Villa Zucker - Allein kann ja jeder - Pippa Jansen - E-Book
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Pippa Jansen

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Beschreibung

Leben, Lachen und Lieben einer chaotischen Wohngemeinschaft in der verwunschenen Villa am Rhein

Ellen (46), Rosa (71) und Kim (13) sind Mutter, Oma und Tochter. So ungleich sie sind - von hyperkorrekt bis tiefenentspannt - haben sie doch eins gemeinsam: Alle drei verlieren durch einen Immobilienbetrug ihr Dach über dem Kopf – ebenso wie Kims verhasster Physiklehrer Hans Seefeld (56) und der geheimnisvolle aber liebenswerte Konrad Schmitt (72). Unfreiwillig nehmen die fünf eine verlassene Villa in Besitz, wo eigentlich die neuen Wohnungen hätten stehen sollen. Ein unerwarteter Todesfall führt Kommissar Mittmann ins Haus, in den Ellen sich glatt verliebt, und im Keller versteckt sich jemand, von dem niemand wissen darf. Manche wollen ihr verlorenes Geld zurück, andere nur ihre Ruhe. Eine sucht die Wahrheit und findet die Liebe. Mit viel gutem Essen und Humor raufen sich alle zusammen und werden eine echte Gemeinschaft.

Überarbeitete Neuauflage. Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Allein kann ja jeder« von Jutta Profijt bei dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München.

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Villa Zucker - Allein kann ja jeder

PIPPA JANSEN

Ein turbulenter Mehrgenerationenroman voller Liebe, Lust und Lebensfreude

Inhaltsverzeichnis

Über das Buch 

Kapitel 1 

Kapitel 2 

Kapitel 3 

Kapitel 4 

Kapitel 5 

Kapitel 6 

Kapitel 7 

Kapitel 8 

Kapitel 9 

Kapitel 10 

Kapitel 11 

Kapitel 12 

Kapitel 13 

Kapitel 14 

Kapitel 15 

Kapitel 16 

Kapitel 17 

Kapitel 18 

Kapitel 19 

Kapitel 20 

Kapitel 21 

Nachwort 

Leseprobe Zusammen ist kein Zuckerschlecken 

Weitere Bücher der Autorin 

Über die Autorin 

Impressum 

Über das Buch

Leben, Lachen und Lieben in einer verwunschenen Villa

 

Ellen (46), Rosa (71) und Kim (13) sind Mutter, Oma und Tochter. So ungleich sie sind - von hyperkorrekt bis tiefenentspannt - haben sie doch eins gemeinsam: Alle drei verlieren durch einen Immobilienbetrug ihr Dach über dem Kopf – ebenso wie Kims verhasster Physiklehrer Hans Seefeld (56) und der geheimnisvolle aber liebenswerte Konrad Schmitt (72). Unfreiwillig nehmen die fünf eine verlassene Villa in Besitz, wo eigentlich die neuen Wohnungen hätten stehen sollen. Ein unerwarteter Todesfall führt Kommissar Mittmann ins Haus, in den Ellen sich glatt verliebt, und im Keller versteckt sich jemand, von dem niemand wissen darf. Manche wollen ihr verlorenes Geld zurück, andere nur ihre Ruhe. Eine sucht die Wahrheit und findet die Liebe. Mit viel gutem Essen und Humor raufen sich alle zusammen und werden eine echte Gemeinschaft.

Kapitel 1

»Wir sind obdachlos?«

Ellen bemerkte selbst, dass ihre Stimme diesen schrillen Ton hatte, den Jens gar nicht leiden konnte. Allerdings waren die Vorlieben ihres Exmannes gerade ihr geringstes Problem.

»Werd jetzt bitte nicht hysterisch, Ellie.«

Sie hatte es immer schon gehasst, wenn er sie Ellie nannte. In diesem Moment kam ihr das gelegen, denn ihre aufsteigende Hysterie verwandelte sich in Wut – eiskalt wie ein guter Wodka. Der Vergleich gefiel ihr, den musste sie sich merken und im nächsten Roman verwenden.

»Wir haben eine Vereinbarung«, sagte Ellen schneidend. »Kim und ich bleiben hier wohnen, bis …«

»Ich werde Vater.«

Ellens Finger krallten sich fester um den altmodischen Hörer, ein kalter Schweißfilm legte sich zwischen ihre Hand und das schwarze Bakelit, und plötzlich fühlte sich die liebevoll restaurierte Antiquität wie ein glitschiger Fisch an. Sie wechselte den Hörer in die andere Hand.

»Ich habe schon einen Interessenten für das Haus, aber sicherheitshalber auch eine Anzeige im Internet aufgegeben«, fuhr Jens fort. »Ich schicke dir den Link. Wenn du noch Änderungswünsche hast, kannst du mir die mailen.«

»Ach«, entfuhr es Ellen. Ein Geräusch, wie wenn aus einem bereits schlabberigen Luftballon mit einem letzten Pffft sämtliche Luft entweicht. So wollte sie aber nicht klingen, um gar keinen Preis, deshalb zwang sie die Wut zurück in ihre Stimme. »Ich fasse es nicht! Das nennt sich also Vaterliebe. Jetzt, da du ein neues Kind bekommst, setzt du das alte auf die Straße? Oder was glaubst du, wo wir wohnen werden, deine Tochter und ich?«

Jens schickte ein leises Seufzen durch den Hörer, dieses Geräusch des unschuldig gepeinigten, vom Schicksal geprüften, aber sein schweres Los duldsam ertragenden Ehegatten, als den er sich selbst gern darstellte. Ellen konnte vor ihrem geistigen Auge förmlich sehen, wie ihr Blutdruck in die Höhe schoss, ähnlich dem Zeiger beim Hau-den-Lukas.

»Bei deiner Mutter ist doch Platz satt.«

Dinggggggg!, hörte Ellen in Gedanken die Glocke der imaginären Jahrmarktattraktion läuten. Sie lachte rau. »Jetzt weiß ich, dass du mich wirklich hasst, sonst würdest du mir diese Folter nicht ernsthaft vorschlagen.«

»Wenn du kindisch wirst, lege ich auf«, erwiderte Jens und legte auf, ohne ihre Reaktion abzuwarten.

Ellen knallte den Hörer auf die Gabel und erwischte sich selbst bei dem Gedanken, dass diese Geste so viel befriedigender war als das Antippen des Hörersymbols auf einem Handy. Dann stellte sie sich vor, wie sie den Hörer wieder in die Hand nahm, die Nummer ihrer Mutter wählte und um Asyl bat. Sie griff nach dem Apparat, nahm ihn vom Tisch und warf ihn mit aller Kraft gegen die Wand.

 

Eine halbe Stunde später hatte Ellen das Telefon erst auseinandergenommen und dann sorgfältig wieder zusammengesetzt. Darin war sie inzwischen richtig gut. Nach erfolglosen Versuchen, ihre Seelenruhe und Ausgeglichenheit in Meditation, Mandala-Malen und Yoga zu finden, war sie eines Tages zufällig in einem Repair-Café gelandet und hatte so das Reparieren für sich entdeckt. Das entpuppte sich als äußerst effektiv und war auch noch ziemlich praktisch für eine frisch geschiedene Frau. Und auf jeden Fall billiger als ein Therapeut.

Während Ellen an dem unverwüstlichen Telefon herumbastelte, verebbte ihre Wut und ihr Verstand meldete sich zurück. Der Verkauf des gemeinsamen Hauses, den ihr Exmann beschlossen hatte, würde ihr nicht viel Geld bringen. Zunächst musste die Hypothek getilgt werden. Von der Summe, die danach übrig blieb, ging die Hälfte an Jens. Zwanzigtausend hätte sie im besten Fall zu erwarten. Falls Jens es sehr eilig hatte und auf das erstbeste Angebot einging, eher weniger.

Mit ihren Honoraren, dem Kindergeld und Unterhalt hatte sie ein Einkommen, mit dem Kim und sie gerade so über die Runden kamen. Auf jeden Fall zu wenig, um sich ein anderes Haus zu kaufen. Selbst für eine Eigentumswohnung würde es nicht reichen, denn freiberufliche Alleinerziehende waren bei Kreditgebern ähnlich beliebt wie Häftlinge oder Rentner. Und bei den aktuellen Mieten würde sie mit ganz viel Glück auf eine Dreizimmerwohnung kommen, wo dann ihr Schreibtisch im Schlafzimmer stehen würde. Dabei hasste sie es, neben dem Bett zu arbeiten, genauso wie sie es hasste, neben dem Schreibtisch zu schlafen. Aber vier Zimmer waren nun mal nicht drin, vermutlich auch kein Balkon, von einem Garten ganz zu schweigen. Jedenfalls nicht in akzeptabler Entfernung von Kims Schule.

 

Meine Romanheldin würde einen Ausweg finden, ging ihr durch den Kopf, während sie sich im Badezimmer kaltes Wasser ins ungeschminkte Gesicht warf und ihr Spiegelbild einer kritischen Betrachtung unterzog. In ihr kastanienbraunes schulterlanges Haar hatten sich bereits einzelne Silberfäden gemischt, die Fältchen um Augen und Mund waren deutlich erkennbar, und bestimmt hatte sie von ihren ein Meter siebzig Körpergröße bereits etliche Zentimeter eingebüßt, denn ihre Haltung war irgendwie schlaffer geworden und die Schultern deutlich nach vorn gesackt. Sie seufzte. Ein neuer Haarschnitt, eine Tönung, vernünftiges Make-up und regelmäßiger Sport waren das Mindeste, das sie in Angriff nehmen musste, wenn sie nicht bald zehn Jahre älter aussehen wollte, als sie wirklich war.

Jede Heldin der Heftchenromane, von denen Ellen alle zwei Wochen einen ablieferte, erlebte eine Situation wie die, in der ihre Schöpferin sich jetzt befand. Schicksalsschläge, Hoffnungslosigkeit, das Gefühl zu versagen, vor den Trümmern des eigenen Lebens zu stehen und keinen Ausweg zu finden. Aber der Ausweg offenbarte sich dann doch, die Hoffnung starb zuletzt und am Schluss wurde jede Geschichte von einem Happy End gekrönt. Im Heftchenroman. In der Realität leider nicht.

