Vollendet – Der Aufstand - Neal Shusterman - E-Book
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Vollendet – Der Aufstand E-Book

Neal Shusterman

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Beschreibung

Du hast gegelaubt, es ist vorbei? Die Siegesfreude ist von kurzer Dauer: Connor muss sich als neuer Anführer der Flüchtlinge beweisen. Risa fürchtet, ihm keine große Hilfe zu sein. Lev versucht, ein neues Leben zu beginnen. Einer von ihnen wird verraten werden. Einer von ihnen wird fliehen. Einer von ihnen wird auf Cam treffen, einen Jungen, den es nicht geben darf. BAND 2 DER PACKENDEN ›VOLLENDET‹-SERIE

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Seitenzahl: 581

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Neal Shusterman

Vollendet - Der Aufstand

Aus dem Amerikanischen von Ute Mihr und Anne Emmert

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Und die Antwort lautetTeil eins Missachtung1. Starkey2. Miracolina3. CamTeil zwei Yolos4. Eltern5. Connor6. Risa7. Connor8. Risa9. Connor10. StarkeyTeil drei Fenster zur Seele11. Raucher12. Nelson13. Connor14. Dolores15. Connor16. Risa17. Cam18. Risa19. Cam20. NelsonTeil vier Leviathan21. Lev22. Stiftung23. Lev24. Miracolina25. Lev26. Miracolina27. Lev28. Risa29. Cam30. Nelson31. Miracolina32. Lev33. Miracolina34. Lev35. NelsonTeil fünf Eine Frage der Notwendigkeit36. Connor37. Risa38. Hayden39. Connor40. Starkey41. Connor42. Starkey43. Lawine44. Risa45. Cam46. Risa47. Publikum48. Risa49. Cam50. Risa51. CamTeil sechs Kampf oder Flucht52. Lev53. Nelson54. Lev55. Miracolina56. Lev57. Connor58. Trace59. Lev60. Starkey61. Noah62. Starkey63. Trace64. Lev65. Nelson66. Wachposten67. Connor68. Luftfahrzeuge69. Lev70. Nelson71. Lev72. Starkey73. Risa74. Roberta75. CamTeil sieben Landungen76. Dreamliner77. Starkey78. Trace79. Starkey80. Miracolina81. Hayden82. Connor83. Nelson84. ConnorDanksagungQuellennachweise

Für Charlotte Ruth Shusterman

Ich liebe dich, Mom

Und die Antwort lautet

Da die Welt, in der Vollendet und Vollendet – Der Aufstand spielen, sozusagen kopfsteht, bietet es sich an, mit einer Quizrunde zu beginnen. Ich gebe die Antworten, und meine Leserinnen und Leser stellen die jeweilige Frage dazu, wie man es aus Ratesendungen kennt. Wenn ihr genügend Fragen zu meinen Antworten findet, könnt ihr eure Umwandlungsverfügung getrost zerreißen! (Achtung: Wer das Spiel überspringt, könnte beim Lesen hier und da ins Stolpern geraten.)

Bei diesem Vorgang wird ein Mensch in seine Teile zerlegt. Nach dem Gesetz müssen 99,44 Prozent von ihm als Transplantat am Leben erhalten und verwendet werden.

Was versteht man unter Umwandlung?

Der zweite Bürgerkrieg der USA, auch als Heartland-Krieg bekannt, konnte dank dieses Abkommens zwischen den Streitkräften der Abtreibungsgegner und der Abtreibungsbefürworter beendet werden. Es sah vor, dass das Leben von der Empfängnis bis zum Alter von dreizehn Jahren unantastbar ist, für problematische Teenager aber wird eine »rückwirkende Abtreibung« erlaubt.

Was ist das Umwandlungsabkommen?

Wenn eine Mutter ihr neugeborenes Baby nicht behalten will, hat sie das Recht, es jemandem vor die Haustür zu legen. Nach dem Gesetz ist das Baby ab diesem Moment in der Obhut der Hausbewohner. Im Volksmund wird das Ablegen des Babys so genannt.

Was ist Storchen?

Nach seiner Umwandlung gilt ein Mensch, da praktisch alles von ihm noch am Leben ist, nicht als tot. Vielmehr befindet er sich in diesem Zustand.

Was ist der geteilte Zustand?

Das ist eine spezielle Einrichtung, in der Wandler auf den geteilten Zustand vorbereitet werden. Zwar hat jede dieser Einrichtungen ihre ganz eigene Atmosphäre, doch allen ist gemein, dass sie den Jugendlichen, die für die Umwandlung vorgesehen sind, eine positive Erfahrung vermitteln sollen.

Was ist ein Ernte-Camp?

Die Stadt im Norden Arizonas, in der dieses Ernte-Camp liegt, hat ihren Namen von den Holzfällern, die sie gegründet haben. Das Camp wurde kürzlich aufgrund terroristischer Aktivitäten geschlossen.

Was ist das Happy Jack Ernte-Camp?

So nennen die Wandler die Klinik im Ernte-Camp, in der die Umwandlung durchgeführt wird.

Was ist ein Schlachthaus?

Diese jungen Terroristen haben eine nicht nachweisbare Chemikalie im Körper, die ihr Blut explosiv macht. Sie lösen die Detonation aus, indem sie die Hände zu einem kräftigen Applaus zusammenführen.

Was sind Klatscher?

Das ist der umgangssprachliche Ausdruck für einen Vollstreckungsbeamten, der für die Nationale Jugendbehörde arbeitet und speziell für Wandler zuständig ist.

Was ist ein JuPo?

Das ist eine Waffe, deren spezielle Munition den Getroffenen bewusstlos macht. Diese Methode wird von den JuPos angewendet, weil es verboten ist, mit scharfer Munition lebenswichtige Organe von Wandlern zu schädigen und somit ihren Wert zu mindern.

Was ist ein Betäubungsgewehr?

Dieser Militärbegriff bedeutet »eigenmächtig abwesend«, wird jedoch mittlerweile für flüchtige Wandler verwendet.

Was ist ein EA?

Diese Organisation kämpft gegen die Umwandlung, indem sie flüchtige Wandler rettet. Sie ist allerdings nicht so gut organisiert, wie oft angenommen wird.

Was ist die Anti-Umwandlungs-Front (AUF)?

Bei diesem mehr oder weniger geheimen Versteck für flüchtige Wandler handelt es sich um einen riesigen Flugzeugschrottplatz in der Wüste von Arizona.

Was ist der Friedhof?

Dieser flüchtige Wandler aus Ohio, der eigentlich Connor Lassiter heißt, soll für die Revolte im Happy Jack Ernte-Camp verantwortlich sein und gilt als tot.

Wer ist der Flüchtling aus Akron?

Dieser Begriff steht für ein Kind, das aus religiösen Gründen von Geburt an für die Umwandlung vorgesehen ist.

Was ist ein Zehntopfer?

Dieses Zehntopfer wurde zu einem Klatscher, der nicht klatschte und dadurch der Widerstandsbewegung ein Gesicht gab.

Wer ist Lev Calder?

Diesen Nachnamen, der im Englischen »Mündel« bedeutet, erhalten alle elternlosen Kinder, die in staatlichen Waisenhäusern aufwachsen.

Was ist Ward?

Dieses Mädchen, ehemaliges Mündel des Staates, überlebte das Happy Jack Ernte-Camp. Sie ist gelähmt, weil sie sich geweigert hat, ihre verletzte Wirbelsäule durch das Transplantat eines Wandlers ersetzen zu lassen.

Wer ist Risa Ward?

Und nun wünsche ich euch eine spannende, schlafraubende und aufregende Lektüre!

 

Neal Shusterman

Teil einsMissachtung

Wahre Großzügigkeit gegenüber der Zukunft ist,

in der Gegenwart alles zu geben.

Albert Camus, Der Mensch in der Revolte

1.Starkey

Als sie ihn holen kommen, hat er gerade einen Albtraum.

Eine gewaltige Flutwelle verschlingt die Welt, und mitten in diesem Chaos wird er von einem Bären zerfetzt. Statt Angst überkommt ihn Verärgerung: Als wäre die Flutwelle nicht schon genug, muss sein Unterbewusstsein auch noch einen wütenden Grizzly heraufbeschwören, der ihn zerfleischt.

Unvermittelt wird er mit den Füßen voran aus dem tödlichen Rachen und dem versinkenden Armageddon gezogen.

»Aufstehen! Sofort! Los geht’s!«

Als er die Augen öffnet, ist das Zimmer, das dunkel sein müsste, hell erleuchtet. Zwei JuPos packen ihn grob an den Armen und ersticken jede Gegenwehr. Er ist ohnehin noch nicht richtig wach.

»Nein! Aufhören! Was soll das?«

Handschellen. Erst um das rechte Handgelenk, dann um das linke.

»Hoch mit dir!«

Sie zerren ihn auf die Beine.

»Lassen Sie mich in Ruhe! Was ist denn los?«

Doch mittlerweile ist er wach und weiß, was los ist. Er wird entführt. Oder auch wieder nicht, denn die Überstellungspapiere wurden in dreifacher Ausfertigung unterzeichnet.

