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Francine, eine junge Frau aus Jestetten, will ein Wochenende in Bayern verbringen. Doch ein Familienerbstück sorgt dafür, dass der Trip zu einer völlig anderen Reise wird, als erwartet. Eine Reifenpanne zwingt sie dazu, während eines Gewitters ihr Fahrzeug zu verlassen und ein Blitz befördert sie nach Vioruna, einer Welt, in der es Drachen gibt. Diese Wesen faszinieren Francine ungemein und sie lernt nicht nur eine Gruppe von Menschen dort kennen, nein, auch Drachen. Doch Vioruna ist in Gefahr, denn jemand hat den schwarzen Drachen befreit, der bezwungen werden muss. Sie schließt sich einer Gruppe von Menschen an, die sich genau das zur Aufgabe gemacht haben. Sie begegnet auch Adoran, der Mann mit den strahlend grünen Augen, der sie sofort in seinen Bann zieht. Francine genießt trotz aller Widrigkeiten die einmalige Chance eine andere Welt kennen zu lernen. Eine Welt in der verschiedene Drachenarten leben, die vom Mond beeinflusst werden. Und Adoran hält ebenfalls ein Geheimnis verborgen...
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Seitenzahl: 417
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Vioruna
Eisblaue Augen
Sabrina Höpfinger
Kapitel 1
Das ganz normale Leben
Sie hörte die Vögel zwitschern und die Grillen zirpen.
Ein Auto fuhr vorbei. Menschen, die sich unterhielten.
Und sie spürte die Hitze der Sonne auf ihrer Haut.
Sie liebte dieses Gefühl.
Unter dem freien Himmel liegen, an nichts denken außer an die Sonnenstrahlen, die diese außergewöhnlichen Sommersprossen auf ihre Haut zauberten.
Schon als Kind fand sie die Sommersprossen, die ihre Wangen verzierten, faszinierend. Daran hatte sich nichts geändert, sie sah immer noch gerne die Sommersprossen in ihrem Gesicht, sie fand, dadurch erhielt es mehr Charakter.
Eine sanfte Brise wehte über ihre erhitzte Haut, und es fühlte sich so gut an.
Irgendwo in ihrer Nähe flog ein Insekt ‒ wahrscheinlich, um die Petunien auf ihrem Balkon zu besuchen, die sie sich Ende Mai besorgt hatte.
Ihr Balkon wurde dadurch gemütlich und sie fühlte sich sehr wohl. An einer Ecke hing ein Solarvogel, dessen runder Körper im Dunkeln leuchtete. Sie mochte es, dass auf ihrem Balkon nicht alles kahl war, er war für sie wie ein weiteres Zimmer.
Auf ihrem Gesicht mischten sich der Schweiß und die Sonnencreme. Kleine Rinnsale liefen an ihrer Nase vorbei.
In diesem Sommer war es besonders heiß.
Es gewitterte häufig. Wenn es regnete, dann monsunartig.
Francine störte das überhaupt nicht, ganz im Gegenteil, sie liebte die Hitze, und wenn es nach ihr ginge, dann könnte es jetzt wochenlang so bleiben.
Die meisten Menschen nörgelten immer am Wetter herum. Entweder war es zu trocken oder zu nass, zu kalt oder zu heiß und vor allem war es immer nur schön, wenn man zur Arbeit musste.
Natürlich war das nicht wahr, aber so waren die Menschen eben. Konnten die Leute nicht einfach mal das Positive sehen anstelle der negativen Dinge, die passierten? Alles war relativ, es gab viele schlimme Dinge, die jeden Tag geschahen, das Wetter gehörte nicht dazu. Sie dachte an den Tod ihrer Eltern und kurz durchzuckte sie der Schmerz.
Schlimme Dinge geschahen jeden Tag. Doch es lag an einem selbst, was man daraus machte. Der Tod ihrer Eltern war schrecklich gewesen, doch ihr Bewusstsein für das Leben war verändert worden. Niemand wusste, wann seine Zeit vorüber war.
Francine liebte ihre Arbeit, genoss aber genauso sehr oder noch mehr die Zeit, in der sie sich ihren Hobbys widmen konnte.
Sie hatte jetzt zwei Wochen Urlaub und ein paar Tage davon verbrachte sie mit ihrer besten Freundin Marianne.
Die leichte Brise war inzwischen zu kräftigen Böen geworden. Francine blinzelte vorsichtig, um keine Sonnencreme in die Augen zu bekommen.
Als sie die dicken Wolken erblickte, die sich langsam zusammenzogen, war sie nicht sonderlich überrascht. Bei dieser Hitze bildeten sich häufig Gewitter und Unwetter.
Innerlich freute sie sich bereits wie ein Kind auf den Weihnachtsmann – sie liebte Gewitter.
Meistens krachte es ein paar Mal und dann war es wieder vorbei, doch andere Male dauerten die Gewitter Stunden. Sie saß gerne auf dem Balkon in eine leichte Decke gehüllt und beobachtete das faszinierende Zusammenspiel der Blitze, lauschte auf die folgenden Donnerschläge.
Bevor das Gewitter da war, kündigte es sich gewöhnlich mit Regen an.
Diese Gemütlichkeit, wenn man auf dem Balkon saß, geschützt und es tobte ein Unwetter. Es war unvergleichbar.
Da ihr Magen inzwischen knurrte, beschloss sie, die Sonnencreme und den Schweiß mit einer kühlen Dusche abzuwaschen und sich ein Sandwich zu machen.
Bei der Hitze verlangte ihr Magen kaum nach einer richtigen Mahlzeit.
Langsam stand sie auf und ging nach drinnen. Die Balkontür schloss sie, sobald sie in der Wohnung war, schnell zu, damit die Hitze von draußen nicht in ihre kleine Wohnung drang.
Die Wohnung war gut isoliert, sodass die Kälte im Winter draußen blieb und die Hitze im Sommer auch, so lange sie die Tür geschlossen hielt.
Derzeit war Lüften nur nachts möglich, um ein bisschen frische Luft zu bekommen. Und selbst dann kühlte es nicht merklich ab.
Im Bad angekommen blickte sie prüfend in den Spiegel. Eine leichte Bräune überzog ihr Gesicht und den Rest ihrer Haut. Da sie im obersten Stock wohnte, legte sie sich immer nackt unter die Sonne.
Das Gefühl von Freiheit, wenn nichts einen einengte, auch keine Kleidung, genoss sie. Zum Glück wohnte sie im obersten Stock, so konnte niemand ihren Balkon einsehen.
Klar könnte sie auch ins Freibad gehen, doch die Ruhe zu Hause entspannte sie und sie fühlte sich herrlich wohl in ihrer Haut. Gegenüber dem Wohnhaus, in dem sie lebte, war ein Feld. Der Blick in die Weite war ebenfalls ein riesiger Pluspunkt an ihrer Wohnung.
Sie trat unter die Dusche und stellte das Wasser an. Während sie den Kopf unter den Strahl hielt, ging sie kurz durch, ob sie alles gepackt hatte.
Für den morgigen Start ihres Wandertrips mit Marianne wollte sie nichts vergessen. Zwar ging es erst am Nachmittag los, da Marianne noch bis Mittag arbeiten musste, aber das machte nichts.
Sie hatten genügend Zeit.
Ihre Reisetasche hatte sie soweit gepackt. Ihre Wanderschuhe kamen morgen direkt ins Auto. Sie lächelte bei dem Gedanken an sich mit Marianne, wie sie sich anspornten, weiter und weiter zu laufen.
Ein Blick nach draußen bestätigte Francine, was sie bereits vermutete. Während sie unter der Dusche gestanden hatte, war das Gewitter herangezogen.
Durch die dicken Wolken war die Sonne komplett verdeckt und es kam kaum noch Licht durch die Fenster.
Ihr verschmuster Kater schlich ihr auch jetzt um die Beine und erwartete sein Abendessen.
