Volk ans Gewehr - Eggebrecht Axel - E-Book

Volk ans Gewehr E-Book

Eggebrecht Axel

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Beschreibung

Berlin in den frühen 1930ern: Propaganda, Proteste und Straßenkämpfe gehören zum Alltag. Mittendrin die Bewohnerinnen und Bewohner des Mietshauses in der Charlottenburger Herderstraße: eine aufstrebende Tänzerin, ein SA-Truppführer, ein unpolitischer Journalist … Axel Eggebrecht veranschaulicht das Abrutschen Deutschlands in die Nazi-Diktatur durch scheinbar zufällig gewählte Einzelschicksale – und berichtet zugleich fast journalistisch von den realen politischen Geschehnissen. Das ist spannend erzählt. Und erklärt vieles, was uns Nachgeborenen rätselhaft erscheint.

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Volk ans Gewehr

Chronik eines Berliner Hauses 1930–34von

Axel Eggebrecht

Mit einem Nachwort von Eckhard Gruber

Jaron Verlag

AXEL EGGEBRECHT, geboren 1899 in Leipzig, wurde 18-jährig zum Kriegsdienst an der Westfront eingezogen, studierte ein paar Semester Germanistik und Philosophie, wandelte sich vom Kapp- Putschisten zum Kommunisten und landete schließlich bei den bürgerlich-radikalen Linken. In Berlin wurde er Mitarbeiter der Weltbühne und schrieb Romane und Essays. 1933 war er aufgrund »radikaldemokratischen Engagements« für einige Monate im KZ Hainewalde inhaftiert. Nach kurzem Schreibverbot überlebte er die Nazi-Zeit als Drehbuchautor. 1945 wurde er Mitbegründer des NWDR, bis zu seinem Tod 1991 lebte er als Rundfunkjournalist und Publizist in Hamburg.

Zu dieser Ausgabe:

Grundlage des Textes ist die Erstausgabe, die 1959 in der Europäischen Verlagsanstalt, Frankfurt am Main, erschienen ist. Die Rechtschreibung wurde größtenteils der heute üblichen angepasst, offensichtliche Fehler wurden verbessert, manche Eigenarten und Altertümlichkeiten aber auch beibehalten.

Wir bedanken uns herzlich bei der Arbeiterwohlfahrt Hamburg für die Überlassung der Rechte an diesem Roman.

1. Auflage 2023

Jaron Verlag GmbH, Berlin

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin

Satz und Layout: Prill Partners|producing, Barcelona

Lithografie: Bild1Druck GmbH, Berlin

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

ISBN 978-3-95552-065-6

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Nachwort

1

VOR DER WAHL …

Oben auf dem leeren Papier standen die drei Worte in großen Lettern, vorgestern hingetippt, als Helmut noch dachte, er müsste für die Sonntagsausgabe des Morgenblattes die sogenannte Lokalspitze liefern. Dann hatte der dicke Dr. Taschner das selbst übernommen. Wenn es dem Chef so wichtig war, bitte, sollte er nur, es war ein Glück, dass Helmut am Donnerstag faul gewesen war.

Nun war schon Sonnabend Mittag. Eben kam er nach Haus, sah den Bogen, riss ihn aus der Maschine, knüllte ihn zusammen und spielte Fußball damit, bis er im Papierkorb gelandet war. Dabei lächelte er ironisch, es war ihm bewusst, dass er durchaus keine sportliche Erscheinung war.

Dann ließ er sich auf die Gebirgswiese fallen, so nannte er die altersschwache Lagerstatt, die tagsüber Diwan, nachts Bett war. Zwischen vielen kleinen Gipfeln und Schluchten suchte sich sein Rücken einen halbwegs ebenen Ruheplatz, missmutig quarrten unter ihm die Spiralfedern.

VOR DER WAHL …

Im Grunde wieder eine Blamage, eine Zurücksetzung, ein Reinfall. Müsste er sich nicht darüber ärgern? Er konnte es nicht, er wusste selbst, dass er von Politik nichts verstand, sie war ihm gleichgültig, neidlos überließ er es anderen, eine Meinung zu haben und auszusprechen. Das machte ihn seinen Auftraggebern angenehm, ohne dass dies in seiner Absicht lag. Manche Kollegen fanden, der Chefredakteur sei diesem kleinen Hagenow ausnehmend gewogen, das sei ein rechter Fuchs und Hansdampf in allen Gassen.

Vierzehn Monate war Helmut nun schon beim Morgenblatt. In letzter Zeit begann er, über sich selbst ärgerlich zu werden. Er wurde bequem. Manchmal kam er sich mit siebenundzwanzig schon müde vor, so jetzt eben, da er unwillkürlich die Augen geschlossen hatte. In plötzlicher Wut rieb er mit beiden Fäusten auf den Lidern, bis grelle Funken sprühten. – Feuerwerk der Träume, dachte er spöttisch. Wo hatte er das neulich gelesen? In irgendeinem dummen Gedicht wohl. Helmut verachtete Träume, oder er redete sich jedenfalls ein, dass er es tue. Früher war das anders gewesen. Was alles hatte er sich schwärmerisch erhofft, als er 1922 in diese Stadt gekommen war, kaum neunzehn Jahre alt, ein angehender Studiosus, entkommen dem strengen Elternhaus im engen, kleinen Nordhausen. Dreihundert Mark monatlich hatte der hochachtbare Gymnasialrektor Professor Hagenow seinem ältesten zugesagt, das war damals schon weniger als hundert Mark vor dem Kriege.

Dann stürzte die Währung ins Nichts. Viele Kommilitonen flüchteten ins Elternhaus zurück, Helmut wollte sich allein über Wasser halten. Das gelang nicht einmal schlecht. Er machte den Laufburschen für eine Versandbuchhandlung, die zweideutige Bildbände unter die Leute brachte; dann den Kellner in Nachtbars, den Anreißer für eine Kosmetikfirma. Irgendwann bekam er statt des Lohnes Bürsten und französische Seifen in die Hand. Das waren hochbegehrte Sachwerte. Helmut tauschte, handelte, bald nannte er sich stolz Kaufmann und schließlich – er war eben zwanzig – für ein paar wilde Wochen gar Bankier; da hatte er sechs Angestellte im eigenen Büro und jonglierte mit Billionen.

Als alles vorüber war, gehörten ihm noch siebzehn Dollar, das waren siebzig neue Mark. Ungefähr ebenso viel konnte er fortan monatlich aus Nordhausen erwarten, wenn er sein Studium wieder aufnahm. Aber im Wirbel verrückter Abenteuer war die Lust am Lehrerberuf vergangen, für immer. Der Rektor verzieh ihm das niemals ganz, wenn Vater und Sohn sich später auch versöhnten.

Helmut schlug sich weiter mit Zufallsberufen durch, bis er herausfand, dass Geschriebenes sich verkaufen ließ. Erst mühsame Versuche hier und da, dann spann er Verbindungen an, die solideste zum Morgenblatt. Das war eine kleinere, erklärt demokratische Zeitung, die sich unabhängig nannte, aber doch wohl insgeheim an den großen Pressekonzern gebunden war, in dessen riesigem neuem Druckhaus das Blatt hergestellt wurde. Auch die Redaktion bewohnte gastweise eine halbe Etage, und hier war Helmut nun täglich zu finden, als sechzehnter oder achtzehnter von zwanzig Kollegen.

Sein Ressort war nicht scharf begrenzt, doch umfasste es immer nur die kleinen Ereignisse. Der Sportredakteur schickte ihn zu den Nachwuchskämpfen der Boxer in die Spichernsäle und ging selber zur Meisterschaft in den Sportpalast. Im Reichstag war Helmut noch nie gewesen, aber wenn die Schöneberger Stadtverordneten sich um den Zuschuss für ein Heimatfest stritten, war das ein Thema für ihn. Auch über Bücher schrieb er, zum Beispiel wenn ein Bestseller das hundertste Tausend überschritt.

Zuweilen hatte er Gelegenheit zu kleinen Späßen: Bühnenstücke, die der erste Kritiker, ein uralter Professor, bei der Premiere zerzaust hatte, bekamen bei der fünfzigsten Wiederholung ein betont freundliches Zehnzeilenreferat, »H. H.« gezeichnet.

Helmut Hagenow lernte bei alledem, sich mit tausend Dingen zu befassen, ohne eines zu beherrschen. Er kannte Hunderte von Leuten, viele nannten sich seine Freunde, keiner war es. Vielleicht mit einer Ausnahme: Der alte Setzer Karl Radegast hatte seit ein paar Monaten eine väterliche Neigung zu ihm gefasst.

Manchmal lud er Helmut ein, Frau Meta tischte dann Buletten und Flaschenbier auf, gemeinsam redeten sie dem jungen Redakteur ins Gewissen und stachelten seinen Ehrgeiz an.

Es kam auch vor, dass Radegast ihn mit in eine sozialdemokratische Lokalversammlung nahm.

Die Radegasts bewohnten eine Zweizimmerwohnung im Gartenhaus Herderstraße 58. Ihnen verdankte Helmut den Hinweis auf das spottbillige Zimmerchen, das Frau Prachvogel, vorn drei Treppen, immer nur schwer vermieten konnte. Der Raum war ein schmaler Schlauch, aber sehr ruhig. Im Frühjahr war Helmut eingezogen.