»Bestätige in Worten, dass du Mason Michael Starkey bist.«

Es sind zwei Beamte. Einer ist klein und muskulös, der andere groß und muskulös. Wahrscheinlich ehemalige Armeesoldaten, die zu den JuPos gewechselt sind. Ein JuPo kann schon kein Herz haben, aber wer Jugendliche zur Umwandlung abholt, hat wahrscheinlich auch keine Seele mehr. Entsetzen und Furcht packen Starkey. Er versucht sich nichts anmerken zu lassen, denn er weiß, dass sich JuPos an der Angst anderer weiden.

Der Kleinere, offenbar das großmäulige Sprachrohr der beiden, starrt ihn böse an: »Bestätige in Worten, dass du Mason Michael Starkey bist!«

»Und warum sollte ich das tun?«

»Junge«, sagt der andere JuPo, »egal, ob du es uns leicht machst oder nicht: Wir ziehen das auf alle Fälle durch.« Der zweite Polizist spricht sanfter, mit Lippen, die augenscheinlich nicht seine eigenen sind. Sie sehen aus wie die von einem Mädchen. »Bringen wir’s einfach hinter uns, ja?«

Sie scheinen anzunehmen, dass Starkey sie schon erwartet hat. Aber welcher Wandler weiß so was schon im Voraus? Jeder Jugendliche glaubt doch tief in seinem Herzen, dass ihm das nicht passieren wird. Dass seine Eltern, egal wie schwierig die Situation zu Hause auch sein mag, nicht auf die allgegenwärtige Werbung im Fernsehen, im Internet und auf Plakatwänden hereinfallen, die ihnen vorgaukelt, die Umwandlung sei »die vernünftige Lösung«.

Aber wem will er etwas vormachen? Auch ohne die Propaganda ist Starkey der klassische Umwandlungskandidat, und zwar schon, seit er auf der Türschwelle seiner Eltern auftauchte. Er müsste eher überrascht sein, dass sie so lange damit gewartet haben.

Das Großmaul reckt ihm drohend das Kinn entgegen. »Zum letzten Mal: Bestätige in Worten, dass du …«

»Ja, ja, Mason Michael Starkey. Und jetzt verschwinde, dein Atem stinkt.«

Lady-Lips zieht ein Formular in dreifacher Ausfertigung aus der Tasche, weiß, gelb und rosa.

»Sie verhaften mich?« Starkeys Stimme zittert. »Was habe ich denn verbrochen? Ist es, weil ich sechzehn bin? Oder weil ich überhaupt existiere?«

»Halt’s-Maul-oder-wir-betäuben-dich.« Bei Großmaul klingt das wie ein einziges Wort.

Im Tiefsten seines Innern würde Starkey gern betäubt werden – einfach einschlafen und, wenn er Glück hat, nie wieder aufwachen. Dann bliebe ihm die Erniedrigung erspart, mitten in der Nacht aus seinem Leben gerissen zu werden. Aber nein, er will die Gesichter seiner Eltern sehen. Oder vielmehr: Sie sollen sein Gesicht sehen. Wenn er betäubt wird, kommen sie zu leicht davon. Dann müssen sie ihm nicht in die Augen schauen.

Lady-Lips hält ihm die Umwandlungsverfügung vor die Nase und leiert den berüchtigten Paragrafen 9 herunter, die »Aufhebungsbestimmung«.

»Mason Michael Starkey, mit der Unterzeichnung dieser Verfügung haben deine Eltern und/oder dein gesetzlicher Vormund deinen seit sechs Tagen nach der Empfängnis bestehenden Existenzanspruch beendet. Somit machst du dich einer Verletzung des Existenz-Kodex 390 schuldig. Du wirst deshalb an die Jugendbehörde von Kalifornien überstellt, zur summarischen Teilung, auch als Umwandlung bekannt.«

»Blablabla.«

»Sämtliche Rechte, die dir vom Bezirk, vom Bundesstaat oder von der Bundesregierung als Bürger zugestanden wurden, werden hiermit offiziell und endgültig widerrufen.« Er faltet die Umwandlungsverfügung zusammen und steckt sie wieder in die Tasche.

»Gratuliere, Mr Starkey«, sagt Großmaul. »Du existierst nicht mehr.«

»Warum reden Sie dann noch mit mir?«

»Damit ist auch bald Schluss.« Sie zerren ihn zur Tür.

»Kann ich mir wenigstens noch die Schuhe anziehen?«

Sie lassen ihn los, behalten ihn aber im Auge.

Starkey nimmt sich für das Binden der Schuhe reichlich Zeit. Dann gehen die JuPos mit ihm die Treppe hinunter. Unter ihren schweren Stiefeln knarren die Holzstufen. Sie machen einen Lärm wie eine Herde Rinder.

Seine Eltern warten unten im Hausflur. Es ist drei Uhr morgens, doch sie sind noch angezogen. Sie waren die ganze Nacht auf und haben auf dieses Ereignis gewartet. Starkey sieht den Schmerz in ihren Augen – oder vielleicht ist es auch Erleichterung, schwer zu sagen. Er versteckt seine Gefühle hinter einem ironischen Lächeln.

»Hi, Mom! Hi, Dad!«, ruft er fröhlich. »Was glaubt ihr wohl, was gerade mit mir passiert? Dreimal dürft ihr raten!«

Sein Vater holt tief Luft und will zu seiner großen Umwandlungsrede ansetzen, die alle Eltern für ihr missratenes Kind in petto haben. Sie kennen die Worte auswendig, gehen sie immer wieder durch, in der Mittagspause, im Stau oder während ihr Chef über Einzelhandelspreise, Vertriebsmethoden und andere idiotische Themen schwafelt, die Büromenschen in Konferenzen eben so bereden.

Was sagt noch mal die Statistik? Starkey hat es mal in den Nachrichten gesehen. Jedem zehnten Elternteil geht der Gedanke an Umwandlung einmal im Jahr durch den Kopf. Von diesen denkt jeder Zehnte ernsthaft darüber nach, und davon wiederum zieht es jeder Zwanzigste tatsächlich durch. Diese Zahlen verdoppeln sich mit jedem zusätzlichen Kind, das die Familie hat. Wenn man diese krassen Zahlen zusammenzählt, wenn man sie bis zum bitteren Ende durchrechnet, wird jeder zweitausendste Jugendliche im Alter zwischen dreizehn und siebzehn Jahren umgewandelt, Jahr für Jahr. Die Wahrscheinlichkeit ist höher als für einen Lottogewinn. Und da sind wahrscheinlich die Jugendlichen aus staatlichen Heimen noch gar nicht mitgerechnet.

Starkeys Vater spricht aus sicherem Abstand die ersten Worte. »Mason, siehst du denn nicht ein, dass du uns keine andere Wahl lässt?«

Die JuPos halten ihn am Ende der Treppe fest, machen aber keine Anstalten, mit ihm hinauszugehen. Sie wissen, dass sie den Eltern ihr Übergangsritual zugestehen müssen, den verbalen Fußtritt, mit dem sie ihr Kind aus dem Haus befördern.

»Die Prügeleien, die Drogen, das gestohlene Auto – und jetzt bist du wieder aus der Schule geflogen. Was denn noch, Mason?«

»Mensch, Alter, keine Ahnung, Dad. Es gibt so viel Mist, den ich bauen könnte.«

»Jetzt nicht mehr. Du bist uns wichtig, deshalb setzen wir den schlechten Einflüssen ein Ende, ehe sie dir ein Ende setzen.«

Nun muss er doch lachen.

Da kommt von oben eine Stimme.

»Nein! Das könnt ihr doch nicht machen!«

Seine Schwester Jenna – die leibliche Tochter seiner Eltern – steht oben an der Treppe. Sie trägt ihren Teddybären-Schlafanzug, für den sie mit ihren dreizehn Jahren viel zu alt ist.

»Geh wieder ins Bett, Jenna«, sagt ihre Mutter.

»Ihr lasst ihn nur umwandeln, weil er gestorcht worden ist, das ist unfair! Und das auch noch direkt vor Weihnachten! Was wäre, wenn ich gestorcht worden wäre? Würdet ihr mich dann auch umwandeln lassen?«

»Diese Diskussion werden wir jetzt nicht führen!«, brüllt ihr Vater, und ihre Mutter bricht in Tränen aus. »Geh sofort wieder ins Bett!«

Aber das tut sie nicht. Sie verschränkt die Arme, setzt sich trotzig auf die oberste Treppenstufe und sieht sich alles an. Schön für sie.