Aus diesem Grund würde ihr wohl nichts anderes übrig bleiben, als gleich zu Rosa, ihrer Mutter, die nicht Mutter genannt werden wollte, weil es sie alt mache, zu fahren und um Asyl zu bitten. Passenderweise war Rosa am Vorabend von einem dreitägigen Seminar aus Haltern am See zurückgekehrt. Lachyoga, wenn Ellen sich nicht täuschte. Das würde ihr allerdings auch nichts nützen, denn Ellen war bereit, ein komplettes Honorar darauf zu verwetten, dass ihrer Mutter angesichts der unerwarteten Neuigkeit das Lachen im Halse stecken bleiben würde.

***

»Zwei Stunden Physik, ich ertrage es nicht«, stöhnte Kim.

Jenny nickte. »Lass uns blaumachen«, schlug sie vor. »In der Ehrenrunde gibt es heute Schokokuchen.«

Kim zögerte. Die Verlockung des legendären Schokoladenkuchens stand gegen das Risiko, entdeckt zu werden, denn das unmittelbar neben der Schule gelegene Café Ehrenrunde wurde regelmäßig von Lehrern nach Schwänzern gefilzt. Sie war noch unentschlossen, als sie ein Kitzeln am Ohr spürte.

»Diese Physikstunde solltet ihr nicht verpassen, Mädels«, raunte Tarik so nah an Kims Ohr, dass ihr schwindelig wurde. Sie hatte ihn nicht kommen gehört. Als sie sich zu ihm umdrehte, war er schon weitergegangen.

Jenny riss die Augen auf. »Hast du was mit dem?«

Kim spürte, dass ihre Wangen glühten, und sie verfluchte ihre blasse Haut, auf der jeder hektische rote Fleck doppelt ins Auge fiel.

»Quatsch!«

Leider, fügte sie in Gedanken hinzu. Welches Mädchen hätte nicht gern etwas mit Tarik gehabt? Er war ein Jahr älter als der Rest der Klasse und sah fantastisch aus mit seinen blauschwarzen, lockigen Haaren, der ganzjährig sommerbraunen Haut und den breiten Schultern. Der absolute Hingucker waren allerdings die grünen Augen mit den goldenen Sprenkeln.

»Dieser Psycho ist echt unheimlich«, seufzte Jenny.

Natürlich meinte sie nicht Tarik, sondern den Physiklehrer. Wie aufs Stichwort betrat Hans Seefeld das Klassenzimmer. Als er seine Tasche auf dem Pult abstellte, schlug der Gong zur dritten Stunde. Zehn Minuten später explodierte die Bombe.

 

Kim stand vorn am Lehrerpult und bemühte sich, den Versuchsaufbau nach den Anweisungen, die Seefeld an die Tafel gezeichnet hatte, hinzukriegen. Sie hasste es, so nah an Seefeld herankommen zu müssen, konnte aber gar nicht so genau sagen, warum. Er war nicht schmuddelig, wie der olle Mörring, der Geschichte unterrichtete und immer Flecken seines Frühstücks auf dem gelben Pullunder hatte. Er roch nicht unangenehm wie Frau Rosentreter, die wahre Biotope unter ihren Achseln züchtete und Deo offenbar für Teufelszeug hielt. Und er war nicht anzüglich wie der Typ, der im letzten Schuljahr vertretungsweise Mathe gegeben, dann aber von einem Tag auf den anderen die Schule wieder verlassen hatte. Seefeld war anders. Er war immer so … steif. Er bewegte sich, als hätte er einen Stock verschluckt, sprach ausschließlich im Kommandoton und kannte keine Toleranz. Nicht bei der Pünktlichkeit, nicht bei den Hausaufgaben, nicht im Umgang miteinander. Er siezte die Schülerinnen und Schüler und redete sie mit Nachnamen an, obwohl das in der siebten Klasse eigentlich nicht üblich war. Kim hätte sich nicht gewundert, wenn plötzlich ein rotes Lämpchen an Seefelds Stirn aufgeleuchtet und einen niedrigen Batteriestatus angezeigt hätte. Sie unterdrückte ein Kichern, als sie sich Seefeld als Cyborg vorstellte, der gelegentlich ein Auge herausnahm, um es neu zu verdrahten. Er sollte auch mal seine soziale Programmierung updaten lassen, dachte Kim und überprüfte mit einem schnellen Blick, ob sie alles korrekt aufgebaut hatte. Schien okay zu sein.

Kim schaute zu Seefeld, der ihre Bemühungen reglos mit vor der Brust verschränkten Armen beobachtet hatte. Er schüttelte den Kopf und öffnete den Mund – dann brachte der Donnerknall die Welt zum Einsturz.

Kim spürte noch, wie ihr die Beine weggezogen wurden und sie zu Boden ging, aber sie spürte keinen Aufprall. Im nächsten Moment fand sie sich in embryonaler Schutzhaltung auf dem Boden liegend wieder. Seefeld stand in geduckter, sprungbereiter Haltung neben ihr und hielt den dreibeinigen Ständer des Erlenmeierkolbens wie eine Waffe in der rechten Hand.

Nach einer Zeit, die ihr unendlich erschien, regte sich der Lehrer, schaute zu ihr hinunter und bewegte die Lippen.

»Hä?«, fragte Kim, obwohl sie nicht sicher war, ob sie das Wort wirklich ausgesprochen hatte. Zumindest hatte sie nichts gehört. Da fiel ihr auf, dass sie gar nichts hörte.

Seefeld kniete jetzt neben ihr, drehte ihren Kopf leicht nach links und rechts, blickte ihr tief in die Augen, ließ einen Finger vor ihren Augen kreisen und nickte ihr zu. Dann verschwand er aus ihrem Gesichtsfeld. Kim rappelte sich auf und beobachtete Seefeld, der erst unter den Rolltisch sah, auf dem der Versuchsaufbau gestanden hatte, und dann halb unter das danebenstehende Pult kroch. Er hob etwas vom Boden auf und betrachtete es mit ausdruckslosem Gesicht. Kim meinte, einen zerfetzten Feuerwerkskörper zu erkennen, einen, wie ihn ihr Vater einmal an Sylvester gezündet hatte. Einmal und nie wieder. Diese Dinger wurden unter dem Namen Kanonenschlag verkauft.

***

Rosa drehte sich vor dem großen Spiegel, der in ihrem Schlafzimmer stand. Ein monumentales Stück in einem verschnörkelten silberfarbenen Rahmen mit kunstvoll imitierter Patina, das kaum unter die Dachschräge passte. Sie war zufrieden mit dem, was sie sah. Eine Einundsiebzigjährige hatte sie sich früher immer ganz anders vorgestellt: grauhaarig, mit Dragonerbusen, ausladendem Gesäß und schwabbeligen Oberschenkeln in Stretchhosen, gekleidet in beige Übergangsjacken und mit bequemen Schnürschuhen.

So würde Rosa nicht einmal mit hundert aussehen. Ihr naturgelocktes Haar war immer noch mehr als schulterlang und mit Henna leuchtend rot gefärbt. Sie war vollschlank, aber nicht dick, und bevorzugte ausdrucksstarke farbenfreudige Kleidung. Heute gefiel sie sich ganz besonders gut, denn das Mitternachtsblau stand ihr hervorragend. Sie hatte den Eindruck, von innen heraus zu strahlen. Das Lachyoga-Seminar war wirklich inspirierend gewesen. Eigentlich fühlte sie sich immer gut, aber jetzt kam sie sich so lebendig wie schon lange nicht mehr vor. Wie schön, dass sie Robert gleich mit dieser kraftvollen Ausstrahlung gegenübertreten konnte. Er würde ihr ein besonders herzliches Kompliment machen, auch wenn er nichts von Dingen wie Energiefluss, Aura oder solchem Kram, wie er es nannte, verstand. Dass er die aufregendste Übersiebzigjährige der ganzen Stadt an seiner Seite hatte, das kapierte er auch ohne den esoterischen Hintergrund.

 

Rosa verließ ihr Haus durch die Hintertür. Mangels Kapital hatte sie ihre Hälfte des Doppelhauses nie umgebaut. Der Flur lief immer noch von der Haustür geradewegs zur Hintertür, das links liegende Wohnzimmer besaß ein großes Fenster, aber keinen Ausgang zum Garten. Im Gegensatz dazu war die andere Doppelhaushälfte, in der Robert seit Mariannes Tod allein lebte, schon vor Jahren modernisiert worden. Der Flur war ins Wohnzimmer integriert, eine Glastür zur Terrasse eingebaut worden. Ein großzügiger, heller Raum war entstanden, um den Rosa ihre Nachbarn immer ein bisschen beneidet hatte.

Als Marianne starb, hatte Robert den Zaun abgerissen und die beiden kleinen Grundstücke zu einem großzügig wirkenden Garten mit einem Teich in der Mitte umgestaltet. Wenn Rosa und Robert nun verabredet waren, gingen sie stets durch den Garten. Kamen sie unangemeldet, klingelten sie jeweils vorn an der Haustür. So viel Privatsphäre musste sein. Oder besser: Hatte sein müssen.

Bald würde sich ihre Wohnsituation deutlich verbessern. Rosa lächelte, als sie auf Roberts Terrasse trat.

In dem Moment stieß sie mit dem Fuß gegen etwas, das dort nichts zu suchen hatte. Seltsam. Bei Robert lag nie etwas herum, über das man hätte stolpern können. Sie blickte nach unten und erkannte das Brecheisen, das Robert benutzt hatte, um die Tür des Gartenschuppens aufzubrechen, nachdem Rosa den Schlüssel in den Teich hatte fallen lassen. Unabsichtlich, natürlich. Sie bückte sich, um die gebogene Metallstange aufzuheben, aber im letzten Moment zog sie die Hand zurück. Nichts anfassen, dachte sie. Vor allem: Vorsichtig sein. Hier stimmte etwas nicht.