Hier würde er ungestört arbeiten können. Hier würde das Buch entstehen, das hatte er sich vorgenommen. Das Buch – heimlicher Mittelpunkt aller seiner Pläne und Hoffnungen: Es sollte der umfassende und gültige Roman der Stadt Berlin werden. Es gab ein paar Entwürfe, es gab zehn, fünfzehn Seiten, die immer wieder geändert und verworfen wurden. Der erste Satz hieß: »H. glaubte nicht mehr an die sogenannten ewigen Werte.«

Von diesem Satz konnte er sich nicht trennen, obwohl er sich manchmal sagte: Dann braucht H. auch kein solches Buch zu schreiben. Auf diese Art begannen unübersteigbare Hindernisse bei den ersten zehn Worten. Nun, Fontane hatte seinen ersten Roman mit siebenundfünfzig veröffentlicht, da blieben Helmut noch dreißig Jahre Frist.

Ein kümmerlicher Trost, er wusste es. Und überhaupt war wenig zu beschönigen an seinem ganzen nichtssagenden und unbedeutenden Dasein.

Vielleicht spielte die Erkenntnis dabei mit, dass er vor Frauen noch immer ein wenig Angst hatte. Seine beste Eigenschaft war Ehrlichkeit gegen sich selbst. Er wusste, wie unsicher er war und wie leicht zu verletzen. Nur keinen Anlass bieten zu Angriffen, zu Blamagen. Das war seine Schwäche, jedenfalls empfand er es so und litt darunter. Manchmal suchte er sich daran zu erinnern, wie das eigentlich damals im Tollhaus der Inflation gewesen war. Da hatte er sich doch recht munter behauptet? War ihm irgendeine Fähigkeit seitdem abhanden gekommen?

Vielleicht saß die Scheu des Provinzjünglings vor den Frauen der Großstadt noch immer tief in ihm. Er hatte dies und das erlebt, natürlich, aber meist war er aus der Entfernung verliebt. So auch jetzt wieder: in seine Nachbarin, eine junge, selbstbewusste, kühle Dame, die schräg über den Korridor wohnte, im Galazimmer der kleinen, drittklassigen Pension.

Einen Augenblick lang dachte Helmut daran, bei ihr anzuklopfen und ihr mitzuteilen, dass er sie heute Abend noch treffen werde. Dann fiel ihm ein, dass sie dann vermutlich einen Grund fände, jetzt schon abzusagen. Er beschloss, sie lieber zu überraschen, und begann, eine unterwegs gekaufte Mittagszeitung zu lesen. Da standen dieselben Neuigkeiten, die er eine Stunde zuvor in seiner eigenen Redaktion erfahren hatte. Zeitungsmenschen können nichts Gedrucktes ungelesen lassen, in diesem Punkt war Helmut schon ein Journalist.

2

An diesem Sonnabend, dem 13. September 1930, brachten die Blätter unter anderem folgende Meldungen:

Drei schwerverletzte Männer, offenbar Mitglieder einer linksradikalen Organisation, waren letzte Nacht ins Virchowkrankenhaus eingeliefert worden.

Zwischen den Bahnhöfen Alexanderplatz und Schönhauser Tor war ein SA-Mann aus der fahrenden Untergrundbahn geworfen worden; das war der Abschluss einer Schlägerei mit den eigenen Kameraden gewesen. Deshalb wählte eine Zeitung die fette Überschrift:

EIN FEMEMORD?

Dergleichen ereignete sich fast jeden Tag, die meisten lasen darüber hinweg. Mehr Beachtung fand die Wettervoraussage: Kleine Störungen nicht ausgeschlossen, das kräftige Hoch hält an, im wesentlichen bleibt es warm und sonnig.

Darauf entschloss sich ein großer Teil der Berliner, für die nächsten sechsunddreißig Stunden Ärger und Sorgen zu vergessen.

Es gab genug Sorgen, mehr als vor einem Jahr. Damals hatte alles begonnen, mit jener Panik an der Börse von New York, die inzwischen jedes Kind den Schwarzen Freitag nannte. Immer länger wurden die Listen der Konkurse, die Arbeitsplätze immer knapper. Nur wenige begriffen den Zusammenhang ganz, aber alle spürten die zunehmende Unsicherheit. Ab und zu ließ ein Minister oder ein Bankpräsident verlauten, das Schlimmste wäre bald vorüber. Doch in Werkhallen, Büros und Stempelstellen fragten die Menschen sich sorgenvoll, woher jetzt, kurz vor dem Winter, eine Besserung kommen sollte.

Redner der radikalen Parteien tauchten überall auf und priesen ihre unterschiedlichen Rezepte an. Die meisten hörten dann zu, nickten hier und schüttelten dort den Kopf, dann nahmen sie alles Unheil weiter hin wie ein Stück Schicksal, an dem sich doch nicht viel ändern ließe.

Würde sich morgen, am Sonntag, nicht doch einiges ändern lassen? Das Datum war längst im Kalender rot angestrichen. Der Reichstag, im Sommer durch Kanzler Brüning aufgelöst, sollte neu gewählt werden. Drei von vier Deutschen würden sicherlich ihre Bürgerpflicht erfüllen, das war immer so. Aber sie erhofften sich wenig davon.

Manche würden morgen früh, wenn die Wahllokale öffneten, schon in ihren Schrebergärten sein oder draußen an den Havelseen. Wählen war gewiss wichtig. Das Weekend war heilig.

Weekend: ein neues, noch immer ein wenig fremdartiges Wort, seit ein paar Jahren im Schwange. Es klang hell und freudig, nach kleinem Abenteuer, nach Weite und Freiheit. Ein rechtes Trostwort für viele.

Doch da gab es Leute, die solche Wörter verachteten. Diese Leute machten sich nichts aus Freiheit und Weite. Sie hassten alles Fremde. Ihnen bedeutete das Ende jeder Woche eine strenge Pflicht. Da zogen sie Uniform an und stapften nach den Kommandos strammer Exerziermeister durch tiefen Sand. Nachts schlichen sie durch die Straßen und malten an alle Wände ihr Hakenkreuzzeichen, von dem man ihnen gesagt hatte, es wäre ein uraltes Symbol der nordischen Reinheit und Kraft.

In den Hinterstuben dunstiger Bierlokale wurden ihre unruhigen, unzufriedenen Gehirne einheitlich hergerichtet. Eines Tages würden sie das ganze Volk zur Gewalt bekehren: durch das unwiderlegliche Mittel der Gewalt. Vorläufig erprobten sie ihren Mut in fortwährenden Schlägereien mit ihren Gegnern.

Auch ließen sich die Einrichtungen derselben Staatsordnung, die sie vernichten wollten, vielfach missbrauchen. Morgen früh würden diese Verächter des freien Willens vollzählig an den Wahlurnen aufmarschieren, darauf konnte man sich verlassen, das gehörte diesmal zu ihrem Dienstplan.

In manchen Gegenden Deutschlands hatten diese Leute schon Erfolg, weit mehr jedenfalls als in Berlin. Hierher passten sie nicht ganz. Hier nahm man sie nicht für voll.

Deshalb hasste der Führer der Gewalt-Bewegung die Stadt, wo er dereinst zu residieren hoffte, ingrimmig. Er hatte seinen klügsten Helfer dazu ausersehen, die widerspenstigen Berliner zu gewinnen oder einzuschüchtern.

Nun spielte der kleine, aus dem Rheinland stammende Doktor der Philosophie seit ein paar Jahren den stürmischen Liebhaber Berlins. Er schmeichelte und drohte der Stadt, er warb um sie wie um eine Frau, die er in besessener Hassliebe endlich willenlos zu seinen Füßen sehen wollte.

Aber noch hatte Berlin einen eigenen, starken Willen.

In der drittgrößten Metropole der Erde ballten sich auf 883 Quadratkilometern zwischen Müggelsee und Havel viereinviertel Millionen zusammen. Fast alle liebten sie ihre Stadt, ohne viel darüber nachzudenken.

Freilich nannte kaum einer den riesigen Steinhaufen schön. Berlin hatte sich nicht wie andere Hauptstädte durch lange Zeiträume hin stetig entwickelt. Binnen weniger Jahrhunderte wurde es von Fürsten geplant, von Unternehmern zusammengefügt, schließlich wucherte es wild ins Brandenburger Land hinaus.

Da konnte sich kaum jemals ein Baustil ausprägen. Vieles wirkte, als sei es zufällig, vorläufig hergesetzt. Berlin war nicht gewachsen, sondern zustande gekommen.

Seine Einwohner waren aus allen Himmelsrichtungen zusammengeströmt. Noch immer fiel der geborene Berliner in Berlin auf. Dennoch war beinahe jedermann hier binnen kurzem heimisch. Die lärmende, hastige Stadt brachte es fertig, ihre Menschen nachhaltiger zu formen, als unter solchen Umständen zu erwarten war.

Berlin hatte etwas, was mancher uralten Stadt voller Glanz und Tradition nicht in gleichem Maße eignete: Berlin hatte Charakter. Einen spröden, eigenwilligen Charakter, der nicht ganz so leicht zu durchschauen war, wie es Besuchern auf den ersten Blick vorkam.

Häufig wurde die Berliner Taktlosigkeit gerügt; wer ein wenig genauer zusah, entdeckte hinter dem lauten Auftrumpfen und Wichtigtun eine jugendliche, zuweilen wohl eine kindliche Unbefangenheit. Schnoddrige Reden verbargen oft eine aufrichtige Hilfsbereitschaft, die sich nur nicht aufdrängen wollte. Überhaupt versteckte Berlin gern sein fröhliches und standhaftes Herz; so gut, dass manche annahmen, Berlin hätte gar keins.

