausstieg aus Sicherheitsgründen untersagt wurde. Aber die Menschen wollten bestimmt ohnehin beim Regen wie heute nicht nass werden. Andreas Habicht wollte auch nicht, aber er sollte. Pflichtgemäß. Er hielt seinen Wagen kurz vor dem rot-weißen Sperrband, schaltete den Motor aus und beobachtete ein paar Sekunden das Geschehen hinter der Sperrband, um sich den ersten Eindruck von der Lage zu verschaffen. Außer den Einsatzkräften und Einsatzfahrzeugen sah er noch einen fast diagonal stehenden Lastkraftwagen, der offensichtlich in einen Verkehrsunfall geraten war. Aus dem Beobachteten konnte der Kriminalhauptkommissar Habicht für sich kein Bild machen und stieg unlustig in den nieselnden Regen aus. Sobald die ersten kalten Tropfen auf seinem Kopf und Hals landeten, ärgerte sich der Kommissar darüber, dass er immer noch keine passende Regenjacke mit einer breiten Kapuze besorgt hatte. Wenigstens einen Regenschirm muss er mithaben.
Der abgesperrte Unfallort war voll und der Kriminalhauptkommissar Habicht musste feststellen, dass sich alle wichtigen Akteure der Ermittlungsarbeit, außer ihm, an Ort und Stelle befanden. Mit leichtem Neid entdeckte der Kommissar Habicht auch, dass die Kollegen und Kolleginnen entsprechend der aktuellen Wettersituation bekleidet waren. Unter anderem sein neuer Kollege. Der letzte fiel von Weitem auf, weil er dank seiner ordentlichen Größe besonders augenfällig war. Jens Sperber verabschiedete sich gerade von der Rechtsmedizinerin Frau Doktor Helga Marschke. Beim Einsteigen in ihren Kleinwagen bemerkte sie Andreas Habicht, winkte ihm kurz zur Begrüßung und zeigte auf den Kriminalhauptkommissar Sperber. Allem Anschein nach sollte diese schnelle Geste bedeuten, dass die Erstinformationen schon mitgeteilt worden waren und die Frau Doktor selbst war in Eile. Der Kommissar winkte zurück, aber er war sich nicht sicher, dass die eilende Rechtsmedizinerin seinen Wink deutlich sehen konnte, weil sie blitzschnell losfuhr. Womöglich zum nächsten Tatort oder zu einer anderen ebenso wichtigen Veranstaltung.
Der junge Kollege Sperber begrüßte Andreas Habicht freundlich und vornehm mit höflichem Siezen. „Guten Morgen!“, erwiderte der Kriminalhauptkommissar Habicht, „Seit wann sollen wir uns mit den Verkehrsunfällen beschäftigen?“ Von seiner Frage ließ sich aber der Kollege nicht irritieren, weil auf diese mit einer nicht zu überhörenden Unzufriedenheit gestellte Frage seine ruhige Antwort folgte: „Wahrscheinlich seit heute. Bis jetzt wurde ich auch noch nie zu einem Tatort auf der Autobahn gerufen. Die Kollegen sind allerdings während der Verkehrsunfallaufnahme auf etwas Ungewöhnliches gestoßen. Aus diesem Grund sind wir hier“.
Was diesmal Ungewöhnliches an einem durchschnittlichen Verkehrsunfall gewesen wäre, konnte sich der Kommissar Habicht beim besten Willen nicht vorstellen. Er richtete seinen misstrauischen Blick auf die aufgestellte Unfallsichtschutzwand, hinter der bestimmt ein verunfalltes Auto stand: „Es gab aber einen Verkehrsunfall. Oder irre ich mich?“. Der Kollege schüttelte energisch seinen Kopf: „Nein, Sie irren sich definitiv nicht. Es handelt sich in erster Linie um einen Verkehrsunfall. Jedoch wurde ein ziemlich merkwürdiger Fund sichergestellt, der mit dem Verkehrsunfall grundsätzlich nichts zu tun haben kann. Kommen Sie mit zum Auto und überzeugen sich selbst“.
Jens Sperber führte den Kollegen hinter die grauweiße Sichtschutzwand. An der Leitplanke, verborgen vor allen neugierigen Blicken, sahen die Kommissare einen schwarzen Mercedes-Benz C-Klasse. Der schwarze Autolack glänzte spiegelnd und das verunfallte riesige Ungeheuer sah auf den ersten Blick ziemlich neu aus. Möglicherweise ein Jahreswagen oder ähnlich, aber der entstandene wirtschaftlicher Totalschaden auf der linken Seite verwandelte ein teures Luxusauto in einen wertlosen Metallhaufen.