Sie ließ den Blick über die Terrasse zur Glastür schweifen und sah den Schaden sofort. Der Holzrahmen war gesplittert, das Schloss herausgebrochen. Die Scheibe hatte Sprünge, hielt aber noch zusammen. Zögernd warf Rosa einen Blick ins Wohnzimmer. Dort herrschte totale Unordnung, aber es war niemand zu sehen. Erst als sie weiter hinten ins Zimmer schaute, in Richtung des großen Mauerdurchbruchs, sah sie ihn.

Robert lag am Fuß der Treppe, und mit dem ersten Blick auf die verrenkt daliegende Gestalt wusste Rosa: Er ist tot.

Sie wusste nicht, wie lange sie so unbeweglich vor der Terrassentür gestanden hatte, als sie plötzlich wieder zu sich kam. Sie griff nach der Türklinke, ließ sie aber im nächsten Moment los, als hätte sie sich die Hand verbrannt.

Fingerabdrücke!, schoss es ihr durch den Kopf.

Sie raffte den Saum ihres Kaftans, legte sich den Stoff um die rechte Hand und drückte die Klinke vorsichtig nieder. Mit zögernden, unsicheren Schritten betrat sie das Wohnzimmer und ging auf Robert zu. Er war ganz offensichtlich die Treppe heruntergefallen, sein rechter Fuß lag auf der untersten Stufe. Die Arme unterm Körper, vermutlich hatte er versucht, sich abzufangen. Seine Augen standen offen. Rosa kniete sich hin und stupste ihn vorsichtig an. Legte zwei Finger ans Handgelenk, dann an den Hals. Die Haut war kalt, Erste Hilfe Maßnahmen sinnlos. Der Tod gehörte zum Leben dazu, das wusste sie, aber traurig war sie trotzdem. Sie setzte sich neben Robert auf den Boden und nahm seine Hand in ihre. Dann begann sie leise zu singen.

***

Fast hätte Ellen die Straßenbahnhaltestelle, an der sie aussteigen musste, verpasst. Im letzten Moment sprang sie auf, drängelte sich Richtung Tür und zwängte sich nach draußen. Auf dem Bahnsteig atmete sie mehrmals tief ein und aus, wie die schlanke, biegsame, solariumgebräunte Yogalehrerin es ihr beigebracht hatte. Das war, bevor Ellen erfuhr, dass ihr eigener Mann die Vorturnerin vögelte. Den Rest des Kurses hatte sie nicht mehr absolviert, was vermutlich der Grund war, warum sie nie den Zustand der totalen Entspannung erreichte.

Jens hatte schon immer ein Händchen dafür gehabt, den treusorgenden Gatten zu mimen, während er sie tatsächlich ausnutzte und hinterging. Aber was er sich jetzt geleistet hatte, war der Gipfel aller Unverschämtheiten. Ellens Gedanken kreisten unablässig um die drängende Wohnfrage, als sie in die Straße einbog, in der ihre Mutter wohnte. Die Sonne warf tanzende Schatten unter das Blätterdach der Platanen, weshalb ihr das zuckende Blaulicht erst wenige Meter vor ihrem Ziel auffiel. Polizei, Notarzt und Krankenwagen standen vor dem winzigen Haus, in dem Ellen viele Jahre ihres Lebens verbracht hatte – und nun wohl auch weitere würde verbringen müssen. Beunruhigt beschleunigte sie ihre Schritte.

 

»Ellen, woher weißt du es?«, hörte Ellen ihre Mutter rufen, noch bevor sie sie richtig. sah. »Wie lieb, dass du gleich gekommen bist.«

Rosa stand auf den Stufen vor ihrer Haustür und zog alle Blicke auf sich. Das rote Haar setzte einen bemerkenswerten Kontrast zum blauen Kaftan mit silberner Litze. Der großzügige Ausschnitt betonte den Ansatz ihres Busens, und die Ringe und Armreifen untermalten ihre ausdrucksstarke Stimme mit einem metallischen Klimpern, als sie die Hand in einer theatralischen Geste an den Hals führte.

Was immer hier passiert ist, wird gerade zur Nebensache degradiert, dachte Ellen mit dem üblichen Gefühl des Fremdschämens, das sich zuverlässig seit sechsundvierzig Jahren einstellte, wenn sie ihre Mutter bei einem ihrer Auftritte erlebte. Ellen schluckte und trat zur Seite, um einen Leichenwagen passieren zu lassen, der in die Einfahrt rollte.

»Robert ist tot.« Mit diesen Worten sank Rosa auf die Stufen und wurde ohnmächtig.

 

»Den Arzt her, schnell!«, rief einer der Polizisten, die vor der Tür herumstanden und rauchten.

Robert tot? Ellen blieb wie angewurzelt stehen. Hatte sie das gerade richtig verstanden? Das konnte doch nicht sein, Robert war kerngesund, hatte immer Idealgewicht, bewegte sich viel, kannte keine Exzesse beim Essen oder Trinken. Im Gegensatz zu Rosa.

»Mutter?«, murmelte Ellen. Sie nahm die Stufen zügig. Nein, das hier sah nicht aus, als spielte Rosa die Drama-Queen. Ihre Wangen waren unter dem Rouge tatsächlich blass und eingefallen, der Puls hektisch. Ellen überließ ihren Platz dem Notarzt.

»Es geht schon wieder«, hauchte Rosa, während sie sich streckte. Zittriger als gewohnt, fand Ellen.

»Danke, junger Mann.«

Nur einen winzigen Moment entgleisten Rosas Gesichtszüge, als der Arzt eine Spritze aus der Tasche nahm, dann schob sie seine Hand mit dem Instrument energisch von sich und rappelte sich auf.

Gegen ihren Willen bewunderte Ellen ihre Mutter, die zwar ihre divenhafte Überspanntheit pflegte, tatsächlich aber Nerven wie Stahlseile hatte. Ellen hingegen hatte weiche Knie. Sie suchte sich einen Sitzplatz und beobachtete alles Weitere aus sicherer Entfernung.

Kapitel 2

»Nein, ich habe weder etwas gehört noch gesehen«, erklärte Rosa eine halbe Stunde später. Sie war immer noch blass, hatte aber ihr Make-up erneuert und saß nun dem Kommissar, dessen Namen Ellen nicht verstanden hatte, in ihrem Wohnzimmer gegenüber.

»Ich bin gestern Abend von einem dreitägigen Seminar wiedergekommen. Weil ich wusste, dass Robert ins Konzert ging, habe ich mich nicht bei ihm gemeldet. Aber wir waren für heute um zwölf verabredet. Robert hatte mich zum Frühstück eingeladen.«

Ellen sah den fragenden Blick des Kommissars, der offensichtlich nicht gleich eine Verbindung zwischen der genannten Uhrzeit und dem Wort »Frühstück« herstellen konnte. Sie verkniff sich ein Grinsen. Früher hatte Ellen nie sicher sein können, dass ihre Mutter schon aufgestanden war, wenn sie selbst aus der Schule kam. Sie stellte das Tablett mit dem Kaffee und den Tassen auf dem Couchtisch ab. Dann setzte sie sich in den freien Sessel.

»Sie sind um zwölf Uhr hinübergegangen?«, fragte der Kommissar irritiert.

Rosa nickte huldvoll.

»Ihr Anruf bei der Polizei ist um halb zwei eingegangen.«

»Ich habe nicht auf die Uhr geschaut.«

»Eineinhalb Stunden«, murmelte der Polizist. »Was haben Sie neunzig Minuten lang gemacht, nachdem Sie die Leiche entdeckt hatten?«

Rosa senkte die Stimme, als sie bedeutungsschwer sagte: »Ich habe Abschied genommen.«

Der Stift des Kommissars schwebte über seinem Notizblock, er schaute auf das Papier, notierte aber nichts. Ellen wurde sich wieder einmal bewusst, wie Rosa auf fremde Menschen wirkte: ziemlich neben der Spur. Dieser Eindruck war korrekt - und doch wieder nicht. Ihre Mutter war unkonventionell und exaltiert, aber gleichzeitig praktisch veranlagt und erfindungsreich bei der Lösung von Problemen. Schwer einzuschätzen, wenn man sie kaum kannte, schwer zu ertragen, wenn man sie gut kannte.

»Sie sind also um zwölf Uhr durch den Garten zu Ihrem Nachbarn gegangen. Bitte beschreiben Sie mir genau, was Sie gesehen und vor allem auch, was Sie gemacht haben«, sagte der Kommissar und nahm dankend eine Tasse Kaffee entgegen, die Ellen ihm reichte.

Sie musterte ihn unauffällig. Er war sicherlich noch keine vierzig (schade eigentlich), hatte mittelblondes lockiges Haar, das dringend einen Schnitt benötigte, trug eine modische Jeans, ein hellblaues Kapuzenshirt mit Aufdruck und knöchelhohe Lederschuhe. Seine Jacke aus dunkelblauem grobem Stoff lag neben ihm auf der Sessellehne. Hanf, erkannte Ellen an dem dezent aufgestickten handförmigen Blatt. Ein Ökobulle, dessen Kleidung auch einem Mittzwanziger gut gestanden hätte. Schnuckelig.

»Wissen Sie, junger Mann, was immer ich Ihnen sage, wird Robert nicht wieder lebendig machen. Also lassen wir doch diese lästigen Details und akzeptieren einfach den Verlust. Erst wenn wir aufhören, Fragen nach dem Wie oder – schlimmer noch – nach dem Warum zu stellen, können wir unser Schicksal annehmen. Und nur dann können wir in Frieden mit uns selbst und unserer Umwelt leben.«

Der Kommissar blickte hilfesuchend zu Ellen, aber die zuckte nur die Schultern. Sie hörte solche Weisheiten seit über vierzig Jahren. Und mindestens ebenso lange ärgerte sie sich über das Desinteresse, das mit dieser Weltsicht einherging. Anteilnahme wegen Hänseleien in der Schule, Trost bei Enttäuschungen oder Einschreiten gegen Ungerechtigkeiten hatte Ellen sich immer umsonst von ihrer Mutter erhofft.