Francine schob zwei Scheiben Toast in ihren Toaster und ging sich kurz im Bad die Haare trocknen, um die ein Handtuch gewickelt war.
Die rote Mähne reichte ihr inzwischen bis zur Mitte ihres Rückens und es gefiel ihr, die Haare lang zu tragen. Das Fransenpony stand nach oben, wenn sie ihre Haare zu lange im Handtuch trocknen ließ.
Gerade als sie in die Küche zurückschlenderte, erleuchtete der erste Blitz die Dunkelheit draußen. Wenig später folgte ein grollender Donner.
Lächelnd nahm sie ihre fertigen Toastscheiben und legte sich Salat, Tomaten, Gurken und Käse auf ihren Toast. Anschließend etwas Mayo und fertig.
Genüsslich biss sie von ihrem Sandwich ab. Dann gab sie ihrem maunzenden Kater sein Abendessen, bevor sie sich gemütlich mit ihrem Sandwich auf dem Sofa niederließ.
Die Show, die Mutter Natur ihr mit dem Gewitter bot, war einzigartig und übte eine ungewöhnlich starke Faszination auf Francine aus. Sie bekam eine Gänsehaut und fühlte sich merkwürdig, so als müsste gleich etwas passieren, mehr als ein Gewitter.
Ihr Körper vibrierte.
Es war, als wollte das Unwetter ihr etwas mitteilen, und sie wusste selbst, wie unsinnig das klang – sogar in ihrem Kopf, doch so war es.
Vielleicht genoss sie ein Gewitter auch so sehr, weil es eine glückliche Erinnerung an ihren Vater war.
Wenn es gewitterte, war er ebenso aufgeregt wie Francine gewesen.
Sie saßen dann gemeinsam draußen auf dem Balkon und beobachteten den Himmel. Es war spannend dabei zuzusehen, wie die Wolken sich zusammenzogen und ob sie sich zu einem Gewitter entwickelten. Beim Beobachten der Wolken konnte man vieles erkennen. Ihr Vater und sie hatten immer gewetteifert, kam ein Gewitter oder nicht? Wann genau würde es losgehen? Tatsächlich konnte man die Konstellationen am Himmel genau deuten, wenn man oft genug hinsah.
Oft hörte man in weiter Ferne die Donner grollen und sah die Blitze. Man spürte den Unterschied, kurz vor dem Gewitter wurde es still. Kein Windstoß war mehr zu spüren und plötzlich ändert sich alles. Es stürmte und regnete oft, bevor es dann richtig begann. Meist war das der Moment, in dem ihre Mutter sie beide lächelnd dazu aufforderte, endlich reinzukommen.
Ihr Vater und sie saßen dann noch draußen, bis es gleichzeitig donnerte und blitzte, was bedeutete, dass das Gewitter sich genau über ihnen befand.
Erst in diesem Moment rannten sie wie kleine Kinder nach drinnen und ihre Mutter schmunzelte und sagte, irgendwann würde sie noch der Blitz treffen.
Und ihr Vater hatte gelächelt und gesagt–: „Wäre das nicht aufregend?‟
Natürlich hatte er seiner Tochter dabei verschwörerisch zugezwinkert und Francine hatte lauthals gelacht.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass ihre Eltern jemals nicht glücklich gewesen wären.
Hatten sie sich je über etwas beschwert? Nicht über lange Schlangen an den Kassen, nicht über den dichten Verkehr und langsame Autofahrer, nicht über schlechtes Wetter oder unhöfliche Menschen. Ihr Vater meinte immer, jeder hätte mit seinen Dämonen zu kämpfen, und wenn jemand unhöflich war, dann lag das oft an anderen Dingen, als an dem offensichtlich Erkennbaren.
Francine vermisste die beiden sehr.
Das Leben war zu kurz, um auch nur eine Minute unglücklich zu verbringen.
Francine hatte gerade ihr Sandwich fertig verspeist, als das Telefon klingelte.
Die fast schon hysterische Stimme ihrer Tante ließ sie schmunzeln.
„Francine? Wieso bist du vorhin nicht rangegangen? Warst du etwa bei dem Unwetter draußen?“
„Hallo Tante Anne. Natürlich nicht, wer würde denn bei dem Wetter draußen sein? Ich war nur unter der Dusche.“
Zu spät bemerkte Francine, dass sie die Dusche lieber auch nicht erwähnt hätte, da ihre Tante doch überfürsorglich war – vor allem, seit ihre Eltern nicht mehr am Leben waren fühlte sie sich verantwortlich für Francine.
Auch wenn es Francine oftmals nur mit einem Augenrollen quittierte, wusste sie doch zu schätzen, dass sich ihre Tante sorgte.
Anne hielt ihr natürlich sofort einen wohlwollenden Vortrag. „Aber Francine! Du weißt doch, wie gefährlich es ist zu duschen, wenn es gewittert. Ein Blitz wird von Wasser angezogen.“
Bevor ihre Tante weiter ausschweifte, erwiderte Francine gelassen: „Das Gewitter hat erst angefangen als ich schon fertig war. Mach dir doch nicht so viele Gedanken, ich bin schon ein großes Mädchen.“
Ihre Tante schnalzte mit der Zunge. „Du siehst das viel zu gelassen, dein Vater hätte strenger mit dir sein sollen, dir scheinen die Gefahren eines Gewitters gar nicht bewusst zu sein. Es sind schon Menschen vom Blitz getroffen worden, was da alles passieren kann.“
Francine rollte mit den Augen, da Anne sie nicht sehen konnte.
Sie wusste, ihre Tante würde das Thema von sich aus nicht fallen lassen, darum wechselte sie es. „Du hast doch sicher nicht wegen des Gewitters angerufen?“ Es folgte eine kurze Pause.
„Nein, meine Liebe, ich rufe wegen morgen an. Willst du nicht bei mir frühstücken, da wir uns wegen der Schlüsselübergabe sowieso sehen?“
„Das lässt sich einrichten, da Marianne sowieso noch bis Mittag arbeitet und wir dann erst am späten Nachmittag losfahren können, habe ich Zeit. Wollen wir nicht brunchen gehen, dann brauchst du dir keine Arbeit zu machen, Anne.“
„Aber nein, das ist doch keine Arbeit, ich freue mich, für uns Frühstück zu machen. Meine Küche verkümmert ja so schon, wenn ich niemanden da habe, der mitisst.“
Fast hätte Francine laut gelacht, doch sie verkniff es sich schnell und schmunzelte nur. Ihre Tante Anne hatte ständig jemanden da, den sie bekochen konnte.
Sei es einer ihrer Nachbarn, wie ihre Busenfreundin Margrit, die in der Wohnung neben ihr wohnte und sie ständig verkuppeln wollte.
Oder Wilfried Önig, der Vermieter ihrer Tante, der gerne viel mehr als nur ihr Vermieter wäre. Manchmal wunderte sich Francine über ihre Tante, denn sie benahm sich oft, als wäre sie bereits Rentnerin, dabei hatte sie dieses Jahr erst ihren 45. Geburtstag gefeiert. Ihr Vater war 11 Jahre älter als seine Schwester gewesen, aber sie hatte oft gedacht, dass man das nicht gemerkt hatte, da ihr Vater so unbekümmert gewesen war.
„Niemand, hm, Tante Anne?“ Der neckende Ton in ihrer Stimme war Anne nicht entgangen.
„Francine, wenn du jetzt wieder mit Wilfried“, ihre Tante verbesserte sich schnell, „mit Herrn Önig anfängst, dann muss ich wohl noch mal wiederholen, dass es nur Zufall war, dass er gerade vorbeikam, als du letztes Mal da warst.“
„So, dann war es die letzten paar Male davor auch Zufall?“ Francine hatte ihren Spaß dabei, ihre Tante aufzuziehen, außerdem war es wahr, jeder, der Augen im Kopf hatte, konnte sehen, dass Wilfried Önig ständig einen Vorwand fand, um ihre Tante zu besuchen. Und diese genoss die Besuche definitiv, auch wenn sie es noch so sehr abstritt.
