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Mai 2007. Unerklärliche Todesfälle erschüttern den G8-Gipfel in dem kleinen Ostsee-Dörfchen Petersdamm. Zunächst erschlägt ein Blitz einen Redner innerhalb eines geschlossenen Gebäudes. Anschließend spült eine Leiche am Strand an, an den sie wegen der lückenlosen Seeraumüberwachung der Marine eigentlich nie hätte gelangen können. Kryptische Zeichen begleiten beide Ereignisse. Die Polizei steht vor einem Rätsel und zieht sogar übernatürliche Phänomene in Betracht. Zudem wird der Ermittlungsapparat durch Scharmützel über Zuständigkeiten zwischen lokaler Mordkommission und BKA gelähmt. Die hübsche Assistentin des ersten Opfers, Dr. Deborah Ashcroft, lässt sich jedoch nicht beirren und versucht, auf eigene Faust den Fall zu klären. Unterstützung findet sie ausgerechnet in dem jungen, von Hass auf die Welt zerfressenen Pfarrer des Dorfes, der in Zynismus und Isolation Zuflucht sucht. Gemeinsam finden die Beiden heraus, dass der Mörder die enorme Medienpräsenz des Gipfels ausnutzt, um eine religiöse Botschaft an die Welt zu senden – und dass, wenn ihre Vermutung zutrifft, weitere Morde folgen werden... Stimmen zu 'Virus': "(...) Dieser Thriller liest sich amerikanisch-glatt, der Stil ist gut, die Dialoge sind lebendig. Die Jagd nach dem fundamentalistischen Attentäter entwickelt sich auf ersten Blick stimmungsvoll und spannend! (...)" (xtme.de) "(...) Eine spannende Geschichte mit Bezug zu aktuellen Themen. Das Buch liest sich sehr gut an und baut bereits zu Beginn eine angenehme Spannung auf, die das Weiterlesen geradezu fordert. Gut gemacht. (...) Eine absolute Empfehlung (...)" (bestebookfinder.de) In dieser vierten Auflage hat sich der Autor die Kritik, zu viele Fremdwörter zu verwenden, zu Herzen genommen und Abhilfe geschaffen. Das Buch liest sich nun noch flüssiger.
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Seitenzahl: 750
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Kristian Isringhaus
Virus
Wie erklärt man das Unerklärliche?
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Buch
MAI 2007
PROLOG
DIENSTAG, 8. MAI 2007
MITTWOCH, 9. MAI 2007
[Hier muss ich leider einen Einschnitt einfügen, weil epub doof ist. Bitte lasst euch nicht im Lesefluss stören. Es geht ganz normal weiter.]
DONNERSTAG, 10. MAI 2007
[Hier muss ich leider einen weiteren Einschnitt einfügen, weil epub doof ist. Bitte lasst euch nicht im Lesefluss stören, es geht ganz normal weiter.]
FREITAG, 11. MAI 2007
SAMSTAG, 12. MAI 2007
SONNTAG, 13. MAI 2007
DANKESCHÖN
Impressum neobooks
Virus
Wie erklärt man das Unerklärliche?
Ein Thriller von Kristian Isringhaus
Text Copyright © Kristian Isringhaus 2008
Alle Rechte vorbehalten; insbesondere, aber nicht ausschließlich die für Übersetzung, Verfilmung und teilweise oder vollständige Verbreitung im Internet.
Covergestaltung Copyright © Christian Maaß 2013
5. Edition vom 27.11.2014
Die G8, ein Bündnis aus acht der wirtschaftlich wie militärisch stärksten Länder der Erde, strebt ungestört ihrem großen Ziel entgegen – der Kontrolle der weltweiten Märkte.
Die G20, die auch Schwellenländer einschließt und somit eine Brücke zu den ärmeren und armen Nationen schlägt, befindet sich noch im Aufbau und hat bislang keine politische Relevanz.
Die Zusammentreffen der Staatsoberhäupter der G8 werden immer wieder von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Globalisierungsgegnern und der Polizei gekennzeichnet. Die Sicherheitsvorkehrungen auf den Gipfeln sind dementsprechend exorbitant, doch hin und wieder gelingt es einzelnen Kämpfern, diese zu unterwandern…
Der Mann kniete vor dem Altar im Chor der wunderschönen Klosterkirche aus dem dreizehnten Jahrhundert. Außer ihm befand sich niemand in dem Gebäude, obwohl das Kloster heutzutage von einem Diakoniewerk genutzt und dementsprechend frequentiert wurde. Gott hatte ihm eine Privataudienz gewährt.
Die Augen geschlossen, hielt er die Hände zum Gebet gefaltet und den Kopf in Demut gesenkt. Seine Lippen bewegten sich kaum, seine Stimme war monoton und die Worte, die er sprach, glichen einem ruhigen und gleichmäßig dahinfließenden Strom.
„Herr, die Zeit ist nah, und so frage ich dich erneut: Ist es wirklich dein Wille? Du hast mich zur Erde gesandt, von deinem Altar, die Menschen zu strafen. Ich habe gelobt, dir zu dienen, selbst wenn dein Auftrag gegen die Gebote verstößt, die du Moses am Berge Sinai übergeben hast. Ein letztes Mal frage ich dich: Ist dein Wille endgültig?”
Der Kopf des Mannes begann zu kreisen wie fremdgesteuert. Plötzlich wandte er die geschlossenen Augen so jäh gen Himmel, drehte sie so kraftvoll in die Stirn, dass der Muskelreflex ihm die Lider aufriss und von Äderchen durchsetzte weiße Augäpfel offenbarte. Er begann heftiger zu atmen und Schweiß trat aus seinen Poren.
Dann sackte er in seine devote Haltung zurück und nahm, wenn auch ein wenig schwerer atmend, seinen monotonen Tonfall wieder auf.
„Ich habe deinen Willen erhört”, sagte er matt. „Herr, gib mir die Kraft. Wenn es vollbracht ist, werde ich zurückkehren an deinen Tempel, um dir zu huldigen.”
Wie aus einer Trance erwachend, öffnete er blinzelnd die Augen und erhob sich langsam, den Kopf nach wie vor in Ehrfurcht gesenkt. Mit weiterhin gefalteten Händen verließ er die Klosterkirche Dobbertin. Vor der Tür blickte er sich um, sah eine Nonne, die still durch den Park ging, grüßte sie höflich und verwickelte sie in ein kurzes Gespräch über die Geschichte des Gebäudes. Anschließend begab er sich zum Empfang des Diakoniewerks, wo er einen Scheck mit einer großzügigen Spende abgab. Es konnte unter Umständen später noch von Bedeutung sein, dass man sich an seinen Besuch hier erinnerte.
Dann ließ er sich ein Taxi rufen. Er hatte noch zu tun.
1.
Dr. Deborah Ashcroft war in Eile – wie immer, wenn ihr Boss einen Vortrag hielt. Daran änderte auch ihr eigener beruflicher Erfolg nichts. Für ihre jungen einunddreißig Jahre waren ihre Forschungen im Bereich der Virologie bereits überaus fortgeschritten und gewannen zunehmend auch international Anerkennung, doch wenn der berühmte Epidemiologe Professor Wang Dadong einen Vortrag hielt, dann war sie wieder seine kleine Assistentin, sein Mädchen für alles.
Bei reibungslosem Ablauf erlaubte er ihr, sich kurz mit ihm in seinem Ruhm zu sonnen. Wenn zu dem guten Ablauf auch noch gute Laune bei Wang kam, erwähnte er sogar kurz ihren Namen und ihre Arbeit. Lief hingegen auch nur das kleinste Detail schief, so sprach er eine Woche nicht mit ihr und überhäufte sie im Institut mit Aufgaben, um sie von ihren eigenen Forschungen abzuhalten.
Zwar handelte es sich bei ihrer Arbeit um ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, in dem sie als Virologin mit dem Epidemiologen zusammen – und nicht für ihn – arbeiten sollte, doch das schien sich mit Wangs Selbstverständnis schwer zu vertragen.
Zudem war ein gutes Gelingen nie so wichtig gewesen wie heute. Vor einem illustreren Publikum hatte der Professor lange nicht gesprochen. Nicht nur die absolute Weltelite aus Virologen und Epidemiologen würde zugegen sein, auch die Regierungschefs der acht selbsterklärten größten Wirtschaftsmächte dieser Erde würden dem Vortrag beiwohnen. Immerhin war dies nicht irgendein Kongress, sondern der G8-Gipfel.
Wangs Einsatz war es hauptsächlich zu verdanken, dass die weltweite Gefahr von Epidemien zu einem der Hauptthemen des Gipfels erklärt worden war. Seit der großen weltweiten SARS-Epidemie von 2003 hatte er dafür gekämpft. Jederzeit konnte ein noch gefährlicheres Virus auftauchen – mit ein wenig Pech sogar eins, dem die Menschheit nicht gewachsen war. Man musste Notfallpläne ausarbeiten und zwar auf internationaler Ebene.
Debbie vermutete allerdings, dass die Rettung der Menschheit nicht Wangs primäres Ziel war. Sie kannte ihn gut und wusste ob seiner Eitelkeit. Die Vermutung lag nahe, dass die Vorstellung, vor den mächtigsten Menschen der Welt zu sprechen, die wahrscheinlichere Triebfeder des Professors gewesen sein dürfte.
Doch Wangs Motive spielten in diesem Moment keine Rolle. Die einmalige Chance, die Weltöffentlichkeit auf eine ernstzunehmende Bedrohung aufmerksam zu machen, durfte nicht ungenutzt bleiben. Nein, bei diesem Vortrag durfte wirklich nichts schief gehen.
Der Weg vom Hotel bis zum Kongresszentrum war nicht weit. Dennoch verdammte Debbie nach wenigen Schritten ihre Entscheidung, kein Taxi genommen zu haben. Sie mochte das deutsche Wetter nicht, speziell an der Küste. Während ihrer fünf Studienjahre in Köln hatte sie Land und Leute lieben gelernt – aber nie das Wetter. Gewiss waren die Winter in Minnesota zu kalt und die Sommer zu heiß, aber wenigstens hatte man rund ums Jahr Sonnenschein. Sie wusste, dass das nicht ganz stimmte, aber im Vergleich mit Deutschland kam es einem so vor. Besonders an diesem verregneten Nachmittag.