»Der Zustand der Wohnung lässt aber vermuten, dass der Tod Ihres Nachbarn kein Unfall war.«

Rosa reagierte nicht.

»Ich will damit sagen …«

»Ich weiß, was Sie damit sagen wollen«, unterbrach sie ihn. »Sie glauben, dass Robert die Treppe hinuntergestoßen wurde.«

»Möglich. Genau das muss ich herausfinden. Und wenn es so war, wollen Sie doch sicher auch, dass der Mörder …«

»Nein.« Rosa schüttelte den Kopf. »Wozu auch? Der Mörder wird seine Strafe bekommen, auf die eine oder andere Art, in dieser oder einer anderen Welt. Mich interessiert das nicht. Ich habe mich von Robert verabschiedet und dieses Kapitel meines Lebens abgeschlossen. Alles Weitere würde nur verhindern, dass die Wunde des Verlustes sich schließt.«

Die Türklingel enthob den fassungslos dreinblickenden Polizisten einer Antwort.

 

»Leo«, sagten Rosa und der Ökobulle gleichzeitig, als Ellen den Gast hereinführte. Leo Dietjes war zwar vier Jahre jünger als Rosa, sah aber üblicherweise zehn, heute eher zwanzig Jahre älter aus. Das lag nicht nur an seiner schwammigen Figur und der leicht gebeugten Haltung, sondern auch an seiner grau-braun-beigen Altherrenkleidung. Das Brillengestell, das er sich mitten auf die Stirn geschoben hatte, war, soweit Ellen sich erinnerte, seit Jahr und Tag dasselbe.

Ellen sparte sich eine Begrüßungsrunde, da Leo Dietjes offenbar allen Anwesenden bekannt war, und stellte stattdessen eine zusätzliche Tasse auf den Tisch.

»Herr Dietjes, was für eine Überraschung. Was führt Sie denn hierher?«, fragte der sympathische Ökobulle den Neuankömmling verwundert.

»Keine Sorge, Kollege Mittmann, mein Besuch ist privat«, entgegnete Leo, während er dem Jüngeren die Hand schüttelte. Mittmann hieß er also. Leicht zu merken. Und ein schöner Name, ähnlich wie Ellens eigener Nachname: Feldmann. Neben Kim das einzig Gute, das von ihrem Ehemann geblieben war.

»Sie sind zu jung, als dass Sie das Opfer noch kennengelernt hätten, aber er ist – war – einer von uns.«

Leo begrüßte Rosa fürsorglich, die ihm erst die rechte, dann die linke Wange für die obligatorischen Küsschen entgegenhielt, und ließ sich neben ihr auf das Sofa fallen.

»Der Tote ist Robert Tetz, KK 11, seit zwölf Jahren pensioniert. Robert und ich pflegten noch einen lockeren Kontakt, so habe ich auch Rosa, ich meine Frau Liedke, kennengelernt.«

Rosa erlaubte Leo, ihr die Hand zu tätscheln, was Ellen ein zynisches Grinsen entlockte. Sie beschrieb diese Geste gerne in ihren Heftromanen, aber im echten Leben hatte sie sie eigentlich noch nie beobachtet. Dann stutzte sie. Rosas Hände zitterten tatsächlich.

Auch Kommissar Mittmann hatte das offenbar beobachtet und warf Ellen einen fragenden Blick zu. Sie deutete ein Schulterzucken an und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Der arme Kommissar würde sich sicher noch häufiger wundern, bis er Rosa die Ereignisse des heutigen Tages in einer verständlichen Form entlockt haben würde. Mittmann erwiderte Ellens Lächeln mit einem komplizenhaften Grinsen. Heiß, schoss es Ellen durch den Kopf, der erste Lichtstrahl des Tages. Aber war es nicht reichlich pietätlos, wenige Meter neben der Leiche des lieben Nachbarn mit dem zuständigen Kommissar zu flirten?, meldete sich ihr schlechtes Gewissen, das ihr zuverlässig Gesellschaft leistete, schon ihr ganzes Leben lang. Ellen rief sich mit leisem Bedauern zur Ordnung.

Kollege Mittmann, wie Leo den Ökobullen konsequent nannte, brauchte exakt fünfundvierzig Minuten, um Rosa einen einigermaßen brauchbaren Bericht von ihrer Entdeckung der Leiche zu entlocken.

Schließlich beendete Rosa freundlich, aber bestimmt das Gespräch. »Wenn das dann alles war, würde ich jetzt gern ein bisschen meditieren. Ich muss zur Ruhe kommen, das verstehen Sie sicher.« Leo tätschelte Rosa tröstend den Rücken, Ellen tauschte einen weiteren Blick mit Kommissar Mittmann. Er steckte seinen Notizblock ein und stand auf.

»Sobald die Spurensicherung fertig ist, sollte jemand im Haus nachsehen, was genau fehlt. An wen können wir uns da wenden?«

Leos Hand verharrte auf Rosas Rücken. Er starrte sie fassungslos an. »Hast du Andrea etwa noch gar nicht benachrichtigt?«

 

Ellen hatte befürchtet, dass die unangenehme Aufgabe im Zweifelsfall an ihr hängenbleiben würde, aber zum Glück bestand Kommissar Mittmann darauf, der einzigen Tochter des Opfers die schlechte Nachricht persönlich zu überbringen. Erleichtert brachte Ellen den Kommissar zur Tür.

»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte sie leise und wusste selbst nicht so genau, ob sie die Ermittlung oder ihr eigenes Leben meinte.

Mittmann zog eine Visitenkarte aus der Brusttasche seiner Jacke und reichte sie ihr. Ein Kribbeln lief ihren Arm hinauf, als seine Fingerspitzen ihre berührten. »Für alle Fälle, Frau …«

»Feldmann.« Sie straffte die Schultern. »Ellen Feldmann.« Sicher hatte er mit »alle Fälle« nicht das gleiche gemeint, was ihr gerade durch den Kopf schoss. Schade.

***

Kurz nach Mittmann war auch Ellen gegangen. Nur Leo war geblieben, um Rosa beizustehen. Dass sie keinen Beistand brauchte, glaubte er ihr auch nach der dritten Wiederholung nicht, und so fand sie sich mit seiner Gegenwart ab. Leo redete ohne Unterbrechung, gelegentlich hörte Rosa ein paar Sätze lang zu. Und plötzlich kam ihr die Idee, die sie Leo auch gleich präsentierte.

»Korrekt ist es eigentlich nicht«, antwortete Leo. Eigentlich. Rosa verkniff sich ein Grinsen. Sicher fände er noch ein paar Einwände, aber letztlich würde er es tun. Wer »eigentlich« sagt, hat schon verloren.

»Du bist schließlich Polizist«, sagte sie, als sie aufstand. »Und für die Polizei gilt das Siegel doch wohl nicht.«

Sie gingen denselben Weg durch den Garten, den Rosa vor ein paar Stunden allein gegangen war, nun aber mit dem Wissen, was sie erwartete. Robert war abtransportiert worden, die Autopsie lief vermutlich schon, denn bei einem Tötungsdelikt, sofern es eines war, waren die ersten vierundzwanzig Stunden nach der Tat entscheidend. Hatte Robert ihr das erzählt?, überlegte Rosa. Oder Leo? Oder hatte sie die Erkenntnis aus dem Fernsehen? Eher unwahrscheinlich, da sie üblicherweise keine Krimis schaute. Im Grunde war es sowieso egal. Sie versuchte sich zu konzentrieren.

»Wir sollten auf jeden Fall vorsichtig sein«, flüsterte Leo. Er ging so dicht hinter ihr, dass sie seinen Atem in ihrem Nacken spüren konnte.

»Du kümmerst dich um das Siegel, damit hast du schließlich professionelle Erfahrung«, entschied Rosa.

Leo nickte.

Sie sah ihm an, wie unwohl er sich fühlte. Dabei war er es gewesen, der sie mit seinen wenig schmeichelhaften Bemerkungen über den jungen Kollegen Mittmann überhaupt erst auf die Idee gebracht hatte, das zu tun, weshalb sie nun hier waren.

Einer dieser modernen jungen Männer sei er, hatte Leo über Mittmann gesagt. Er, Leo, habe ihn mit ausgebildet und sich oft darüber geärgert, dass die jungen Kollegen solche Softies seien. Verständnisvoll gegenüber allem und jedem, manchmal mehr Beichtvater als Kommissar. Sie traten höflich auf, baten um Auskünfte, wo sie hartnäckig hätten nachfragen sollen und lobten die Teamarbeit über alles, anstatt sich ihren Platz in der Hierarchie zu erkämpfen.

Rosa hatte ihr Pokerface gewahrt, obwohl es sie Mühe gekostet hatte, ein Lächeln zu unterdrücken. Der lässige Kommissar Mittmann war ihr sympathisch gewesen und hatte letzten Endes auf jede seiner Fragen eine Antwort aus Rosa herausbekommen. Was sollte man ihm also vorwerfen? Zumal Leo jetzt zwar den harten Bullen alter Schule spielte, aber bis zur Pensionierung auf der Karriereleiter selber nicht viel höher gekommen war, als Mittmann heute schon stand.

Während Leo also über die Eignung der jüngeren Kollegen im Allgemeinen und Mittmann im Besonderen schwadroniert hatte, war Rosa plötzlich dieses eine Dokument in Roberts Haus eingefallen. Ein Dokument, von dem sie auf keinen Fall wollte, dass es der Polizei in die Hände fiel, bevor sie selbst die Gelegenheit gehabt hatte, es zu lesen.

Sogar den pensionierten Leo rechnete sie in diesem Fall noch zur Polizei, Mittmann natürlich sowieso. Daher hatte sie eine Ausrede benutzt, um Leo zu diesem »Einbruch« zu überreden: Sie müsse die kosmische Leere in Roberts Haus fühlen, um wirklich realisieren zu können, dass er tot sei. Für ihre Seelenhygiene sei das unverzichtbar.

Wie erwartet hatte Leo bei dem Wort Seelenhygiene gezuckt und schnell genickt. Mit solchen Dingen befassten sich Männer seines Schlages lieber nicht.