„Ganz genau.“ Der ernste Klang von Annes Stimme zauberte ein breites Grinsen auf Francines Gesicht.
Da sie morgen beim Frühstück genug Zeit haben würde, um ihre Tante noch mal nach Herrn Önig zu fragen, ließ sie das Thema fallen.
„Wann soll ich morgen bei dir sein? Ist 10 Uhr in Ordnung?“ Eifrig stimmt ihre Tante zu.
„Ja, das passt perfekt.“
Im Hintergrund konnte Francine die Türklingel ihrer Tante hören.
„Na, bekommst du noch Besuch?“
„Ja, Margrit wollte noch kurz vorbeischauen. Wir sehen uns dann morgen, meine Liebe. Schlaf gut, Francine.“
„Danke, du auch, und grüße Margrit von mir. Wir sehen uns dann morgen.“
Die Straßen waren voll, was Francine wunderte, da es Freitagvormittag war.
Generell fand sie es erstaunlich, wie viele Menschen zu jeder Tageszeit unterwegs waren.
Eigentlich hätte sie gedacht, dass vormittags alle bei der Arbeit waren – außer ein paar wenige Glückspilze, die gerade Urlaub hatten, oder frisch gebackene Mütter.
Den Weg von Jestetten nach Erzingen zu ihrer Tante hätte sie im Schlaf fahren können, so oft, wie sie die Strecke bereits gefahren war.
Es gefiel ihr sehr gut in Jestetten, wo sie wohnte. Ihre Wohnung befand sich nördlich der Hauptstraße, die von Neuhausen nach Jestetten führte.
Von dem oben gelegenen Fleckchen aus hatte sie einen Blick auf die Straße, allerdings war diese weit genug entfernt, sodass der Verkehrslärm nicht weiter zu hören war.
An der Grenze zur Schweiz zu wohnen, war Francine gewohnt.
Es gefiel ihr auch, schnell am Rheinfall zu sein, ein Naturwunder, zu dem viele Touristen kamen. Es war immerhin der größte Wasserfall Europas.
Wasser zog Menschen an, überall auf der Welt. Sei es Wasserfälle, das Meer oder Seen.
Die Fahrt dauerte eine halbe Stunde – nur bei wenig Verkehr schaffte sie es auch in zwanzig Minuten zu ihrer Tante.
Mit siebzehn hatte sie es kaum erwarten können, endlich 18 zu werden und ihren Führerschein zu machen. Auch heute noch, obwohl sie an jedem Arbeitstag mit dem Auto fuhr, genoss sie jede Fahrt.
Obwohl sie bei manchen Autofahrern vor sich tief durchatmen musste. Sie würde nie verstehen, warum manche einfach ohne erkennbaren Grund langsamer fuhren als erlaubt.
Aber sich darüber aufzuregen, wäre absolut sinnlos, ändern konnte sie es ja doch nicht.
Bei ihrer Tante verging die Zeit wie im Flug. Sie frühstückten zusammen bis es Mittag war und Francine bereits wieder aufbrechen musste.
„Bevor du gehst, Francine, habe ich noch etwas für dich.“
Ihre Tante verließ den Balkon – bei dem herrlichen Wetter saßen sie natürlich draußen –, um schnell etwas von drinnen zu holen.
Anne kam mit einer kleinen Schmuckschatulle zurück und Francine hob überrascht die Augenbrauen.
„Mein Geburtstag war doch schon, wofür ist das?“
Tante Anne setzte sich ihr wieder gegenüber und gab ihr das Kästchen.
„Das ist eine Halskette, die deiner Urgroßmutter gehört hat und die jeweils an die nächste Generation weitergegeben wurde. Schon seit sehr vielen Generationen.
Deine Eltern hätten gewollt, dass du sie bekommst, doch ich hatte gar nicht mehr an sie gedacht, bis ich neulich beim Wohnungsputz in der kleinen Kammer hinter dem Sofa im Wohnzimmer darauf gestoßen bin.
Deine Eltern hatten dort ein paar Kisten deponiert und ich habe mir bisher nie die Mühe gemacht, die Kartons durchzusehen.“
Francine öffnete die Schatulle und sah eine feingliedrige und lange goldene Kette mit einem wunderschönen ovalen Medaillon daran. Auf dem Medaillon war in der Mitte ein smaragdgrüner Stein in Form einer Raute. Rund darum verteilt befanden sich kleine Diamanten, drei auf jeder Seite. Außerdem erkannte man um die Diamanten herum auf der goldenen Oberfläche feine grüne Linien.
„Tante Anne, die ist wunderschön.“
Ihre Tante nickte und lachte kurz auf.
„Francine, tu mir den Gefallen und trage diese Kette auch. Es ist ein Jammer, so ein wunderbares Stück in einer Kiste wegzusperren. Sie soll dich daran erinnern, wie wichtig die Familie ist.“
Francine blickte ihre Tante gerührt an, es bedeutete ihr sehr viel, dieses Stück zu erhalten. Ihre Tante war eine schöne Frau, aber wenn sie sie so anblickte, fragte Francine sich, warum sie ihre schönen dunklen Haare nicht öfter offen trug, sondern immer zu einem strengen Dutt. Dadurch wirkte sie älter, als sie war. Ihr Haar leuchtete immer noch braun, ihre Figur war beneidenswert und ihre Haut erschien fast faltenlos. Sie sah nicht älter als 35 aus, obwohl sie bereits 45 war.
Sport und gesunde Ernährung schienen sich doch auszuzahlen.
Anne nickte zufrieden, als sie den gerührten Ausdruck auf Francines Gesicht sah.
„Also, Francine, meine Liebe, es hat mich sehr gefreut, dass du Zeit hattest. Mach dir wegen Moritz keine Gedanken, ich sehe jeden Tag nach ihm. Und jetzt gehst du am besten, bevor du wegen mir noch zu spät nach Hause kommst und Marianne am Ende auf dich warten muss.“
Tante Anne lächelte fröhlich und umarmte ihre Nichte.
„Ich wünsche euch ganz viel Spaß beim Wandern!“
„Danke Anne.“
„Und schreib mir, mein Schatz, wenn ihr angekommen seid.“
Als Francine im Auto saß, betrachtete sie die Kette noch mal genau. Dann legte sie das Schmuckstück um ihren Hals, um zu sehen, wie das aussah. Die Kette war so lang, dass das Medaillon unterhalb ihres Busens hing. Der rautenförmige Smaragd leuchtete im Licht der Sonne, welches durch die Autoscheibe schimmerte.
Fasziniert betrachtete sie das Funkeln der Diamanten. Francine wunderte sich darüber, wie merkwürdig richtig es sich anfühlte, die Kette zu tragen, als würde sie genau dorthin gehören.
Vorsichtig strich sie über die Verzierungen an dem Medaillon. Wunderschön. Ihr Handy klingelte und sie ließ die Kette unter ihrem Shirt verschwinden, bevor sie das Gespräch annahm.
„Hallo?“
„Francine!“ Mariannes aufgebrachte Stimme ließ Francine aufhorchen.
„Marianne? Sag bitte nicht, du schaffst es nicht.“
Francine freute sich sehr auf den Trip mit Marianne, hoffentlich war nichts dazwischengekommen.
„Nein, aber“, eine kurze Pause entstand, bevor Marianne aufgeregt weitersprach, „Francine, es ist heute etwas passiert. Das glaubst du mir nie!“
„Erzähl mir das doch einfach nachher während der Autofahrt.“ Die dauert lang genug, dachte Francine.
„Nein, ich muss es dir jetzt erzählen, nachher bringst du mich vielleicht um!“
Francine schmunzelte. Marianne war oft dramatisch und neigte zu Übertreibungen.