Dieser fünfminütige Fußmarsch würde sie noch mindestens fünfzehn weitere Minuten vor einem Spiegel kosten, bevor sie vor Menschen treten konnte. Ihr nackenlanges blondes Haar war zu kurz für einen Pferdeschwanz. Das würde sie nach diesem Sturm noch bändigen müssen. Sie war nicht eitel, sich aber durchaus der Tatsache bewusst, dass sie mit ihrer schlanken, sportlichen Figur und ihrem gewinnenden Lächeln Blicke auf sich zog. Und wer wollte da schon aussehen wie nach einem fünfminütigen Spaziergang an der Ostsee?
Die ‚Seemöwe’, das Hotel, in dem die Wissenschaftler, die Journalisten und die übrigen less important persons untergebracht waren, war ein etwas bodenständigerer Ableger des luxuriösen ‚Seeadlers’, in dem die Regierungschefs, ihre engsten Berater, die Sicherheitsleute und die übrigen very important persons residierten.
Der gesamte Komplex war erst vor wenigen Jahren direkt an der Ostseeküste entstanden. Man hatte sich für eine moderne Architektur mit viel Glas entschieden. Dieser Vorschlag eines Berliner Architekten hatte sich gegen die zunächst favorisierten Einreichungen anderer Büros im Landhaus- oder Kolonialstil durchgesetzt, weil er weniger prätentiös war, sich selbst nicht so wichtig nahm und somit die wunderschöne Dünenlandschaft der Ostseeküste nicht in den Hintergrund drängte. Ganz im Gegenteil reflektierte das viele Glas die Ostsee, den Himmel und die Dünen sogar noch.
Neben den beiden Hotels umfasste die Anlage einen 18-Loch Golfplatz, der sich im Stil britischer Links Courses in die Dünen schmiegte, und genau zwischen den beiden Hotels lag. Als Debbie den Platz passierte, dachte sie kurz an die Golfspieler, die hier regelmäßig mit dem Ostseewetter zu kämpfen hatten, und sie empfand eine kurze grimmige Schadenfreude.
Zudem gehörte das Kongresszentrum zu dem riesigen Komplex. Hier würden während des Gipfels die wissenschaftlichen Vorträge stattfinden. Natürlich grenzte es direkt an den Luxustempel an. Die Mächtigen dieser Welt würden sich nicht durch Wind und Regen kämpfen müssen. Debbie hätte ein Taxi nehmen sollen.
„Shit!” sagte sie laut, als der Sturm einen weiteren Versuch, ihren Regenschirm zu öffnen, vereitelte. In dem Moment klingelte ihr Handy. Das Display zeigte Wangs Namen. Wütend rammte sie den Regenschirm in einen Mülleimer und nahm ab.
„Professor. What do you want?”
„Debbie. Where you? Hurry.”
Es klang mehr wie ‚Hully’, denn noch immer hatte Wang große Probleme, ein ‚r’ auszusprechen. Debbie hatte nie verstehen können, wie ein Mann von seinem Intellekt, der seit dreißig Jahren internationale Kongresse besuchte und inzwischen auch seit drei Jahren in den USA lebte, noch immer so schlecht Englisch sprechen konnte.
„Listen”, sagte sie genervt. „Ich komme, sobald der scheiß Sturm mich durchlässt. Ich bin da, wenn ich da bin.”
„Beeile. Ich Frage mit Vortrag.”
„Ich fliege.” Sie gab sich keine Mühe, den aufsteigenden Sarkasmus in ihrem Tonfall zu unterdrücken. Sie wusste, dass der Professor ihre direkte, offene Art nicht immer schätzte, aber es war ihr egal.
Was sie viel mehr störte, war dieses Wetter. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Das Dunkelgrau des Himmels, der peitschende Regen und das Tosen der im Sturm wütenden Brandung schienen nichts Gutes zu verheißen.
2.
Scheiß Wetter, dachte Passe Hausmann. Es konnte beim besten Willen nicht zur Besserung seiner Laune beitragen. Er hatte sich die ganze Geschichte anders vorgestellt.
Das hier war Kindergeburtstag, Grillen mit Freunden. Er hatte die Videos vom letztjährigen G8-Gipfel in Genua gesehen, doch hier schien niemand bereit, soweit zu gehen. Wo war der Schwarze Block, die Gewaltbereitesten unter den Globalisierungsgegnern? Woran würde er sie erkennen? Wie würde er ihnen vermitteln, dass er einer von ihnen sein wollte?
Diese Jungs trauten sich noch, ihre Meinung zu zeigen. Was half es schon, Transparente zu bemalen, und Sitzblockaden durchzuführen? Wenn man etwas aussagen wollte, dann brauchte man Aufmerksamkeit, und die kriegten sie hier nicht.
In Genua hatten sogar die Spezialeinheiten der Polizei Respekt vor dem Schwarzen Block gezeigt. Gewaltfreie Demonstranten waren brutal zusammengeknüppelt worden – wenn sie überhaupt in die Stadt gelassen worden waren. Aber als die Mitglieder des Schwarzen Blocks durch die Straßen gezogen waren, Autos angezündet und randaliert hatten, da war weit und breit kein Polizist zu sehen gewesen, der sich ihnen in den Weg zu stellen gewagt hätte. Die Aufnahmen waren in den Nachrichten auf der ganzen Welt ausgestrahlt worden, man hatte Aufmerksamkeit erzeugt. Nur so ließ sich etwas bewegen.
Nicht so hier.
Fast ärgerte Passe sich, dass er überhaupt hergekommen war. Er hatte geahnt, dass nicht viel passieren würde. Seine Freundin Dora hatte ihn überredet; aber die fand ja auch Sitzblockaden dufte.
Man kam noch nicht mal in die Nähe des eigentlichen Gipfels. Um Globalisierungsgegner fernzuhalten und die Sicherheit der Staatsoberhäupter zu gewährleisten, war im Vorfeld des Gipfels ein zwölf Kilometer langer Zaun im Halbkreis um die Küste und den Versammlungsort errichtet worden. Im Polizeijargon nannte man so etwas eine technische Sperre. Zwölfeinhalb Millionen Euro hatte die Bundesregierung investiert, um aus Stahlgittern und Beton ein nahezu unüberwindliches Hindernis zu schaffen. Der ganze Zaun reichte einen Meter tief in die Erde, um Untertunnelungen zu verhindern. Er war zweieinhalb Meter hoch und komplett mit Stacheldraht umwickelt. Zu guter Letzt sorgten Überwachungskameras in regelmäßigen Abständen für Sicherheit. Dies war in der Tat eine technische Sperre.
Auf der anderen Seite des Halbkreises begrenzte die Ostsee den Gipfelschauplatz. Doch auch von hier aus waren Aktionen nicht möglich. Über fünfzig Schnellboote der Polizei bewachten dicht gestaffelt und unterstützt von fünf Fregatten der Marine die Küste, während regelmäßige Polizeipatrouillen den Strand sicherten. Zudem lagen zwei Kriegsschiffe der U.S. Navy vor der Küste – die Sicherheitsverantwortlichen des Weißen Hauses hatten darauf bestanden. Während sie die Seeraumüberwachung der deutschen Marine durchaus zutrauten, wollten sie die Luftabwehr nicht in fremde Hände geben, und hatten neben einem Zerstörer einen Kreuzer der Ticonderoga-Klasse in die Ostsee verlegt. Kreuzer dieser Klasse waren mit AEGIS-Lenkwaffentechnologie ausgestattet, dem modernsten Luftabwehrsystem der Welt.
In Passes Augen machten die Amerikaner sich mit ihrer Paranoia lächerlich. Er jedenfalls hatte einen Angriff aus der Luft nie in Erwägung gezogen.
Der Zaun um den Versammlungsort hatte den Globalisierungsgegnern natürlich nur weiter Wasser auf ihre Mühlen gegossen. Hier wurde sinnlos und mit beiden Händen das Geld aus dem Fenster geworfen, während auf der anderen Seite der Erde Menschen verhungerten. Die Gruppe der Acht gab vor, die Länder der Dritten Welt zu unterstützen, doch in Wirklichkeit trieb sie die armen Nationen in Abhängigkeiten, um an deren Bodenschätze zu gelangen und immer neue Anlagemöglichkeiten für westliches Kapital und Absatzmöglichkeiten für westliche Produkte zu finden. Wenn man so wollte, war dieser Zaun mit Mitteln gebaut worden, die man von den ärmsten Ländern der Erde genommen hatte. Er symbolisierte die mafiöse Doppelmoral der G8.
Doch der Zaun war nicht das Einzige, was hier vernünftige Proteste erschwerte. Auch der Austragungsort des Gipfels an sich eignete sich denkbar schlecht für aufmerksamkeitsstarke Aktionen. Während der Schwarze Block in Genua noch mehr oder weniger eine ganze Stadt verwüstet und somit seiner Meinung imposant Nachdruck verliehen hatte, gab es hier nichts, was man auch nur hätte anzünden können.
Unmittelbar um den Zaun zog sich ein breiter Gürtel wilder Wiesen. Hier campten die Globalisierungsgegner. Dahinter gab es mehrere kleine Wäldchen, zumeist aus Eichen und Buchen. Bäume, die zu dicht am Zaun gestanden hatten, waren abgeholzt worden, um ein Überwinden des Zauns von einem Baum aus unmöglich zu machen. Wälder und Wiesen. Was für Randale konnte man hier schon veranstalten?
Nur wenige hundert Meter vom Zaun entfernt befand sich dann der eigentliche Dorfkern. Petersdamm war ein beschauliches kleines Ostseedörfchen mit viel alter Bausubstanz und viel Fachwerk. Hier Verwüstungen anzurichten hätte absolut die Falschen getroffen. Wahrscheinlich hätte sich die Bundesregierung nicht einmal um die Beseitigung der Schäden gekümmert. Wen interessierte dieses Kaff nach dem Gipfel schon noch? Außerdem würde es schlicht und einfach nichts bringen, hier etwas zu zerstören. Petersdamm war nicht Genua.