 

In Roberts Wohnzimmer schwand Rosas Begeisterung für ihren eigenen Plan. Angesichts des Umrisses von Roberts Leiche am Fuß der Treppe kam die Trauer wieder. Sie ließ sie zu, schloss kurz die Augen und atmete einmal tief ein und aus. Den Seufzer, der in ihrer Kehle aufstieg, unterdrückte sie. Wenn sie jetzt Schwäche zeigte, würde sie ihren selbst ernannten Witwentröster nie wieder los.

»Und was ist, wenn Andrea plötzlich hier auftaucht …?«, flüsterte Leo.

Darüber hatte Rosa auch schon nachgedacht. Sie winkte ab. »Andrea wohnt und arbeitet in Köln. Selbst wenn Mittmann sie nach seinem Besuch hier sofort telefonisch verständigt hat, und selbst wenn sie umgehend losgefahren ist, haben wir mindestens eine halbe Stunde, bevor sie frühestens hier sein könnte.«

»Nun, dann … Was tun wir jetzt?«, fragte Leo.

Ich suche etwas, wovon du nichts wissen sollst, dachte Rosa. Um einen leichten Tonfall bemüht, sagte sie leichthin: »Ich nehme Abschied, Leo. Du kannst auf der Terrasse warten, wenn es dir lieber ist. Hauptsache, du bringst nachher die Sache mit dem Siegel wieder in Ordnung.«

Sobald sie allein war, machte Rosa sich auf die Suche nach den Papieren, die sie noch nie gesehen hatte. Aber sie wusste, dass sie existieren mussten, denn Robert hatte ihr davon erzählt.

Während seiner aktiven Zeit als Kriminalkommissar hatte Robert sich, genau wie alle Kollegen und Vorgesetzten, oft über Ermittlungsfehler aufgeregt, sie aber als unvermeidbar hingenommen. Bis vor einem Jahr. Damals hatte Robert ihr erzählt, dass er immer noch, Jahre nach seiner Pensionierung, an den Fall einer Jugendlichen dachte, der aufgrund mehrerer Fehler zu einer Katastrophe geführt hatte. Da ihm die Sache keine Ruhe ließ, hatte er beschlossen, den Fall für sich noch einmal aufzurollen und zu analysieren, um daraus konkrete Richtlinien für korrektes polizeiliches Vorgehen zu erarbeiten. Er hatte sich Zugang zum Archiv verschafft und meterweise Akten gesichtet, weil ihm »die Sache sonst für den Rest des Lebens als Stachel im Fleisch« säße, wie er sich ausgedrückt hatte. Und dann war er jeden Mittwochnachmittag in dieser Angelegenheit unterwegs gewesen. Rosa kannte - außer dem Namen Melanie, der Robert einmal herausgerutscht war - keine Details über den Fall, aber sie wusste, dass zwei Kriminalkommissare in Roberts Untersuchungsbericht nicht gut wegkommen würden. Der eine war heute Polizeipräsident. Den anderen Namen hatte Robert ihr verschwiegen.

Rosa befürchtete nun, dass diese »Akte Melanie«, wie sie sie insgeheim bei sich nannte, im Laufe der polizeilichen Ermittlungen um Roberts Tod auftauchen könnte – und dann klammheimlich entsorgt würde. Der Fall war Robert aber sehr wichtig gewesen. Wenn es also so etwas wie ein Vermächtnis des Verstorbenen gab, dann war es dieser Bericht. Deshalb wollte Rosa die Papiere sicherstellen, den Bericht lesen und dann entscheiden, wie damit weiter zu verfahren sei.

***

Kim schloss die Wohnungstür auf und schnupperte. Natürlich war es total uncool, zu Hause zu Mittag zu essen, während ihre Freundinnen sich in der Stadt verpflegten. Aber wenn es etwas gab, das Kim vorbehaltlos und uneingeschränkt an ihrer Mutter mochte, dann waren es deren Kochkünste. Ansonsten war Ellen, wie Kim ihre Mutter gegen deren ausdrücklichen Wunsch nannte, natürlich oberpeinlich. Eine Heftchenromanautorin! Gefühlsduselige Liebesgeschichten für einsame Frauen zu schreiben, war so dermaßen daneben. Aber kochen konnte sie. Und Kim liebte nun mal die Gerichte ihrer Mutter mehr als die Pizzas und Döner und Baguettes, die ihre Freundinnen dauernd futterten. Abgesehen davon machte Ellens Essen nicht dick.

»Du bist spät dran«, rief ihre Mutter. »War irgendwas Besonderes?«

Wenn du wüsstest, dachte Kim. Nach der Explosion war die Polizei gekommen, da wegen gefährlicher Körperverletzung ermittelt wurde. Dann waren alle Schüler der Klasse von einem herbeigerufenen Arzt untersucht und zwei Mädchen aus der ersten Reihe gleich ins Krankenhaus geschickt worden. Die anderen hatten versprechen müssen, sich innerhalb einer Woche von einem Hals-Nasen-Ohrenarzt ihres Vertrauens untersuchen zu lassen und eine entsprechende Bescheinigung vorzulegen. Und alle, die im Physikraum gewesen waren, als der Kracher explodierte, hatten vom Arzt ein absolutes Kopfhörerverbot bis zum ärztlichen Attest aufgebrummt bekommen. Das ging ja wohl gar nicht! Kim dachte nicht im Traum daran, ihrer Mutter von dem Vorfall zu berichten.

 

»Was gibt es denn?«, rief sie durch den Flur, während sie ihre Schuhe in die Ecke schleuderte und ihre Tasche fallen ließ.

»Nudeln mit Pesto«, rief ihre Ma zurück. »Wasch dir die Hände.«

Ja-ha, dachte Kim genervt, ich bin doch kein Baby mehr. In der Küche fiel Kims Blick gleich auf die Zeitung auf dem Küchentisch, die bei den Immobilienanzeigen aufgeschlagen war. In der Rubrik der Drei-Zimmer-Wohnungen waren mehrere Anzeigen rot angestrichen.

»Hey, was soll das?«, fragte Kim lauter als nötig.

Ellen fuhr herum, folgte Kims Blick und riss die Zeitung vom Tisch. »Setz dich erst mal«, forderte sie sie auf. Ihr Lächeln missglückte. »Das Essen ist fertig.«

Die Nudeln dufteten nach Basilikum und heißem Olivenöl, und Kim hatte Hunger, aber die Vorfreude auf eins ihrer Lieblingsgerichte war verflogen.

»Ma, was soll das?«, wiederholte Kim mit vollem Mund und ärgerte sich im selben Augenblick. Wenn sie ihre Mutter Ma nannte, wusste die gleich, dass Kim Sorgen hatte. Aber okay, dachte Kim, die Sache mit der Wohnung war tatsächlich beunruhigend.

Ellen legte ihr Besteck weg und lehnte sich zurück. Sie wartete, bis Kim ihre Nudeln gegessen hatte. »Dein Vater braucht Geld, weil seine …«, sie machte eine Pause, vermutlich, um ein Schimpfwort zu unterdrücken, dachte Kim. Ellen versuchte immer noch, in ihrer Gegenwart politisch megakorrekt zu sein, um ihr kein schlechtes Beispiel zu geben. Kinderkram!

»… weil seine neue Frau ein Kind erwartet«, fuhr Ellen fort. »Er verkauft dieses Haus. Ich kann nichts dagegen tun, weil ich selbst kein Geld habe, um ihn auszuzahlen.«

Kim glaubte, sich verhört zu haben. Erst letztes Wochenende hatte sie mit ihrem Dad in der Stadt beim Italiener gegessen, da hatte er kein Sterbenswörtchen davon gesagt, dass er Kohle für ein Baby brauchte.

»Aber Dad …«

»Dein Vater überlässt es lieber mir, dir die unangenehmen Dinge des Lebens mitzuteilen«, sagte Ellen.

»Und meine Mutter hat nichts Besseres zu tun, als über meinen Vater herzuziehen, wenn er nicht da ist«, blaffte Kim zurück.

»Und meine Tochter hält natürlich wie immer zu ihrem Vater! Einem Vater, der seine Familie erst betrügt, dann verlässt und sie zum Schluss auch noch auf die Straße setzt.«

Kim sprang auf. Sie spürte, dass ihre Lippen zitterten, ihre Fäuste sich ohne ihren Willen ballten, ihre Augen brannten und gleich überlaufen würden. »Ich …«

»Sag es nicht«, sagte Ellen genervt. »Ich weiß, dass alle Welt mich hasst, aber ich will es gerade einfach nicht hören, okay?«

Kim starrte ihre Mutter fassungslos an, dann drehte sie sich um, rannte in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

***

Ellen holte noch einmal tief Luft und nahm das Telefon wieder zur Hand. Am Vortag hatte sie nicht angerufen, da war Andrea sicher nicht ansprechbar gewesen. Erst die Nachricht vom Tod ihres Vaters, dann vermutlich Termine bei der Polizei und beim Bestatter. Ellen hatte sich zurückgehalten. Aber nun wählte sie Andreas Handynummer, die Rosa ihr gegeben hatte. Es klingelte mehrmals, bis sich die bekannte tiefe Stimme meldete.

»Hallo?«

»Andrea? Hier ist Ellen. Ich wollte dir mein Beileid aussprechen und fragen, ob ich etwas für dich tun kann.«

Am anderen Ende war im Hintergrund lautes Geschrei und der Lärm zerbrechenden Geschirrs zu vernehmen.

»Andrea?«

Eine Tür knallte, dann war Andreas Stimme wieder zu hören. »Entschuldigung, wer ist dran?«

Diese Stimme kannte ganz Deutschland. Sie war so ungewöhnlich tief für eine Frau, dass es keinen einzigen Bericht über Andrea Tetz gab, in dem die Stimmlage nicht erwähnt wurde. Sogar Experten waren dazu befragt worden, wie eine so schlanke Person von einem Meter neunundsechzig zu solch einer männlichen Stimme kam. Ellen wunderte sich immer etwas über das ganze Tamtam. Sie war die Stimme gewohnt. In Kinder- und Jugendtagen waren Andrea und sie wie Pech und Schwefel gewesen. Beste Freundinnen. Bis zu dem Tag, an dem Andrea beim Casting für ihre erste Fernsehrolle in einer Vorabendserie genommen worden war. Seitdem sahen sie sich nur alle Jubeljahre anlässlich einer Feier bei Robert, aber auch dann wurde Andrea immer von einer Vielzahl Bewunderer umlagert, so dass Ellen kaum ein Wort mit ihr wechseln konnte.