„Was ist passiert, dass ich dich deswegen umbringen könnte?“
„Also, ich bin heute Vormittag noch bei der Arbeit gewesen, wie du weißt, und du kennst doch Nikolei Pfeiffer?“
Francine schnaufte laut und trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad. „Hallo? Er ist unser Chef, ergo kenne ich ihn.“
„Ja, ja, ich mein doch nur, lass mich weiterreden“, sagte Marianne und Francine sah sie vor sich, wie sie schmollte. Dann atmete sie tief durch. „Du weißt ja auch, wie der sich mir gegenüber immer verhält – und bevor du es sagst–: Ich weiß, dass er zu allen anderen angeblich höflich ist, aber ich schwöre dir, mir gegenüber hat er sich immer herablassend verhalten.“
Mari schnaubte abfällig.
Francine verkniff sich ein Lachen, da Mari nur böse geworden wäre, hätte sie es gehört. Schon seit Langem beschwerte sie sich über das Verhalten von Herrn Pfeiffer.
Er war groß, blond und hatte strahlend blaue Augen. Als er vor einem guten Jahr den Posten als Abteilungsleiter übernommen hatte, da war Mari noch hin und weg gewesen von ihm.
Durch seine lockere Art war er schnell beliebt gewesen unter den Kollegen. Nur Mari sah das anders, da er sich ihr gegenüber sehr kühl und herablassend gab.
Francine hatte tatsächlich schon mitbekommen, wie er Mari etwas in die Hände drückte und in schroffem Ton Anweisungen dazu gab.
Verwunderlich, da er ansonsten zu allen sehr herzlich und freundlich war. Aber man konnte eben nicht immer jeden mögen, und so lange die Arbeit nicht litt, war es Francines Meinung nach okay.
Außerdem arbeiteten sie meist sehr selbstständig und es war selten der Fall, etwas mit Herrn Pfeiffer besprechen zu müssen. Deshalb kam Mari bisher auch ohne große Probleme klar, obwohl es auf der Hand lag, wie wenig er sie leiden konnte.
„Ich weiß, Mari, du sagst es mir jedes Mal, wenn du mit ihm zu tun hast.“
„Ja, weil es – auch egal, pass auf. Heute war wirklich ein schlimmer Tag!“
Gespannt und mit einem Schmunzeln im Gesicht lauschte Francine der Geschichte ihrer Freundin.
„Die meisten sind heute schon früh weg gewesen und ich musste für Herrn Pfeiffer noch zur Bank – und hallo, das ist wohl kaum meine Aufgabe, für ihn den Botenjungen zu spielen!“
Die Empörung war Mari deutlich anzuhören. Francine konnte sich bildlich vorstellen, wie ihre Freundin mit ihrem kurzen braunen Haar spielte und ihre Stupsnase rümpfte, wie sie es immer tat, wenn ihr etwas nicht passte.
„Bei dem schönen Wetter war mir das trotzdem egal, machen musste ich es ja doch.
Und jetzt kommt es! Als ich fast schon wieder beim Büro war, da klatscht etwas vorne auf meine Bluse.“
Maris Tonfall war inzwischen regelrecht schrill geworden.
„Rate, was es war – Vogelscheiße!“
Jetzt musste Francine doch lachen.
„Das ist nicht komisch, Francine, das war meine neue blaue Bluse. Ausgerechnet mich muss das dämliche Vieh treffen.“ Aber Mari musste selber lächeln, weil es im Nachhinein doch wirklich witzig klang. „Hör auf zu lachen und hör zu, es kommt noch viel besser!“
„Besser?“ Gespannt lächelnd lauschte Francine weiter den Ausführungen ihrer Freundin.
„Ich bin dann im Büro direkt auf die Toilette, um die Bluse zu retten. Mit den blöden Tüchern habe ich alles abgewischt – ich sag dir, das muss ein riesiger Vogel gewesen sein, so viel, wie da auf meiner Bluse war – einfach ekelhaft.“
Während Mari schnaubte, lachte Francine lauthals.
„Oh Mari, ich habe das Gefühl, solche Sachen passieren nur dir.“
„Das Gefühl habe ich auch. Du kannst dir vorstellen, ohne Wasser wäre gar nichts weggegangen, also habe ich so gut es ging mit nassen Tüchern die Bluse gereinigt. Das Ergebnis war dann, dass die Bluse vorne fast komplett nass und halb durchsichtig war. Du weißt, was ich von durchsichtigen Sachen halte.“
„Oh ja“, war die vielsagende Erwiderung. Francine fand es immer wieder erstaunlich, wie viel Wert Mari darauf legte, ja keine nackte Haut zu zeigen, vor allem im Büro. Im Gegensatz zu Francine war sie fast schon prüde.
„Ich sag es dir, ich dachte, ich schleiche mich schnell von der Toilette zum Büro, schnapp mir meine Handtasche und mache Feierabend, es war schließlich eh schon kurz vor zwölf Uhr.“
„Oh je, Mari, ich ahne schon Schreckliches, wer hat dich gesehen?“
Mari lachte kurz trocken auf. „Na rate mal! Ich kam gerade an meinen Platz, als Herr Pfeiffer dort stand, um mir irgendwelche Unterlagen auf den Schreibtisch zu legen!
Ich bin doch nicht seine Sekretärin, also wirklich! Als er mich angesehen hat, dachte ich erst, er würde jetzt gar nichts sagen, doch dann meinte er, wo ich so lange war, er bräuchte noch eine Probeabrechnung. Ich sage dir, ich hätte ihm am liebsten gesagt, er soll sich die du weißt schon wohin stecken.
Dann hat er mich von oben bis unten angesehen und gefragt, was ich mit meiner Bluse angestellt hätte!“
Mari kam richtig in Fahrt während ihrer Erzählung.
„Und bevor ich etwas darauf erwidern konnte, da wurde ich bereits zurechtgewiesen, dass ich so nicht im Büro erscheinen könne, mit nasser Bluse, und wie sollten das die Kollegen finden, wenn ich halb nackt hier rumlaufe und ich würde mich generell zu freizügig kleiden!“
Francine gab einen erstickten Laut von sich. „Was? Du kleidest dich wie jeder andere dem Büro angemessen, wann ziehst du dich zu freizügig an? Ha, das tust du ja nicht mal privat.“
„Ganz recht und in dem Moment ist mir echt der Kragen geplatzt.“
„Was hast du zu ihm gesagt?“
„Ich habe ihm gesagt, dass es mir reicht. Schon seit er mit uns arbeitet, muss ich mir diese Unhöflichkeiten von ihm bieten lassen, aber seit ein paar Wochen piesackt er mich wirklich richtig, und wenn das nicht aufhört, dann kündige ich. Außerdem habe ich ihm noch an den Kopf geworfen, dass die Bluse nur nass ist, weil ich auf dem Weg von der Bank zurück – hallo, er hat mich schließlich zu Bank geschickt – dieses Missgeschick hatte. Dann habe ich gesagt, er soll mir jetzt endlich sagen, was für ein Problem er mit mir hat, so kann ich nämlich nicht mehr weiterarbeiten. Und Kerstin vom Sekretariat läuft wesentlich freizügiger herum als ich – ständig präsentiert sie ihre Möpse in den offenherzigen Blusen! Zu ihr hat aber bisher nie jemand etwas gesagt. Und er besitzt noch nicht mal den Anstand, mir in die Augen zu sehen, wenn ich mit ihm spreche.“
Francine war leicht angespannt, hoffentlich hatte ihre Freundin nicht gekündigt! Sie arbeitete so gerne mit ihr zusammen und konnte sich den Alltag im Büro gar nicht ohne Mari vorstellen. „Und dann, was hat er dann gesagt?“ Francine platzte vor Neugier.