Der Kriminalhauptkommissar Sperber öffnete den Kofferraum. Drin lag eine männliche Leiche. Jens Sperber drehte sie leicht nach rechts: „Genickbruch. Laut der ersten Erkenntnisse ist der Mann seit gestern 18 Uhr tot“. Andreas Habicht stieß einen leichten langen Pfiff aus. Mit einem Toten im Kofferraum konnte er wirklich nicht rechnen. In seiner langjährigen Praxis war das der erste Fall mit einer Leiche im Kofferraum eines Autos. Seine Verwunderung blieb nicht unbemerkt. „Na, was sagen Sie? Dieser Verkehrsunfall ist wirklich ungewöhnlich. Nicht wahr?“, fragte der Kollege Sperber. Andreas Habicht strich über sein breites unrasiertes Kinn und murmelte zurück: „Ich muss zugeben, dass dieser Verkehrsunfall tatsächlich bemerkenswert ist. Wie ist man übrigens auf 18 Uhr gekommen?“. Jens Sperber hob den rechten Arm des Toten. Auf der Außenseite des rechten Handgelenks saß eine teure Smartwatch.
Ach so, die modernen Technologien.
Ja. Moderne Technologien sind manchmal ziemlich nützlich.
Gibt es andere Informationen außer der Todeszeit? Was hat die werte Frau Doktor zum Tathergang berichtet?
Kurz vor dem Tod sollte der Tote eine körperliche Auseinandersetzung gehabt haben, was möglicherweise zum tödlichen Genickbruch führte. Aber Genaues erfahren wir nach der Obduktion. Mit dem Bericht ist erst frühestens morgen Nachmittag zu rechnen, da Frau Doktor Marschke heute beruflich unterwegs ist.
Sonst was?
Die Kollegen waren fleißig und konnten nicht nur die Identität des Fahrzeughalters feststellen, sondern auch ihn finden“.
Diese Nachricht gab dem Kriminalhauptkommissar Habicht eine kleine Hoffnung, den neuen Fall schnell lösen zu können: „Und wer ist das?“. Jens Sperber nickte auf den im Kofferraum liegenden leblosen Körper: „Unser Toter.“ Die Antwort enttäuschte Andreas Habicht stark. Er hörte wie seine schwache Hoffnung mit lautem Knall in kleine Teilchen zerbrach. „Was?! Ich ahne nichts Gutes“, brummte der Kommissar. Aufgrund seiner langjährigen Berufserfahrung war ihm schon jetzt klar, dass dieser neue Fall etliche Schwierigkeiten mit sich bringen wird. Seine schwereren Gedanken wurden von den klaren Worten des Kollegen Sperber unterbrochen, der weiter munter über den Toten berichtete.
Unser Toter heißt Torsten Hagedorn, geboren am 12 August 1983, wohnhaft in Hamburg. Die Meldeadresse lautet Händelstraße 17 und beruflich war der Mann selbstständiger Immobilienmakler.
Stehen uns schon sogar Informationen aus dem beruflichen Umfeld des Opfers zur Verfügung?
Im Wagen wurden seine Visitenkarte sowie der Ausweis, die Fahrzeugpapiere und einige Geschäftsunterlagen gefunden.
Und wer ist mit dem Auto gefahren, wenn der Besitzer im Kofferraum mausetot lag?
Drei männliche Personen. Sie bewegten sich mit dem Mercedes auf der Autobahn. Während der Fahrt platzte der linke vordere Reifen. Daraufhin prallte das Auto gegen die Leitplanke und kam zum Stehen. Nach dem Zusammenstoß ist der Fahrer laut den Zeugen rasch ausgestiegen, ohne dabei auf den Verkehr zu achten. Er ist vom nachfolgenden Transporter erfasst worden.
Tot?
Zum Glück nicht, aber bewusstlos und lebensgefährlich verletzt. Der Mann wurde mit dem Rettungshubschrauber ins Krankenhaus geflogen. Er soll notoperiert werden, außer wenn man ihn nicht rechtzeitig anliefern wird.
Was ist mit den anderen zwei Personen?
Die Mitfahrer sind vom Unfallort geflüchtet und befinden sich aktuell auf der Flucht. Die Suchaktion läuft bereits, deshalb könnten die flüchtigen Männer hoffentlich bald festgenommen werden.
Na, ich bin schon gespannt, wie lange diese Suchaktion dauern wird.
Die Kollegen sind recht optimistisch.