»Hier ist Ellen. Mein Beileid zum Tod deines Vaters.«

»Ellen! Das ist aber lieb von dir.«

Andrea klang überrascht, ihre Freude aber ehrlich. Ellen spürte, wie ihre Schultern sich entspannten. Ein Kondolenzanruf war grässlich, aber kaum hörte sie Andreas Stimme, war die alte Vertrautheit wieder da.

»Ich wollte fragen, ob ich etwas für dich tun kann.«

Andrea seufzte. »Ach, Ellen, du bist der erste Mensch, der das wirklich ernst meint. Außer Rosa natürlich.« Ihre Stimme klang müde, als sie fragte: »Woran hattest du denn gedacht?«

»Ähem …« Ellen zögerte. Sie wusste nicht, was Andrea jetzt am meisten benötigte. Aber dann hatte sie plötzlich eine Idee. »Ich dachte mir, da du ja in Köln wohnst und viel arbeitest, dass ich vielleicht hier vor Ort helfen könnte, wenn du Interessenten für das Haus deines Vaters hast. Ich nehme ja an, dass du es verkaufen oder vermieten willst. Du wirst wohl kaum selbst wieder zu Hause einziehen wollen, oder?«

Andrea antwortete nicht.

»Bist du noch dran?«

»Du weißt es wirklich nicht?«, fragte Andrea mit einem seltsamen Unterton, der ebenso gut amüsiert wie ungläubig hätte sein können.

Sofort verspürte Ellen einen Anflug von Gereiztheit. Offenbar gehörte sie zu den Menschen, die grundsätzlich alles als Letzte erfuhren. Aber sie riss sich zusammen, um Andrea nicht anzuschnauzen, sondern fragte nur: »Was denn?«

»Dass mein Vater sein Haus bereits verkauft hat? Er zieht in den Kaiserstern.« Sie machte eine Pause, aber als Ellen nicht antwortete, schob sie die Erklärung hinterher: »Diese neuen Eigentumswohnungen in Kaiserswerth am Deich. Ich meine natürlich: er wollte dorthin ziehen.«

»Das ist ja seltsam«, murmelte Ellen. »Rosa hat mir gar nicht erzählt, dass Robert wegzieht. Ich hätte erwartet, dass sie darüber nicht sehr glücklich wäre …«

Den folgenden Laut konnte Ellen nicht identifizieren. Es war ein Grollen oder Glucksen, vielleicht auch ein Knurren, entwickelte sich dann aber zu einem Geräusch, bei dem sich Ellens Nackenhaare aufstellten. Andrea lachte!

»Es ist wie früher, Ellen, alle wissen Bescheid, nur du hast wieder überhaupt nichts mitbekommen. Tut mir leid, dass du es jetzt von mir erfahren musst: Deine Mutter und mein Vater haben beide ihre Häuser verkauft und sich eine gemeinsame Eigentumswohnung gekauft. Ab Ende des Monats wollten sie …«

Den Rest bekam Ellen nicht mehr mit, denn in ihrem Kopf rauschte das Blut.

***

»Wann genau wolltest du es mir denn sagen?«, fragte Ellen.

Sie stand im Wohnzimmer ihrer Mutter und hatte den Regenmantel noch an. Der Nieselregen, der eine Woche schönsten Frühlingswetters abgelöst hatte, passte zu ihrer Stimmung. Noch besser wäre ein Gewitter mit Blitz und Hagel gewesen, aber selbst das Wetter zeigte sich unsolidarisch.

»Warum führst du dich so zickig auf?«, fragte Rosa zurück. »Ich muss wohl meine Tochter nicht um Erlaubnis bitten, wenn ich umziehen möchte.«

Ellen hatte schon eine patzige Bemerkung auf der Zunge, als ihr auffiel, dass ihre Mutter übernächtigt aussah.

»Ich hätte es einfach ganz gern von dir erfahren«, sagte sie müde.

»Mach uns einen Kaffee«, bat Rosa, »einen starken.«

 

»Robert hatte Probleme mit dem Rücken«, begann Rosa zehn Minuten später, als sich Mutter und Tochter mit ihren Kaffeetassen gegenübersaßen. »Die Gartenarbeit, die ihm immer viel Spaß gemacht hat, wurde plötzlich zur Belastung.«

Ellen verkniff sich eine spitze Bemerkung, denn Robert hatte nicht nur seinen, sondern auch Rosas Garten gepflegt. Rosa nutzte ihren Teil der grünen Oase ausschließlich zum Entspannen.

»Irgendwann legte er einen Prospekt auf den Tisch und sagte: ›Sieh dir das an, vielleicht ist das etwas für uns.‹« Rosa trank einen Schluck Kaffee. »Es ist eins von diesen modernen Mehrgenerationen-Projekten mit Wohnungen für Familien, Singles und Senioren.«

Ellen hatte nie darüber nachgedacht, dass Rosa eines Tages nicht mehr in ihrem winzigen Haus wohnen könnte. Ihre Mutter war vitaler als sie selbst, hatte Ellen häufig gedacht, wenn sie von der Arbeit und dem Haushalt und den Sorgen so erschöpft war, dass sie am liebsten schon abends um sechs ins Bett gegangen wäre. Außerdem hätte ein Umzug vermutlich bedeutet, dass Rosa in einer moderneren Umgebung gelandet wäre, was ebenfalls undenkbar war. Das über neunzig Jahre alte, verwinkelte Haus passte perfekt zur chaotischen Rosa. Errichtet zu einer Zeit, als es noch keine Zentralheizung gab, in den Fünfzigern auf damaligen Stand modernisiert und seitdem gelegentlich renoviert, war es alles, was Rosa sich je hatte leisten können. Während die Nachbarn ihre Firste und Traufen anhoben, die Dachflächen für Gauben öffneten und nach hinten hinaus große Wohnzimmer anbauten, blieb Rosas Haus klein und altmodisch. Immerhin war es ihr Haus, in dem sie tun und lassen konnte, was sie wollte. Als Miteigentümerin in einem modernen Wohnprojekt jedenfalls konnte Ellen sich ihre Mutter nicht vorstellen.

Und jetzt also eine Eigentumswohnung in Kaiserswerth, direkt am Rhein? Kaiserswerth, das Bonzenpflaster, so hatte Rosa es immer abfällig genannt. Da zählt nur, wie viel Kohle du auf dem Konto hast. Zum Kotzen. Rosas Worte. Und dort hatte sie hinziehen wollen?

»Robert liebt den Rhein«, sagte Rosa in Ellens Gedanken hinein.

Liebte, dachte Ellen, aber sie schwieg.

»Eigentlich sind die Wohnungen in den Häusern sehr teuer, aber es gab da diese kleine Drei-Zimmer-Wohnung, deren Schlafzimmer keinen Rheinblick hat. Diese Wohnung konnten wir aus den Erlösen unserer beider Häuser gerade so bezahlen. Wir wollten dort gemeinsam ein neues Leben beginnen.«

Ellen sagte lieber nichts. Mit Rosa zusammenzuleben, war sehr anstrengend, wie sie am eigenen Leib erfahren hatte. Robert hatte sicher gewusst, worauf er sich einließ.

»Und warum habt ihr das heimlich gemacht? Normalerweise bespricht man so eine Entscheidung doch mit der Familie …«

Rosa betrachtete Ellen mit einer hochgezogenen Augenbraue. Dieser spöttische Blick löste bei Ellen sofort das wohlbekannte Kribbeln unter den Fußsohlen aus. Natürlich. Das hatte ja wieder kommen müssen. Die alte Leier, die ihr ihr ganzes Leben lang nachhängen würde. Ihre heimliche Hochzeit mit Jens. Dabei war das etwas ganz anderes gewesen.

»Wirst du denn nun trotzdem dorthin ziehen?«, fragte Ellen in einem bemüht neutralen Tonfall.

Rosa sah sie an. »Was bleibt mir anderes übrig? Ende des Monats muss ich hier raus sein.«

»Du meinst diesen Monat? Ende Mai?«, fragte Ellen entsetzt und blickte sich im Wohnzimmer um. »Hast du überhaupt schon etwas gepackt …?«

»Heute ist erst der zweite.«

»Eben«, sagte Ellen. »Das sind gerade mal vier Wochen!«

»Robert kümmert sich …« Rosa senkte den Kopf. »Er wollte sich darum kümmern, meine ich.«

Ellen dankte Robert einmal mehr im Stillen dafür, dass er so viel Ordnung in Rosas Leben gebracht hatte.

»Kannst du dir die große Wohnung denn allein überhaupt leisten?«

Rosa zuckte die Schultern, während sie sich wieder umdrehte und in den Garten starrte.

***

Bin ich hier in einem schlechten Agentenfilm?, fragte sich Ellen sechs Tage später. Sie stand auf dem Friedhof und hatte den Worten des Pastors gelauscht, aber dann hatte ein Lichtreflex ihre Aufmerksamkeit auf einen großen aufrecht stehenden Grabstein in der benachbarten Gräberreihe gezogen. Halb dahinter verborgen stand ein schmächtiger Mann mit einer gebogenen Nase, die viel zu groß für seinen kleinen Kopf war. Er hatte ein riesiges Teleobjektiv auf die Trauernden gerichtet. Sieben Gräber weiter stand noch ein Beobachter, und als Ellen sich umdrehte, entdeckte sie den Dritten. Was sollte das? Hatte Mittmann, der bei Roberts Tod tatsächlich von einem Fremdverschulden ausging, aber mit der Tätersuche nicht recht vorangekommen war, Kollegen engagiert, die die Trauergemeinde unter die Lupe nahmen, weil sie den Mörder darunter vermuteten? Lächerlich. Zumal die Hälfte der Menschen, die am Grab standen, aus Roberts Kollegenkreis stammten, also entweder noch amtierende oder ehemalige Kriminalbeamte waren. Aber warum sonst hockten hier die Fotografen hinter den Bäumen wie die Paparazzi …? Und auf einmal wusste sie es: Die waren wegen Andrea da! Die Männer mit den Kameras waren keine Polizisten, sondern Vertreter der Boulevardpresse auf der Suche nach einem dramatischen Auftritt der beliebten Schauspielerin Andrea Tetz.