Die Tränen seiner Mutter sind echt, aber Starkey weiß nicht, ob sie um ihn weint oder um den Rest der Familie. »Was du alles getan hast – man hat uns immer wieder versichert, das seien Hilferufe gewesen«, sagt sie. »Aber warum hast du uns nicht helfen lassen?«

Am liebsten würde er schreien. Wie soll er ihnen das erklären, wenn sie es nicht erkennen? Sie haben keine Ahnung, wie es ist, sechzehn Jahre in dem Bewusstsein zu leben, dass man nicht gewünscht war, ein Baby rätselhafter Herkunft und ungewisser Rasse, abgelegt an der Türschwelle von Eheleuten, die siena-blass sind wie Vampire. Sie wissen nicht, dass er sich an den Tag als Dreijähriger erinnert, als ihn seine Mom, nach der Kaiserschnittgeburt seiner Schwester noch vollgedröhnt von Schmerzmitteln, zur Feuerwache brachte. Dort bat sie die Leute, ihn wegzuschaffen, in ein staatliches Waisenhaus. Seine Eltern haben keinen Schimmer, wie es für ihn war, dass seine Weihnachtsgeschenke nie von Herzen kamen, sondern reine Pflichtübung waren. Oder dass seine Geburtstage nicht mal seine richtigen Geburtstage waren, denn es wusste ja keiner, wann er geboren worden war. Bekannt war nur, an welchem Tag er auf der Fußmatte mit der Aufschrift »Willkommen« lag, die eine junge Mutter allzu wörtlich genommen hatte.

Und dann die Sticheleien der anderen Kinder in der Schule.

In der vierten Klasse wurden seine Eltern zum Rektor zitiert, weil Starkey einen Jungen vom Klettergerüst gestoßen hatte. Der Junge hatte eine Gehirnerschütterung und einen gebrochenen Arm davongetragen.

»Warum, Mason?«, hatten seine Eltern ihn vor dem Rektor gefragt. »Warum hast du das gemacht?«

Er erklärte ihnen, die anderen Kinder hätten ihn »Storchy« genannt, und der Junge hätte damit angefangen. In seiner kindlichen Naivität nahm er an, seine Eltern würden ihn verteidigen. Aber sie taten es einfach ab.

»Du hättest den Jungen umbringen können«, tadelte sein Vater. »Und warum? Wegen ein paar Worten? Worte tun doch nicht weh.« Das ist eine der größten und gemeinsten Lügen, die Erwachsene ihren Kindern auftischen. Denn Worte können mehr wehtun als jeder körperliche Schmerz. Starkey hätte liebend gern eine Gehirnerschütterung und einen gebrochenen Arm in Kauf genommen, wenn er nie wieder für seine Herkunft gehänselt worden wäre.

Das Ende vom Lied war, dass er auf eine andere Schule geschickt und zu einer Therapie verdonnert wurde.

»Denk gründlich darüber nach, was du getan hast«, riet ihm sein alter Rektor.

Und wie ein guter kleiner Junge tat er, was man ihm sagte. Er dachte viel nach und kam zu dem Schluss, dass er das nächste Mal ein höheres Klettergerüst brauchte.

Wie soll er seinen Eltern so etwas erklären? Wie soll er in der Zeit, die ein JuPo braucht, um ihn durch die Haustür zu scheuchen, ein Leben voller Ungerechtigkeiten rechtfertigen? Die Antwort ist einfach: Er versucht es nicht mal.

»Es tut mir leid, Mason.« Sein Vater hat nun auch Tränen in den Augen. »Aber so ist es besser für alle. Auch für dich.«

Starkey weiß, dass seine Eltern ihn nie verstehen werden, aber er will wenigstens das letzte Wort haben.

»Hey, Mom, übrigens … Dads Überstunden im Büro sind gar keine Überstunden. Er ist mit deiner Freundin Nancy zusammen.«

Doch bevor er den entsetzten Gesichtsausdruck seiner Eltern genießen kann, wird ihm klar, dass er dieses geheime Wissen als Druckmittel hätte einsetzen können. Wenn er seinem Vater gesagt hätte, was er wusste, hätte ihn das vielleicht vor der Umwandlung bewahrt! Wie konnte er im entscheidenden Moment nur so dumm sein?

Und so kann er nicht einmal seinen bitteren kleinen Triumph genießen, als ihn die JuPos hinaus in die kalte Dezembernacht stoßen.

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Das Polizeiauto fährt mit Starkey, der hinter einer kugelsicheren Scheibe auf der Rückbank sitzt, aus der Auffahrt. Großmaul sitzt am Steuer, während Lady-Lips in einem dicken Aktenordner blättert. Starkey kann kaum glauben, dass er in seinem Leben schon so viel Papier produziert hat.

»Hier steht, dass du als Kleinkind in den ersten Leistungstests unter den besten zehn Prozent warst.«

Großmaul schüttelt verächtlich den Kopf. »Was für eine Verschwendung.«

»Eigentlich nicht«, sagt Lady-Lips. »Von deinem Grips werden jede Menge Leute was haben, Mr Starkey.«

Bei dieser Aussage fröstelt es Starkey, doch er bemüht sich, es nicht zu zeigen. »Die Lippen sind übrigens super, Alter. Was war los? Wollte sich Ihre Frau lieber von einer Frau küssen lassen?«

Großmaul grinst, und Lady-Lips schweigt.

»Okay, genug Lippenbekenntnisse«, fährt Starkey fort. »Haben Sie keinen Hunger? Also, ich könnte jetzt einen kleinen Mitternachtssnack vertragen. Wie wär’s mit einem Burger?«

Keine Antwort. Nicht, dass er eine erwartet hätte. Aber man muss immer austesten, wie man die Gesetzeshüter auf die Palme bringen kann. Wenn sie ausflippen, hat man gewonnen. Wie war das noch mal mit dem Flüchtling aus Akron? Was hat der immer gesagt? Genau: »Hübsche Socken.« Einfach und elegant, aber vermeintliche Autoritätspersonen hat er damit noch immer aus dem Konzept gebracht.

Der Flüchtling aus Akron – das war vielleicht ein Wandler! Klar, er ist vor einem knappen Jahr beim Aufstand im Happy Jack Ernte-Camp umgekommen, aber seine Legende lebt fort. Starkey wäre auch gern berühmt-berüchtigt wie Connor Lassiter. Er stellt sich vor, wie Connor Lassiters Geist neben ihm sitzt und alles gut findet, was er denkt und tut, ja, dass er Starkey sogar die Hand führt, als der sich mit den Handschellen zu seinem linken Schuh hinunterbeugt, gerade weit genug, um das Messer herauszuziehen. Das Messer, das er sich für besondere Gelegenheiten wie diese beschafft hat.

»Wenn ich es mir recht überlege, ist ein Burger jetzt echt eine gute Idee«, sagt Lady-Lips.

»Super«, sagt Starkey. »Da vorne auf der linken Seite kriegen wir einen. Bestellen Sie mir einen doppelten mit Pommes spezial, das passt doch gut zu mir, oder? Ich bin nämlich auch ein ganz spezieller Fall.«

Er kann es kaum fassen, dass sie tatsächlich zu dem Drive-in-Restaurant abbiegen. Starkey fühlt sich wie ein Meister der Manipulation, obwohl er die beiden gar nicht besonders meisterhaft manipuliert hat. Trotzdem, er hat die JuPos fest im Griff. Glaubt er zumindest, bis die beiden etwas für sich bestellen, aber nichts für ihn.

»He! Was soll das?« Er poltert mit der Schulter gegen die Glasscheibe, die ihre Welt von seiner trennt.

»Du kriegst im Ernte-Camp was zu essen«, sagt Lady-Lips.

Erst jetzt wird Starkey klar, dass ihn die kugelsichere Scheibe nicht nur von den Polizisten trennt, sondern von der gesamten Außenwelt. Nie wieder wird er sein Lieblingsessen bekommen. Plötzlich hat er das Gefühl, ihm kommt alles hoch, was er in seinem Leben je gegessen hat, seit dem sechsten Tag nach der Empfängnis.

Das Mädchen, das an der Kasse des Drive-in die Nachtschicht schiebt, kennt Starkey aus seiner letzten Schule. Bei ihrem Anblick durchströmt ihn eine Flut unterschiedlichster Gefühle. Er könnte tiefer in den Sitz rutschen und hoffen, dass sie ihn nicht sieht, aber das wäre einfach nur jämmerlich. Nein, er ist kein Jammerlappen. Wenn er schon untergehen muss, dann im lodernden Flammenmeer, für jedermann sichtbar.

»Hey, Amanda, gehst du mit mir zum Abschlussball?« Er ruft es so laut, dass er durch die dicke Glasscheibe zu hören ist.

Amanda späht mit zusammengekniffenen Augen in seine Richtung. Sobald sie ihn erkennt, rümpft sie die Nase, als hätte sie einen ranzigen Geruch vom Grill abbekommen.