Auf einer Wiese in der Nähe des Zauns hatten unzählige Übertragungswagen von Kamerateams vorläufig Posten bezogen. Im eingezäunten Bereich selbst waren keine Fernsehteams zugelassen. Kameraleute der Bundesregierung filmten hier und gaben das Material nach eingehender Prüfung durch den BND an die Fernsehsender dieser Welt weiter. Die Fernsehteams, die am Zaun entlang Quartier bezogen hatten, hofften, durch die Gitter hindurch etwas Sehenswertes zu erwischen. Zudem erwarteten ihre Zuschauer Vor-Ort-Berichterstattung. Ob die Bilder nun selbst produziert waren oder nicht.
Natürlich hätte man die Übertragungswagen anzünden können. Immerhin nahm das Areal, das für sie vorgesehen war, etlichen Autonomen den Platz zum Campen. Doch auf die Medien war man eben angewiesen, wenn man eine Botschaft in die Welt zu tragen hatte. Erstens musste man ihnen die technischen Möglichkeiten zum Senden belassen und zweitens sollte man sie sich nicht zum Feind machen.
Nein, es gab hier wirklich nicht viele Möglichkeiten, aufmerksamkeitsstarke Aktionen durchzuführen.
Und Dora freute sich auch noch darüber. Unzählige Male hatten sie dieselbe Diskussion geführt. Dora vertrat die Meinung, gewaltfreier Protest würde ernster genommen. Die Öffentlichkeit würde sehen, dass die Demonstranten vernünftige Menschen mit klaren Vorstellungen waren und nicht Rowdies, die mehr wegen der Randale als wegen der politischen Aussage gekommen waren. So ein Schwachsinn. Was für eine Öffentlichkeit denn? Die würden doch gar nichts von den Protesten mitbekommen. Welcher Nachrichtensender sendete denn ein paar Hippies, die sich irgendwo auf eine Straße setzten, über die vielleicht einmal eine wichtige Person fahren würde, vielleicht auch nicht?
Es war Quatsch. Und Doras Überheblichkeit kotzte ihn auch an. Natürlich hatte er sich, bevor er sie kennengelernt hatte, nicht sonderlich für Politik interessiert. Das hatte erst durch sie begonnen. Aber das hieß ja nicht, dass er nicht in der Lage war, sich seine eigene Meinung zu bilden. Besonders, wenn es so offensichtlich war, dass die gewaltfreien Proteste rein gar nichts einbrachten. Dass er mit seinen dreiundzwanzig Jahren zwei Jahre jünger war als sie, stärkte seine Position natürlich auch nicht.
Zwei Kamerateams hatten sie am Vortag gefilmt. Zwei!
Am Tag vor dem Gipfelbeginn hatten sich die Globalisierungsgegner in der Hoffnung, die Mächtigen am Bezug ihres Quartiers hindern zu können, zu einer Sitzblockade auf der einzigen Zufahrtsstraße zum eingezäunten Bereich eingefunden. Von den geschätzten fünfhundert Fernsehsendern vor Ort hatten exakt zwei sie gefilmt. Und dann hatte es die ganz große Überraschung gegeben – etwas, womit wirklich niemand hatte rechnen können: Ihre Zielobjekte waren per Hubschrauber angereist. Passe hatte ernsthaft begonnen, am Verstand seiner Mitstreiter zu zweifeln.
Und jetzt dieses Wetter. Bis hierher konnte er das Tosen der Brandung hören. Das Wüten des Meeres verbunden mit dem landeinwärts wehenden Wind verstärkte den Salzgeruch in der Luft. Der Geruch des Meeres verursachte immer eine leichte Übelkeit bei Passe, seit er als kleiner Junge mal entsetzlich seekrank geworden war. Selbst der Regen vermochte den Salzgeruch nicht aus der Luft zu spülen – nicht einmal dafür war er zu gebrauchen!
Vor zwei Tagen waren sie angereist. Es war ganz nett gewesen. Man hatte gezeltet, gegrillt, Leute kennengelernt. Ganz nett! Aber dafür war er nicht hier. Hatte er vielleicht schon Leute getroffen, die genauso dachten wie er? Mitglieder des Schwarzen Blocks, die sich nur nicht zu erkennen gaben? Er wusste, dass sie stets vermummt waren, wenn sie Randale machten. Vielleicht hatten sie auf dem Zeltplatz Angst, von verdeckten Ermittlern ausgemacht zu werden. Vielleicht gaben sie sich ihm deshalb nicht zu erkennen. Sah er vielleicht aus wie ein verdammter Bulle?
Am liebsten wäre Passe im Zelt geblieben. Aber nach den Regengüssen der letzten zwölf Stunden war es darin auch nicht mehr viel trockener als draußen. Also hatte er sich den anderen angeschlossen und sich zum Kongresszentrum aufgemacht. Dort würde heute der Eröffnungsvortrag des Gipfels stattfinden. Natürlich konnte man nicht bis ganz an das Zentrum heran, doch es war das dem Zaun am nächsten stehende Gebäude, das während des Gipfels genutzt wurde. Tatsächlich trennte lediglich ein großer Parkplatz das Kongresszentrum vom Zaun.
Aber was sollte hier schon groß passieren? Am Zaun entlang hatten unzählige Kamerateams Stellung bezogen. Doch die würden natürlich in der Hoffnung, einen der Mächtigen dieser Welt zu erwischen, ihre Kameras nicht von dem Gebäude abwenden.
Passe seufzte. Hier war einfach nichts zu machen. Kein Wunder, dass sich der Schwarze Block nicht blicken ließ.
3.
Professor Wang Dadongs großer Augenblick war fast gekommen. Sechs Jahre lang hatte er dafür gekämpft, dass die Gefahr von Epidemien auf einem G8-Gipfel thematisiert würde. Nun stand der Moment, auf den er so lange gewartet hatte, unmittelbar bevor. Man würde die Weltöffentlichkeit auf die Gefahr aufmerksam machen. Man würde Notfallpläne erarbeiten. Es würden Forschungsgelder in astronomischen Höhen fließen. Und das Ganze würde verbunden sein mit seinem Namen.
Er war der Eröffnungsredner. Dies würde seine große Stunde werden, er würde Ruhm ernten wie nie zuvor. Und das war schließlich das Einzige, wonach die verlogene Gemeinschaft der Forscher strebte. Forscher gaben vor, dem Fortschritt verpflichtet zu sein, der Wissenschaft dienen zu wollen, und doch lag ihr eigentliches Ziel nur in Ruhm und Rampenlicht. Nicht einen Forscher hatte Wang in seiner langen Laufbahn kennengelernt, der sich nicht gerne selbst reden hörte, und deshalb war er sich sicher, mit Recht von sich auf alle schließen zu dürfen. Er belog wenigstens sich selbst nicht. Er wusste, dass es der Ruhm war, nach dem er strebte, und nicht die Rettung der Menschheit. Aber er würde es niemals jemanden wissen lassen.
Er warf noch einen letzten Blick in sein Manuskript und war zufrieden. Debbie hatte gute Arbeit geleistet – wie eigentlich immer. Sie war die beste Assistentin, mit der er je zusammen gearbeitet hatte, und mit seinen zweiundsechzig Jahren hatte er deren schon einige gehabt. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte er in seiner Heimat China geforscht und gelehrt, bevor er einen Forschungsauftrag der University of Minnesota erhalten hatte. Doch selbst in puncto Fleiß und Eifer stach Debbie seine jungen, ambitionierten Landsleute aus – von ihrem Talent ganz zu schweigen. Ihre Art war manchmal ein wenig zu offen, ein wenig zu direkt, doch zumindest war die Zusammenarbeit dadurch stets unkompliziert und Missverständnisse kamen nicht auf.
Trotz der unzähligen Vorträge, die er in seinem Leben bereits gehalten hatte, ergriff Wang eine leichte Nervosität. Er hatte schon vor Regierungschefs und Staatsoberhäuptern gesprochen, aber noch nie vor einer so gebündelten Verdichtung purer Macht wie hier. Sein Puls legte einen Schlag zu und kleine Schweißperlen traten auf seine Stirn. Irgendwie schien es warm zu sein im Kongresszentrum.
–––––
Andreas Hanke überprüfte den ovalen Raum ein letztes Mal mit geschultem Blick. Er mochte den Hauptveranstaltungssaal des Kongresszentrums, weil er eingeschossig und nahezu freistehend war. Das erleichterte eine Überwachung enorm, und Überraschungen aus oberen Stockwerken konnten ausgeschlossen werden. Eine zweite Etage hätte man auch schlecht auf den Saal setzen können, denn die Decke war ebenso rund wie der ganze Raum. Im Prinzip glich das Gebäude von außen einem der Länge nach aufgeschnittenen hartgekochten Ei, das auf der Schnittfläche lag. Aufgrund der Nähe zur Ostsee wurde es häufig mit einem gestrandeten Wal verglichen und so hatte sich nach und nach der Spitzname ‚Walfisch’ für das Gebäude eingebürgert.
Der Architektur des gesamten Komplexes angepasst, bestand der ‚Walfisch’ hauptsächlich aus Glas und Stahl und wurde im vorderen Bereich, in dem die Bühne stand, von einer Halbkuppel aus Stahl und Beton abgeschlossen. Diese Halbkuppel diente dem einfachen Zweck, kein natürliches Licht von hinter der Bühne zuzulassen. Zudem vereinfachte sie die Installation der nötigen Lichttechnik und das elegante Verbergen der Kilometer von Kabel.
Um eine völlige Überhitzung bei massiver Sonneneinstrahlung zu verhindern und Beamerprojektionen auch am Tage zu ermöglichen, konnte jede der über vierhundert Glasscheiben individuell mit Jalousien verdunkelt werden. Zwar ließ das Dunkelgrau des Himmels an diesem Dienstagnachmittag nicht allzu viel Licht durch, während der impertinente Dauerregen für genug Abkühlung sorgte, doch auch heute waren sämtliche Jalousien zugezogen. Zu nah stand das Gebäude am Zaun und damit an den gierigen Kameras der Nachrichtenteams. Künstliches Licht erhellte den Saal.