Mari lachte herzlich. „Nichts.“
Francine runzelte verwirrt die Stirn. „Was? Mari, jetzt spann mich nicht so auf die Folter. Darauf muss er doch etwas geantwortet haben?“
„Er hat mich mit einem intensiven, strengen Blick aus diesen krassen blauen Augen angesehen und dann ist er aufgestanden, auf mich zugekommen, hat mein Gesicht in seine Hände genommen.“
„Was? Und was dann?“
„Er sagte, er hält es nicht mehr länger aus, und wenn ich jetzt nicht nein sage, dann küsst er mich. Und sprachlos wie ich war habe ich nichts gesagt und er hat mich geküsst!“
„Ist das dein Ernst?“ Francine war fassungslos. „Und du hast ihn dann weggeschubst?“
Mari setzte kleinlaut an: „Das würde ich nicht sagen.“
„Verrückt!“
„Schuldig. Ja, ich habe den Kuss absolut erwidert! Aber wenn du wüsstest, wie der küssen kann, sag ich dir. Jetzt kann ich dir wenigstens sagen, warum er zu mir so unhöflich war. Nach dem Kuss meinte er, er hielte es nicht mehr aus, sich zurückzuhalten.
Und die Unhöflichkeiten gegenüber mir waren wohl sein Abwehrmechanismus, um nicht über mich herzufallen. Er wollte Berufliches nicht mit Privatem mischen und hielt das für unpassend.“
Mari lachte leise. „Gott sei Dank habe ich endlich etwas dazu gesagt, sonst wäre das wohl noch ewig so gegangen!
Nun, jetzt kommen wir zum Grund meines Anrufs.“
Francine war verwirrt. „Welcher Grund? Sag nicht, du kommst jetzt nicht mehr mit. Oder arbeitest nicht mehr dort?“
„Nein, ich komme natürlich mit und bei der Arbeit bleibe ich auch. Nikolei – huch ist das merkwürdig, ihn auf einmal mit Vornamen anzusprechen – hat mich gefragt, was ich die nächsten Tage mache und ob wir die Zeit nicht zusammen verbringen, und ich habe ihm dann gesagt, dass ich mit dir weg bin und dann hat er mich nur schweigend angesehen.“
„Aha und weiter?“ Francine ahnte bereits, worauf das hinauslief.
„Habe ich ihn gefragt, ob er nicht mitkommen will.“
„Oh je.“
„Francine, glaub mir, ich dachte, er würde nein sagen. Wir haben uns zwar geküsst, aber gleich ein paar Tage gemeinsam verreisen, ist schon seltsam.
Im Grunde kennen wir uns ja nicht.“
„Und er hat ja gesagt, stimmt´s?“
„Ja, er ist um zwei mit mir bei dir.“
Francine hörte, wie vorsichtig Mari sprach. „Scheiße, Süße, was soll ich sagen? Komisch ist es schon, mit dem Chef ins Wochenende, aber egal, jetzt ist es eben so.“
Mari bedankte sich überschwänglich bei Francine und beendete das Gespräch, um es pünktlich zu schaffen, ihre Sachen zu packen.
Während Francine heimfuhr, summte sie fröhlich vor sich hin. Sie hatte schon immer gefunden, dass Mari und Herr Pfeiffer ein schönes Paar abgaben.
Beide groß, er blond und blauäugig, sie dunkelhaarig mit braunen Augen. Sie war sehr gespannt, was sie zwischen den beiden beobachten würde in den nächsten Tagen.
Amüsant würde es jetzt erst recht werden. Eines hatte sie gar nicht bedacht, sie hatten quasi eine Ferienwohnung, die zu einem Hotel gehörte.
Im Hotel würden sie frühstücken. Es gab zwei Schlafzimmer, aber jetzt, wo Herr Pfeiffer mit dabei war, da würde Mari wohl mit bei Francine schlafen.
Wegen nur einem Kuss würde Mari niemals das Zimmer mit ihrem Chef teilen, oder?
Ihr Aussehen und Auftreten täuschten häufig, denn Mari war sehr zurückhaltend und schloss nicht schnell Freundschaften.
Umso mehr bedeutete Francine ihre Freundschaft zu Mari, da sie wusste, dass Mari ihre Freunde mit sehr viel Bedacht aussuchte.
Daheim hatte Francine nicht viel zu tun, sie hatte bereits am Vorabend alles vorbereitet.
Das Auto stand vollgetankt unten und in den nächsten Minuten müssten Mari und Herr Pfeiffer auftauchen. Die Fahrt würde ungefähr drei Stunden dauern, bei dem Wetter und im Hinblick darauf, dass Freitag war, würde der Verkehr wahrscheinlich zu einer Verlängerung der Fahrt beitragen. Aber das machte Francine nichts, ob sie nun eine Stunde früher oder später ankamen, spielte keine große Rolle, heute würden sie sowieso nicht mehr viel unternehmen.
Ein bisschen den Ort, in dem sie übernachteten, erkunden, nämlich Bad Hindelang, und eine Kleinigkeit essen gehen. Sie ging mal davon aus, dass Herr Pfeiffer sich ihren Vorstellungen anschloss, da er sich sozusagen angehängt hatte an diesen Trip nach Bayern.
Francine sah gerade aus dem Fenster, als Maris roter Polo vorfuhr. Herr Pfeiffer mit dabei. Fast hätte Francine gelacht, als sie sah, dass Mari einen riesigen Koffer dabei hatte, typisch, für alle Fälle das passende Outfit. Sie selbst hatte eine Reisetasche in mittlerer Größe, die völlig ausreichte. Das würde spaßig werden, sie war gespannt darauf zu sehen, wie das Gepäck von Herrn Pfeiffer aussah. Ein letztes Mal fuhr sie Moritz durch das weiche Fell, dann machte sie alles aus und verließ in freudiger Erwartung ihre Wohnung.
Sie waren bereits seit einer guten Stunde unterwegs, als der Himmel weiter zuzog. Das nächste Gewitter war im Anmarsch, wie bereits im Wetterbericht angekündigt. Die Begrüßung mit anschließender Abfahrt war zum Glück gut verlaufen und im Auto hatte sich inzwischen ein einvernehmliches Schweigen eingestellt. Sie lauschten nur der Musik im Radio.
Francine erstaunte, dass Marianne ruhig und gelassen war, sie hätte gedacht, dass sie bezüglich Herrn Pfeiffer inzwischen nervöser wäre – immerhin war sein Mitkommen spontan und die ganze Sache, die sich zwischen Mari und ihm anbahnte, nicht vorhersehbar gewesen.
Und Mari war nicht spontan, war sie nie gewesen.
Man sah vor ihnen am Himmel immer wieder Blitze und es wurde zunehmend dunkler. Mari und Herr Pfeiffer saßen beide auf der Rückbank. Sie schwiegen, hielten aber Händchen.
Das fand Francine so süß. Wieder dachte sie, was für ein schönes Paar die beiden abgaben.
Und sie spürte den Stich.
So sehr wünschte sie sich selbst Liebe. Echte und wahrhaftige Liebe. Sie gab die Hoffnung nicht auf, jedoch verging die Zeit und die Männer, denen sie begegnete, waren so langweilig und vorhersehbar. Es fehlte der Funken, das Feuer, welches sie sich wünschte. Sie war jung und sie wollte Leidenschaft, warum auch nicht?
Mari verdiente es, glücklich zu sein. Sie war der beste Mensch, den Francine kannte.
Es donnerte laut und der Himmel leuchtete hell.
Kurze Zeit später waren auf der Windschutzscheibe die ersten Regentropfen zu sehen, die sich schnell in einen heftigen Guss verwandelten.
Bald waren die Straßen mit kleinen Flüssen übersät. Vertraute man dem Wetterbericht, dann würde es nur heute Unwetter geben und morgen wäre wieder strahlend blauer Himmel.
Wandern würden sie heute sowieso nicht, also sollte ruhig alles vom Himmel kommen, sodass für morgen nichts mehr übrig war.