»Nicht in diesem Leben, Starkey.«

»Warum nicht?«

»Erstens bist du erst in der Zehnten und zweitens bist du ein Loser und sitzt auf dem Rücksitz eines Polizeiautos. Und überhaupt, was will einer wie du denn auf einem Abschlussball?«

Ist sie wirklich dermaßen unterbelichtet? »Äh, wie du siehst, habe ich meinen Abschluss mit der Welt schon gemacht.«

»Halt die Klappe«, raunzt ihn Großmaul an, »oder ich lass dich gleich hier zu Burgern umwandeln.«

Endlich fällt bei Amanda der Groschen. Plötzlich wirkt sie sehr verlegen. »Oh. Oh, tut mir leid, Starkey. Tut mir wirklich leid …«

Mitleid kann Mason Starkey gar nicht vertragen. »Was tut dir denn leid? Du und deine Freunde, ihr hättet euch doch keine Sekunde mit mir abgegeben. Und jetzt tue ich dir leid? Schieb dir das in den Arsch.«

»Tut mir leid. Ich meine – tut mir leid, dass es mir leidtut – ich meine …«

Sie seufzt verzweifelt und gibt Lady-Lips seine Burger-Tüte. »Brauchen Sie Ketchup?«

»Nein, passt schon.«

»He, Amanda!«, ruft Starkey, während sie losfahren. »Wenn du wirklich was für mich tun willst, dann erzähl allen, dass ich bis zum Schluss gekämpft habe, okay? Erzähl ihnen, dass ich gekämpft habe wie der Flüchtling aus Akron.«

»Mach ich, Starkey«, sagt sie, »das verspreche ich dir.«

Aber bis zum nächsten Morgen hat sie es sicher schon wieder vergessen.

Zwanzig Minuten später biegen sie in die schmale Straße zum Hintereingang des Bezirksgefängnisses ab. Hier geht niemand durch die Vordertür, am allerwenigsten ein Wandler. Ein Flügel des Bezirksgefängnisses ist für Jugendliche reserviert, und ganz hinten steht ein spezieller Container, in dem die transportbereiten Wandler untergebracht werden. Starkey war oft genug im Jugendknast, um zu wissen, dass es aus diesem Haftraum kein Entkommen gibt. Das war’s. Ende der Geschichte. Nicht mal im Todestrakt sind die Sicherheitsvorkehrungen so streng.

Aber noch ist er nicht da drin. Noch sitzt er im Auto und wartet. Hier ist der Rumpf ihres kleinen Narrenschiffs am dünnsten, und wenn er ihre Pläne durchkreuzen will, muss er das zwischen Auto und Hintertür des Gefängnisses tun. Während die JuPos seinen erniedrigenden Gang in den Knast vorbereiten, überlegt er, wie hoch seine Chancen stehen, dass er abhauen kann. Nicht nur seine Eltern haben sich den Ablauf dieser Nacht vorher ausgemalt, sondern auch er, und er hat ein Dutzend heldenhafter Fluchtpläne ausgearbeitet. Das Problem ist nur, dass sogar seine Tagträume fatalistisch sind; immer überwiegt die Angst, immer verliert er, wird betäubt und wacht auf dem OP-Tisch wieder auf. Klar, es heißt, dass man nicht sofort umgewandelt wird, aber Starkey glaubt das nicht. Niemand weiß, was in den Ernte-Camps genau abläuft, und diejenigen, die es erfahren, können es nicht mehr erzählen.

Die beiden JuPos kommen zurück, zerren ihn aus dem Auto, nehmen ihn in die Mitte und packen ihn fest an den Oberarmen. Darin haben sie Übung. Lady-Lips hält immer noch Starkeys dicke Akte in der Hand.

»Und?«, fragt Starkey. »Stehen da auch meine Hobbys drin?«

»Wahrscheinlich«, erwidert Lady-Lips gleichgültig.

»Vielleicht hätten Sie ein bisschen genauer lesen sollen, dann hätten wir jetzt ein Gesprächsthema.« Starkey grinst. »Wissen Sie, ich kann nämlich ziemlich gut zaubern.«

»Ach ja?« Großmaul grinst schief. »Zu schade, dass du dich nicht verschwinden lassen kannst.«

»Wer sagt, dass ich das nicht kann?«

Dann hebt er, theatralisch wie Houdini, die rechte Hand. Die Handschelle baumelt an seiner Linken. Ehe sie überhaupt reagieren können, holt Starkey das Taschenmesser aus dem Ärmel, mit dem er das Schloss geknackt hat, und zieht es Lady-Lips quer übers Gesicht.

Der Mann schreit und aus einer zehn Zentimeter langen Wunde strömt Blut. Großmaul ist sprachlos, wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem jämmerlichen Leben im Dienste von Unrecht und Unordnung. Er will die Waffe ziehen, doch Starkey ist schon losgerannt und verschwindet in der dunklen Gasse.

»He!«, brüllt Großmaul. »Du machst alles nur noch schlimmer!«

Was wollen sie denn schon machen? Soll er noch einen Anschiss kriegen, ehe sie ihn umwandeln? Großmaul kann reden, was er will – gute Argumente hat er nicht auf seiner Seite.

Die Gasse windet sich mal nach links, mal nach rechts, wie in einem Labyrinth. Links neben Starkey rast die hohe imposante Backsteinwand des Bezirksgefängnisses vorbei.

Als der Weg wieder einen Knick macht, sieht Starkey vor sich eine Straße. Er stürmt darauf zu, doch an der Kreuzung packt Großmaul ihn am Kragen. Irgendwie hat er es geschafft, vor Starkey dort zu sein. Ist ja klar, wahrscheinlich unternimmt jeder Wandler einen Fluchtversuch. Vielleicht wurde die Gasse sogar so verwinkelt angelegt, damit Flüchtlinge Zeit verlieren und die JuPos sie noch einholen können.

»Das war’s, Starkey!« Großmaul packt ihn am Handgelenk, entreißt ihm das Messer und zieht seine Waffe. Er ist drauf und dran zu schießen, das sieht man ihm an. »Auf den Boden oder du bekommst das hier zu spüren!«

Aber Starkey legt sich nicht hin. Er wird sich vor diesem Gesetzesgangster nicht erniedrigen.

»Na los!«, sagt Starkey. »Schießen Sie doch, und erklären Sie denen im Ernte-Camp, warum Sie die Ware beschädigt haben.«

Großmaul dreht ihm den Arm auf den Rücken und stößt ihn mit dem Gesicht gegen die Backsteinwand.

»Ich habe die Nase voll von dir, Starkey. Oder vielleicht sollte ich dich besser Storchy nennen.« Er lacht, weil er das offenbar für einen genialen Witz hält. Als wäre nicht jeder Idiot dieser Welt schon darauf gekommen.

»Storchy!«, schnaubt er. »Das ist doch genau der richtige Name für dich! Wie gefällt dir das, Storchy?«

In Starkey kocht das Blut hoch. Adrenalin erfüllt ihn mit Zorn und rasender Energie. Er rammt Großmaul den Ellbogen in den Magen, dreht sich blitzschnell um und schnappt sich die Waffe.

»Das gefällt mir ganz und gar nicht.«

Großmaul ist stark, aber in Starkey ist das Tier erwacht. Und das ist stärker.

Die Waffe ist zwischen ihnen. Sie zielt auf Starkeys Wange, dann auf seine Brust, dann auf Großmauls Ohr, dann unter sein Kinn. Beide tasten nach dem Abzug und – wumm!

Der Rückstoß der Waffe wirft Starkey gegen die Wand. Blut! Überall Blut! Er hat Eisengeschmack im Mund und den ätzenden Geruch des Schusses …

Das war keine Betäubungsmunition! Das war eine echte Kugel!

Er glaubt sich nur Millisekunden vom Tod entfernt, als ihm plötzlich klar wird, dass es nicht sein Blut ist. Großmauls Gesicht vor ihm ist nur noch eine rote, fleischige Masse. Der Mann sackt in sich zusammen. Er ist tot, ehe er auf dem Gehweg aufschlägt.

Mein Gott, das war eine echte Kugel. Warum hat ein JuPo scharfe Munition in der Waffe? Das ist gegen das Gesetz!

Er hört Schritte, und der tote JuPo ist immer noch tot, und Starkey weiß, dass die ganze Welt den Schuss gehört hat und alles davon abhängt, was er als Nächstes tut.

Wie bei dem Flüchtling aus Akron! Der Schutzheilige der flüchtigen Wandler sieht ihm über die Schulter, wartet darauf, dass Starkey etwas unternimmt, und er denkt: Was würde Connor tun?

In diesem Moment stürzt ein anderer JuPo um die Ecke – ein Polizist, den er noch nie gesehen hat und nie wiedersehen will. Starkey nimmt Großmauls Waffe und schießt, fügt dem Unfall noch einen Mord hinzu.

Während er flieht, ja, wirklich flieht, kann er nur an den blutigen Geschmack des Sieges denken. Der Geist des Connor Lassiter wäre bestimmt zufrieden.

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Als flüchtiger Wandler hat man sowieso schon eine Menge Probleme am Hals, aber für einen Polizistenmörder wird es richtig gefährlich. Die Jagd auf Starkey läuft auf Hochtouren, und alle Welt scheint hinter ihm her zu sein. Erst verändert Starkey sein Aussehen, indem er sich das lange braune Haar raspelkurz schneidet und rot färbt. Dann rasiert er das Spitzbärtchen ab, das er sich seit der Mittelschule hat wachsen lassen. Falls er jetzt noch jemandem bekannt vorkommt, dann denkt der sicher nicht an das Fahndungsplakat, sondern bestenfalls an eine Frühstücksflockenwerbung. Das rote Haar passt nicht so recht zu Starkeys olivbrauner Haut, aber noch nie in seinem Leben hat ihm das Kuddelmuddel seiner Gene so genützt. Er ist ein menschliches Chamäleon, das als Mitglied jeder Volksgruppe durchgehen könnte. Das rote Haar führt seine Verfolger nur noch weiter in die Irre.