Hanke war mit den Kollegen alles zigmal durchgegangen. Der ovale Saal war leicht zu überblicken. Vorne befand sich die Bühne, nach etwa fünf Metern fingen die Sitzreihen an. In der ersten Reihe würden die Regierungschefs sitzen, zwei Reihen dahinter er und seine ausländischen Kollegen. Aber das würde niemandem auffallen. Die Personenschützer der Staatsoberhäupter fielen überhaupt nie jemandem auf, der kein geschultes Auge dafür hatte. Sie waren nahezu unsichtbar und doch immer in der Nähe.
Die Personenschützer des BKA konnte man nicht mit Bodyguards von Prominenten oder gar mit Türstehern einer Diskothek vergleichen. Ihre Körperkraft zeigte sich nicht in Muskelbergen und ihr Haarschnitt war unauffällig und durchschnittlich, anstatt angsteinflößend und bedrohlich. Sie trugen gut sitzende Anzüge und fügten sich stets perfekt in das übliche Bild eines gewöhnlichen Staatsempfangs ein.
Rechts neben der Bühne war der Notausgang für den Fall der Fälle. Er war nicht als solcher gekennzeichnet und niemandem außer den Regierungschefs und ihren Bewachern bekannt. Dies war der Fluchtweg für die Mächtigen.
Es gab immer einen Notfallfluchtplan, der die üblichen Fluchtwege der Massen umging, aber schon lange hatte Andreas Hanke nicht mehr darauf zurückgreifen müssen. Natürlich hatte es Attentatsversuche gegeben, aber immer waren seine Kollegen frühzeitig zur Stelle gewesen und hatten den Attentäter ausgeschaltet, lange bevor er seinen Anschlag versuchen konnte. Obwohl er sich sicher war, dass sich daran auch heute nichts ändern würde, waren seine Konzentration und Anspannung voll da, denn ein einziger Fehler von ihm könnte im Ernstfall den Tod der Kanzlerin bedeuten.
Doch das würde nicht passieren. Es gab nichts, was ihn noch überraschen konnte, dafür war er einfach schon zu lange dabei. 1995 hatte er sich um die Stellung eines Personenschützers beworben. Man hatte ihn angenommen und ihm erlaubt, das knüppelharte Training zu durchlaufen. Nach ein paar Jahren des Profilierens hatte er 1998 mit der Wahl des neuen Kanzlers dessen Schutz übernommen, und als dieser 2005 abgelöst wurde, hatte die neue Kanzlerin Hanke wegen seines exzellenten Rufs in ihren Stab an Personenschützern aufnommen.
Die Gefahr hatte sich ein wenig gewandelt. Während der Ex-Kanzler sich mit seiner Politik und den nicht eingelösten Wahlversprechen eher Feinde im eigenen Land gemacht hatte, setzte sich die neue Kanzlerin mit ihrer freundlichen Haltung gegenüber Amerika eher dem Hass internationaler Terroristen aus. Die Aufgabe jedoch war die gleiche geblieben: ein Leben beschützen – zur Not im Tausch gegen das eigene.
Er testete ein letztes Mal die Funkverbindung.
„Am Eingang alles klar?” Er flüsterte die Frage unauffällig und nahezu ohne seine Lippen zu bewegen in ein winziges Mikrofon in seinem Revers.
„Alles klar”, war die prompte Antwort auf seinem kleinen, unsichtbaren Knopf im Ohr.
„Wie sieht’s auf dem Dach aus?”
Fünf Scharfschützen waren auf dem Dach des ‚Seeadlers’ postiert und überwachten von hier aus das Dach des ‚Walfischs’ und die Umgebung.
„Hier oben ist auch alles klar.”
Befriedigt blickte Hanke zur Bühne, die soeben vom Moderator betreten wurde. Es ging los.
–––––
Das Stimmengewirr, das gedämpft hinter die Bühne drang, ebbte ab. Nur noch Augenblicke. Wang tupfte sich ein letztes Mal den Schweiß von der Stirn. Dann hörte er, wie er angekündigt wurde, gefolgt von höflichem Applaus. Seinem Applaus. Er fühlte, wie ihn eine Gänsehaut überkam, eine Gänsehaut der angenehmen Art.
Debbie rückte seinen Krawattenknoten zurecht.
„Good luck, Professor.”
Er trat auf die Bühne. Seine Bühne. Sein großer Auftritt. Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Wang warf einen ausschweifenden Blick in die Runde und sog die Atmosphäre in sich auf. Er konnte die Macht förmlich fühlen, die sich hier versammelt hatte, und die Tatsache, dass die Mächtigen sich seinetwegen hier eingefunden hatten, gab ihm ebenfalls Macht. Er absorbierte sie, fühlte sie durch seinen Körper strömen und genoss sie für einen Moment. Er wollte sichergehen, dass er dieses Gefühl niemals vergessen würde.
Im Saal erkannte er neben der versammelten Macht der Gruppe der Acht auch Vertreter aus einigen asiatischen Ländern, denn das Zusammenleben von Hühnern, Schweinen und Menschen in vielen asiatischen Kulturen war ein nicht zu verachtender Faktor für die Mutation und Verbreitung gefährlicher Viren. Zudem blickte er auf die Crème de la Crème seiner Kollegen herab, ihre neidvollen Gesichter, voller Eifersucht, Missgunst und vielleicht sogar Hass. Ihr Neid verstärkte sein Gefühl von Macht noch. Trotz ihres Hasses waren sie gezwungen, zu ihm aufzublicken.
Zu guter Letzt sah Wang einige Journalisten, nicht viele allerdings. Ausschließlich handverlesene Wissenschaftsjournalisten hatten eine Akkreditierung für diese Veranstaltung erhalten. Die gemeine Presse war im gesamten eingezäunten Bereich ebenso wenig zugelassen wie Fernsehsender. Doch während diese durch das Kamerateam der Regierung mit Material versorgt wurden, war die schreibende Zunft ausschließlich auf Pressemitteilungen angewiesen.
Wang atmete tief durch. So schlecht sein eigenes Englisch auch war, so gut vermochte er doch, mit einem einstudierten Vortrag seine Zuhörer zu fesseln. Es war Routine für ihn. Er trat ans Mikrophon in der Mitte der Bühne. Nur etwa anderthalb Meter über ihm hing eine zur Lichtinstallation gehörige Metallkugel von der Größe eines Basketballs. Der Spot war auf ihn gerichtet.
Er räusperte sich, doch in eben jenem Augenblick erschütterte ein gewaltiger Donnerschlag das Gebäude. Ein Murren ging durch das Publikum. Wang war zu routiniert, um sich diese Gelegenheit für einen kleinen Scherz entgehen zu lassen. Es ging nichts über ein lockeres Publikum.
Er klopfte sich auf die Brust, räusperte sich erneut und sagte in gebrochenem Englisch: „Klingt wie Erkältung kommen.”
Das Publikum lachte laut auf. Er hatte die Menschen im Griff.
Doch mitten in dieses kurze Gelächter hinein ertönte plötzlich ein langgezogener, lauter Ton – ein Ton, wie ihn keiner der Anwesenden je gehört hatte. Er war schrecklich und wundervoll zugleich, am ehesten vielleicht noch mit dem einer Posaune vergleichbar, aber doch anders. Ein unbeschreiblich schöner Klang, doch durch seine Fremdartigkeit und Deplatziertheit auch ebenso grauenvoll wie Angst einflößend. Es war unmöglich, dass auch nur einer der Anwesenden keine Gänsehaut hatte.
Wang verstand nicht. Dies war sein großer Auftritt, sein Moment. Was passierte hier? Gerade noch hatte das Publikum über seinen Witz gelacht und jetzt dieser Ton. Eine Sirene? Ein übler Scherz eines neidischen Konkurrenten? Fassungslos blickte er zu Debbie hinunter, die am Rand der Bühne stand. Doch Debbie zuckte nur die Schultern. Auch sie wusste den Ton nicht einzuordnen.
–––––
Andreas Hanke blickte sich alarmiert und mit geübtem Auge um. Der Personenschützer war geschult worden, nicht bei der kleinsten Unplanmäßigkeit in Panik zu verfallen, aber dieser Ton war angsteinflößend. Was passierte hier? Ein Alarm? Eigentlich auszuschließen. Man hätte ihn über Funk sofort informiert, zudem war man alle Notfallsignale vorher durchgegangen. Aber dieser Ton war ihm fremd. War die Funkverbindung ausgefallen?
„Was ist das?” flüsterte er kurz und knapp in sein Revers.
„Keine Ahnung. Wachsam bleiben!” war die prompte Antwort in seinem Ohr. Der Funk funktionierte also. Hier vorne war Hanke ganz alleine für die Sicherheit der Kanzlerin zuständig. Kein anderer Personenschützer oder Geheimdienstler war ihr so nah. Er musste sich ein Bild machen und im Zweifelsfall in Sekundenbruchteilen eine Entscheidung treffen. Er blickte zur Kanzlerin, die von dem Ton ebenso ergriffen war, wie jeder andere im Raum.
–––––
Jo Somniak war einer der wenigen Wissenschaftsjournalisten, die eine Akkreditierung für den Gipfel erhalten hatten. Er saß in einer der hinteren Reihen. Obwohl er von seinem Platz aus nicht den besten Blick auf die Bühne hatte, wusste er, dass hier etwas Unglaubliches passierte.
Er legte seinen Laptop auf den Boden, richtete seine Nikon auf die Bühne und drückte auf den Auslöser.
–––––
Professor Wang Dadong blickte in die in Verzückung und Schrecken zugleich erstarrten Gesichter seiner Zuhörer. Etwas lief hier schief. Gewaltig schief – dies hatte sein großer Auftritt sein sollen.
Und er wurde es. Urplötzlich schoss ein gigantischer Blitz aus der Metallkugel über seinem Kopf auf ihn nieder. 500.000 Volt strömten durch seinen Körper in den Boden. Wang Dadong war tot, bevor der Blitz vorbei war.