Den hellen Kopf freilich konnte niemand übersehen. Der Berliner Geist hatte in Deutschland nicht seinesgleichen. Er war das Ergebnis einer glücklichen Kreuzung zwischen märkischer Trockenheit und heiterem gallischem Schwung. Vor zehn Generationen waren hugenottische Flüchtlinge hierhergekommen. Der französische Einschuss blieb wirksam bis in unsere Tage, gerade bei den einfachen Leuten.

Ungern ließ diese Stadt sich etwas vormachen. Es konnte aber geschehen, dass sie sich selber etwas vormachte, und möglicherweise bestand eben jetzt diese Gefahr; sonst hätte man jene Leute in ihren Wochenenduniformen ein wenig ernster genommen.

Vier Millionen Berliner lebten in Mietskasernen und Villen, in Lauben, Kellern und Mansarden.

Bis zum Kriege waren die verschiedenen Schichten ziemlich genau nach Stadtvierteln getrennt. Die Inflation wühlte, wie ein Riesenbagger, auch die Bevölkerung um und um. Im Osten waren sie nun nicht reicher, im Westen bestimmt ärmer als früher. Zu viele Prunkwohnungen standen hier leer, sie wurden nach und nach aufgeteilt, aus den volkreichen Bezirken zogen neue Mieter zu.

Nicht selten wohnte jetzt im selben Hause der gutverdienende Kaufmann neben dem arbeitslosen Dreher, der stempeln ging. Die Unterschiede also waren noch genauso schroff, aber die Fronten wurden unübersichtlicher.

Nachbarschaft minderte den Klassenkampf. Wer dem anderen ins Einkaufsnetz guckte, war vielleicht neidisch, aber er musste sich mit ihm vertragen, sonst wurde das Nebeneinander zur Hölle. So spielte sich in solchen Häusern ein vorsichtiges, oft verlogenes Zusammenleben ein. Vorspiel der klassenlosen Volksgemeinschaft, die von den braunen Beglückern als Zukunftsparole ausposaunt wurde.

3

Herderstraße 58, Postbezirk Charlottenburg 2, zuständiges Finanzamt Charlottenburg-Ost, Polizeirevier 122, Kantstraße. Errichtet kurz nach der Jahrhundertwende, in einem überladenen Mischstil, den der Architekt für Renaissance ausgab.

Bis zum Kriege galt die Gegend als besonders vornehm. Geheimräte zogen gern hierher. Gewerbliche Betriebe wurden nicht geduldet. Inzwischen hatte sich das gründlich gewandelt.

Zwar wurde das pompöse Portal noch immer von zwei keulenbewehrten Herkulessen bewacht, die scheinbar den oberen Querbalken trugen. Der war aus Gips, wie man jetzt an zahlreichen Rissen sah; auch die Stuckleiber der Heroen hatten in den letzten beiden Jahrzehnten tiefe Wunden davongetragen.

Unverändert hing noch die einst streng befolgte Vorschrift da:

NUR FÜR HERRSCHAFTEN

Aber neben den Schildern des Sanitätsrats Dr. med. Brake und des Rechtsanwalts und Notars S. Corduba zeigte Frau Frieda Prachvogel an, dass sie im dritten Stock elegante Zimmer vermiete; und auf einer schwarzen Glastafel stand in schmissiger Faksimileschrift zu lesen:

OLGA SCHRIMPF — MODES

Der Salon nahm, neben der Vermieterin, die andere Hälfte des dritten obersten Geschosses im Vorderhause ein.

Nicht genug mit diesen immerhin halbwegs gesellschaftsfähigen beiden Unternehmungen, waren nun zu ebener Erde drei Läden eingebaut: das Papiergeschäft der Witwe Anna Grautz, das Bettenhaus von Leon Schrinitzer mit zwei Schaufenstern voller Kissen und Plumeaux und die kleine Installation von Kuno Klamke, der nebenher die Portierstelle innehatte, gemeinsam mit seiner gelähmten Frau.

Ein solches Haus durfte sich kaum noch hochherrschaftlich nennen. Überdies bevölkerten allerlei Handwerker, etwa ein Instrumentenmacher und ein Malermeister, gemeinsam mit einigen Arbeiterfamilien das Hinterhaus; dieses hieß natürlich, wie üblich, offiziell Gartenhaus. Als Vorwand dafür mochten drei staubgraue Sträucher dienen, die im sonnenlosen Schacht des Durchgangshofes verkümmerten.

Von dort führte eine schmale Treppe mit hohen, abgetretenen Stufen zu vierzehn kleinen Wohnungen. Doch auch der Vorderaufgang mit seinen uralten, verschlissenen Läufern wirkte nicht nobler.

Jämmerlich sahen dort die drei großen Prunkfenster aus, die einst zu Kaisers Zeiten ein Glasmaler mit Hingabe verfertigt und zusammengesetzt hatte. Sie stellten den Gang der deutschen Historie dar, fortschreitend vom Hochparterre bis zum dritten Stock.

Unten stand man zuerst vor der Vorzeit, wie ein Spruchband mit Schnörkellettern erläuterte. Da stieß ein Germane seinen Ger wuchtig in den Bauch eines dicken Auerochsen. Dass es solch ein Untier war, ließ sich nur noch erraten; der Schädel war verschwunden und durch ein Stück Milchglas ersetzt worden.

Im Mittelalter, achtundzwanzig Stufen höher, blätterte links ein noch leidlich kompletter Mönch in einer dicken Postille. Hinter ihm ritt ein kopfloser Ritter in den Kreuzzug, ohne sich umzublicken nach dem Edelfräulein, das ihm von rechts her nachwinkte, in spitzem Hut und wehendem Schleier lieblich anzusehen. Nur leider war die Dame vom Gürtel abwärts nicht mehr vorhanden.

Und wieder empor, fünfundzwanzig Stufen, schon wurden die Abstände geringer, die Räume niedriger. Die Neuzeit hatte sich einst in einem Schlachtenbild dargeboten. Doch davon waren überhaupt nur noch zwei Fahnen erhalten, umwölkt von dichtem Pulverdampf; das oberste Viertel eines Tableaus, das jeder nach seiner Vorliebe ergänzen mochte. Ob hier nun Roßbach, Leipzig oder Sedan siegreich geschlagen wurde, gleichviel, jetzt blickte man durch simple, trübe Scheiben hinüber zum Gartenhaus, wo beim alten Schriftsetzer Radegast die brave Ehefrau Meta Wäsche ins Küchenfenster gehängt hatte.

Eine gründliche Erneuerung schien in diesem Hause dringend geboten.

Doch die schob der Besitzer Franz Friedrich Unschein, wohnhaft in der zweiten Etage vorn, Jahr um Jahr hinaus. Nicht etwa aus Knauserigkeit, durchaus nicht, er war ein großzügiger Mann und stets bereit, innerhalb der vielen Wohnungen die notwendigen Reparaturen machen zu lassen; auch bei den Mietern, die jetzt mit ihren Zahlungen in Verzug gekommen waren.

Unschein war, das erklärte vieles, ein Mann von Welt, in jüngeren Jahren als Exportkaufmann in allen Erdteilen herumgekommen und von Natur unfähig, sich mit Kleinkram abzugeben. Außerdem liebte er dieses Haus nicht. Seine Frau hatte er sich einst aus Brasilien geholt, dorthin sehnte Maria sich von jeher zurück. Vier von ihren fünf Kindern waren versorgt. Vermutlich würde sie ihren Mann eines Tages so weit bekommen, dass er den Lebensabend mit ihr in Minas Geraes verbrachte, wo ihre Familie große Besitzungen hatte.

Da war allerdings noch Hugo, der jüngste Sohn, ein von klein auf verwöhnter Spätling und wohl ein hoffnungsloser Fall, darüber gab die energische Mutter sich keinen Täuschungen hin. Was sollte aus ihm werden? Er war begabt, in der Schule fiel ihm alles mühelos zu. Nachher hatte er ein bisschen studiert und ein bisschen volontiert. Mit Vaters Geld war er in die Welt hinaus gereist; das hatte ihn nicht reifer gemacht, sondern nur noch begehrlicher nach billigen Genüssen.

Mit Ende zwanzig war Hugo ein törichter Knabe, der immer noch meinte, alles werde einem geschenkt.

An diesem Sonnabend Nachmittag rief er mehrere gute Freundinnen an. Zu seinem Unglück hatte er auf diesem Gebiet die einzigen Erfolge im Leben gehabt. Sein etwas grober, bengelhafter Scharm zog viele Frauen an, solange er noch jung war. Nun aber begann er zuzunehmen, das war fast ein Todesurteil in einer Zeit, da sportliche Haltung alles galt.

Die Amouren liefen nicht mehr glatt, auch heute hatte er das gerade wieder zu spüren bekommen, auf einmal lag der Abend leer und öde vor ihm. In seinem Zimmer, das er seit neuestem Studio nannte, plumpste er auf das flache, breite Lotterbett und grübelte in träger Entrüstung über den Wankelmut der Weiber nach. Dabei starrte er zur Decke empor, und auf einmal begann er zu grinsen.

Wenn alle Stricke rissen, dort oben wäre wohl noch immer jemand für ihn zu finden.