Starkey wechselt immer wieder die Stadt und bleibt nirgends länger als ein oder zwei Tage. Als er hört, dass die Leute im Nordwesten mehr Verständnis für flüchtige Wandler haben als in Südkalifornien, macht er sich auf den Weg dorthin.

Das Leben als Flüchtling ist Starkey nicht fremd, denn äußerste Vorsicht ist ihm schon lange in Fleisch und Blut übergegangen. Vertraue niemandem, nicht einmal deinem eigenen Schatten, und kümmere dich in erster Linie um dich selbst. Seine Freunde haben seine Geradlinigkeit immer geschätzt, weil sie wussten, wo sie bei ihm dran waren. Für seine Freunde hätte er bis aufs Messer gekämpft … solange es in seinem Interesse war.

»Du hast die Seele eines Großkonzerns«, hat seine Mathelehrerin einmal zu ihm gesagt. Das war als Beleidigung gemeint, aber Starkey nahm es als Kompliment. Konzerne haben enorme Macht und können viel bewegen. Seine Lehrerin war eher der Typ, der um schmelzende Gletscher weint. Sie wurde im darauffolgenden Jahr entlassen, denn wer braucht schon Mathelehrer, wenn man sich einfach NeuroWeave kaufen kann? Was nur mal wieder beweist, dass das Umarmen großer Eisbrocken außer einer Erkältung nichts bringt. Heute sind die Gletscherretter allerdings Starkeys Verbündete, denn sie gehören zu denen, die sich der Anti-Umwandlungs-Front anschließen und flüchtige Wandler aufnehmen. Wenn er die AUF erst gefunden hat, ist er in Sicherheit, aber das ist gar nicht so leicht.

»Ich bin jetzt schon seit fast vier Monaten auf der Flucht, aber vom Widerstand habe ich noch nichts gesehen«, sagt ein Junge mit dem Gesicht einer Dogge. Starkey hat ihn kennengelernt, als er am Heiligabend hinter einem Kentucky Fried Chicken darauf gewartet hat, dass das Küchenpersonal die Hühnchenreste wegwirft. Der Junge ist nicht gerade einer, mit dem sich Starkey im richtigen Leben abgeben würde, aber seit aus dem richtigen Leben geborgte Zeit geworden ist, setzt er seine Schwerpunkte anders.

»Ich habe überlebt, weil ich in keine Falle tappe«, erklärt ihm Doggengesicht.

Auch Starkey kennt sich mittlerweile gut mit Fallen aus. Wenn ein Versteck zu perfekt ist, dann ist es wahrscheinlich eine. Ein verlassenes Haus mit einer bequemen Matratze, ein nicht abgeschlossener Lastwagen, der rein zufällig auch noch mit Lebensmitteldosen beladen ist. Das sind die Fallen, die JuPos flüchtigen Wandlern stellen. Manche JuPos geben sich sogar als Angehörige der Anti-Umwandlungs-Front aus.

»Die Polizei zahlt jetzt eine Belohnung, wenn jemand einen Flüchtling verpfeift«, sagt Doggengesicht, als sie sich den Bauch mit Hühnchenfleisch vollschlagen. »Und dann gibt es ja auch noch die anderen Kopfgeldjäger. Teilepiraten nennt man die. Die holen sich nicht die Belohnung ab, sondern verkaufen die Kids auf dem Schwarzmarkt. Und wenn du glaubst, dass es in einem regulären Ernte-Camp schlimm zugeht, willst über die illegalen lieber gar nichts wissen.« Er schluckt einen Bissen hinunter, der so groß ist, dass Starkey ihn durch die Kehle flutschen sieht wie eine Maus, die von einer Schlange verschlungen wird. »Früher gab es keine Teilepiraten«, sagt Doggengesicht, »aber seit man mit siebzehn nicht mehr umgewandelt werden kann, werden die Transplantate knapp, und die Flüchtlinge bringen auf dem Schwarzmarkt einen riesigen Batzen Geld.«

Starkey schüttelt den Kopf. Mit der Absenkung der Altersgrenze für die Umwandlung sollte einem Fünftel der Jugendlichen, die für die Umwandlung vorgesehen waren, das Leben gerettet werden. Stattdessen sahen sich viele Eltern gezwungen, ihre Entscheidung früher zu treffen. Starkey fragt sich, ob seine Eltern es sich vielleicht noch anders überlegt hätten, wenn sie für die Entscheidung ein weiteres Jahr Zeit gehabt hätten.

»Die Teilepiraten sind die Schlimmsten«, erklärt ihm Doggengesicht. »Die Fallen von denen sind nicht halb so nett wie die von den JuPos. Ich hab mal gehört, dass die Fallensteller arbeitslos geworden sind, als man verboten hat, Tierfelle zu verkaufen. Da haben die ihre größten Tierfallen genommen und sie für Wandler umgebaut. Alter, wenn so eine Falle um dein Bein zuschnappt, kannst du dich davon verabschieden.« Zur Veranschaulichung bricht er einen Hühnerknochen entzwei. Starkey schüttelt es unwillkürlich.

»Es gibt noch viel schlimmere Sachen.« Doggengesicht leckt sich das Fett von den schmutzigen Fingern. »Da war zum Beispiel einer, der bei mir in der Nähe gewohnt hat. Seine Eltern waren totale Loser. Drogenabhängig, ständig zugedröhnt, wahrscheinlich wären die auch schon Umwandlungskandidaten gewesen, wenn es das damals gegeben hätte. Jedenfalls, an seinem dreizehnten Geburtstag unterschreiben die seine Umwandlungsverfügung und erzählen ihm davon.«

»Warum das denn?«

»Damit er wegrennt«, erwidert Doggengesicht. »Aber die kannten alle seine Geheimverstecke und haben einem Teilepiraten gesteckt, wo er ihn finden kann. Der hat ihn eingefangen, ihn verkauft und das Geld mit den Eltern geteilt.«

»Scheißkerle!«

Doggengesicht zuckt mit den Schultern und schnippt einen Hühnerknochen weg. »Der Typ war sowieso gestorcht, war dann ja kein großer Verlust, oder?«

Starkey hört auf zu kauen, aber nur für einen Moment. Dann grinst er. Seine Gedanken behält er für sich. »Klar. Kein großer Verlust.«

An diesem Abend nimmt Doggengesicht ihn mit in einen Abwassertunnel, in dem er sich schon länger versteckt, und als der andere einschläft, geht Starkey an die Arbeit: Er klingelt an einer Haustür in der Nähe und rennt davon.

Allerdings hat er vorher noch einen Zettel mit einer handgemalten Karte und folgender Notiz vor die Tür gelegt:

Brauchen Sie Geld? Schicken Sie die JuPos an den Ort mit dem Kreuzchen, dann bekommen Sie eine fette Belohnung. Frohe Weihnachten!

Kurz vor Sonnenaufgang beobachtet Starkey von einem nahe gelegenen Flachdach aus, wie die JuPos den Abwasserkanal stürmen und Doggengesicht herausziehen wie einen Pfropfen Ohrenschmalz.

»Gratuliere, Arschloch«, sagt er. »Du bist soeben gestorcht worden.«

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»Als meine Eltern die Umwandlungsverfügung unterzeichnet haben, hatte ich Angst. Ich wusste ja nicht, was auf mich zukommt. Ich dachte: ›Warum ich? Wofür werde ich bestraft?‹ Aber als ich ins BigSky Ernte-Camp kam, war alles anders. Ich habe andere kennengelernt, die sind wie ich und mich so akzeptieren, wie ich bin. Ich erfuhr, dass jeder einzelne Teil von mir kostbar und wertvoll ist. Den Leuten im BigSky Ernte-Camp habe ich es zu verdanken, dass ich vor der Umwandlung jetzt keine Angst mehr habe.«

Der geteilte Zustand? Wow – was für ein Abenteuer!

Jeder EA klaut. Mit diesem Argument wollen die Behörden die Bevölkerung davon überzeugen, dass Wandler durch und durch verdorben sind, dass sie von Natur aus Gauner sind und dass man sie von ihrer kriminellen Ader nur trennen kann, indem man sie in lauter kleine Teile zerlegt.

Das Klauen wurde Wandlern aber nicht in die Wiege gelegt, sondern ist schlicht eine Notwendigkeit. Jugendliche, die in ihrem Leben noch keinen Cent stibitzt haben, entwickeln plötzlich lange Finger und stehlen alles, was sie zum Leben brauchen, von Lebensmitteln über Kleidung bis hin zu Medikamenten. Bei denen, die sowieso schon einen Hang zum Kriminellen hatten, verstärkt sich diese Tendenz nur noch.