Mein Optimismus hält sich in Grenzen. Ich persönlich werde erstmal keine großen Hoffnungen darauf legen. Sie haben bestimmt noch etwas zu berichten.
Allerdings. Im Unfallauto lagen Werkzeuge und drei Sturmhauben. Höchstwahrscheinlich sind die Männer auf dem Rückweg von einer Tat gewesen und haben das Diebesgut im Wagen transportiert.
Oder auf dem Weg zu einer Tat?
Eher nicht. Zwei Insassen sind laut den Zeugenaussagen mit drei großen Sporttaschen vom Unfallort weggelaufen.
Konnten die Zeugen die flüchtigen Personen beschreiben?
Kaum. Sie meinten, es sei alles so schnell passiert. Außerdem waren sie selbst in den Unfall verwickelt.
Wieso denn?
Der Kraftfahrer musste stark abbremsen. Die Autofahrer der zwei darauffolgenden Pkws konnten leider die Kollision nicht vermeiden. Sie waren selbst leicht verletzt und sollten von den Rettungskräften zu weiterer ärztlicher Behandlung ins Krankenhaus gebracht werden.
Sorgen Sie sich bitte darum, dass die Personalien vollständig zu uns geschickt werden. Wir müssen die Menschen um die Beschreibung der flüchtigen Personen bitten. Es sollen Phantombilder erstellt werden.
Ich sage Frau Brock Bescheid.
Gut. Hat man beim Toten Papiere gefunden?
Nicht nur. Bei ihm wurden auch wertvolle persönliche Gegenstände gesichert, unter anderem ein Portemonnaie mit über 700 Euro bar und eine teure Armbanduhr. Der Hausschlüssel war im Übrigen ebenfalls beim Toten.
Das spricht erst gegen einen Raubmord. Vermutlich ist das Opfer an einem falschen Ort zur falschen Zeit gewesen und hat die Einbrecher gesehen oder sogar erwischt. Er wollte die Polizei verständigen und wurde dafür ermordet. Die Einbrecher hatten keine Zeit, in seinen Taschen nachzuschauen, weil sie vom Tatort schnell verschwinden sollten, deshalb haben die Täter erstmal die Leiche in den Kofferraum gesteckt und mitgenommen.
Das wäre dann eine plausible Erklärung, warum der Mann mit seinem teuren Zeug tot im Kofferraum entdeckt worden ist. Wir müssen jetzt nun den Tatort finden, um Ihre Theorie zu überprüfen. Man fragt sich nur, wo sich dieser Tatort befindet.
Unter der Berücksichtigung der Beschäftigungsart unseres Opfers würde ich annehmen, dass der mögliche Tatort entweder in seiner Privatadresse oder in der Adresse eines der Immobilienobjekte liegen könnte.
Also, dann schauen wir beim Opfer Zuhause nach. Glücklicherweise haben wir seinen Hausschlüssel. Wenn wir nichts finden, dann geht unser Weg zum Arbeitsort des Mordopfers.
Genau das wollte ich auch vorschlagen, exakt in der Reihenfolge.
Die Kommissare sprachen noch einmal kurz mit den Kollegen, gaben erforderliche Anweisungen und fuhren dann gleichzeitig los. Der Kriminalhauptkommissar Andreas Habicht machte sich mit seinem bequemen Kombi auf den Weg, wo er endlich mal die Trockenheit genießen konnte, und Jens Sperber mit dem schnellen Motorrad.
Zur Wohnadresse des Opfers kamen die Kommissare auch fast gleichzeitig an. Die Händelstraße 17 lag in einem begehrten Stadtteil, im ruhigen charmanten Villenviertel, wo die gut situierten Stadtbewohner ihre Behausung hatten. Die Umgebung war bestimmt zu jeder Jahreszeit schön und an diesem unangenehmen grauen Frühlingstag sollte das auch keine Ausnahme sein. Die überschwänglich blühenden Büsche von Rhododendron, Magnolien und anderem Buschwerk, dessen Name der Kommissar Habicht nicht kannte, beleuchteten die gepflasterte Straße mit buntem Licht der üppigen Blüten. An einem anderen Tag hätte sich der Kommissar Habicht möglicherweise über diese Naturschönheit gefreut, jedoch ließ heute das romantische Straßenbild ihn absolut gleichgültig. Er fuhr unaufgeregt an den Villen vorbei, bis die weibliche Stimme im Navi ihn informierte, dass sich das Ziel auf der linken Seite befinde.