Die Scheibenwischer liefen auf Hochtouren und konnten trotzdem der großen Menge Regenwasser kaum Herr werden. Francine spürte noch, dass sie über etwas fuhr, als auch schon eine Anzeige im Auto aufleuchtete, die ihr sagte, dass sie Druck auf einem Reifen verlor.
Francine hielt Ausschau nach einer geeigneten Stelle, um anzuhalten und das zu prüfen.
Nikolei bemerkte es sofort und fragte nach: „Ist etwas nicht in Ordnung?“
Francine nickte. „Der linke Vorderreifen verliert anscheinend Druck, ich muss über irgendwas gefahren sein, was den Reifen beschädigt hat. Vielleicht müssen wir den Reifen wechseln.“ Marianne warf Francine einen erschrockenen Blick zu. „Was? Aber bei dem Wetter können wir doch keinen Reifen wechseln?“ Mari hatte eine so erschrockene Stimme, dass Francine lächelte. „Da vorne ist ein Rastplatz, da ist es relativ geschützt. Ich halte dort an, dann sehen wir mal, wie es mit dem Reifen aussieht.“
Die Zuversicht in Francines Stimme schien Mari zu beruhigen. Nikolai wollte bereits mit aussteigen, aber Francine winkte ab. „Ich sehe erst mal selbst nach, wenn ich Hilfe brauche, melde ich mich. Sie können ruhig sitzen bleiben.“
Widerwillig nickte Herr Pfeiffer.
Als sie aus dem Wagen stieg, war ein lautes Donnergrollen zu hören, kurz darauf wurde der Himmel wieder von einem Blitz hell erleuchtet. Andere fürchteten sich vermutlich, Francine nicht. Im Gegenteil, sie spürte ein unheimlich starkes Verlangen danach, die Blitze zu spüren. Der Gedanke war so seltsam und doch so normal. Konzentriert schüttelte sie dieses Gefühl von der wundervollen Hitze der Blitze ab.
Der Reifen war eindeutig platt, also würden sie ihn wechseln müssen. Das Gewitter war direkt über ihnen, am besten warteten sie die nächste Viertelstunde ab, um zu sehen, ob der Regen nachließ und das Gewitter weiterzog.
Meist zogen solch heftigen Gewitter schnell von dannen.
Im Kofferraum war ein Ersatzreifen, aber bei dem Wetter würde es mühsam werden, doch zur Not wäre ja Herr Pfeiffer noch da. Francine wollte wieder einsteigen und den anderen beiden sagen, was los war.
Plötzlich spürte sie ein Brennen um ihren Hals, sie fasste mit der Hand danach und erinnerte sich an die Kette von ihrer Tante, an die sie gar nicht mehr gedacht hatte. Warum brannte sie ihr auf einmal auf der Haut?
Es kam ihr vor, als wäre sie glühend heiß geworden.
Was dann geschah, ging so schnell und doch kam es ihr vor, als würde es in Zeitlupe ablaufen.
Sie hörte das Krachen des Donners und fast im selben Moment war sie geblendet vom hellen Licht des Blitzes, der direkt auf sie zukam.
Das war verrückt, sie konnte sehen, wie der Blitz vom Himmel herab auf sie zielte, obwohl ihr klar war, dass der Blitz so schnell war, dass sie ihn unmöglich wie in Zeitlupe sehen konnte.
Schreie waren zu hören, ob es ihre eigenen waren, wusste sie nicht.
Und dann geschah etwas Seltsames, der Blitz schien in sie zu fahren, ihre Kette glühte und dann war alles schwarz.
Kapitel 2
Eine fremde Welt
Francine spürte eine sanfte Brise, die über ihr erhitztes Gesicht strich. Sie fühlte sich schwer. Sie wollte ihre Augen öffnen, aber sie schaffte es nicht. Das Gefühl kannte sie. Das dringende Bedürfnis aufzuwachen, die Augen zu öffnen, doch es ging nicht. Sie schien in einem leeren Traum gefangen.
Der Duft von Wald verführte ihre Nase. Sie versuchte sich zu erinnern, wo sie war, wann war sie in den Wald gegangen? Oder war das eine der Duftkerzen? Ja, wahrscheinlich war es eine Duftkerze. Beruhigt atmete sie den Duft tief ein. Oder sie träumte.
Dann hörte sie eine Stimme.
Ein Murmeln. Sie konnte es nicht zuordnen. Wer war da bei ihr, wenn sie schlief? Merkwürdig, sie schlief immer alleine. Schon lange. Viel zu lange. Wo war dieser Gedanke denn hergekommen? Es war nicht schlimm, sie war gerne alleine. Ihr gefiel ihr Leben, wie es war. Das redete sie sich zumindest ein, doch insgeheim wusste sie – etwas fehlte.
Wieder hörte sie Stimmen, diesmal spürte sie, dass jemand an ihr rüttelte.
Jetzt schaffte sie es doch, ihre Augen blinzelnd zu öffnen.
Die Helligkeit der Sonne tat ihren Augen weh, also schloss sie diese sofort wieder.
„Wacht auf, schließt nicht wieder die Augen.“
Die Stimme war weiblich, war das Mari?
Nein, so einen Befehlston benutzte Mari nicht.
Die Stimme sprach anscheinend mit jemand anderem.
„Die Rothaarige sollte die Augen öffnen, sonst lassen wir sie hier liegen. Wir haben keine Zeit zu warten.“
Eine andere Stimme, sanfter, antwortete: „Marisia, was redest du denn. Sie scheint sich den Kopf verletzt zu haben. Wir können sie nicht hier liegen lassen. Wo bleibt dein Mitgefühl?“
Die letzte Stimme war Francine sofort sympathisch. Sie klang ruhig und bestimmt und das ohne bedrohlich zu sein. Und freundlich.
Francine kämpfte darum, die Augen zu öffnen. Zumindest hörte sie inzwischen alles deutlich und nicht mehr wie von weiter Ferne. Endlich schaffte Francine es, die Augen vollständig zu öffnen, erst blinzelnd, dann ganz.
Langsam nahm sie ihre Umgebung wahr. Ein blauer Himmel über ihr, weicher Boden unter ihr. Ihre Finger griffen automatisch nach dem, was sich dort befand. Feuchtes Moos.
Seltsam.
Noch verarbeitete ihr Verstand nichts anderes außer dem, was sie im Augenblick sah und fühlte. Ihr Blick traf auf eine Frau, die sie musterte.
Die strahlend blauen Augen der Frau irritierten Francine ein wenig. Der Rest der Frau schien nicht weniger verwirrend zu sein.
Hüftlanges, weißblondes Haar floss der Frau über die Schultern zu beiden Seiten.
Ihr Gesicht war oval und die Gesichtszüge zart.
Langsam erhob Francine sich in eine sitzende Position, um sich ein besseres Bild zu machen. Dabei erblickte sie die zweite Frau.
Sie sah der ersten sehr ähnlich, ihre Augen waren aber eher grau. Sie sah die Frau lange an. Goldblonde lange Haare. Und sie war von einer stärkeren Statur, nicht so zierlich, trotzdem schlank. Fasziniert starrte sie die beiden Frauen an. Die Frau, die ihr am nächsten war, sprach schließlich: „Ist alles in Ordnung?“
Francine sah an sich herab, sie hatte ihre kurze Jeanshose an und trug ihr T-Shirt, welches sie vor der Autofahrt angezogen hatte – die Autofahrt! Jetzt fiel es ihr wieder ein! Sie war mit Marianne und Nikolei unterwegs gewesen.
Was war dann passiert?
Ja, genau, der Blitz. Hatte er sie getroffen? War sie jetzt tot? Oh nein, hoffentlich war sie nicht tot.
„Sie sieht sehr verwirrt aus“, gab die andere Frau von sich.
Francine konzentrierte sich, sie wusste nicht, was los war, aber es schien alles um sie herum sehr real zu sein. Eins nach dem anderen. Zuerst konzentrierte sie sich am besten auf das Hier und Jetzt und danach dachte sie darüber nach, was genau passiert war.