Starkey ist in dieser Hinsicht kein Unschuldslamm, doch seine Delikte waren immer eher rebellischer Natur. Er klaute, wenn ein Verkäufer ihn misstrauisch ansah. Gebäude, die für die Ungerechtigkeit der Welt standen, versah er mit Sprüchen seiner persönlichen Weltanschauung, gespickt mit gepfefferten Schimpfwörtern. Einem Nachbarn, der seine Kinder immer ins Haus schickte, wenn Starkey vorbeikam, klaute er sogar einmal das Auto. Mit ein paar Freunden machte er eine Spritztour und sie hatten einen Riesenspaß. Unterwegs streifte er mehrere parkende Autos und büßte zwei Felgen und eine Stoßstange ein. Die Fahrt war zu Ende, als das Auto über den Randstein bollerte und einen Briefkasten unter sich begrub. Das Ergebnis war ein Totalschaden am Auto. Und Starkey hatte sein Ziel erreicht.

Sie konnten ihm nie etwas beweisen, aber jeder wusste, dass er es war. Er hielt es nicht gerade für eine seiner Glanzleistungen, doch dem Typen, der nicht wollte, dass Starkey dieselbe Luft atmete wie seine Kinder, musste er einfach einen Denkzettel verpassen.

Nun, da er ein Mörder ist, wirken solche Aktionen geradezu lächerlich. Aber nein – Selbstvorwürfe bringen ihn jetzt nicht weiter. Er ist schließlich so etwas wie ein Krieger, ein Soldat im Kampf gegen die Umwandlung. Und Soldaten bekommen Orden dafür, dass sie Feinde töten. Obwohl ihn die Nacht in der Gefängnisgasse in schwachen Momenten noch quält, hält sich sein schlechtes Gewissen in Grenzen. Er hat ja schließlich auch kein schlechtes Gewissen, wenn er Leute von ihrer Brieftasche befreit.

Starkey, der eines Tages gern ein großer Zauberer in Las Vegas sein will, hat oft seine Freunde mit seinen Künsten unterhalten und Erwachsene in Angst und Schrecken versetzt, indem er die Uhr von ihrem Handgelenk verschwinden und in anderer Leute Taschen wieder auftauchen lassen hat. Das ist ein einfacher Trick, an dessen Perfektionierung er aber lange arbeiten musste. Wenn er Brieftaschen und Geldbeutel klaut, folgt er demselben Prinzip, einer Mischung aus Ablenkung, Geschicklichkeit und einem festen Glauben an sich selbst.

An diesem Abend nimmt sich Starkey einen Mann vor, der betrunken aus einer Kneipe stolpert und sich gerade die vollgestopfte Brieftasche in die weite Außentasche seines Mantels steckt. Auf dem Weg zum Auto fummelt der Betrunkene an seinem Schlüssel herum. Starkey spaziert an ihm vorbei und rempelt ihn von der Seite an. Die Schlüssel fallen zu Boden. »Oh, tut mir leid.« Starkey hebt die Schlüssel auf und reicht sie dem Mann. Der spürt gar nicht, dass Starkey ihm im gleichen Moment mit der anderen Hand die Brieftasche aus dem Mantel zieht. Pfeifend schlendert Starkey davon. Der Mann merkt wahrscheinlich erst zu Hause, dass seine Brieftasche nicht mehr da ist, und dann wird er glauben, dass er sie in der Kneipe vergessen hat.

Starkey biegt um eine Straßenecke, damit er außer Sicht ist. In der Sekunde, in der er die Brieftasche öffnet, durchzuckt ihn ein Stromschlag mit solcher Wucht, dass die Beine unter seinem Körper nachgeben und er halb ohnmächtig zu Boden geht. Eine Elektroschock-Brieftasche. Er hat davon gehört, hat bis dahin aber noch nie mit einer zu tun gehabt.

Wenige Sekunden später ist der Betrunkene plötzlich alles andere als betrunken bei ihm, gemeinsam mit drei weiteren Männern, deren Gesichter Starkey nicht sehen kann. Sie heben ihn auf und werfen ihn in einen wartenden Kleinbus.

Als das Auto losfährt, sieht Starkey, der erst halb wieder bei Bewusstsein ist, das Gesicht des plötzlich nüchternen Betrunkenen vor sich, der ihn durch einen wie elektrisch aufgeladenen Nebel anschaut.

»Bist du ein Wandler, ein Ausreißer oder einfach nur Abschaum?«, fragt er.

Starkeys Lippen fühlen sich an wie Gummi. »Abschaum.«

»Toll«, sagt der Nichtbetrunkene. »Das grenzt die Sache schon ein. Wandler oder Ausreißer?«

»Ausreißer«, murmelt Starkey.

»Perfekt«, murmelt der Mann. »Jetzt, wo klar ist, dass du ein Wandler bist, wissen wir wenigstens, was wir mit dir tun werden.«

Starkey stöhnt, und eine Frau, die außerhalb seines eingeschränkten Blickfelds sitzt, lacht. »Du brauchst dich gar nicht zu wundern. Wandler haben diesen besonderen Ausdruck in den Augen, anders als Abschaum oder Ausreißer. Wir wussten auch so schon Bescheid.«

Starkey versucht sich zu bewegen, doch seine Glieder sind zu schwer.

»Lass das«, sagt ein Mädchen, das er ebenfalls nicht sehen kann, weil sie hinter ihm sitzt. »Beweg dich nicht, sonst kriegst du eine Ladung ab, die noch stärker ist als die in der Brieftasche.«

Starkey ist Teilepiraten in die Falle gegangen. Er dachte, er wäre schlauer. Im Stillen verflucht er schon sein Schicksal, als der Scheinbetrunkene sagt: »Das Geheimversteck wird dir gefallen. Gutes Essen, allerdings riecht es da ein bisschen streng.«

»W-was?«

Um ihn herum Gelächter. Es sind vielleicht vier oder fünf Leute in dem Kleinbus, genau kann er das immer noch nicht sehen.

»Ich liebe diesen Gesichtsausdruck«, sagt die Frau. Ihr Gesicht taucht vor ihm auf und sie grinst ihn an. »Weißt du, dass man ausgebrochene Löwen betäubt, damit man sie in Sicherheit bringen kann, ehe sie einem Wilderer vor die Flinte laufen?«, erklärt sie. »Na ja, heute bist du der Löwe.«

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Das Geheimversteck ist ein Abwasserpumpwerk. Vollautomatisch. Städtische Arbeiter tauchen dort nur auf, wenn etwas kaputtgeht.

»An den Gestank gewöhnt man sich«, erklären die anderen Starkey, als sie ihn hineinbringen. Er kann es zuerst kaum glauben, aber es stimmt tatsächlich. Offenbar merkt der Geruchssinn, wenn er gegen einen Gestank nicht ankommt, und arrangiert sich damit. Und wie er schon im Kleinbus erfahren hat, macht das Essen den Gestank wett.

Das Geheimversteck ist eine Brutstätte der Angst. Die Angst der Jugendlichen, die von ihren Eltern aufgegeben worden sind, ist die schlimmste von allen. Jeden Tag kommt es zu Schlägereien und Streitigkeiten, jeden Tag plustert sich jemand auf.

Starkey hat unter Außenseitern und Grenzgängern schon seit jeher eine natürliche Autorität ausgestrahlt, und im Geheimversteck ist das nicht anders. Schnell steigt er im Sozialgefüge auf. Die Nachricht von seiner gewaltsamen Flucht nährt bereits die Gerüchteküche und fördert von Anfang an sein Ansehen.

»Stimmt es, dass du zwei JuPos erschossen hast?«

»Jepp.«

»Hast du dich echt mit einer Maschinenpistole aus dem Gefängnis freigeschossen?«

»Klar, warum nicht?«

Und das Beste ist, dass die gestorchten Kids – die sogar unter Wandlern als Bürger zweiter Klasse gelten – dank ihm nun zur Elite gehören.

Starkey sagt, die Storche bekommen zuerst etwas zu essen? Dann bekommen sie auch zuerst etwas. Starkey sagt, sie dürfen in den besten Betten schlafen, die am weitesten von den stinkenden Entlüftungsschlitzen entfernt sind? Dann dürfen sie in den besten Betten schlafen. Sein Wort ist Gesetz. Sogar die Leute, die das Geheimversteck leiten, wissen, dass sie Starkey zufriedenstellen müssen, denn wenn sie sich ihn zum Feind machen, dann ist jeder Wandler dort ihr Feind.

Starkey richtet sich ein und geht davon aus, dass er bis zu seinem siebzehnten Geburtstag dort bleiben wird. Doch dann werden sie von der AUF mitten in der Nacht abgeholt und weggebracht. Die AUF mischt sie wie ein Kartenspiel und verteilt sie auf andere Geheimverstecke.

»So funktioniert das eben«, erfahren sie. Dieses Verfahren hat, wie Starkey nach und nach herausfindet, zwei Gründe. Zum einen kommen die Jugendlichen ihrem Ziel, wo auch immer das sein soll, auf diese Art immer näher. Zum anderen wird verhindert, dass sich dauerhafte Allianzen bilden. Statt des Einzelnen wird die Gruppe zerteilt, damit keiner aus der Reihe tanzt.