4

Fünf Meter über Hugo Unschein lag auf der Couch im besten Zimmer der Frau Prachvogel jene junge Dame, an die vorhin auch Helmut Hagenow dachte.

Susi hatte gleichfalls Sorgen mit dem Wochenende, aber bei ihr ging es nicht ums Amüsement. Vorgestern hatte sie zum letzten Mal eine Mahlzeit gehabt, die diesen Namen verdiente. In ihrer Geldtasche steckten noch genau sechs Groschenstücke.

Es war denkbar, dass heute, an einem Sonnabend, im Kabarett Das Salzfass ausnahmsweise die lumpigen fünf Mark Gage ausgezahlt würden; doch es war nicht wahrscheinlich, dazu kannte Susi die mageren Kassen des winzigen Kunstunternehmens zu genau.

Was tun?

Sonst fand sich meist jemand, der das schlanke, auffallende Mädchen einlud, mit nach Rheinsberg hinauszufahren oder wenigstens an den Stölpchensee, und sei es nur, um sich mit ihr zu zeigen. Diesmal schienen die Kavaliere wie ausgestorben. Susi fürchtete sich vor den nächsten anderthalb Tagen. Grund genug zu bitteren Gefühlen, in einem Alter, wo man sich nach allgemeiner Ansicht auf jeden Sonntag zu freuen hat.

Sie pflegte dieses Alter mit zwanzig anzugeben; danach sah sie auch aus. In Wirklichkeit war sie erst achtzehn. Sie hatte herausgefunden, dass es recht anstrengend war, als kindlich, sanft und hilfsbedürftig zu gelten, und dass sie davon wenig hatte.

Susi war voll Verachtung für die Einfalt der meisten Männer, die von einer blauäugigen Blondine ohne weiteres annahmen, sie müsse zärtlich und hingebend sein. Nichts lag ihr weniger, und wer unbefangen ihr Gesicht prüfte, hätte das rasch erkennen müssen.

Die schmalen Lippen verrieten nüchterne Berechnung. Das erstaunlich helle Blau der Augen war kalt wie der Glanz von Steinen. Es strahlte daraus eine forschende, fordernde Neugier, die erfahrene Männer denn auch zur Vorsicht mahnte.

Nie fiel es Susi schwer, unerwünschte Bewerber loszuwerden. Jetzt aber kam es darauf an, einen zu finden, gleichviel woher, und dazu mangelte ihr jede Begabung, das wusste sie selbst sehr genau.

Angestrengt überlegte sie. Die glatte Stirn legte sich in scharfe Falten, während sie böse zu dem Plakat hinaufblinzelte, das mit sechs Reißnägeln über ihrem Lager angeheftet war.

DAS SALZFASS — LITERARISCHES KABARETT

An dritter Stelle unter den Mitwirkenden stand ihr Name:

SUSANNE VON STAUPITZ

TANZ — PANTOMIME — PARODIE

EINE KLEINE SENSATION!

Eine verdammt kleine, dachte sie höhnisch. Ihr Magen knurrte laut, sie zog die langen, durch frühes strenges Training ein wenig muskulösen Beine an und hockte nun da in ihrem dünnen Morgenmäntelchen, dessen ordinäres Karomuster sie täglich aufs neue anwiderte.

Dann streifte ihr Blick die beiden Fotografien unter dem Plakat.

Die eine stellte Mama dar, in altmodischer, hochgeschlossener Spitzenbluse. Das Lorgnon hing an einer dünnen Stahlkette; einst eingetauscht gegen die schöne, goldene Hochzeitskette, als patriotisches Opfer, im selben Jahre, da Papa bei Arras fiel. Als Major. Es blieben das Häuschen in Liegnitz und die schmale Pension. Arme, ahnungslose Mama … Sie glaubte noch immer, man könnte in Berlin ganz gut für hundert Mark im Monat leben. Wie schwer fiel es ihr, die Summe jedes Mal zu schicken!

Erst recht keinen Trost bot das andere Bild: Es zeigte Marlene Dietrich als Sängerin Lola in einer ihrer rasch berühmt gewordenen Posen aus dem Film Der Blaue Engel. Ein paar Monate erst lag die Premiere zurück, schon war die erfolgreiche Schauspielerin ein Idol, zehntausend Mädchen träumten von dieser Karriere.

Susi gehörte nicht zu ihnen.

Bei ihr hing Marlenes Konterfei als eine Warnung vor Selbsttäuschungen. Mehr als einmal hatten banale Schmeichler ihr ins Gesicht gesagt, sie sähe aus wie Marlenes jüngere Schwester. Aber da gab Susi sich keiner Illusion hin: Im Profil hatte sie eine Stupsnase.

Nein, auf ihre Entdeckung für den Film würde sie warten müssen, bis sie eine komische Alte wäre. Das bisschen Sprechunterricht hatte sie denn auch bald wieder aufgegeben; für die Tingelei reichte es auch so.

Blieb das Tanzen. Das hatte Susi schon mit neun, mit zehn Jahren sehr ernst genommen, und erstaunlicherweise hatte Mama ihre Einzige der renommierten Ballettmeisterin des Liegnitzer Theaters anvertraut. Seit nämlich, noch vor dem Kriege, ein Fräulein aus sächsischem Adel unter dem Namen Clotilde von Derp eine tänzerische Weltberühmtheit geworden war, galt der Freifrau von Staupitz Terpsichore als eine standesgemäße Muse.

Sollte das Kind etwa Sekretärin werden oder Gouvernante? Mitgift war nicht vorhanden, es galt also, alle Vorzüge ins rechte Licht zu setzen, und am Ende könnte Susi von der Bühne aus einen Kammerherrn oder Magnaten erobern. Mama dachte zwar in etwas überholten Begriffen, doch dann nüchtern und zielbewusst.

Nach Abschluss ihrer Ausbildung durfte Susi nach Berlin fahren, versehen mit den Adressen einiger befreundeter Familien. Davon machte sie nach ein paar Antrittsbesuchen keinen Gebrauch mehr.

Bald hatte sie erfasst, dass ihre provinziellen Ballettkünste bestenfalls ein Sprungbrett sein könnten; man musste sich nur entscheiden, wohin man springen wollte, es gab da sehr verschiedenartige Möglichkeiten. Bald landete sie bei Kleinkunstbühnen wie dem Salzfass. Sie hatte ein wenig zu tanzen, vor allem in musikalischen Szenen und Sketchen mitzuwirken. Dabei kam ihre spröde Grazie recht gut zur Wirkung.

Eine Weile lang ging alles leidlich gut. Im Sommer kam die tote Zeit, Susi blieb die Miete schuldig und schränkte sich ein. Leider war auch der Beginn der neuen Saison kümmerlich, Gage gab es nur selten.

Natürlich wusste sie längst, wie sich viele ihrer Kolleginnen durchbrachten. Manche hatten einen großzügigen Freund. Das bedeutete, sich anzupassen, das war Susi unmöglich. Oder man hielt sich durch wechselnde Bekanntschaften über Wasser, ohne mehr zu gewähren, als unvermeidlich war. Susi machte ein paar solcher Versuche, Hugo Unschein war dabei einer der zufälligen Partner gewesen.

Rasch sprach es sich in den beteiligten Kreisen herum, diese kleine Baronesse sei eigentlich nur auf unverbindliche Einladungen aus. Susi hatte so viel nüchternen Tatsachensinn, dass sie insgeheim denen recht gab, die das unfair fanden. Aber ihre Lage wurde allmählich bedrohlich, etwas musste geschehen, rasch, bald, sofort!

Da fiel ihr, nicht zum ersten Mal, Madame Katja ein.

Diese stattliche, unauffällig elegant gekleidete Frau hatte sich vor Wochen an Susis Tisch im Café Kranzler gesetzt, mit höflicher Frage und scheinbar ganz zufällig. Ein Gespräch entwickelte sich, in zehn Minuten war die Unbekannte über die Lebenslage Susis ungefähr im klaren. Sie lud sie zu einem Besuch ein, der wenige Tage später erfolgte.

Madame Katja verstand es, Menschen zu behandeln. Taktvoll vermied sie, das Mädchen nach ihrem Namen zu fragen; bewies aber selbst ein erstaunliches Vertrauen, indem sie unbefangen deutlich machte, was sie zu bieten hätte.

Katja bewohnte eine weitläufige Etagenwohnung in der Budapester Straße unweit des Edenhotels, gegenüber dem Zoologischen Garten. Auch sie betrieb sozusagen einen Tierpark; vielerlei seltsame Abarten der Spezies Homo sapiens ließen sich hier beobachten.

Vom frühen Nachmittag an kamen Frauen hierher, sehr unterschiedliche Frauen. Erst zum Tee, dann auf einen Likör, spätabends noch zu einem Glase Sekt, so lauteten die Formeln.

Männliche Besucher aber parkten ihre Wagen lieber schon an der nächsten Ecke und schauten sich unruhig um, ehe sie hastig ins Haus verschwanden.

Madame machte die Honneurs in untadeliger Haltung. Sie verstand es, ihre männlichen Gäste beinahe noch mehr einzuschüchtern als die weiblichen Klienten. Auf irgendeine Weise brachte sie es zustande, dass jeder sich in ihrer Schuld fühlte. Kein derbes Wort durfte fallen. Und zu unerwünschten Begegnungen ließ sie es, offenbar mithilfe eines sechsten Sinnes, gar nicht kommen. Oder doch fast niemals.