Hier, in einem entzückenden Schlösschen, wohnte also das Mordopfer Thorsten Hagedorn. Die hellgrau gestrichene Villa im Jugendstil stand noch tief im Schlaf versunken. In den großen Fenstern brannte kein Licht und es gab kein Zeichen vom Leben im Haus. Die Kommissare blieben erstmal vor dem Tor stehen. „Was meinen Sie, sollten wir zuerst einmal klingeln?“ fragte Andreas Habicht seinen Kollegen, weil er den Schlüsselbund in der Hand hielt. Der Gesichtsausdruck des jungen Kollegen Sperber zeigte leichte Verunsicherung: „Herr Hagedorn war offiziell nicht verheiratet, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass er eine Freundin hatte, die an diesem Morgen friedlich in der Villa schläft.“ Jens Sperber klingelte einmal am Tor, dann noch einmal und noch einmal. In der Villa kam es zu keiner Bewegung. Offensichtlich konnten die Polizisten mit ihrer morgigen Visite weder eine vermeintliche Freundin noch einen Bediensteten erschrecken. Der Kriminalhauptommissar Sperber öffnete das kleine Seitentor mit einem Schlüssel aus dem großen Bund und die Kollegen betraten das Grundstück. Danach verschafften sie sich den Zutritt in die Villa und waren auf einmal vom hochwertigen und eleganten Domizil überwältigt.
Jens Sperber stieß einen leisen Pfiff aus: „So leben dann die Immobilienmakler! Ein nobles Ambiente! Man konnte unser Mordopfer nur beneiden“. Sein Kollege Habicht schnalzte laut mit der Zunge und erwiderte ironisch: „Augen auf bei der Berufswahl im nächsten Leben.“ Selbst stand er auf so was nicht. Seine Wurzeln kamen aus den einfachen Verhältnissen. Die Verwandtschaft väterlicherseits gehörte zur bodenständigen Arbeiterklasse, die Familienangehörigen mütterlicherseits waren zwar meistens studierte Leute, aber sie konnten mit großen Reichtümern auch nicht angeben. Der Kriminalhauptkommissar Habicht wusste ganz genau, dass der Reichtum nur in drei Fällen möglich wäre. Man kommt zum großen Geld entweder durch den Betrug und die Gewalt oder dank dem Wunder und dem Glück. Der dritte Weg betrifft nicht jedermann und heißt das Familienvermögen, das von Generation zu Generation verdient, vervielfacht und vererbt wird. Auf welchem von diesen drei Wegen es dem getöteten Herrn Hagedorn gelang, an die herrliche Villa in bester Lage zu kommen, wusste der erfahrene Kommissar noch nicht, aber dieses Rätsel wird bestimmt bald erraten. Aus einer der stilvoll eingerichteten Räumlichkeiten kam Jens Sperber heraus, der in seiner energischen Art und Weise im unteren Bereich schon alles durchschaute. Er sah begeistert aus und die grauen Augen leuchteten freudig. Allem Anschein nach genoss er die gesamte Atmosphäre und wunderte sich über alles.
Die Kollegen untersuchten jedes Zimmer und jede Ecke in der großen Villa, aber sie konnten weder Einbruchsspuren noch sichtbare Hinweise darauf finden. Überall herrschten Ordnung und Sauberkeit. Alles lag und stand heil, nichts wurde kaputtgemacht oder zerbrochen. Es wäre bestimmt nicht mal ein bisschen Staub gefunden worden, wenn die Kommissare danach gesucht hätten. Diese Erkenntnisse enttäuschten den Kriminalhauptkommissar Habicht sehr. Mit letzter Hoffnung im Herzen öffnete er die breite Glastür, die auf eine geräumige Terrasse führte. Ihm folgte der junge Kollege. Vor ihren Augen lag ein smaragdgrüner gepflegter Rasen, dessen Rand am Seeufer grenzte. Kurz davor standen zwei weiße Gartenbänke, wo man sich an schönen warmen Tagen verweilen könnte. Rechts und links erhoben sich vereinzelt stämmige Laubbäume und blühende Büsche dürften auch nicht fehlen. Da die Kollegen schweigend auf der Terrasse standen, hörten sie ganz deutlich den leichten Laubrausch und die hellen Töne des Vogelgesangs. Es war ein idyllischer Moment, in dem beide Männer an den neuen Mordfall nicht dachten. Sie genossen die gesegnete Ruhe sowie die ersehnte Wärme der Sonne, die nach dem nächtlichen und frühmorgigen Regen endlich mal ihre Gnade mit den Menschen zeigte. Das friedliche Bild wurde plötzlich und erbarmungslos durch das Handysummen unterbrochen. Andreas Habicht bekam eine Nachricht von seiner Tochter. Sie erinnert ihn an den kommenden Geburtstag ihrer Mutter und bot ihm an, bei der Wahl eines Geschenks zu helfen. Der Kriminalhauptkommissar schickte eine kurze Meldung zurück, während sein Kollege Sperber den tollen Seeblick fotografierte. Danach drehte er sich zu Andreas Habicht und sagte begeistert: „Es ist einfach herrlich hier. Nicht wahr?“. Der Kriminalhauptkommissar Habicht teilte die Meinung des Kollegen. Er wollte noch etwas sagen, aber der Kollege war schneller:
Mein Vater arbeitete als Mathematiklehrer in einer Berufsschule und wollte, dass ich Rechtsanwalt werde. Meine Mutter war Krankenschwester in der Chirurgie. Sie träumte von der Karriere eines Chefarztes für mich. Wenn ich einen der von den Eltern bevorzugten Berufswege genommen hätte, könnte ich jetzt ein ähnliches Zuhause haben. Meine Eltern wären definitiv froh.