Dieser Plan geht bei Starkey allerdings nach hinten los, denn es gelingt ihm, in jedem Geheimversteck das Ansehen der anderen zu gewinnen und seine Glaubwürdigkeit bei mehr und mehr Jugendlichen aufzubauen.

Überall begegnet er Wandlern, die sich für Alphatiere halten und die Führung übernehmen wollen. In Wahrheit sind sie aber Betatiere und warten nur auf ein Alphatier, das sie unterwirft. Jedes Mal findet Starkey eine Gelegenheit, sie herauszufordern; er besiegt sie und weist ihnen einen Platz weiter unten in der Hierarchie zu. Dann folgt die nächste mitternächtliche Fahrt, wieder werden die Karten neu gemischt, wieder geht es in ein anderes Geheimversteck. Jedes Mal lernt Starkey einen neuen Kniff, perfektioniert seine Fähigkeit, die verängstigten und wütenden Jugendlichen um sich zu sammeln und aufzurütteln. Eine bessere Lehrwerkstatt für Menschenführung als die Geheimverstecke der Anti-Umwandlungs-Front gibt es nicht.

Und dann kommen die Särge.

In das letzte Geheimversteck werden lackierte Holzsärge mit glänzendem Satinfutter geliefert. Die meisten Jugendlichen sind entsetzt, Starkey ist nur amüsiert.

»Rein mit euch!«, fordern die Widerstandskämpfer sie auf, die schwer bewaffnet sind wie ein Sondereinsatzkommando. »Keine Fragen, legt euch einfach rein. Zwei in eine Kiste!«

Einige zögern, aber die schlaueren Wandler suchen sich schnell einen Partner, als wäre plötzlich Tanzen angesagt. Wer will schon in einen Sarg mit jemandem, der dick, ungewaschen oder aufdringlich ist. Trotzdem warten sie noch ab, bis Starkey mit einem Nicken sein Einverständnis gibt.

»Wenn die uns begraben wollten«, erklärt er ihnen, »hätten sie es schon lange getan.« Er hat mehr Einfluss auf die Jugendlichen als die bewaffneten Widerständler.

Als Partnerin für die Transportkiste sucht er sich ein Irrlicht von einem Mädchen aus, dem richtiggehend schwindelig wird, als er sie erwählt. Dabei mag er sie gar nicht besonders. Aber sie ist so zierlich, dass sie kaum Platz braucht. Nachdem sie sich Brust an Rücken in den Sarg gelegt haben, gibt man ihnen noch eine Sauerstoff-Flasche. Dann werden sie in der dunklen Kiste eingeschlossen.

»Ich habe dich immer gemocht, Mason«, sagt das Mädchen, dessen Name ihm nicht mehr einfällt. Er ist überrascht, dass sie seinen Vornamen kennt, da er ihn nie verwendet. »Von allen Jungs in den Geheimverstecken bist du der einzige, der mir ein Gefühl der Sicherheit gibt.«

Er antwortet nicht, sondern drückt ihr nur einen Kuss auf den Hinterkopf, um das Bild vom sicheren Hafen im Sturm zu festigen. Es ist ein tolles Gefühl zu wissen, dass sich andere bei ihm geborgen fühlen.

»Wir … könnten … du weißt schon …«, schlägt sie schüchtern vor.

Er ruft ihr die klaren Anweisungen der AUF-Leute in Erinnerung.

»Keine außerplanmäßigen Aktivitäten«, hatte es geheißen, »sonst verbraucht ihr zu viel Sauerstoff und erstickt.« Starkey weiß nicht, ob das stimmt, aber es ist ein gutes Argument. Auch wenn sie dumm genug wären, ihr Schicksal herauszufordern, wäre sowieso nicht genügend Platz, sich zu bewegen. Starkey fragt sich, ob die Erwachsenen es vielleicht spaßig finden, hormongesteuerte Teenager auf engstem Raum zusammenzupferchen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass sie nicht mehr tun können als atmen.

»Mir würde es nichts ausmachen zu ersticken, wenn ich nur mit dir zusammen wäre«, sagt das Mädchen. Das ist schmeichelhaft, macht sie aber nur noch uninteressanter für ihn.

»Es gibt bessere Gelegenheiten«, erklärt er ihr in dem Wissen, dass die nie kommen werden – zumindest nicht für sie. Doch kaum etwas hält die Menschen besser bei Laune als die Hoffnung.

Schließlich finden sie in so etwas wie einen symbiotischen Atemrhythmus. Er atmet ein, wenn sie ausatmet, damit sie sich mit dem Brustkorb nicht gegenseitig den Platz wegnehmen.

Nach einer Weile spüren sie eine Erschütterung. Starkey, der einen Arm um das Mädchen gelegt hat, hält sie etwas fester, denn wenn er ihr die Angst nimmt, lindert das auch seine. Bald folgt eine Beschleunigung wie in einem Rennauto, doch dann ändert sich die Position ihrer Kiste, sodass sie mit den Füßen leicht zum Sargende rutschen.

»Flugzeug?«, fragt das Mädchen.

»Glaube schon.«

»Und was jetzt?«

Er antwortet nicht, weil er es auch nicht weiß. Als Starkey schon schwindelig wird, fällt ihm die Sauerstoff-Flasche ein. Er öffnet das Ventil, bis ein leises Zischen zu hören ist. Der Sarg ist nicht luftdicht abgeschlossen, aber fest genug verriegelt, dass sie ohne diese Sauerstoffzufuhr ersticken würden, auch in der Druckkabine eines Flugzeugs. Nach wenigen Minuten schläft das Mädchen vor Aufregung und Erschöpfung ein. Nicht so Starkey. Erst eine Stunde später weckt die Erschütterung der Landung das Mädchen auf.

»Wo sind wir?«, fragt sie.

Starkey ist durch die beengten Verhältnisse gereizt, will es sich aber nicht anmerken lassen. »Werden wir sicher bald erfahren.«

Zwanzig Minuten spannt man sie noch auf die Folter, doch dann wird der Deckel entriegelt und geöffnet, und die beiden erstehen von den Toten auf.

Ein Jugendlicher mit Zahnspange beugt sich über sie und lächelt sie an.

»Hallo, ich bin Hayden, und ich bin heute euer persönlicher Retter«, sagt er fröhlich. »Na so was! Kein Erbrochenes, keine sonstigen unerfreulichen Körperflüssigkeiten. Ihr seid echte Glückspilze!«

Starkey, dem die Füße eingeschlafen sind, ordnet sich in die Reihe derer ein, die aus dem Frachtraum des Flugzeugs ins blendende Tageslicht taumeln. Als sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt haben, kommt ihm der Anblick wie eine Fata Morgana vor: eine Wüste, in der in Reih und Glied Tausende von Flugzeugen stehen.

Starkey hat schon von solchen Flugzeugfriedhöfen gehört, auf denen ausgemusterte Maschinen abgestellt werden. Rund um die Flugzeuge sieht er bewaffnete Jugendliche in Militärkleidung. Sie sehen ähnlich aus wie die Erwachsenen im letzten Geheimversteck, nur jünger. Und sie fordern die Neuankömmlinge auf, sich in loser Formation am Fuß der Rampe aufzustellen. Ein Jeep nähert sich ihrem Flugzeug. Offenbar kommt da jemand Wichtiges, jemand, der ihnen sagen wird, warum sie hier sind.

Als der Jeep zum Stehen kommt, steigt ein recht durchschnittlich aussehender Teenager in blauer Militärkleidung aus. Er ist in Starkeys Alter, vielleicht ein bisschen älter, und über die rechte Gesichtshälfte ziehen sich mehrere Narben.

Bei seinem Anblick geht ein Raunen durch die Menge. Als der Junge die Hand hebt, um für Ruhe zu sorgen, fällt Starkey eine Hai-Tätowierung auf dem Unterarm auf.

»Das gibt’s doch nicht!«, sagt ein dicker Junge neben Starkey. »Weißt du, wer das ist? Das ist der Flüchtling aus Akron! Das ist Connor Lassiter.«

»Mach dich nicht lächerlich«, spottet Starkey. »Der Flüchtling aus Akron ist tot.«

»Ist er nicht! Er ist hier!«

Allein bei der Vorstellung durchfährt Starkey ein Adrenalinschub, der seinen erlahmten Blutkreislauf wieder in Gang bringt. Nein – als er sich den Typen, der Ordnung in das Chaos zu bringen versucht, genauer ansieht, hält er es für ausgeschlossen, dass das Connor Lassiter ist. Der passt überhaupt nicht ins Bild. Sein Haar ist nicht etwa cool zurückgegelt, wie Starkey es sich immer vorgestellt hat, sondern zerzaust. Er sieht zu offen und zu ehrlich aus – vielleicht nicht unschuldig, aber jedenfalls bei Weitem nicht so abgebrüht und zornig, wie es der Flüchtling aus Akron sein müsste. Das Einzige, das sich auch nur annähernd mit Starkeys Bild von Connor Lassiter in Einklang bringen lässt, ist das schiefe Grinsen auf seinem Gesicht. Nein, der Kerl, der sich da vorne um ihren Respekt bemüht, ist niemand Besonderes. Überhaupt niemand.