Was sie stattdessen bekamen, war Rosa Liedke. Sie trug ein strahlend weißes knielanges Gewand über ebenso weißen Hosen, einen schwarzen Hut mit Schleier und einen ganzen Arm voll roter Rosen, die sie schluchzend ins Grab warf. Weiß sei die Farbe der Trauer, hatte sie allen Ernstes erklärt. Im Buddhismus, in vielen Regionen der Welt und vor allem auch bei den Sorben, diesem Volk, das noch heute in der Lausitz lebte und woher Roberts Mutter stammte. Den schwarzen Hut mit Schleier hingegen hatte sie nicht erklärt, aber Ellen war sicher, dass sie den Grund für den Farbwechsel kannte: Ein schwarzer Schleier wirkte elegant, ein weißer Schleier ließ alte Haut welk aussehen. Darum heiratet jung, wenn ihr weiße Schleier mögt, dachte Ellen und musste sich bemühen, ihre unpassenden Gedanken nicht durch ein grimmiges Grinsen zu verraten.

 

»Ich bin so froh, dass ich wenigstens euch habe«, sagte Andrea wenig später beim Beerdigungskaffee zu Ellen und Rosa. Sie war mit siebenundvierzig ein Jahr älter als Ellen und fünf Jahre älter als ihr aktueller Lebensgefährte, der kürzlich eine Rolle als Tatort-Kommissar ergattert hatte. Im letzten Interview allerdings, das Ellen in einer Frauenzeitschrift beim Friseur gelesen hatte, war Andreas Alter mit siebenunddreißig angegeben. Ellen nahm sich vor, im Auge zu behalten, in welchem Verhältnis Andrea altern würde. Drei zu eins? Vier zu eins? Dann würde sie erst in zwölf Jahren fünfzig.

Rosa legte Andrea den Arm um die Schultern. Ellen fühlte sich mal wieder ausgeschlossen. Ihre Freundin hatte sich mit ihrer Mutter schon immer besser verstanden als sie selbst. Als Kind fand Andrea das Chaos im Hause Liedke cool, während Ellen von der Schlampigkeit ihrer Mutter genervt war. Sie bekam keine Schulbrote mit, ging ohne Regenschutz aus dem Haus, selbst wenn für mittags Gewitter angesagt waren, und musste oft genug den Sportunterricht in ihren Straßenklamotten absolvieren, weil Rosa den Turnbeutel irgendwo verbummelt hatte. Später, auf dem Gymnasium, beneidete Andrea Ellen darum, dass Rosa anstandslos jede Entschuldigung unterschrieb, wenn Ellen mal keine Lust auf Schule hatte. Was selten vorkam. Andrea hätte von dieser Möglichkeit sicher häufiger Gebrauch gemacht. Außerdem war Rosas Arbeit als Theaterschauspielerin Andrea schillernd und aufregend erschienen – viel interessanter als die Polizeiarbeit ihres Vaters.

Natürlich hatten manche Freiheiten, die im Künstlerhaushalt alltäglich waren, auch Ellen gefallen. Aber jede Medaille hat eine Kehrseite, und so bekam Ellen zu Hause nur selten mal ein Mittagessen, musste schon mit zwölf ihre Klamotten selbst waschen und bügeln, und auch der Einkauf von Grundnahrungsmitteln wurde ihre Aufgabe, weil Rosa regelmäßig vergaß, dass ein Kind im Wachstum nicht von geraspelten Möhren mit Ringelblumenblüten und Brennnesselsuppe satt wurde.

»Ich habe Papa oft genug gesagt, dass er sich eine Alarmanlage zulegen soll.«

Rosa schüttelte den Kopf. »Er hatte eine Lampe mit Bewegungsmelder, ließ nie ein Fenster offen, wenn er wegging, und öffnete die Tür nur für Personen, die er kannte. Er war ein vorsichtiger Mann.«

»Aber dann verstehe ich es noch weniger«, sagte Andrea zweifelnd. »Wenigstens von den Nachbarn muss doch jemand etwas bemerkt haben.«

Den letzten Teil des Satzes hatte sie lauter und über Ellens Schulter hinweg gesprochen, und als diese sich umdrehte, sah sie auch den Grund. Kommissar Mittmann kam mit lässigen Schritten auf sie zu.

»Gibt es Neuigkeiten?«, fragte Mittmann freundlich, bevor er Andrea, Rosa und Ellen die Hand gab. Sein kräftiger, trockener Händedruck hätte auch gut zu einem Handwerker gepasst. Schon wieder ein Pluspunkt, dachte Ellen, die sich wünschte, nach der Heulerei ihr Make-up erneuert zu haben.

»Das wollen wir von Ihnen wissen. Haben die Nachbarn nichts gesehen?«

»Nein«, entgegnete Mittmann. »Der Garten ist von allen Seiten zugewachsen und die direkte Nachbarin, nämlich Frau Liedke, war zum fraglichen Zeitpunkt verreist.«

Rosa machte ein schnaubendes Geräusch.

»Wie sieht denn der Stand der Ermittlungen aus?«, fragte Ellen. Sie mochte den Klang von Mittmanns Stimme.

»Wir gehen weiterhin von einem Einbruchdiebstahl aus.«

»Fehlt denn viel?«, fragte Ellen.

»Vor allem jeder Hinweis«, mischte Leo sich ein, der plötzlich an Rosas Seite auftauchte. Ellen war sicher, dass Leo mehr als nur freundschaftliche Gefühle für Rosa hegte, konnte sich aber nicht vorstellen, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte. Je eher Leo das kapierte, desto besser für ihn, dachte Ellen, aber sie würde sich sicherlich nicht einmischen.

»Es war kein Bargeld in der Wohnung, obwohl Papa eigentlich immer mindestens zweihundert Euro zu Hause hatte. Außerdem fehlte Mamas Schmuck und diverse kleinere Gegenstände, die sich leicht zu Geld machen lassen, wie der DVD-Recorder und der Laptop. Und der Safe war leer«, zählte Andrea auf.

»Aufgebrochen?«, fragte Ellen.

»Nein«, sagte Mittmann.

»Was war denn im Safe?«, fragte Ellen.

»Keine Ahnung.«

»Mindestens vier Barren Gold à hundert Gramm«, sagte Rosa. »Und irgendwelche Papiere, über die ich nichts weiß.«

Ellen starrte ihre Mutter an. »Aber den sonstigen Inhalt seines Safes, wie die Menge an Goldbarren, kennst du ziemlich gut!«

»Waffen?«, fragte Mittmann.

»Keine Waffen.« Rosa wandte sich an Ellen. »Ich kenne sogar die Kombination für die Safetür, Liebes. Erinnere dich: Wir wollten unser Leben gemeinsam verbringen.«

»Da sie die Kombination kennt, hätte auch Frau Liedke den Safe ausräumen können, nachdem sie Herrn Tetz’ Leiche gefunden hat«, sagte Mittmann mit schiefem Grinsen. »Reine Theorie natürlich.«

Rosa tätschelte Andrea die Hand. »Der Herr Kommissar darf gern mein Haus nach Gold, mein Konto nach ungeklärten Geldeingängen und mein Haus nach kompromittierenden Unterlagen filzen, wenn er das möchte.«

Mittmann nickte. »Schön, dass Sie das anbieten. Ich komme gegebenenfalls darauf zurück.«

***

Rosa stand neben Andrea, während die letzten Gäste sich verabschiedeten. Besonders die ehemaligen Kollegen nahm sie genau in Augenschein. Hatten sie von Roberts Archivarbeit und der ›Akte Melanie‹ gewusst? Waren sie nervös, weil sie nicht wussten, wo die Unterlagen abgeblieben waren? Hatten sie Sorge, dass jemand das Ergebnis von Roberts Recherche veröffentlichen könnte? Oder sah jemand selbstzufrieden aus, weil er die Informationen an sich gebracht und nun nichts mehr zu befürchten hatte? Sie konnte keine dieser Fragen beantworten, weshalb sich gleich die nächste stellte: Sollte sie Mittmann ins Vertrauen ziehen?

 

Bei ihrem »Abschiednehmen« in Roberts Haus hatte Rosa keinerlei Hinweis auf die ›Akte Melanie‹ gefunden. Keinen Aktenordner in seinem Arbeitszimmer, kein Notizbuch, auch Roberts Laptop war weg. Aber Mittmann könnte im Archiv nachfragen, welche Akten Robert eingesehen hatte. Und dann?

Vielleicht wusste Mittmann bereits von dem Fall und war vom Polizeipräsidenten persönlich angewiesen worden, den Bericht zu vernichten? Oder Robert war nicht von einem Einbrecher zufällig getötet worden, sondern von jemandem, der die Veröffentlichung der Fallanalyse verhindern wollte? Einem Kollegen?

Rosa schüttelte den Kopf. Sie war zwar ihr Leben lang systemkritisch gewesen, aber paranoid war sie nicht. Ein Mordkomplott bei der Polizei zur Vertuschung von Jahre alten Fehlern war einfach lächerlich. Der Mord an Robert, sofern es einer war, hatte sicher andere Hintergründe. Die Kripo würde den Mörder finden, die Aufklärungsquote bei Gewaltverbrechen lag immerhin bei fast hundert Prozent. Und wenn nicht, wäre es Rosa auch ziemlich egal. Robert wurde nicht wieder lebendig, ob der Mörder nun ins Gefängnis ging oder nicht. Nur Roberts Vermächtnis fühlte sie sich verpflichtet. Eine Einstellung, die natürlich niemand teilte. Sie seufzte.