Langsam krächzte sie: „Es geht mir gut.“
Ihr Mund war ganz trocken und sie musste sich mehrfach räuspern.
Die zierlichere Frau lächelte erfreut: „Ich bin Serlina und das da drüben ist meine Schwester Marisia.“ Sie deutete auf die Frau mit den strohblonden Haaren, die nur kurz nickte.
Sie hatte sich inzwischen einige Schritte entfernt.
Francine musterte die Kleidung der Frauen, ehe sie mit gerunzelter Stirn fragte: „Ist hier ein Kostümfest?“
Die Frau, die bei ihr kniete, sah sie erstaunt an. „Ein Kostümfest? Meint Ihr einen Maskenball? Wie kommt Ihr darauf? Wir tragen weder Kleider noch Masken.“ Die Frau sah sie skeptisch an.
„Wo kommt Ihr her? Wieso liegt Ihr auf dieser Lichtung im Wald und was sind das für merkwürdige Sachen, die Ihr am Leib tragt?“
Die beiden Blondinen trugen jeweils eine Tunika mit verschiedenen Mustern.
Diese reichten bis über die Hüfte. Darunter hatten sie kurze Leinenhosen – vermutete zumindest Francine, sie hatte für Stoffe, abgesehen von Jeans, kein Auge.
Definitiv handelte es sich um Sachen, die sie so nicht kannte.
Oder vielleicht schon, aus Filmen oder dem Theater? Gehörten diese Frauen vielleicht zu einer Theatergruppe? Fand hier ein Mittelalterschauspiel oder etwas Ähnliches statt? Wieso war ihre Frage über das Kostümfest so seltsam? Was war hier bloß los?
„Serlina, verwirre sie doch nicht mit all den Fragen.
Gelano und Robinio sind gleich zurück, dann müssen wir weiter.“
An Francine gewandt sagte Marisia: „Könnt Ihr laufen, wir gehen weiter und ich schlage vor, Ihr kommt erst mal mit uns, da Ihr anscheinend nicht genau wisst, was Ihr tun sollt?
Hierbleiben können wir nicht, aber es liegt bei Euch, ob Ihr mit uns mitkommt, oder ob Ihr alleine hierbleibt.“
Serlina warf ihrer Schwester einen warnenden Blick zu und sah dann Francine freundlich an. „Kommt, ich helfe Euch beim Aufstehen.“
Es klappte ganz gut. Als Francine stand, fühlte sie sich sofort besser, sicherer. Um sie herum waren überall Bäume.
Die Bäume sahen allerdings nicht ganz so aus, wie Francine es von Bäumen kannte. Sie waren hoch gewachsen mit breiten Stämmen. Aus einigen Stämmen flossen kleine Wasserbäche? Blinzelnd blickte sie die Bäume um sich herum an. Tatsächlich, wie war das möglich?
Hatte sie sich den Kopf gestoßen, als sie wegen des Blitzes stürzte?
Wo war sie bloß? Und wie war sie hierhergekommen?
Träumte sie etwa?
Die Stämme dieser Bäume schimmerten blau, das Blätterdach war grün.
„Kommt da Wasser aus den Bäumen?“ Sie runzelte die Stirn.
Serlina blickte sie verständnislos an.
„Bäume? Ihr meint die Lauraden? Bäume wachsen weiter dahinter. An Lichtungen und Waldrändern findet man meist die Lauraden.“
Serlina erklärte es, blickte dabei aber mit Adleraugen Francine an. Sie wechselte mit ihrer Schwester einen Blick.
„Erinnert Ihr Euch nicht an Lauraden?“
Francine war nicht klar gewesen, laut gesprochen zu haben. Sie spürte instinktiv, dass sie erst mal lügen musste, bis sie genau wusste, mit wem oder was sie es jetzt zu tun hatte, denn das wusste sie ganz und gar nicht. Sie fasste sich an den Kopf. „Mir ist ganz seltsam im Kopf, ich erinnere mich an sehr wenig. Ich denke, ich habe mir den Kopf gestoßen.“
Das schien zumindest Serlina zu beruhigen.
„Dann kommt Ihr mit uns?“
Francine dachte nach. „Wohin?“
Serlina sah kurz zu Marisia, diese nickte.
„Wir sind unterwegs zu den Höhen des grünen Mondes.“
Abwartend blickte Serlina ihr ins Gesicht. Francine musste träumen. Sie verstand nicht, was hier vor sich ging. Was sollte sie sagen? Was waren die Höhen des grünen Mondes? War das ein Scherz? Aber die beiden wirkten gar nicht so, als würden sie Witze machen.
Was waren die Optionen? Alleine hier im Wald bleiben, wo sie noch nicht mal wusste, wo sie war und was hier vor sich ging? Nein. Also nickte sie, ihr blieb fast nichts anderes übrig, als mit den beiden mitzugehen.
„Ich komme mit.“ Sie konnte nicht klar denken und nur das Wichtigste im Kopf durchgehen. Fremde Umgebung, fremde Menschen.
Als sie bewusstlos gewesen war, hatten sie ihr nichts getan, also ging sie davon aus, dass das so bleiben würde. Folglich war es die bessere Option, mit ihnen mitzugehen, als alleine zurückzubleiben. Hoffte Francine.
Es näherten sich weitere Stimmen.
Zwei Männer betraten wenig später die Lichtung und flüsterten laut: „Lasst uns weitergehen. Es gibt hier in der Nähe zu viele aus der Garde, die nach uns suchen.“
Die beiden Männer mussten Francine ebenfalls schon gesehen haben, als sie noch bewusstlos gewesen war, denn sie schienen überhaupt nicht überrascht von ihrem Anblick.
Ihre Vermutung bestätigte sich, als der kleinere von beiden fragte: „Seid Ihr endlich aufgewacht, Rotschopf?“ Gelano musterte sie genau. „Was habt Ihr bloß für seltsame Kleidung am Leib?“
Francine wusste nicht, was sie sagen sollte, sie zog nur die Augenbrauen zusammen, als müsste sie selbst darüber nachdenken. „Verdammt.“ Er sah die anderen an. „Ist der Rotschopf etwa irre?“
„Nein, das bin ich nicht. Ich erinnere mich nur nicht daran, was passiert ist oder wo ich herkomme.“ Sie sah ihn böse an. Was fiel ihm ein, sie nur wegen ihrer Kleidung als irre zu bezeichnen? Der Mann lachte. „So ist das, na, Eure Stimme habt Ihr zumindest gefunden.“ Er musterte sie von oben bis unten. „Also scheiße noch mal, Ihr wollt uns wirklich weismachen, Ihr erinnert Euch an nichts? Das kauf ich Euch nicht ab.“ An die anderen gewandt brummte er: „Sieht sie nicht verdächtig aus?“
Eine der Blondinen legte ihm die Hand auf die Schulter. „Lass gut sein, Gelano. Sie kommt erst mal mit uns und wir klären das schon.“
„Ach ja?“ Wieder musterte er sie. Eindeutig misstrauisch.
Der größere Mann, Robinio, blickte sich um. „Still jetzt. Wir müssen weiter. Hier sind wir kaum geschützt.“
Francine schloss sich an und beobachtete die erste Zeit einfach ihre Umgebung, die ihr sehr merkwürdig erschien. Sie war noch etwas wackelig auf den Beinen, doch je länger sie diese benutzte, desto besser fühlte sie sich.
Ihre vier Begleiter waren äußerst darauf bedacht, im Moment nicht zu sprechen und leise und zügig voranzukommen. Sie träumte definitiv nicht, es war alles viel zu real, um zu träumen.
Bei längerem Betrachten der anderen bemerkte sie, dass alle vier aussahen, als wären sie auf einen Kampf eingestellt. Serlina trug ein großes Messer an einer Gürteltasche. Oder war es ein kleines Schwert? Mit solchen Dingen kannte Francine sich nicht aus, woher auch? Der Griff war kupferfarben und mit einem großen Rubin besetzt – zumindest sah der rote Stein aus wie ein Rubin.