Zuerst wurde eine Weile geplaudert, über Theaterereignisse, über neue Filme. Dann zog die Hausherrin sich diskret zurück. Wenn später alles vorüber war, wurde die jeweilige Besucherin noch einmal in den Privatsalon gebeten. Dort fand sie unter der Teetasse unauffällig einen Geldschein.

Von alledem hatte Susi damals ohne Umschweife Kenntnis erhalten. Katja war von einer entwaffnenden Unbefangenheit. Für diesmal wurde nichts von dem Mädchen verlangt. Nur ihre Telefonnummer erbat Madame sich beim Abschied.

Susi dachte an die dicke, biedere Frau Prachvogel, an das Telefon in der Ecke des düsteren Pensionsflurs, und schüttelte den Kopf: »Lieber nicht.«

»Ganz, wie Sie wollen, mein Kind«, lächelte Katja freundlich. »Dann müssen eben Sie selbst sich einmal bei mir anmelden. Hoffentlich recht bald.«

War es nun soweit?

Susi war von Natur alles andere als leichtfertig. Sie wollte ihren Weg machen. Sie hatte viele Jahre lang ernsthaft an ihrer Ausbildung gearbeitet. Ohne sich für ein ungewöhnliches Talent zu halten, fand sie mit Recht, dass sie mindestens so viel könnte wie Dutzende halbwegs erfolgreicher Kolleginnen.

Aber sie schaffte es nicht, davon zu leben.

Die Begegnung mit Katja erschien ihr anfangs als ein skurriler Zufall und weiter nichts. Je mehr sie in Bedrängnis kam, desto öfter sagte sie sich: Warum nicht ein Experiment machen? Irgendwann … Später einmal … Schließlich wurde ihr diese Überlegung vertraut. Der Weg in die Budapester Straße erschien als denkbare Rettung.

Jetzt eben, binnen weniger Sekunden, hatte sie sich entschlossen. Heute Abend sollte es sein, nach der Vorstellung. Sie sprang auf, um sich sogleich telefonisch anzumelden.

Als sie nach der Klinke griff, klopfte es. Vor ihr stand die massige Figur der Wirtin, sie balancierte ein Tablett und fragte geziert: »Wünschen Baronesse denn heute keinen Tee?«

»Lass den Quatsch!«, brummte Susi, sie war durchaus nicht in Laune, eine der törichten Zeremonien mitzuspielen, welche die Wirtin täglich mit ihr aufführte.

Frieda Prachvogel zuckte nur die Schultern und folgte ihr zum Sofa, auf das Susi sich sogleich wieder fallen ließ. Sie griff nach der Tasse, der heiße Tee tat ihren rebellischen Magennerven wohl. Sie achtete nicht darauf, was die Alte unter den Arm geklemmt hielt, während sie prüfend auf das Mädchen hinabschaute.

Zwischen den beiden bestand eine sonderbare Beziehung. Susis unzweifelhafter Adel bot der sonst handfesten und gewitzten Kleinbürgerin immer von neuem Anlass zum Entzücken.

Susi war fast alles erlaubt, sie konnte die Miete schuldig bleiben, unverfroren duzte sie die Alte, die das Mädchen nur noch ehrerbietiger behandelte. Sie genoss die Rolle als zugleich mütterliche und dienende Vertraute eines Fräuleins von Stande, das hilflos aus der Provinz in die Gefahren Berlins verschlagen war.

Dabei musste ihr längst klar sein, welche Erfahrungen Susi hinter sich hatte; umso mehr, als diese Erfahrungen nicht ohne ihr Wissen und Zutun zustande gekommen waren. Beide hielten nämlich nicht selten förmlich Kriegsrat ab über Susis Hoffnungen und Nöte, Eroberungen und Verluste. Von Natur war sie nicht besonders schwatzhaft, doch die Alte wusste sich auf eine gefühlige Art in ihr Vertrauen zu drängen. Oft hatte Susi das ganze Gerede gründlich satt; aber sie konnte sich dieser Intimität nicht entziehen, ohne das nützliche Wohlwollen der Dicken zu verlieren.

Jetzt war ihr sofort klar, dass Frieda Prachvogel wieder ein Palaver erwartete. Dazu hatte Susi nicht die mindeste Lust. Während sie noch überlegte, wie sie die Frau rasch wieder loswerden könnte, brachte diese einen bis dahin verborgenen kleinen Asternstrauß zum Vorschein und lächelte: »Da wäre ein bescheidener Trost – Baronesse brauchen ja wohl ein bisschen Trost – an diesem einsamen Nachmittag. Oder?«

Mit einem Blick wusste Susi Bescheid: »Ach so. Von Bob … Schon wieder … Na, gib her!«

Ihre Finger spielten mit den Blumen. Dann kam ihr ein Einfall: »Ganz nett. – Was meinst du: Wollen wir doch mal auf den guten Jungen zurückgreifen?«

Das war so hingesagt, nicht im Traum dachte Susi an diese Möglichkeit. Aber sogleich hob Frieda Prachvogels mächtiger Busen sich voll Entrüstung, und die stammelte: »Baronesse vergessen sich!«

»Findest du? Was hast du eigentlich im Ernst gegen unsern Bob einzuwenden?«

»Was ich …« Entgeistert starrte die Frau sie an.

»So ein Lausejunge! Ein Nichts! Ein Botenlümmel! Außerdem ist er ein Nazi.«

»Ach? Und ich dachte, du wählst morgen auch deinen Hitler?«

Heuchlerisch lieb lächelte Susi die Frau an, die grollend murrte: »Jetzt wähle ich überhaupt nicht mehr.«

Mit einem Sprung war Susi auf den Beinen, haute der Dicken einen deftigen Klaps hintendrauf und lachte: »Du alte Reaktionärin! Hast du überhaupt schon mal gesehen, wie famos ihm seine Uniform steht? Wer weiß: Vielleicht wird Bob noch mal Minister oder General. Wenn die erst ans Ruder kommen …«

Kopfschüttelnd betrachtete Frieda ihren Schützling. Was war heute nur in Susi gefahren? Mit dumpfer Würde zog sie sich zur Tür zurück: »Baronesse belieben zu scherzen. Wir sprechen ein andermal darüber.«

»Gern.«

Kaum war die Frau beleidigt abgezogen, atmete Susi tief auf. Das war noch einmal gut gegangen, ohne peinliche Erkundigungen nach ihren Wochenendplänen. Aber telefonieren konnte sie jetzt nicht mehr, sie musste sich anziehen und weggehen.

War sie wirklich fest entschlossen? Mit zögernden Schritten ging sie hin und her.

Als sie den Morgenmantel abwerfen wollte, merkte sie, dass sie den Strauß noch in der Hand hatte. Die Blumen flogen auf das Sofa, mit schnellem Griff öffnete sie den Kleiderschrank.

5

Zur selben Zeit öffnete sich nebenan die Tür des Modesalons. Heraus kam ein hoch aufgeschossener Jüngling von etwa neunzehn, gekleidet in eine knapp sitzende graue Livree, auf dem Kopf eine Kappe mit der Goldinschrift Salon Schrimpf, unterm Arm einen Karton. Von drinnen mahnte die Stimme der Chefin: »Dalli, dalli, Bob! Frau Lebenstein hat eben noch mal angerufen!«

Mit gelassener Ironie, die leider niemand sah, tippte Bob an die Mütze und zog die Tür ins Schloss. Er dachte nicht daran, sich zu beeilen. Solch einer wegen auch noch Sprünge machen? Kam nicht in Frage.

Zunächst einmal baute er sich vor dem schmalen, schon fast blind gewordenen Spiegel zwischen den beiden Wohnungstüren auf und musterte sich. Er nahm die Mütze ab und klemmte sie sich unter den Arm, zum Karton. Robert Schulz, genannt Bob, hasste diese Mütze, gerade weil sie einer anderen ziemlich ähnlich sah, die er in einer halben Stunde aufsetzen würde; der Mütze eines SA-Truppführers.

Nun einen raschen, leisen Schritt bis vor die Tür der Pension. Er horchte, es könnte ja sein, dass Susi eben herauskäme.

Aber nichts rührte sich. So strich er über sein dichtes, weich gelocktes Haar. Es gefiel den Mädchen, das war ganz hübsch, aber die Kameraden im Sturm hänselten ihn damit. Längst hätte er sich militärisch kurz scheren lassen müssen. Morgen sollte es geschehen, beschloss er. Wer weiß, vielleicht würde er dann sogar mehr Eindruck machen auf Susi? Oder auf andere? Aber er dachte in Wahrheit nur an Susi, die ihm Unerreichbare.

Langsam ging er die Treppe hinunter und pfiff dabei vor sich hin die Melodie:

»Verflossen die Nacht,

und der Morgen erwacht –

Hitlers Flotte mit Volldampf voraus!«

Das Lieblingslied seines Sturms 90. Bob war noch nie am Meer gewesen, aber bei diesem Lied sah er sich jedes Mal auf einer Kommandobrücke und gab den Befehl: Feuer!

Unter dem ersten Stock, bei dem bunten Glasfenster mit dem Bilde der Vorzeit, hielt er inne.

Hundertmal hatte er es betrachtet, immer von neuem gefiel ihm der grimme germanische Jäger. Wenn er doch endlich allen Feinden seines Führers genauso den Spieß ins Gedärm rennen könnte.