–––––
Die durchschnittliche Reaktionszeit eines Menschen liegt bei etwa sieben zehntel Sekunden. Drei zehntel Sekunden nachdem der Blitz begonnen hatte, setzte Andreas Hanke mit einem gewaltigen Sprung über zwei Stuhlreihen hinweg, stieß dabei Menschen, zwischen denen er hindurch sprang, unsanft zur Seite, riss die Kanzlerin zu Boden und warf sich schützend auf sie. Halb sah, halb spürte er, wie neben ihm die anderen Regierungschefs von ihren Personenschützern auf gleiche Weise von dem Blitz abgeschirmt wurden. Dann wanderte sein Blick zur Bühne. Was er sah, ließ ihn zum ersten Mal in seinem Berufsleben für wenige Augenblicke seine Aufgabe vergessen.
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Debbie merkte, wie ihre Knie nachgaben. Etwas Schrecklicheres hatte sie noch nie gesehen. Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wie lange ein Blitz dauern konnte. Normalerweise sah man Blitze nur aus weiter Ferne und normalerweise sah man niemanden, der von dem Blitz getroffen wurde. Dieser Blitz schien eine Ewigkeit zu dauern.
Er hielt den leblosen, in entsetzlichen Spasmen zuckenden Körper des Professors in seinem Bann gefangen. Sein teurer Maßanzug hatte sofort Feuer gefangen, unkontrollierte Nervenimpulse ließen sämtliche Muskeln seines Körpers wieder und wieder kontrahieren, sein Gesicht war zu einer widerlichen Fratze verzogen, seine heraustretenden Augen sendeten schon jetzt kein Leben mehr aus, und eine Nebelwolke schlagartig aus seinem Körper verdampfender Flüssigkeit stieg von ihm empor.
Doch all das war nicht einmal das Schlimmste an diesem Bild.
Mit dem ersten Auftreffen des Blitzes hatte sich eine Art Feuerspur entzündet und sich schnell und geradlinig zur rückwärtigen Wand durchgefressen. Die Wand brannte nun, allerdings nicht überall. Es wirkte fast wie ein Bild. Eine Schrift. Ganz eindeutig. Auf der Wand hinter dem Professor stand in flammenden Lettern der Schriftzug ‚A87’.
Debbie konnte die Schrift lesen, aber keinen klaren Gedanken dazu fassen. Zu schrecklich war das gesamte Szenario. Im Vordergrund der immer noch vom Blitz gefangene, entsetzlich zuckende und brennende Professor, im Hintergrund die flammende Schrift und dazu über allem dieser schreckliche Ton, der angesichts des Bilds, das er untermalte, jegliche Schönheit verloren hatte.
Dann hörte der Blitz ebenso plötzlich auf, wie er begonnen hatte, und mit ihm auch der Ton. Es hatte kaum drei Sekunden gedauert, doch Debbie war es vorgekommen wie eine Ewigkeit. Mit einem dumpfen Geräusch schlug der qualmende, brennende und bis zur Unkenntlichkeit verkohlte Leichnam des Professors auf den Bühnenboden auf. Hinter ihm brannte nun die gesamte Wand, und einzelne Zeichen waren nicht mehr zu erkennen. Doch das bemerkte Debbie in diesem Moment nicht mehr.
Wie lange dauert ein Blitz? war ihr letzter Gedanke, bevor ihr schwarz vor Augen wurde und sie in sich zusammen sank.
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Andreas Hanke verlor keine Sekunde. In dem Moment, als der Blitz vorüber war, riss er die Kanzlerin unsanft hoch und schob sie eilenden Schritts zum ausschließlich für die Regierungschefs vorgesehenen Fluchtweg rechts von der Bühne. Sie würde von seinem Griff vielleicht ein paar blaue Flecken am Oberarm als Erinnerung behalten, doch das störte ihn nicht. Bereits nach wenigen Schritten waren sie umringt von vier weiteren Personenschützern des BKA. 28 Sekunden, nachdem der Blitz aufgehört hatte, saß die Kanzlerin in ihrer gepanzerten Mercedes-Benz Limousine in der Tiefgarage und verließ den Ort des Geschehens.
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Jo Somniak war kein gefühlloser Mensch. Das Schicksal des Professors ließ ihn nicht unberührt. Aber in diesem Moment hatte er wichtigere Gedanken. Er hatte im richtigen Augenblick auf den Auslöser gedrückt. Er hatte ein unglaubliches Foto geschossen. Die Zufriedenheit hierüber überwog jetzt über das Mitgefühl mit dem Professor.
Dieses Foto war der Grundstein zu seinem Moment des Ruhms. Er entnahm seiner Kamera die Speicherkarte, steckte sie in einen kleinen, extra dafür eingerichteten Schlitz in seiner Schuhsohle, und legte eine neue Karte in die Kamera ein.
4.
Holger Petersen schnarchte. Er wusste es nicht, und wenn es ihm jemand erzählt hätte, wäre es ihm egal gewesen, wie ihm fast alles egal war. Zudem schlief er alleine, aber wahrscheinlich hätte es ihn auch nicht gestört, wenn jemand neben ihm gelegen hätte, denn Rücksichtnahme gehörte schon lange nicht mehr zu Holgers Tugenden.
Das Telefon klingelte, vermochte Holger aber höchstens halb zu wecken. Nach dem fünften Klingeln meldete sich der Anrufbeantworter, doch der Anrufer legte auf. Dann klingelte das Telefon erneut. Diesmal wachte Holger ganz auf und Wut überkam ihn. Wer wagte es, seinen Mittagsschlaf zu stören? Wer nahm sich das Recht? Erneut legte der Anrufer auf, als sich der AB meldete, und versuchte es erneut. Holger würde das aussitzen müssen.
Er öffnete ein Auge und blickte auf den digitalen Radiowecker neben seinem Bett. 17:04 Uhr. Als der Anrufer es um 17:09 zum siebten Mal versuchte, griff Holger entnervt nach dem drahtlosen Telefon auf seinem Nachttischchen und nahm ab.
Er versuchte seinen Namen zu nennen und scheiterte kläglich. Ein heiseres Grunzen war alles, was aus seiner Kehle drang. Wann hatte er seine Stimmbänder das letzte Mal benutzt? Gestern? Vorgestern? Er wusste es nicht mehr.
„Holger, bist du das?” fragte der Anrufer. Es war Lars Metzger, Holgers ältester und inzwischen einziger Freund. Lars war bei der Kripo.
„Müsste ich für in den Spiegel gucken, keine Ahnung.” Holgers Stimme war ein kleines bisschen besser. Noch immer heiser und eingerostet, aber mit Wohlwollen und Konzentration durchaus verstehbar.
„Hör auf mit dem Scheiß und beweg deinen Arsch zum Kongresszentrum. Hier hat der Blitz eingeschlagen.”
„Na und?”
„Während eines Vortrags, Mann. Zweihundert Menschen waren in dem Saal und es gibt einen Toten. Die Umstände sind mehr als dubios.”
„Und was habe ich damit zu tun?” Holger versuchte, sich seine eingerosteten Stimmbänder zunutze zu machen und versoffen zu klingen. Vielleicht wollten sie ihn nicht da haben, wenn er zu unrasiert klang.
„Du bist in einer halben Stunde hier, das hast du damit zu tun!” Damit legte Lars auf. Er war der Einzige, der sich traute, so mit Holger zu sprechen. Erstens waren die beiden seit Kindergartenzeiten miteinander befreundet und zweitens konnte Holger es sich nicht leisten, ihn auch noch als Freund zu verlieren. Dann wäre niemand mehr da gewesen.
Holger legte das Telefon auf das Nachttischchen zurück und steckte sich eine Zigarette an. Es gab also einen Toten. Die Polizei brauchte ihn mal wieder. Natürlich. Und wenn die Polizei einen brauchte, dann musste man springen. Klar. Konnten sie denn keinen anderen fragen? Natürlich nicht. In diesem blöden Kaff gab es keinen anderen. Wer war überhaupt auf die bescheuerte Idee gekommen, in diesem winzigen Ostseedorf einen G8-Gipfel abzuhalten? Manchen Menschen war wirklich nicht zu helfen.
Mit einem lauten Missfallensgrunz stand Holger auf und ging unter die Dusche. Jede mögliche Abstellfläche in seiner eigentlich schönen, hellen und großzügig geschnittenen Drei-Zimmer-Wohnung war vollgestellt mit leeren Bierflaschen und vollen Aschenbechern. Er ging nicht mehr viel vor die Tür, doch in Ordnung und Sauberkeit konnte er ebenfalls keinen übergeordneten Sinn ausmachen. Eigentlich war sein Leben – oder das, was man gemeinhin als Leben bezeichnete – längst vorbei. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass er erst vierunddreißig Jahre alt war.
–––––
Holger ging zu Fuß. Er besaß zwar ein Auto, aber das nutzte er so gut wie nie. In diesem Kaff brauchte man kein Auto. Das Kongresszentrum lag keine zehn Minuten von seiner Wohnung entfernt.
Holger war einer der wenigen Anwohner, die innerhalb des eingezäunten Bereichs wohnten. Angrenzend an das moderne Luxusresort mit seinem Golfplatz gab es eine kleine Siedlung unmittelbar an der Küste, die die Investoren der Anlage am liebsten dem Erdboden gleichgemacht hätten, wogegen sich die Anwohner aber erfolgreich gewehrt hatten. Die Siedlung war ursprünglich einmal ein winziges Fischerdorf gewesen, doch nachdem die Fischerei in der Ostsee mehr und mehr zurück gegangen war und die großen Trawler den kleinen Fischern den Fang streitig gemacht hatten, war die Siedlung zu einer guten, modernen Wohngegend in fantastischer Lage umfunktioniert worden. Der Zaun hatte aufgrund der Nähe der Siedlung zum Hotel diese mit einschließen müssen.
Als das Resort gebaut wurde, hatte Holger noch aktiv dafür mitgekämpft, dass die Siedlung bestehen bleiben durfte. Damals hatte es noch etwas gegeben, wofür zu kämpfen sich gelohnt hatte. Jetzt im Nachhinein erschien es sinnlos. Hätte er damals nicht gekämpft, wäre er jetzt nicht von einem Zaun eingeschlossen.