Warum sind Sie denn ein durchschnittlicher Kriminalkommissar geworden?
Als Kind habe ich oft spannende Romane über berühmte Privatdetektive und Kommissare gelesen. Manche Geschichten und Fälle haben mich so angeregt, dass ich entgegen den elterlichen Erwartungen Polizist geworden bin und im nächsten Leben möchte ich im gleichen Beruf arbeiten. Wie sieht es bei Ihnen aus?
Dazu möchte ich mich nicht äußern. Aber meine Eltern hätten sich gefreut, wenn ich mein Berufsleben mit dem Handwerk verbunden hätte. Übrigens ist es erstaunlich, dass sich unser Opfer als selbstständiger Immobilienmakler all das leisten konnte.
Lukrative Geschäfte?
Welche genauen Geschäfte würde ich gerne erfahren. Also, im ganzen Hause gibt es keine Einbruchsspuren.
Es sieht so aus. Das bedeutet, dass das Opfer an einem anderen Ort getötet worden war. Vielleicht im Büro?
Das lässt sich bald erfahren. Wo liegt es?
In der Münzenstraße 24.
Noch eine noble Adresse. Ich würde aber vorschlagen, dass Sie hier bleiben und die Nachbarn befragen. Sicherlich ist jemand früh am Morgen zu Hause und kann vielleicht tatrelevante Auskünfte oder Beobachtungen geben. Was halten Sie von meinem Vorschlag?
Ganz und voll damit einverstanden. Das wäre eine effektive Arbeitsteilung.
Es freut mich sehr, dass Sie so einsichtig sind. Wir sehen uns dann später im Büro und tauschen die Informationen aus.
Die Kommissare verabschiedeten sich voneinander und der Kriminalhauptkommissar Habicht machte sich auf den Weg zum Immobilienbüro. Er wollte seinem neuen Kollegen nicht erzählen, dass eine Straße weiter seine Exgattin Stefanie und ihr Mann ein glückliches und idyllisches Ehenest hatten. Herr und Frau Habicht sind zwar nach der Trennung als zivilisierte Menschen Freunde geblieben, aber eine morgendliche Begegnung mit der ehemaligen Frau wäre an diesem Morgen nicht wünschenswert. Seine Jacke und Hose waren immer noch leicht nass und Stefanie hätte bestimmt darauf bestanden, dass Andreas wegen der Erkältungsgefahr trockene Kleidungsstücke ihres jetzigen Ehemannes anziehen müsse. Im Grunde genommen wäre dieser Vorschlag ein harmloses und gut gemeintes Angebot gewesen, aber Andreas Habicht wünschte sich, dass sich seine Ex möglichst weniger um seine Wenigkeit kümmert. Sie waren keine Ehepartner mehr, sondern Ex.
Um sich von den melancholischen Gedanken abzulenken, schaltete Andreas Habicht das Autoradio an. Mit halbem Ohr hörte er den lokalen Nachrichten zu, weil weder politische noch soziale oder kulturelle Ereignisse auf der lokalen Ebene seine Neugier wecken konnten. Ebenso ohne großes Interesse horchte er dem Wetterbericht. Danach folgten Verkehrsmeldungen, aus denen folgte, dass die nach dem Unfall gesperrte Autobahnstrecke wieder frei war. Anschließend kam die Musik, die seinen musikalischen Bevorzugungen nicht entsprach. Für die Suche nach einem passenden Radiosender war Andreas Habicht im Moment zu faul, deshalb schaltete er das Radio aus und fuhr die restliche Strecke in voller Stille.