Das nur noch halb vorhandene Mosaik bildete Bobs nahezu einzige Beziehung zu den höheren Lebenswerten. Zuweilen erschien im Sturmlokal Tante Ida, Ecke Grolman- und Goethestraße, ein dürrer alter Professor außer Diensten namens Kramhold und sprach zu den braunen Männern über die deutsche Kunst. Er brachte Reproduktionen mit, nach Knackfuss und Anton von Werner. Er belehrte sie, dass echte Kunst erheben und stärken müsse, und dann eiferte er gegen die Afterkunst der französischen Impressionisten und ihrer deutschen Nachahmer. Das tat er seit dreißig Jahren, die neueste Entwicklung kannte er gar nicht, aber es war für ihn ausgemacht, dass es sich dabei um jüdischen Schwindel handelte. Solche Tiraden hörte sich Bob mit den Kameraden schläfrig an. Aber der und jener Satz blieb doch hängen. Wenn er fortan das Wort Kunst hörte, stand vor seinem inneren Auge dieses Vorzeit-Glasbild.

Auf dem untersten Absatz stutzte er. Stimmen im Hausflur, zwei Männer in eifrigem Wortwechsel. Aha, diese Roten: Portier Klamke und der Radegast aus dem Gartenhaus. Vorsichtig lehnte Bob sich zurück ins Halbdunkel.

Mal hören, was solche Untermenschen miteinander reden.

»Nee, nee, Kuno. Ich sage dir: Mindestens fuffzig Mandate kriegen die diesmal. Da beißt die Maus kein’ Faden ab.«

Das war der alte Setzer. Interessant. Wütend protestierte der kleine, etwas bucklige Klamke: »Nich doch, Karl! Woher soll’n denn die komm’?«

»Werd ich dir sagen. Die ollen Lateiner hatten so’n Sprichwort …«

»’k weeß, det de sehr jebildet bist, Karl.«

»Mundus vult decipi. Auf Deutsch: Die Leute lassen sich jerne bescheißen. Na, und davon verstehn die Nazis ehmd eine Menge.«

Bob in seinem Winkel grinste. Unten ging es weiter: »Den Bauern versprechen sie höhere Butterpreise, den Ruhrbaronen die Aufrüstung, und den kleinen Leuten erzählen sie was von den blutsaugerischen jüdischen …«

Unvermittelt brach Radegast ab. Vom Hauseingang her kam ein junges Mädchen in salopper, fast ungepflegter Kleidung. Sie schob ihr Fahrrad.

Karl Radegast griff zu, er hoffte, dass sie seine letzten Worte nicht gehört hatte: »Geben Sie man her, Fräulein Schrinitzer!«

Mit deutlicher Verlegenheit ließ sie sich helfen, nickte dabei den beiden zu, ihr Lächeln war etwas abwesend; gleich darauf war sie durch die Hintertür ins väterliche Bettengeschäft verschwunden.

Bob, von seinem verborgenen Ausguck aus, hatte unwillkürlich erfreut auf die straffe Figur, die schlanken Beine geschaut. Dann wurde ihm auf einmal klar, wem das alles gehörte. Verdammt – solch eine Judenschickse darf einem nicht gefallen! Wütend biss er sich auf die Lippen.

Unten redeten die beiden schon wieder: »Nettes Mädchen, die Leonore.«

»Hm – spinnt ’n bisken, wa?«

»Wieso?«

»Na, ick jedenfalls ließe meine Dochter nich in Lokale rumhocken.«

Radegast lachte auf: »Du bist ’n Spießer, Kuno. Das Romanische Café ist kein Lokal. Das ist Literatur. Außerdem geht sie oft mit ihrem Vater zusammen hin.«

»Ehmd. Die janze Familje hat’n Knall. Wat macht so’n Bettenfritze bei die Kinstler?«

»Na, die Leonore ist selber eine halbe Malerin, das weißt du doch. Hast du dir schon mal angeguckt, wie die sich die zwei Kammern hinten unterm Dach hergerichtet hat? Piekfein.«

Eine wegwerfende Geste Klamkes: »Ick weeß. Ateljeh nennt sie det. Wofür wird das jut sein? Fliejenfangen und mit junge Leute rumlungern. Hugo zum Beispiel. Oder euer kleener Schreiber, der Hagenow. Ibrigens, wie macht sich der denn bei euch im Blatt?«

»Ganz gut.«

»Klingt nicht jrade bejeistert.«

Radegast brach ab: »Lass man, der wird noch. Tja, ich will nu rauf und auspennen. Morgen gibt’s bei uns ’ne heiße Nacht. Wahldienst, Sonderausgaben. Hoffentlich steht nicht zu viel Mieses drin …«

»Oller Pessimiste! Dreißig Nazis – und nich einen mehr!«

»Fuffzich, Kuno. Wetten?«

»Sechzig!«, schrillte Bobs krähende Kommandostimme dazwischen, das konnte er sich nicht verkneifen. Die beiden fuhren herum. Er sprang die letzten Stufen hinunter, zog sein Fahrrad aus dem Winkel und wollte hinaus.

Klamke fasste sich: »Sie da! Wie oft soll ick Ihn’ noch saren! Die Karre jehört uff’n Hofle.«

Bob zog den Mund schief: »Ach neee? Und der Dame aus Jerusalem helfen Sie selber hier durch? Das wird auch mal anders. Verlasst euch drauf!«

»Schnauze, du Rotzjunge!«, brüllte Klamke jähzornig, es sah etwas komisch aus, wie der kleine Mann auf den langen Lümmel losstürzte. Doch schon erschien im Guckfensterchen neben der Haustür das Gesicht seiner Frau: »Was’n da los?«

Gleich kuschte Kuno. Bob aber näherte sich mit übertrieben freundlichem Gruß: »Oh, Frau Klamke – nur die übliche kleine Meinungsverschiedenheit. Was macht das werte Befinden?«

Flink liefen ihre Mäuseaugen zwischen den dreien hin und her, dann siegte das Verlangen, sich bemitleiden zu lassen: »Jott, wat soll et machen? Sie wissen ja: det Bein … Ick bin ehmd ’ne arme, jelähmte Frau …«

Bob, schon in der Tür, erklärte großartig: »Sie werden morgen durch unsern Wahldienst abgeholt, Frau Klamke.«

Dann brüllte er los: »Nicht vergessen – Liste acht! Adolf Hitler an die Macht! Heil!«

Draußen war er.

Die Männer standen, von so viel Frechheit verblüfft. Clara Klamke keifte gleich wieder los: »Der hat’s euch jezeicht! Der is richtig. An dem könnt ihr Weihnachtsmänner euch ’n Beispiel nehmen.«

Klamke winkte ab: »Schon jut, Clärchen. Det sachste ja nur, weil du partuh det Jejenteil von mir willst.«

Seufzend drehte er sich zu Radegast: »Und so jeht det nu seit bald zwanzig Jahren.«

Aber der alte Setzer war schon fort. Nach Möglichkeit entzog er sich jeder Begegnung mit dieser Frau.

Während er über den Hof und langsam die drei Treppen hinaufging, dachte er bekümmert nach über seinen alten Freund und Genossen Kuno. Was war das einmal für ein Kerl gewesen! – Begeistert, frisch, fröhlich, voller Grips und Mumm – alles gelang ihm. Mit Mitte zwanzig war er Elektromeister bei der AEG Oberschöneweide.

Dann kam das mit Clärchen.

Der sah heute keiner mehr an, dass sie als gefeierte Schönheit von Stralau-Rummelsburg umworben war, dass Kuno sie in heißem Wettstreit mit vielen Nebenbuhlern erringen musste.

Die Hochzeitsreise ging in den Harz. In Blankenburg war gerade Jahrmarkt. Im Hochgefühl seines jungen Glücks schwang Kuno die Schiffsschaukel, bis sie auf dem Kopf stand. Clärchen schrie auf, ihr wurde schwindlig, sie ließ los und stürzte.

Für immer blieb sie gelähmt.

Und Kuno hatte sein Leben lang diese Schuld abzubüßen. Sie quälte ihn wie das leibhaftige böse Gewissen, jeden einzelnen Tag machte sie ihm zur Hölle, seine unbeholfenen Versuche zur Versöhnung verhöhnte sie nur.

So lebten sie dahin, er wurde schweigsam, mürrisch, verlor die Freude an allem. Anfangs wehrte er sich noch manchmal gegen ihre sinnlose Tyrannei. Dass er bei Kriegsende eine Zeitlang bei den Spartakisten mitmachte, war im Grunde ein Aufstand gegen Clärchen. Sie aber, eben weil sie Kunos Glauben an eine Änderung der Welt kannte, schwor auf die Ordnung, auf den Kaiser, auf Noske, Hindenburg, auf den Stahlhelm, und nun also auf Adolf.

Nur heimlich traute sich Kuno zuweilen noch auf einen Zahlabend seiner Partei, in die er längst heimgekehrt war. Er fürchtete den Spott der Genossen über sein Pantoffelheldentum.

Clärchen aber hockte seit Jahren neben der Haustür, eine giftige Kröte. Jeden im Hause belauerte sie, alle Geheimnisse wusste sie.

6

Bob Schulz hob über dem blanken Messingschild Dr. Ludwig Lebenstein den schweren Klingelknauf, der wie ein Löwenkopf geformt war.