Der kurze Spaziergang tat allerdings gut. Der frische Wind und der Regen in seinem Gesicht halfen ihm, der Schlaftrunkenheit Herr zu werden und wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Nicht einmal die Kapuze seines Sweatshirts zog er über den Kopf. Zu ruinieren war an seiner Frisur sowieso nichts, denn gekämmt hatte Holger seine halbkurzen dunklen Haare seit Jahren nicht.
Nach wenigen Minuten erreichte er das Kongresszentrum. Er hatte mit Einigem gerechnet, aber mit so einem Aufmarsch nicht. Feuerwehrfahrzeuge, Mannschaftsbusse der Polizei und unzählige Ambulanzen standen auf dem Parkplatz vor dem Gebäude und hüllten mit ihren zig Blaulichtern die Szenerie in ein unwirkliches Licht. Holger warf einen Blick auf die Nummernschilder der Krankentransportwagen. Einige waren sogar aus Rostock angefordert worden.
Unmittelbar hinter dem Parkplatz verlief der Zaun, belagert von unzähligen Kameraleuten und Journalisten. Letztere besaßen ein hochentwickeltes Sinnesorgan, das dem normalen Erdenbürger nicht zur Verfügung stand. Es nahm Sensationen wahr, noch bevor sie wirklich auftauchten. Die Medienmeute hatte Witterung aufgenommen und kreiste nun wie Geier über einem dinierenden Löwenrudel, in der Hoffnung, dass etwas für sie übrigblieb.
Noch hinter den Journalisten hatte sich eine ganze Horde von Globalisierungsgegnern eingefunden, die hochmotiviert und mit unerschütterlicher Moral ihre Parolen skandierten. Arme Irre, dachte Holger. Niemand interessierte sich für sie. Keine einzige Kamera war auf sie gerichtet und Politiker waren mit Sicherheit nicht mehr in der Nähe, wenn es einen Toten gegeben hatte. Doch Mitleid hatte Holger nicht mit ihnen. Er hasste dieses Pack.
Ein Streifenpolizist riss ihn jäh aus seinen Gedanken und brachte ihn wieder in die Realität zurück. Der Mann kam ihm irgendwie bekannt vor. Wahrscheinlich hatte er ihn mal in der Kirche gesehen.
„Guten Tag, Herr Pastor”, sagte der Polizist.
5.
Im Kongresszentrum herrschte ein babylonisches Chaos. Menschen rannten hektisch durcheinander und ineinander, umkurvten oder verschoben willkürlich herumstehende Krankentransportliegen oder Teile der Saalbestuhlung, stolperten oder standen anderen im Weg. Untermalt wurde die Szenerie von einem beachtlichen Lärmpegel. Um sich verständlich zu machen, musste man brüllen. Feststellungen, Flüche, Fragen, Antworten, Anweisungen und Aufforderungen vermischten sich zu einem einzigen einheitlichen Brei. Dazu lag der beißende Geruch von Verbranntem, Verkohltem und Verschweltem in der Luft.
Die Mitarbeiter mindestens sechs verschiedener Institutionen gingen hier ihrer Arbeit nach und standen sich gegenseitig im Weg. Da war erstens die Feuerwehr, die den Brand auf der Bühne gelöscht hatte und nun seine Spuren untersuchte.
Ebenfalls anzutreffen waren die Notärzte und Sanitäter der umliegenden Krankenhäuser, die sich um die vielen Schock-Patienten kümmerten.
Dazu kamen Mitarbeiter unabhängiger Unfallhilfen wie der Johanniter, die hinzu gerufen worden waren, weil die Krankenhäuser nicht genug Personal zur Verfügung stellen konnten. Unglaublicherweise und obwohl eigentlich alle das gleiche Ziel verfolgen sollten, Leben zu retten, arbeiteten unabhängige Unfallhilfen in Konkurrenz zu einander und zu den Krankenhäusern. Es hatte sogar Fälle gegeben, wo Unfallopfer fast gestorben wären, weil sich verschiedene herbei gerufene Hilfsdienste nicht über die Zuständigkeit einigen konnten. Diese Konkurrenzsituation leistete geflissentlich ihren Beitrag zum Chaos.
Darüber hinaus waren natürlich das BKA und der BND anwesend. Beide Organisationen waren für die Sicherheit der Regierungschefs verantwortlich, wenn auch auf verschiedenen Gebieten. Während das BKA den Personenschutz leistete und nun zu ergründen hatte, ob die Sicherheit der Politiker in irgendeiner Weise gefährdet war, war es die Aufgabe des BND, nach möglichen terroristischen Hintergründen zu forschen.
Doch beide Organisationen mussten feststellen, dass es sich schwierig gestaltete, Erkenntnisse zu gewinnen. Unisono berichteten die Zeugen von einem seltsamen Ton und von dem Feuer.
Der Ton wurde von schrecklich bis wunderschön in allen möglichen Variationen beschrieben. Auch über das Feuer gingen die Meinungen auseinander. Während einige Zeugen von einem einfachen Brand durch den Blitz sprachen, wollten andere Zeichen erkannt haben – brennende Zeichen. Ob ihres Schocks konnten sich allerdings die Wenigsten genau erinnern, was für Symbole dort gestanden hatten. Diverse Zahlen-Buchstaben-Kombinationen wurden genannt.
Und zu guter Letzt rannte in dem Chaos natürlich auch noch die Kriminalpolizei umher. Sie war einerseits, weil lokal ansässig, für Fragen jeglicher Art zuständig und sollte BKA und BND in jeder erbetenen Form zuarbeiten. Andererseits war die Kripo natürlich für die Ermittlungen zum Tod des Professors verantwortlich.
–––––
Peter Wegmann sah das Chaos und malte sich die nächsten Tage aus. Als Hauptkommissar der zuständigen Kriminaldienststelle war er hauptverantwortlich für die Todesermittlungen. Der Gipfel hatte ihn sowieso schon seit einem halben Jahr mit Arbeit überhäuft. Er hatte kaum genug unter den Tisch kehren können, um Überstunden zu vermeiden. So hatte er sich seinen Beruf nicht vorgestellt, als er sich vor Urzeiten an der Polizeischule gemeldet hatte. Oder anfänglich doch? Er wusste es nicht mehr. Wer war überhaupt auf die stumpfsinnige Idee gekommen, den Gipfel in diesem gottverlassenen Kaff auszurichten?
Zumindest war er mit seinen dreiundfünfzig Jahren erfahren genug, um zu wissen, was jetzt zu tun war. Er musste besonnen handeln. Er musste um jeden Preis verhindern, dass man tiefgreifende Ermittlungen von ihm verlangte und dafür gab es nur eine Lösung. Er ließ seinen Blick schweifen und suchte den leichenschauenden Arzt. Am Bühnenrand wurde er fündig. Der Notarzt war mit dem Ausfüllen des Leichenschauscheins beschäftigt, was bedeutete, dass die Leichenschau bereits vorüber war. Höchste Zeit zu handeln. Er ging zu ihm.
„Tag, Herr Doktor”, sagte er freundlich. „Wegmann ist mein Name. Hauptkommissar Wegmann. Ich bin für diesen Fall verantwortlich.”
„Tag, Herr Wegmann. Schubert. Ein schönes Brikett haben Sie da”, gab der Notarzt zurück, ohne vom Leichenschauschein aufzublicken.
„Sie kennen das Prozedere?” fragte Wegmann scheinheilig.
„Das Ausfüllen eines Leichenschauscheins? Durchaus. Als Notarzt muss ich da leider manchmal durch.”
„Dann werden Sie also den natürlichen Tod ankreuzen?”
Dr. Schubert blickte überrascht von dem Klemmbrett in seiner Hand auf und sah Wegmann an. Er war noch recht jung, keine vierzig. „Das nennen Sie natürlich?”
„Sie sind noch nicht so lange dabei?” Wegmann verlieh seiner Stimme eine Überlegenheit, die signalisieren sollte, dass er sich auskannte.
„Ich glaube, ich verstehe nicht…”
„Sehen Sie, die Sache ist die”, begann er umständlich. „Wir haben hier den Arsch voll Arbeit, wenn ich das mal so sagen darf. Mehr können wir nicht gebrauchen. Und eines weiß ich ganz sicher: Mord war das nicht.”
„Das habe ich auch nie behauptet”, Dr. Schubert hatte offenbar keine Ahnung, worauf Wegmann hinaus wollte. Oder er wollte keine Ahnung haben.
Ein Feuerwehrmann zwängte sich zwischen den beiden durch und stieg auf die Bühne. Wegmann setzte erneut an: „Nun ist es aber so, dass wir verpflichtet sind, in diese Richtung zu ermitteln, wenn Sie den nicht-natürlichen Tod ankreuzen. Wir müssten eine Autopsie durchführen lassen, die zu keinem anderen Ergebnis führen würde, als dass dieser Mann durch einen Blitzschlag getötet wurde. Sie würde uns aber einen Riesenhaufen Papierkram kosten. In der Regel helfen uns Notärzte in diesen Situationen gerne aus. Eine Hand wäscht die andere.”
„Ich mache meine Arbeit und Sie machen Ihre.” Dr. Schubert fühlte sich sichtlich in seiner Ehre verletzt.
„Sie wissen, dass dies kein natürlicher Tod war, und ich weiß es auch”, sagte Wegmann beruhigend. Diese Nuss war härter, als er gedacht hatte. „Aber wir sehen auch beide, dass es kein Mord war. Nun können Sie Ihrer Polizei viel Arbeit ersparen, indem Sie den natürlichen Tod ankreuzen. Einen Unterschied macht das für Sie nicht.”
„Doch, den macht es. Ich setze meine Unterschrift darunter. Und meine Unterschrift kommt nur darunter, wenn der nicht-natürliche Tod angekreuzt ist.”
Verdammter Idealist! dachte Wegmann. Diese jungen Typen hatten einfach noch nicht begriffen, wie die Welt sich drehte. Er verlor die Geduld. Als ob er nichts Besseres zu tun hätte, als mit einem naiven Weltverbesserer zu diskutieren.
Er hatte es auf die freundliche Art versucht. Zeit für schwerere Geschütze.