»Gleich ist es ausgestanden«, raunte Andrea ihr zu.

Rosa nickte. Sie hatte sich immer noch nicht entschieden, ob sie Mittmann ins Vertrauen ziehen sollte oder nicht.

Kapitel 3

Kim nahm seufzend den Kopfhörer ab und legte ihn sich um den Hals. Warum machten die Erwachsenen nur immer so einen Aufstand darum, dass sie deren öde Unterhaltungen mitbekam? Schlimm genug, dass sie ihren Samstagvormittag damit verbracht hatte, mit ihrer Ma Mietwohnungen anzusehen, die so gruselig waren, dass sie dort nicht tot in der Ecke hätte liegen wollen.

Nach so viel Frust wäre Kim gern mit Jenny shoppen gegangen, aber stattdessen ging die Familienfolter weiter. Und so dackelte sie hier auf dem Rheindeich hinter Ellen und Rosa her, um Rosas neue Bude zu sehen. Bescheuert, denn die würde sie noch früh und oft genug sehen, sobald Rosa erst dort wohnte. Aber Ellen machte sich Sorgen um Rosa und wollte sie an die frische Luft bringen. Deshalb der Trip an den Rhein.

Trip ist ein gutes Stichwort, dachte Kim grinsend. Rosa musste heute früh schon vor der Kleiderwahl verbotene Substanzen konsumiert haben, anders waren die mintgrüne Samthose, die Batiktunika in Flaschengrüngold und der große rote Hut nicht zu erklären.  

Mit Rosa allein wäre der Samstagnachmittag vermutlich ganz cool abgelaufen, dachte Kim. Sie verstand sich gut mit dieser Frau, die biologisch einwandfrei belegbar ihre Großmutter war, aber auch genau so gut ein Alien aus einer weit entfernten Galaxie hätte sein können. Sie war total cool und erlaubte Kim alles Mögliche, war aber gleichzeitig egoistisch und lehnte es ab, für andere Leute zurückzustecken - Familienmitglieder inklusive. Wollte Kim also bei Rosa alle Klamotten durchprobieren, bis in die Nacht aufbleiben oder ein ganzes Glas Nutella essen, war das kein Problem. Wollte sie aber einen Abend mit ihrer Oma verbringen, an dem Rosa etwas anderes vorhatte, stand sie vor verschlossener Tür. So etwas wäre bei ihrer Ma undenkbar gewesen. Ellen stellte ihre eigenen Bedürfnisse immer hinter Kims Wünschen zurück, aber dafür war sie eben auch überfürsorglich. Sogar zu ihrer eigenen Mutter. Deshalb latschten sie hier herum.

 

»Ist es nicht einfach himmlisch hier?« Rosa drehte sich mit ausgebreiteten Armen einmal um sich selbst und schlug beinahe einen Radfahrer von seinem Bike.

»Pass doch auf, Schabracke!«, brüllte der Mann, der in seinen hautengen, rosafarbenen Klamotten und dem spacigen Helm aussah wie eine Mischung aus Batman und Prinzessin Lillifee. Kim lachte laut, wofür sie einen strafenden Blick ihrer Mutter erntete, aber sie hätte echt nicht sagen können, welches Outfit der beiden Kontrahenten schriller war.

»Dort drüben ist es.«

Von der U-Bahn Haltestelle Klemensplatz waren sie durch die Ortsmitte flaniert, hatten am Markt Eis gegessen und waren auf dem Deich entlang Richtung Süden gegangen. Uralte Alleebäume spendeten eine Zeit lang Schatten, aber hinter der Fähre wurde die Landschaft offener. Kim achtete mehr auf eine Gruppe Jugendliche, die mit Bierkasten und Grill zum Wasser unterwegs waren, als auf ihre Mutter und Oma. Deshalb rempelte sie gegen Ellen, die endlich stehen geblieben war und mit Rosa auf eine Baustelle starrte, auf der zwei große, identische Gebäude nebeneinander auf die Wiese geklotzt worden waren. Zum Deich hin waren die Gebäude terrassiert, sodass jedes Stockwerk sonnige Balkone über die gesamte Frontbreite hatte.

»Das ist ja gar nicht am Rhein«, stellte Kim fest.

»Natürlich nicht«, entgegnete Rosa. »Die Bebauung beginnt üblicherweise hinter dem Deich und nicht davor.«

Kim schaute sich um. Vom Ufer bis zum Deich waren es sicher zweihundert Meter und vom Deich bis zu den Häusern noch mal hundert. Immerhin lag der Baugrund so hoch, dass der Blick über die Deichkrone reichte.

»Sehr schön«, sagte Ellen mit übertriebenem Enthusiasmus.

Kim seufzte und beobachtete das Kommen und Gehen auf dem Gelände. Schon wieder rumpelte ein Auto über die Baustellenzufahrt auf den bereits fertig gepflasterten Parkplatz. Eine vierköpfige Familie stieg aus und strebte auf das linke Gebäude zu, der gut aussehende Typ mit schwarzer Lederjacke und Sonnenbrille aus dem nachfolgenden Porsche wandte sich nach rechts.

»Was ist denn da los?«, fragte Kim.

»Eine öffentliche Besichtigung?«, murmelte Ellen.

»Es soll einen Termin kurz vor Fertigstellung geben, an dem die Eigentümer ihre Wohnung zum ersten Mal besichtigen können. Aber dafür hätte ich eigentlich eine Einladung bekommen sollen«, sagte Rosa.

»Ist vielleicht in dem Chaos rund um Roberts Tod untergegangen«, erwiderte Ellen mit ihrer salbungsvollen Ich-habe-vollstes-Verständnis-für-dich-Stimme, die Kim hasste.

»Kommt, wir gehen rein«, rief Rosa und stürmte voraus.

 

Aus der Nähe wirkte das Gebäude eher wie ein Büroklotz in der Innenstadt mit Anwälten oder Steuerberatern als wie ein Wohnhaus. Sandsteinfassade mit Granit, Glas, Edelstahl. Kim konnte sich Rosa in dieser Umgebung schlecht vorstellen, aber Robert hätte schon hierher gepasst. Bei ihm war alles immer sauber und aufgeräumt gewesen.

»Was heißt hier, mein Name steht nicht auf Ihrer Liste?«

Kim hatte nicht zugehört, wie Rosa sich bei der Frau in dem grauen Kostüm mit dem Klemmbrett in der Armbeuge angemeldet hatte. Sie hörte Tim Bendzko, damit hatte sie wenigstens ein bisschen Abstand zu diesem Familiending, aber als Rosas Stimme immer lauter und ihre Bewegungen immer ausladender wurden, nahm sie doch den Kopfhörer ab. Das fiepende Geräusch im linken Ohr nervte in der plötzlich stilleren Umgebung.

»Ich habe die Wohnung 2A, das steht so in meinem Notarvertrag und in allen Unterlagen.«

Der Stift der Kostümtante flatterte wieder über dem Klemmbrett herum wie ein Schmetterling auf Koks, dann zuckte die Offizielle die Schultern.

»Bauphase II, Wohnung 2A, Rosa Liedke und Robert Tetz«, wiederholte Oma.

»Bauphase II?«

Für einen Moment stand die Welt still, zumindest kam es Kim so vor. Der Stift verharrte reglos in der Luft, die Klemmbrett-Tussi blieb mit aufgerissenen Augen wortlos stehen und Rosas Hand stockte mitten in der Bewegung. Selbst ihre Armreifen hingen still und klimperten nicht. Nur das Fiepen in Kims Ohr war noch da.

»Das hier ist Bauphase I. Bauphase II hat doch noch gar nicht begonnen.«

Ellen war die Erste, die aus der allgemeinen Schockstarre erwachte. »Da muss ein Missverständnis vorliegen. Ist denn der Geschäftsführer zu sprechen?«

Die Klemmbrett-Tussi schaute Ellen an, öffnete den Mund und brach in Tränen aus.

***

»Ich fasse also mal zusammen«, sagte Leo achtundvierzig Stunden später, nahm die Brille ab und blickte von seinen Notizen hoch. Ellen und Rosa saßen ihm in Rosas Wohnzimmer gegenüber. Rosa sah ein wenig ungehalten aus, aber keinesfalls so fassungslos wie sie selbst, die in der letzten halben Stunde ein Wechselbad der Gefühle durchlebt hatte. Von Ungläubigkeit über aufkommende Hysterie bis hin zur aktuellen Gereiztheit, die sicher bald in einen ausgewachsenen Zynismus münden würde, war alles dabei gewesen. Spätestens bei Erreichen des letzten Gemütszustandes ginge es ihr wieder besser, denn wenn sie zynisch sein konnte, hatte wenigstens die Verzweiflung keine Chance.

»Die Baugesellschaft MultiLiving GmbH ist spezialisiert auf Projekte für Mehrgenerationenhäuser. So sind auch im Kaiserstern, dem Projekt in Kaiserswerth, in dem Rosa und Robert die Wohnung gekauft haben, barrierefreie Apartments für Ältere mit familiengerechten Wohnungen sowie mit typischen Single-Lofts gemischt.«

»Das wissen wir längst«, murmelte Rosa unwillig.

Leo warf ihr einen irritierten Blick zu. »Die Bauphase I ist so gut wie abgeschlossen, Erstbezug ist Ende des Monats. Soweit völlig in Ordnung und seriös. Anders sieht es mit der Bauphase II aus. Die befindet sich noch im Planungsstadium, es gibt keinen einzigen festgelegten Termin, nicht für die Grundsteinlegung und natürlich erst recht nicht für die Fertigstellung. Und die Vermarktung hat noch nicht begonnen.«

Ellen konnte sich ein Kopfschütteln nicht verkneifen.

»Immerhin ist das Grundstück für die Bauphase II schon im Besitz der MultiLiving, was daran liegt, dass die Firma das gesamte Areal zwischen den beiden Deichzufahrten gekauft hat. Es ist groß genug für mehrere weitere Gebäude, also auch Phase drei und vier und …«

»Was ist mit diesem Notarvertrag, den ich habe?«, unterbrach Rosa.