Ein Dienstmädchen in weißer Haube öffnete und griff gleich nach dem Karton: »Na, endlich! Wo bleiben Sie bloß? Wir müssen doch noch anprobieren. Warten Sie!«

Bums, ging die Tür zu. – Doofe Zicke!, dachte Bob. Einfach abhauen sollt ich. Muss doch zum Dienst. Aber das hier ist ja auch eine Art Dienst. Bin ich nicht wie ein Vorposten, ein Späher nah am Feind? Diese Leute da drinnen, das sind Feinde, viel zu wenig weiß man von ihnen. – Er gab dem Löwenkopf einen trockenen Boxhieb.

Stimmen näherten sich, die Tür ging auf, drin rief Frau Lebenstein ärgerlich: »Was lassen Sie den jungen Mann draußen stehn?«

Nun wurde sie sichtbar, im neuen cremefarbenen Kleid, eine stattliche, freundlich blickende Dame in mittleren Jahren. Sie nahm Bob leicht beim Arm: »Kommen Sie doch rein!«

Er zögerte, glotzte sie unentschlossen an. Sie entsprach durchaus nicht seinen Vorstellungen von einer Jüdin. Hundertmal hatte er gehört: Vor der körperlichen Nähe dieser rassefremden Eindringlinge ekelt es jeden echten Deutschen! Vor dieser mütterlichen Frau ekelte es ihn keineswegs.

»Bitte«, sagte sie, »bestellen Sie Ihrer Chefin gleich einen schönen Dank! Ich wäre sehr zufrieden, sehr!«

»Heut komme ich nicht mehr hin«, brummte er unsicher.

Sogleich war sie betroffen: »Ach, natürlich – da haben Sie wohl noch Ihre freie Zeit für mich geopfert!«

Sie wendete sich halb um: »Lutz – bitte etwas Geld!«

Es erschien der Dr. Lebenstein, Direktor des Barock-Theaters, im noch halboffenen, steifen Hemd und reichte ihr sein Portemonnaie. Sie suchte ein Geldstück heraus, um es Bob zu geben.

Finster starrte er sie an. Geld? Von denen? Niemals! – Ohne ein Wort wollte er hinaus.

Unwillkürlich erschrocken hielt Frau Lebenstein ihn fest. Sie missverstand seine Haltung gründlich. Sie stammte selbst aus kleinen Verhältnissen, hatte Ärmeren gegenüber immer ein schlechtes Gewissen und suchte ihren Mann darin zu bestärken, dass er neben gängigen Salonstücken Dramen von Hauptmann oder Ernst Toller aufführte.

»Was haben Sie?«, fragte sie aufrichtig besorgt. »So jung und schon verbittert? Können wir vielleicht etwas für Sie tun?«

Da brach es bei ihm durch, er riss den Kopf hoch, und in demselben rüden Kommandoton, mit dem er so gern seine Männer über die sandige Jungfernheide hetzte, schrie er sie an: »Jawoll! Auswandern!«

Eine zackige Kehrtwendung. Die Tür dröhnte hinter ihm ins Schloss.

Bleich stand die Frau da, fassungslos.

Dann stammelte sie: »Ach so …«

Ihr Mann griff schon zum Telefon, um Frau Schrimpf anzurufen. Sie wollte ihn aufhalten: »Bitte, Lutz, nicht! Ein dummer Junge – weiter nichts!«

Doch er war außer sich: »Schluss mit deiner Gefühlsduselei! Das lasse ich mir nicht gefallen! So weit sind wir schließlich noch nicht …« Und er hob den Hörer ab.

7

Gegen elf Uhr abends stand Helmut Hagenow im engen, muffigen Gang hinter dem Podium des Kabaretts Salzfass. Er wartete vor der Damengarderobe, einem winzigen Verschlag, den Susi mit zwei Kolleginnen teilte.

Im Augenblick war sie noch draußen auf der schmalen Bühne. Dort drängte sich das Ensemble zusammen, das Finale des Programms wurde mehr herausgeschrien als gesungen:

»Ihr saht bei uns den Anfang nun vom Ende.

Nun wackel’n überall die morschen Wände.

Morgen fall’n die Ziegel vom deutschen Dach,

Und übermorgen kommt der große Krach.

Uns ist das absolut egal.

Wir überleben allemal.

Sahn das arme Kaiserreich schon sterben,

Werden auch die Republik beerben.

Heute, morgen, alle Tage

Ohne Frage, ohne Klage

Sind wir jederzeit zu neuer Zeit bereit.

Wie einen alten Mantel wenden wir die Zeit.«

Helmut hörte kaum hin, er war schon ein paarmal hier gewesen und erkannte zu gut die großen Vorbilder, die Pate gestanden hatten. Bei dieser zusammengelaufenen Schar durfte man freilich nicht an Rosa Valetti, Trude Hesterberg oder Kurt Gerron denken, und bei den holperigen Knittelversen nicht an die blitzenden Attacken von Tucholsky oder Mehring.

Wäre wenigstens ein bisschen Schwung und Begeisterung im Spiel gewesen – aber es war deutlich zu spüren, dass keiner hinter der Sache stand, die eben nur vorgab, eine zu sein.

Schwerlich würde Helmut über diese armselige Darbietung noch eine Glosse im Morgenblatt unterbringen können, wie er es Susi halb und halb zugesagt hatte.

Nun verabschiedete sich draußen jeder mit den üblichen Solo-Zeilen. Helmut horchte auf, man hatte sich heute in geistige Unkosten gestürzt und wollte aktuell sein:

»So, nun weißt du’s! Und nun geh und wähl man:

Breitscheid, Seldte, Hitler oder Thälmann.«

Dann kam Susis ungeschulte, aufsässige Stimme:

»Der Weisheit letzter Schluss:

Nicht so beständig sein!

Man kann, man darf, man muss

Ein bisschen wendig sein.«

Und noch einmal der ganze heisere Chorus, merklich vergnügt, alles wieder einmal hinter sich zu haben:

»Seid bereit, seid bereit,

Wie einen alten Mantel wenden wir die Zeit!«

Der Beifall war dünn, Stühle wurden gerückt, gleich darauf kam Susi mit den anderen. Beim Anblick des jungen Journalisten runzelte sie die Brauen: »Helmi? Ja – tut mir leid. Heute geht’s unmöglich. Eine ganz wichtige Besprechung … Ein Agent aus München …«

Es gab ihm einen kleinen Stich: »Ja, wollen Sie denn – weg aus Berlin?«

»Weiß noch nicht. Mal sehen. Hier wird doch nichts Rechtes.«

Lebhaft sagte er: »Gerade darüber müssten wir einmal gründlich und in Ruhe sprechen. Ich hatte gedacht, heute Abend …«

Unwirsch unterbrach sie ihn: »Hat keinen Sinn, Helmi. Danke für die gute Absicht, vielleicht ein andermal. Gute Nacht!«

Er wollte noch nicht aufgeben: »Kann ich nicht wenigstens ein Stück mitkommen?«

»Ausgeschlossen.« – Das fehlte noch! dachte sie. »Der Mann kann jeden Moment hier sein. Sei lieb und troll dich! Morgen erzähle ich alles.«

Sie schob ihn weg, zum Ausgang hin. Er war betroffen: Noch nie hatte sie du zu ihm gesagt. Was bedeutete das nun? Ein Versprechen? Ein kleines, hastiges Trinkgeld, um ihn loszuwerden? Er wurde nicht klug aus ihr.

Als Susi zehn Minuten später das Haus verließ, auch heute wieder ohne Gage, sah sie sich draußen vorsichtig um, ob Helmut nicht etwa wartete.

Dann schlug sie die Richtung nach dem Zoo ein.

Während Helmut allein durch die nächtlichen Straßen trottete, wurde ihm seine Enttäuschung erst recht bewusst. Seit Tagen hatte er für diesen Abend gespart, er wollte Susi zum Essen in Robert’s American Restaurant am Kurfürstendamm führen, wo Kellner in flotten Stewardmützen jede Bestellung auf einer Art Fahrschein abknipsten; nachher in die Baracke, ein kleines Lokal, das neuerdings in Mode kam.

Alles war dort etwas krampfhaft à la Boheme aufgemacht, absichtsvoll improvisiert und ziemlich schmuddelig. Schwache Birnen brannten hinter angesengten Papierhüllen, die Bar war aus Kisten roh zusammengezimmert, ein handgemaltes Plakat mahnte:

ACHTUNG! SPLITTER! KEIN ERSATZ FÜR STRÜMPFE!

Mit dergleichen Scherzen attackierte der Besitzer, ein pleitegegangener Textilkaufmann, seine Gäste, nach demselben Rezept, das im Norden der Stadt, am Oranienburger Tor, der Grobe Gottlieb seit Jahrzehnten befolgte: Behandle die Gäste schlecht, sie werden es dir danken! Und selbstverständlich ließ der ganze Betrieb sich auf diese Weise sehr billig führen.

Helmut war erst einmal von Kollegen dorthin mitgenommen worden. Er merkte, wie unecht alles war; dennoch wäre er ganz gern hier zu Haus gewesen. Aber er passte schlecht unter diese Gestalten, die sich in knallbunten Jacken und hautengen Seidenröckchen bis zum Morgen tummelten. Er wusste, dass er keineswegs wie ein interessanter Mann der Feder aussah, sondern eher wie ein Kommis oder Junglehrer, durchschnittlich und blass.