„Was fahren Sie denn für ein Auto, Dr. Schubert?”
„Mercedes”, antwortete dieser unsicher. „Wieso?” Ihm war anzusehen, dass ihm diese Wendung des Gesprächs nicht gefiel. Instinktiv, als könne er auf diese Weise seine Einschätzung schützen, umklammerte er das Klemmbrett fester.
„Wir sind zu Ihrem Schutz da, Dr. Schubert”, sagte Wegmann. „Es kann so schnell passieren, dass Randalierer ein Auto beschädigen. Sie wollen es sich doch mit der Polizei nicht verscherzen?”
„Ich bin gut versichert.” Dr. Schuberts Stimme war wieder sicher und er war hörbar verärgert.
„Haben Sie Kinder?” fragte Wegmann.
6.
Holger hasste es, wenn man ihn ‚Pastor’ nannte. Er war kein guter Hirte für seine Herde mehr. Er hatte seinen kompletten Glauben verloren. Viel mehr noch war er sogar fest davon überzeugt, dass es keinen Gott gab. Seine Predigten waren uninspiriert und die Zahl der Kirchgänger in der Gemeinde nahm beständig ab.
Seine Verachtung für diese Welt, seine völlige Gleichgültigkeit ihr gegenüber und sein beißender Zynismus klangen stets in seinen Predigten durch. Richtig eskaliert war die Situation einmal, als Holger Nietzsches ‚Antichrist’ zitiert hatte. Bis heute stand seine feste Überzeugung, sein Argument, dass auch Christen und Kirchgänger nicht blind einem Buch folgen durften, sondern eigene Entscheidungen treffen mussten, sei richtig. Vielleicht war Nietzsche nicht die treffendste Referenz gewesen, zugegeben. Er hatte für Empörung gesorgt und sich vor der Kirchenkonferenz verantworten müssen.
Holger war es egal. Er machte den Job weiter, weil Pfarrer nun mal einfach kein Job war, den man einfach so aufgab. Und von irgendwas musste er ja schließlich leben. Zudem, so war er sich sicher, würde er binnen kürzester Zeit zu einem hemmungslosen Alkoholiker werden, wenn er auch seine letzte Aufgabe im Leben verlor. Auch ohne Glauben an Gott gab ihm das Amt des Pfarrers das letzte bisschen Halt, das er noch im Leben hatte.
Doch Aufgaben wie die heutige gehörten nicht zu seinen bevorzugten. Holger hatte schon jetzt keine Lust mehr. Wieso hatte dieser Blödmann ihn als ‚Herr Pastor’ anreden müssen? Es erinnerte ihn nur wieder daran, wie schlecht er in seinem Beruf war. Und dem sollte er jetzt nachgehen.
Bereits am Eingang zum Kongresszentrum stieß er auf das nächste Problem. Die ohnehin ausufernden Sicherheitsmaßnahmen während des Gipfels waren nach dem schrecklichen Ereignis am Nachmittag ins Unermessliche gestiegen.
„Sie können hier nicht rein.” Ein am Eingang postierter Polizist stellte sich Holger in den Weg, ohne ihn auch nur nach seinem Namen oder seiner Absicht zu fragen. Der Polizist war weitaus kleiner als die eins fünfundachtzig, die Holger maß, und leicht untersetzt.
„Ihr Freunde und Helfer seid doch zu amüsant”, erwiderte Holger. Wie immer verlieh er seinen Worten eine leiernde Gleichgültigkeit, die nicht selten als Arroganz fehlinterpretiert wurde. „Herbestellen und dann nicht rein lassen? Mordsidee! Köstlich! Mein Zwerchfell brennt. Was für einen Spaß lasst ihr euch wohl als Nächstes einfallen?”
„Wer hat Sie herbestellt?” der Polizist ignorierte Holgers herablassende Haltung dienstbeflissen.
„Die Freunde vom Polizeigesangsverein Grün-Weiß Rostock”, antwortete Holger immer noch leiernd, doch inzwischen auch leicht gereizt.
„Klar. Und warum sollte ein Mensch, der klar bei Verstand ist, gerade Sie hierher bestellen?”
„Ich habe nie behauptet, es gebe in eurem Verein Mitglieder, die klar bei Verstand sind.”
„Vorsicht, Mann. Sonst hast du Handschellen an, so schnell kannst du nicht gucken.” Der Polizist wurde jetzt richtig sauer.
Was für ein Riesenarschloch! dachte Holger. Es war nervig, wenn einfache Polizisten mit Aufgaben betraut wurden, die sie überforderten. Hier musste selbständig geurteilt werden. Dem war der kleine Polizist nicht gewachsen. Alles, was ihm durch seinen kleinen, vermutlich relativ leeren Kopf ging, war, keinen Fehler zu begehen. Er arbeitete hier mit Geheimdienstlern und BKA-Leuten zusammen. Die würden ihn zusammenfalten, dass ihm Hören und Sehen verging, wenn er einem Unbefugten Zutritt gewährte. Nicht auszudenken, er würde auf den billigen Trick eines Boulevard-Journalisten hereinfallen.
Holger blickte sich genervt um. Das Chaos, das Gebrüll, die umherlaufenden Menschen, die Blaulichter, die Kamerateams, die Globalisierungsgegner – all das ließ darauf schließen, dass es drinnen nicht viel ruhiger sein würde. Ständig drückten sich Menschen mit wichtigen und gehetzten Mienen an ihm und dem untersetzten Polizisten vorbei. Er wollte nicht da rein. Doch er musste. Außerdem regnete es immer noch.
Er gab sein kleines Spielchen auf und startete einen ernsthaften Versuch.
„Ich bin der örtliche Pfarrer und soll hier psychologische Betreuung leisten”, sagte er, während er dem Polizisten seinen Ausweis unter die Nase hielt.
Der Polizist musterte ihn von oben bis unten. Ungekämmte Haare, die der Regen ihm an die Stirn geklebt hatte, darunter ein unrasiertes Gesicht, eine schlaksig drahtige Figur, ein verwaschenes hellblaues Sweatshirt mit Kapuze, Jeans und Sneakers.
Der Polizist lachte kurz auf. „Wo ist die Robe, eure Heiligkeit?” Dann wurde er ernst. „Presse hat hier nichts zu suchen, also verzieh dich! Sonst kannst du gleich mal unsere GeSa kennenlernen.”
Die GeSas waren die speziell für den Gipfel eingerichteten Gefangenen Sammelstellen. Natürlich waren sie nicht für Pfarrer, sondern für gewalttätige Demonstranten gedacht, doch Holger hatte keine Lust mehr zu diskutieren.
Besser hätte es ja fast nicht laufen können. Ohne lügen zu müssen, würde er Lars später berichten können, alles versucht zu haben. Man habe ihn einfach nicht rein gelassen.
Er zuckte mit den Schultern. „Oh, Ärger. Sie sind ein Meister der Kombinatorik. Was hat mich als Reporter enttarnt? Der Bleistift hinter meinem Ohr oder das Blöckchen in der Brusttasche?”
Damit drehte er sich um und ging. Er war schon fast wieder über den Parkplatz, als er hinter sich seinen Namen hörte. Er blickte über die Schulter. Lars sah gehetzt und gestresst aus. Schweiß stand auf seiner Stirn und seine leicht füllige Gestalt strahlte nicht die Ruhe aus, die Holger von ihm gewohnt war. Auch seine Stimme hatte ihre langsame nordische Gelassenheit verloren.
„Wo willst du hin, Mann? Wir brauchen dich hier drin”, rief er. Holger ging zum Eingang zurück.
„Deine investigativ exzellent geschulte Streifenkraft hier hat mich leider als Mitglied der schreibenden Zunft enttarnt. Da war nichts zu machen. Er hat einfach durch meine Camouflage hindurch geblickt”, antwortete Holger extra laut. „Er ist mir über.”
Lars zog eine Grimasse. Er mochte Holgers Sarkasmus, aber zu lachen wäre weder der Situation noch seinem Kollegen gegenüber angemessen gewesen.
„Gute Arbeit, ganz fantastisch”, raunte Holger dem Beamten zu, als er mit Lars zusammen das Gebäude betrat.
Das Chaos erschlug ihn fast. Noch nie hatte er ein solches Durcheinander gesehen – nicht einmal in seiner Wohnung. Doch es gab kein Zurück mehr. Da musste er jetzt durch. Er wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen.
„Also, was genau ist passiert?” fragte er Lars.
„Hier sollte ein Vortrag stattfinden.” Lars sprach hektischer als sonst, ohne seine norddeutsche Ruhe. Der Akzent allerdings war trotzdem unüberhörbar. „Aber noch bevor der Redner angefangen hat, schlägt ein Blitz in das Gebäude ein und tötet ihn.”
„Mir kannst du die Wahrheit sagen”, raunte Holger ihm verschwörerisch zu. „Ich bin auf eurer Seite.”
Lars lachte kurz und freudlos auf. „Das ist die Wahrheit. Ich weiß auch, dass es unglaublich klingt. Aber es ist, wie es ist. Der Blitz ist durchs Dach geschlagen. Auf der Bühne hat es gebrannt. Alle aus dem Publikum faseln irgendwas von ‘nem komischen Ton.”
„Was für’n Ton?”
„Keine Ahnung. Sie sagen, sie hätten sowas noch nie gehört. Keiner weiß, wo es herkam, aber jeder hat es gehört. Sogar der Tonmeister. Der versichert allerdings, der Ton sei nicht aus seinen Lautsprechern gekommen. Er sagt, er hat sie sogar ausgeschaltet, aber der Ton ist geblieben.”
„Ein psychologisches Massenphänomen”, vermutete Holger. Jetzt war es also tatsächlich soweit. Seine erste Analyse. Er hatte zu arbeiten begonnen. „Selten, aber kommt vor. Der Schock trübt die Wahrnehmung, Halluzinationen sind nicht auszuschließen. Gleiche Umgebung und Umstände sorgen dafür, dass die Halluzination bei jedem ähnlich ist.”
„Ich hab keine Ahnung von dem Scheiß.” Lars war Kriminalist. Was ihn interessierte, waren Beweise und Fakten.
„Wo fange ich an?” fragte Holger.