Um den roten Stein herum waren Diamanten nur so groß, dass man sie gerade noch sehen konnte.
Es wirkte sehr wertvoll. Die Gürteltasche war um die Tunika geschnürt und sah aus, als wäre sie aus Leder. Am Gurt hing auch eine Feldflasche.
Marisia trug auf dem Rücken einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen.
Die beiden Männer trugen ebenfalls Waffen auf dem Rücken. Der größere ein langes Schwert, der andere, Gelano, eine Axt. Leinenhemden aus grobem Stoff verhüllten ihre zweifellos muskulösen Oberkörper.
Beide Männer waren groß, doch der, der sie Rotschopf genannt hatte – Gelano, wie sie aufgeschnappt hatte – war etwas schmaler gebaut und kleiner, wenn auch nur ein wenig.
Auf der Lichtung vorhin war es durch die Sonne sehr hell gewesen, doch jetzt, da sie mitten durch den Wald gingen, schloss das Dach der Bäume die Sonne fast vollständig aus.
Die Luft war feucht und bereits nach kurzer Zeit liefen Francine Schweißperlen über die Haut. Es fühlte sich an, als würde sie durch das Schmetterlingshaus der Insel Mainau spazieren. Es dampfte. So stellte sie sich den Regenwald vor.
Da fiel ihr auf, dass sie bisher nicht ein Insekt gesehen hatte. Merkwürdig. Oder nicht? In so tropischen Gefilden erwartete man einfach Insekten. Vor allem Stechmücken. Wie in Trance lief sie mit den anderen mit und sammelte ihre Gedanken.
Ihr entging nicht, wie oft Gelano und Robinio zu ihr sahen. Sie behielten sie im Auge.
Weil sie eine Fremde war? Vermutlich.
Es faszinierte sie, wie die Lauraden aussahen. Sehr breite Stämme in hellem Braunton, leicht blau schimmernd. Nicht aus allen lief Wasser, nur aus wenigen. Wieso kam da Wasser raus? Hatte der Baum einen Speicher in seinem Stamm? Die Laurade musste einen Durchmesser von fünf Metern haben, verrückt. Und die Wurzeln waren überall am Waldboden zu sehen.
Der restliche Waldboden bestand aus buschigen, braunen und gelblichen Gräsern.
Nachdem sie an den Lauraden vorbei waren, sah der Wald so aus, wie Francine es gewohnt war. Der Boden war von Moos oder Gräsern besiedelt.
Die Bäume erschienen ihr größer, so als wäre sie in einem anderen Land. Aber dennoch gewöhnliche Bäume.
Wo war sie? War das alles ein Streich ihres Gehirns aufgrund des Blitzes? Aber das glaubte Francine nicht, es fühlte sich zu real an. Die Frage, die sie beantworten musste, war, wo sie hier gelandet war und wie das möglich war.
„Hier, trinkt etwas, Ihr müsst durstig sein.“ Der große Mann gesellte sich neben sie und bot ihr seinen Wasserbeutel an. Komisch, solche Beutel kannte sie nur aus Filmen. Dankbar nahm sie den Beutel an und hoffte, nicht zu leichtsinnig völlig Fremden zu vertrauen.
Obwohl das Wasser fast warm war, empfand Francine es als Genuss, als es ihre trockene Kehle hinablief. Sie lächelte den Mann an. „Vielen Dank.“
Er nickte nur. Er trug sein blondes Haar auf Länge seiner Schultern. „Ich bin Robinio, wie ist Euer Name?“
Kurz zögerte sie. „Ich bin Francine.“
„Und wo kommt Ihr her, Francine? Was treibt Euch in diese Gegend?“ Er sprach in ruhigem Ton und schien darauf bedacht, seine Frage beiläufig zu stellen. Da sie selbst gerne mehr Informationen über ihre Begleiter hätte, würde sie ein paar seiner Fragen beantworten und selbst hoffentlich ebenfalls Antworten bekommen.
„Ich bin nicht mehr sicher, da war ein Blitz.“ Sie brach ab, als all ihre Begleiter stehen blieben und sie anstarrten.
Gelano sagte: „Was? Verfickte Scheiße, wo war ein Blitz?“
Francine winkte schnell ab. „Nur in dem Traum, ich erinnere mich an sonst nichts.“
Marisia warf ihr einen skeptischen Blick zu und auch Serlina runzelte kurz die Stirn.
Die Reaktionen der anderen waren so heftig, dass Francine besorgt schwieg.
Was war an einem Blitz denn so dramatisch? Sie konnte sich die heftige Reaktion der anderen wirklich nicht erklären. Was ging hier vor sich?
Warum sahen die anderen dabei aus, als hätte sie gesagt, sie wäre aus der Hölle emporgestiegen?
Jetzt warf sie Robinio einen langen Blick zu: „Wohin seid ihr unterwegs?“
Sie sah die anderen an. Sie wirkten so zielstrebig.
Robinio runzelte die Stirn. „Wir suchen jemanden.“
Francine zupfte an ihrer Unterlippe. Jemanden suchen. Was waren diese vier hier?
„Ihr sucht jemanden. Jemanden, der vermisst wird? Oder etwas verbrochen hat?“
Robinio lächelte. „Ja, jemanden, der vermisst wird.“
Francine wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. „Ich halte euch sicher auf bei der Suche.“
Gelano schnaubte.
„Außer, Ihr erzählt mir mehr, dann könnte ich Euch eine Hilfe sein.“
Robinio lächelte. „Das könntet Ihr vielleicht. Woher kommt Ihr? In dieser Gegend treibt sich eigentlich kaum einer herum, der nicht zur Garde gehört. Wie kommt es, dass Ihr hier seid?“
„Ich wünschte, ich wüsste es. Offensichtlich habe ich einen Schlag auf den Kopf bekommen, ich bin hier aufgewacht, aber ich weiß weder wie ich hierher kam noch was ich hier wollte oder woher ich komme.“
„Aber an Euren Namen könnt Ihr Euch erinnern, an sonst nichts?“ Der skeptische Ton entging Francine nicht.
Sie nickte. Sie wusste selbst, wie seltsam das klang. Doch was sollte sie sonst sagen?
Dass sie glaubte, hier in einer anderen Welt oder in einer anderen Zeit gelandet zu sein? Wer wusste schon, ob man sie vor Gericht stellen würde.
Vielleicht gab es hier Verbrennungen wie früher im Mittelalter – und sie hatte auch noch rote Haare! Nein, so lange sie nichts Genaues über ihren derzeitigen Aufenthaltsort wusste, konnte sie niemandem etwas erzählen.
Was wollte sie auch verraten?
Nicht mal sie wusste, wie das möglich war, was passiert war. Ohne die vier genauer zu kennen und zu wissen, was hier vorging, konnte sie nicht riskieren, etwas preis zu geben.
Gelano sah sie von oben bis unten an. „Ach, ist das so? Verdammt will ich sein, wenn das die Wahrheit ist.“
Francine schob ihr Kinn vor. „Was wollt Ihr damit sagen?“
Die veraltete, höfliche Anredeform war ihr nicht entgangen. Automatisch ahmte sie diese nach, auch, um nicht noch auffälliger als ohnehin schon auf die vier Fremden zu wirken.
Er schnaubte. „Das liegt doch auf der Hand. Ihr lügt. Nur wissen wir noch nicht, wieso. Also, warum solltet Ihr uns anlügen?“
Robinio hob seine Hand und bedeutete Gelano, still zu sein. Dieser zog seine Brauen zusammen, stapfte aber weiter.
Robinio schüttelte den Kopf: „Ich weiß nicht, woher Ihr kommt, Mädchen, oder warum Ihr hier seid.“ Er lächelte, unterbrach sie aber, als sie etwas erwidern wollte.