Es lag ihm im Grunde nicht, sich in Szene zu setzen. Aber heute hatte er sich ausgemalt, wie er an der Seite Susis in die Baracke eintreten würde. Etwas von ihrer Wirkung würde auf ihn ausstrahlen. So war, neben seiner ehrlichen Verliebtheit, ein Stückchen Eitelkeit mit im Spiel gewesen. Umso bedrückender, dass aus alledem nichts mehr wurde.

Es war am besten, heimzugehen. Das wollte er auch, aber als er den Kurfürstendamm überquerte, änderte er aus einer Art Trotz seine Absicht.

Zehn Minuten später hockte er an der Bar der Baracke vor einem Korn. Der kostete hier nur dreißig Pfennig, rasch wurden fünf, sechs Gläschen daraus, der scharfe Trost machte ihn unternehmungslustig. Ringsum wurde geschwatzt, gelacht, geküsst. Neben ihm an der Bar stritt ein struppiger Vollbart mit einem erschreckend dürren Burschen über die beste Methode, die mangelhafte Ordnung der Welt zu verbessern. Wortfetzen schwirrten Helmut um die Ohren: »Diese ganze Wahl ist natürlich Blödsinn. Bürgerlicher Aberglaube.«

»So? Wir Kommunisten wählen auch.«

»Eben. Weil ihr eine bourgeoise Bande geworden seid.«

»Quatsch. Aus wohlüberlegter Taktik. Schon Lenin sagt …«

»Lenin war selber ein Spießbürger.«

In Helmuts alkoholwirrem Schädel tauchte die Erinnerung an eine kommunistische Broschüre auf, die ihm neulich in die Finger gefallen war. Mit schwerer Zunge mischte er sich ein: »Hören Sie mal. Der fünfte Parteitag hat festgestellt, dass die Teilnahme an parlama-parlamentarischen …«

Schon schob ihn ein Arm beiseite. Was dann kam, wusste er nachher nicht mehr genau. Jedenfalls fand er sich später auf der Straße wieder, an einer Litfaßsäule lehnend. Ihm schien, es hätte Streit und Aussöhnung gegeben und noch viele Schnäpse.

Jetzt musste es schon sehr spät sein. Er sah sich um und erblickte über sich ein Plakat: einen Männerkopf mit starrem Blick, brutalem Kinn, darüber die kantige SA-Mütze. Schräg hingefetzt die Schrift:

HAUT SIE ZUSAMMEN – DIE NOVEMBERPARTEIEN!

Der Name des Zeichners war Mjölnir. Aha, ja, schon mal gehört … Wie der Hammer Thors … Eins muss man zugeben: Der Kerl weiß, was er sagen will, und er kann es ausdrücken.

Helmut Hagenow weiß das leider ganz und gar nicht.

Wer ist er denn schon? Ein Zufallsmensch. Abfallprodukt einer großen Zeit. Aber auch das ist schon wieder eine faule Ausrede. Jeder kann behaupten, seine Zeit sei groß. Und wenn sie es wäre, er nimmt daran wahrhaftig nicht teil. Aus Trabrennskandalen, Unfällen, Einbrüchen macht er Druckzeilen. Was für ein jämmerliches Metier!

Nur – Balzac hätte auch daraus unvergessliche Prosastoffe gewonnen. Wie gern wäre Helmut der Balzac dieser Stadt, dieser Zeit …

Kindischer Selbstbetrug. Nie wird er’s sein, nie hat er im Ernst daran geglaubt.

Er zehrt von zufälligen Vorbildern. Wenn er gerade Fontane gelesen hat, klingt sein Bericht über einen Straßenbahnzusammenstoß wie ein mildes Geschichtchen des alten Stechlin. Neulich beschrieb er einen Taschendiebstahl in furiosen Sätzen, deren Klang er einer wütigen Fehde des Kritikers Alfred Kerr abgelauscht hatte.

Versucht er, endlich in eigenem Stil zu reden, dann ist gleich alles flach, glatt, öde. Warum nur?

Weil er zwar Wünsche hat, aber keine Überzeugungen.

Weil er alles probiert und nichts erlebt.

Das ist es. Nichts ist wichtig genug, um sich ihm ganz hinzugeben.

Nicht einmal das, was – mangels einer anderen Vokabel – noch immer Liebe heißt.

Liebt er denn diese Susi? Unsinn. Er hat sich vorgenommen, in sie verliebt zu sein. Das hat sie gefühlt. Sonst wäre sie jetzt bei ihm.

Als er mit seinen Selbstanklagen so weit gelangt war, überkam ihn auf einmal wieder kummervolle Wut. Der Teufel soll sie holen!, dachte er. Aber ich muss es zustande bringen, dass ich mich in sie verliebe.

8

Es schlug zwei.

Bei Tante Ida in der Grolmanstraße wartete der Sturm 90 auf den letzten Wahldienst: Eigene Klebekolonnen sollten geschützt, gegnerische nach Möglichkeit gestört werden. Ein Teil der SA-Männer schlief in unbequemen Stellungen. Andere kloppten ihren Skat. Manche trugen hier im Sturmlokal die seit dem Sommer von der preußischen Regierung verbotene Uniform, sogar die Mütze, den Riemen unterm Kinn; als habe Mjölnir sie gezeichnet.

So hielt es auch Bob. Aus dem adretten Botenjungen war der zackige Truppführer Robert Schulz geworden, der seine neunzehn Männer immer wieder mit finsterem Ernst musterte. Sieben von ihnen waren arbeitslos, die hatten schon einen anstrengenden Tag hinter sich. Mit den Kameraden anderer Stürme waren sie auf Lastautos durch Charlottenburg gefahren, um mit Fahnen und Transparenten, Musik und Sprechchören Propaganda zu machen.

Gegen neun Uhr abends gab es eine Schlägerei mit den Roten, vor dem Eden-Palast, Kaiser-Friedrich-Straße. Bob durfte stolz auf seine Männer sein, sie hatten sich gut gehalten.

Doch jetzt, vom stundenlangen Herumsitzen gelangweilt, gerieten ein paar von ihnen in einen hitzigen, leisen Streit über den Sinn der Wahl, die in wenigen Stunden beginnen sollte.

»Alles Käse«, murrte einer. »Wer glaubt schon an den parlamentarischen Schwindel? Dass wir da mitmachen …«

»Adolf will es doch so.«

»Na ja – er sagt es. Aber da lachen doch die Hühner!«

»Zweifelst du am Wort des Führers?«

»Nee, nee.« – Der Gefragte zuckte unsicher mit der Schulter, dann setzte er hinzu: »Aber Jewehre sind wichtiger als Stimmen. Da jeb ick Strassern recht.«

»Schnauze!«, fauchte Bob ihn an. Er hatte nur die letzten Worte gehört. »Otto Strasser ist für uns tot! Aus der Partei ausgestoßen!«

»Nich doch, Truppführer. Ick meene den Bruder – Gregor!«

»Ach so …«

»Der neulich im Sportpalast jesacht hat: Von Deutschland jeliebt, von Frankreich jehasst – det is unser Ziel. – Stimmt’s?«

Bob ärgerte sich. Politische Einzelheiten waren nicht seine Stärke. Um die peinliche Lage zu retten, stimmte er unvermittelt an:

»Siegreich woll’n wir Frankreich schlagen …«

Beim Singen waren alle gleich wieder ein Herz und eine Seele. Es folgte das Leiblied des Sturms, sie ließen Hitlers Flotte Volldampf vorausfahren. Und dann kam:

»Wenn das Judenblut vom Messer spritzt,

dann geht’s noch mal so gut …«

Immer lauter war der Chorus geworden. Auf einmal stand Sturmführer Meister zwischen ihnen und brüllte: »Ruhe! Was’n hier los? Gesangverein? Truppführer, verrückt geworden? Uns die Sozi-Polente auf den Hals ziehen, was?«

»Zu Befehl – nein, Sturmführer«, sagte Bob heiser, vor Wut innerlich kochend. Er ließ sich nicht gern anpfeifen, das tat er lieber selbst.

»Na also«, grinste der Vorgesetzte, »is ja ’n wunderschönes Lied. Zur Zeit aber noch verboten … Und wir haben heute schließlich noch ’n paar wichtigere Ruhestörungen vor, was?«

Ringsum lachten sie. Gleich darauf ging es endlich los. Bob war genau in der richtigen Stimmung für einen kleinen Zusammenstoß mit Rotfront, mit dem Reichsbanner, mit irgendwem. Aber es ereignete sich nicht das geringste.

Die Nacht vor der Wahl war in Berlin die ruhigste seit vielen Wochen.

Gegen fünf Uhr früh wurde weggetreten, alles eilte nach Haus. Bob fühlte sich um etwas betrogen, was ihm zukam. Er mochte nicht ins Bett, ganz allein durchstreifte er noch einmal das Revier seines Sturms, bis hinüber zum Judendamm, so nannten sie den Kurfürstendamm gern.

Als er beim Hause der Lebensteins vorbeikam, packte ihn die Wut von neuem, und niemand war da, an dem er sie auslassen konnte. Es half nichts, er musste heim. In die Cauerstraße, wo er eine kleine Schlafstelle hatte.

Seine eisenbeschlagenen Hacken knallten in den leeren Straßen.

Da – was war das?

Ecke Herder- und Goethestraße bewegten sich zwei verdächtige Gestalten mit Eimer und Pinsel. Die Kommune – der Erbfeind – zweihundert Meter vom Sturmlokal! Die sollten ihn kennenlernen! Ein rauschartiges Glücksgefühl überkam Bob, als er auf sie losrannte.