„Die Assistentin des Professors hat es wahrscheinlich am schlimmsten erwischt. Erstens stand sie direkt neben der Bühne und zweitens kannte sie das Opfer sehr gut. Sie war sogar kurz ohne Bewusstsein. Sie steht unter Schock, will sich aber partout nicht helfen lassen. Faselt wirres Zeug.”
„Name?”
„Deborah Ashcroft.”
Holger seufzte tief. „Ihr seid zu gut zu mir. Nach der großzügigen Einladung gebt ihr mir jetzt auch noch die Gelegenheit, mein Schulenglisch aufzupolieren. Du siehst mich hocherfreut, mein Freund.”
Lars grinste und wies Holger mit ausgestrecktem Arm den Weg. Holger stellte sich auf Zehenspitzen, um über die durcheinander wuselnden Menschen zu blicken. Auf einer Trage nahe dem linken Bühnenrand lag eine hübsche junge Frau.
Doch Miss Ashcroft schien nicht an Ruhe und Bequemlichkeit interessiert. Ein Sanitäter neben ihr hatte alle Hände voll damit zu tun, sie in ihrer Position zu halten. Im Moment versuchte er vergeblich, ihr eine Beruhigungsspritze zu geben. Holger trat hinzu.
„Miss Ashcroft? Hi, my name is Holger Petersen. I’m the...”
„Sie können Deutsch mit mir reden”, unterbrach sie ihn barsch. „Und es ist Dr. Ashcroft, bitte.”
Holger warf einen übellaunigen Blick zu Lars rüber. Der grinste kurz und wandte sich dann wieder seinen Aufgaben zu.
„Okay. Gut, eh, Dr. Ashcroft.” Holger musste sich sammeln. „Ich bin der Pastor dieser Gemeinde und man hat mich gebeten, ihnen psychologisch zur Seite zu stehen.”
„Ich brauche keine Hilfe”, erwiderte Ashcroft. „Es geht mir gut.”
„Sehen Sie, es ist eine völlig normale Reaktion nach einem Schock, zu glauben, es gehe Ihnen gut”, sagte Holger mit ruhiger Stimme.
„Was für ein Schock? Ich habe keinen Schock. Mein Boss ist gerade gegrillt worden und ich möchte wissen, warum. Das ist alles.” Eine gewisse Aggressivität lag in ihrer Stimme. Sie versuchte sich aufzusetzen, doch der Sanitäter drückte ihre Schultern sanft nach unten.
„Natürlich wollen Sie das. Aber mit einer akuten Belastungsreaktion ist nicht zu spaßen. Wenn sie nicht verarbeitet wird, kann sie Ihnen für eine lange Zeit ernste Probleme bereiten und Ihre Arbeit wie auch Ihr Privatleben beeinflussen.” Er musste bei seinen eigenen Worten schlucken und hoffte, dass sie es nicht bemerkte.
„Sind Sie ein beschissener Psychiater?” ranzte sie.
Amerikaner! dachte Holger. Ohne Fluchen geht’s bei denen nicht.
„Nein, ich bin Pfarrer. Aber für solche Situationen bin ich…”
„Und welche Arroganz erlaubt es Ihnen, mir einen Schock zu unterstellen?” fiel sie ihm ins Wort. „Unterstelle ich Ihnen etwa einfach, dass Sie nach Alkohol stinken? Nein, ich behalte es für mich!”
Holger atmete tief durch. Er hasste es, unterbrochen zu werden. Die Beleidigung, obwohl wahrscheinlich zutreffend, half wenig, sein Gemüt zu beruhigen. Er gab sich Mühe, seinen Ärger nicht zu zeigen. „Wenn Sie mich überzeugen wollen, hilft es Ihnen wenig, Schocksymptome offen zur Schau zur tragen. Und Unsachlichkeit kann leicht als Desorientierung…”
„Und wenn Sie mich überzeugen wollen, dass Sie mir helfen können”, fiel sie ihm ins Wort, „hilft es Ihnen wenig, Ihren Mangel an Sachverstand so offen zur Schau zu stellen. Ist Ihnen aufgefallen, dass ich keinerlei physische Symptome zeige? Und auch keine Wahrnehmungsprobleme oder gar dissoziative Störungen? Ich bin Biologin! Und ich kann meine Gesundheit durchaus selber einschätzen!”
Holger blickte sich auf der Suche nach einer Beruhigung seines Gemüts und einem neuen Ansatz im Saal um, doch was er fand, schien wenig dienlich. Die Feuerwehrleute auf der Bühne waren jetzt damit beschäftigt, ihre Werkzeuge aufzuräumen, den Löschschaum zu entfernen und Proben der Brandrückstände zu entnehmen. Insgesamt schien sich der Saal langsam etwas zu leeren, weil mehr und mehr der Schockpatienten in Krankenhäuser abtransportiert wurden. Doch noch immer war das Chaos unbeschreiblich und zur Kühlung von Temperamenten wenig hilfreich.
Er seufzte tief und wandte sich wieder an Ashcroft. „Ganz unabhängig davon, ob Sie Schocksymptome haben oder nicht, möchte ich Ihnen raten, professionelle psychologische Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Sie dürfen die Ereignisse nicht verdrängen, sie müssen sie verarbeiten. Nach so einem schrecklichen Unfall…”
„Unfall?” Schon wieder schnitt Ashcroft ihm das Wort ab. Langsam wurde es nervig. „Was faseln Sie denn da von einem Unfall? Das war Mord!”
Holger hatte Mühe, die Ruhe zu bewahren. Er war nicht mehr der besonnene Geistliche von früher. Immer häufiger kam es vor, dass er die Nerven verlor. Zwar zeigten sich seine Emotionen nicht durch lautstarke Ausbrüche, doch so Manchem wäre das wahrscheinlich lieber gewesen. Die leiernde Gleichgültigkeit seines Tonfalls erhielt er auch bei wütender Erregung aufrecht, doch inhaltlich wurden seine Aussagen feindseliger und nicht selten zutiefst beleidigend.
Er ballte eine kräftige Faust hinter seinem Rücken, um die emotionale Anspannung in Muskelspannung umzuwandeln. Sublimierung konnte man das wohl nennen und es klappte normalerweise nicht. Dann atmete er tief durch und wandte sich bemüht beherrscht wieder an die Amerikanerin. „Es war ein Blitz, Dr. Ashcroft. Ihr Chef wurde von einem Blitz erschlagen. Wenn es nicht jemand geschafft hat, sich die Mächte der Natur Untertan zu machen, ist Mord auszuschließen.”
„Und dieser Ton? Und die Schrift? Alles Zufall? Jemand hat hier manipuliert. Wie blind kann man denn sein?”
Was für eine Schrift? dachte Holger. Lars hatte ihm mal wieder nicht alles erzählt. Aber es war ihm fast egal. Wie eigentlich alles. Er überlegte kurz, wie er etwas über die Schrift erfahren konnte, ohne preiszugeben, dass er keine Ahnung hatte.
„Was genau, glauben Sie denn, hatte die Schrift zu bedeuten?”
„Woher soll ich das wissen? Ich weiß nur, dass sie da war. Geschrieben mit Feuer.”
„Geschrieben mit Feuer?” Holger war so überrascht, dass es einfach aus ihm raus platzte. Sogar sein gleichgültiges Leiern vergaß er.
„Yikes! Scheiße, wenn einem keiner was sagt, oder? Dann wissen Sie ja jetzt, wie ich mich fühle.”
„Also, was war das für eine Schrift?” Holger gab den Versuch auf, vorzugeben, er wisse Bescheid.
„Eine Flammenspur hat sich bis an die Rückwand durchgefressen und plötzlich stand da klar lesbar ‚A87’. Ich weiß nicht, was es bedeutet. Aber ich weiß, dass es da war.”
„Flammenausbreitung ist völlig arbiträr. Es wird sich zufällig ein Bild ergeben haben, das für Sie in ihrem Schockzustand…”
Erneut durfte er nicht ausreden. „Oh, ein Pyroexperte sind wir auch. Pfarrer, Psychiater und Pyroexperte. Wow, Sie kommen rum.”
Es brodelte in Holger. Lange würde es nicht mehr dauern, bis er überkochte. „Liebe gute Frau! Ich versuche, Ihnen zu helfen. Sie würden mir die Sache signifikant erleichtern, wenn Sie mich gelegentlich einen Satz zu Ende…”
Auch diesen nicht.
„Wenn Sie mir helfen wollen, überzeugen Sie die Polizei davon, dass es Mord war”, fuhr Ashcroft ihm ins Wort. „Sagen Sie diesem jerk hier, er soll mich in Ruhe lassen.” Sie sandte einen giftgetränkten Blick zu dem Sanitäter, der immer noch versuchte, sie auf der Trage festzuhalten „Finden Sie heraus, wie lange ein Blitz dauert oder gehen Sie einfach Verstecken spielen. Aber vor allem: fuckin’ leave me alone.”
Holger blickte sich um. Sublimieren. Den Ärger ausatmen, nicht aussprechen. Er wollte sich noch eine letzte Chance geben, sich zu beruhigen. Doch das hektische Gerenne um ihn herum, die vielen Menschen, die Lautstärke und die stickige, verbrannt riechende Luft ließen das nicht zu.
„Lassen Sie sie gehen”, sagte er dem Sanitäter. Dann wandte er sich zurück an Ashcroft. Seine Sprachmelodie war nach wie vor ruhig und leiernd, doch ein leichtes Zittern in seiner Stimme ließ seine Verärgerung erkennen. „Dr. Ashcroft, es war mir eine Qual. Ich werde Sie in meine Gebete einschließen und flehen, dass es sich um eine schwere Belastungsreaktion handelt. Mögen schlaffressende Alben und Mahren für den Rest Ihres Lebens Ihre Träume heimsuchen und Gleichgültigkeit zu Ihrer letzten Zuflucht machen. Meine besten Verwünschungen.”
Damit drehte er sich um und ging. Hinter sich hörte er Ashcroft die englische Bezeichnung für eine Öffnung in der rückseitigen Körpermitte murmeln.
Hysterische Besserwisserin! dachte er und suchte nach Lars.