»Ich heiße euch auf dem Friedhof willkommen«, beginnt der Typ seine Rede, die er haargenau so bestimmt vor allen Neuankömmlingen hält. »Mein offizieller Name lautet Elvis Robert Mullard … aber meine Freunde nennen mich Connor.«

Jubelrufe von den Wandlern.

»Hab’s doch gesagt!«, triumphiert der dicke Junge.

»Das beweist gar nichts.« Starkey reckt das Kinn vor und beißt die Zähne zusammen.

»Ihr seid hier, weil ihr für die Umwandlung vorgesehen seid, aber fliehen konntet. Dank des Einsatzes vieler Menschen aus der Anti-Umwandlungs-Front habt ihr es hierher geschafft. Ihr werdet hier ein Zuhause finden, bis ihr siebzehn seid und nicht mehr umgewandelt werden könnt. So weit die gute Nachricht …«

Mit jedem Wort sinkt Starkeys Mut. Es lässt sich nicht mehr leugnen. Das ist tatsächlich der Flüchtling aus Akron – und er ist alles andere als ein Held.

»Die schlechte Nachricht ist, dass die Jugendbehörde über uns Bescheid weiß. Sie wissen, wo wir sind und was wir hier machen – aber bisher haben sie uns in Ruhe gelassen.«

Starkey kann es nicht fassen. Das kann doch nicht sein, dass das große Vorbild aller flüchtigen Wandler bloß ein stinknormaler Teenager ist!

»Einige von euch wollen nur überleben, bis sie siebzehn sind«, sagt Connor. »Aber ich weiß, dass viele von euch alles riskieren würden, um der Umwandlung ein für alle Mal ein Ende zu setzen.«

»Genau!«, ruft Starkey so laut, dass alle Blicke von Connor zu ihm wandern. Er stößt rhythmisch die Faust in die Luft und skandiert: »Hap-py Jack! Hap-py Jack! Hap-py Jack!« Die Menge fällt in seine Rufe ein. »Wir sprengen alle Ernte-Camps in die Luft!«, ruft Starkey. Doch obwohl er die Menge aufgestachelt hat, reicht ein kalter Blick von Connor, um die Jugendlichen zum Schweigen zu bringen.

»So einen gibt es in jeder Gruppe«, sagt Hayden kopfschüttelnd.

»Tut mir leid, wenn ich euch enttäuschen muss, aber wir sprengen keine Schlachthäuser in die Luft.« Connor sieht Starkey in die Augen. »Wir gelten jetzt schon als gewalttätig, und die JuPos nutzen die Angst der Bevölkerung, um die Umwandlung zu rechtfertigen. Das wollen wir nicht auch noch unterstützen. Wir sind keine Klatscher. Wir begehen keine willkürlichen Gewaltakte. Wir denken, ehe wir handeln …«

Bei Starkey kommt dieser Rüffel nicht gut an. Was bildet sich der Typ ein, ihm so über den Mund zu fahren? Connor redet weiter, aber Starkey hört ihm gar nicht mehr zu. Die anderen hängen an Connors Lippen und das regt Starkey erst recht auf.

Während er dasteht und darauf wartet, dass der sogenannte Flüchtling aus Akron endlich den Mund hält, keimt in Starkeys Kopf ein Gedanke auf. Er hat zwei JuPos getötet. Er ist schon jetzt eine Legende und anders als Connor musste er dafür nicht seinen Tod vortäuschen. Ein Lächeln huscht über Starkeys Gesicht. Auf diesem Flugzeugfriedhof leben Hunderte von Wandlern, aber im Grunde unterscheidet ihn nichts von den Geheimverstecken. Wie dort wartet auch hier ein Betawolf darauf, vom Alphatier Starkey auf seinen Platz verwiesen zu werden.

2.Miracolina

Seit sie zurückdenken kann, weiß sie, dass ihr Körper Gott geweiht ist.

Ihr war stets bewusst, dass sie an ihrem dreizehnten Geburtstag geopfert werden und dieses wunderbare Mysterium eines geteilten Körpers und einer vernetzten Seele erfahren würde. Nicht vernetzt wie Computer, denn dass menschliche Seelen mit künstlichen Systemen kombiniert werden, gibt es nur im Kino, und da nimmt es nie ein gutes Ende. Nein, hier geht es um eine echte Vernetzung in lebendigen Körpern. Ihr Geist wird sich über Dutzende von Menschen erstrecken, die mit ihrem geteilten Körper in Berührung kommen. Viele sagen, man sei dann tot, aber sie glaubt, dass es anders ist, mystisch. Daran glaubt sie tief und fest, mit ihrer ganzen Seele.

»Wahrscheinlich kann man den geteilten Zustand erst beurteilen, wenn man ihn erfahren hat«, hat ihr der Priester einmal erklärt. Sie fand es merkwürdig, dass er, der das kirchliche Dogma immer so entschieden vertrat, ausgerechnet dann seine Unsicherheit zugab, wenn sie über den Zehntopfergang sprachen. »Der Vatikan hat sich zur Umwandlung noch nicht positioniert«, lautete seine Erklärung, »und solange er sie weder billigt noch missbilligt, kann ich so unsicher sein, wie es mir beliebt.«

Ihr stellten sich immer die Haare auf, wenn er von der »Umwandlung« sprach statt vom »Zehntopfer«, als wäre es dasselbe. Ist es aber nicht. Sie vertritt die Ansicht, dass die Ungewollten und Verfluchten umgewandelt, die Gesegneten und Geliebten dagegen geopfert werden. Der Vorgang mag derselbe sein, doch die Absicht ist eine andere, und genau das ist der große Unterschied.

Ihr Name lautet Miracolina, abgeleitet vom italienischen Wort miracolo, »Wunder«. Sie trägt diesen Namen, weil sie gezeugt wurde, um das Leben ihres Bruders zu retten. Bei ihrem Bruder Matteo wurde im Alter von zehn Jahren Leukämie diagnostiziert. Die Familie war eigens wegen seiner Behandlung von Rom nach Chicago gezogen, aber nicht einmal in den Erntebanken dieses großen Landes ließ sich geeignetes Knochenmark für seine seltene Blutgruppe finden. Der einzige Weg, ihn zu retten, war deshalb, das Knochenmark zu erschaffen – und genau das taten seine Eltern. Neun Monate später wurde Miracolina geboren, die Ärzte entnahmen ihr Knochenmark aus der Hüfte und implantierten es Matteo. Ihr Bruder war gerettet. So einfach war das. Heute ist er vierundzwanzig und studiert, alles dank Miracolina.

Bereits bevor sie begriff, was es heißt, ein Zehntopfer zu sein, wusste sie, dass sie zehn Prozent eines größeren Ganzen ist. »Wir hatten zehn Embryos im Reagenzglas«, hat ihre Mutter ihr einmal erklärt. »Nur einer passte für Matteo, und das warst du. Du warst kein Zufall, mi carina. Wir haben dich ausgewählt.«

Was mit den anderen neun Embryos zu geschehen hatte, legte das Gesetz genau fest. Miracolinas Familie musste neun Frauen bezahlen, die sie austrugen. Danach konnten die Leihmütter mit den Babys machen, was sie wollten – sie aufziehen oder sie an der Haustür einer guten Ersatzfamilie storchen. »Aber egal, was es gekostet hat, es war die Sache wert«, beteuerten ihre Eltern, »sowohl für Matteo als auch für dich.«

Nun, da ihr Zehntopfergang näher rückt, tröstet Miracolina der Gedanke, dass es irgendwo neun Geschwister von ihr gibt. Wer weiß? Vielleicht wird ein Teil von ihr einem davon helfen.

Dass sie geopfert wird, hat allerdings nichts damit zu tun, dass sie der zehnte Embryo war.

»Wir haben einen Vertrag mit Gott gemacht«, haben ihr die Eltern erzählt, als sie noch klein war. »Wenn Matteo mit deiner Hilfe gerettet würde, wollten wir Gott unsere Dankbarkeit zeigen, indem wir ihm dich als Zehntopfer schenken.« Miracolina begriff schon als kleines Kind, dass solch ein Vertrag nicht so leicht gebrochen werden kann.

In letzter Zeit aber verunsichert der Gedanke an den Zehntopfergang ihre Eltern zunehmend. »Vergib uns«, flehen sie Miracolina an, häufig unter Tränen. »Bitte vergib uns, dass wir das getan haben.« Natürlich würde sie ihnen alles verzeihen, aber ihre Bitte verwirrt sie. Miracolina hat es stets als Segen empfunden, als Zehntopfer ihr Schicksal und ihre unverrückbare Bestimmung zu kennen. Warum sollte es ihren Eltern leidtun, dass sie ihr zu dieser Bestimmung verholfen haben?

Vielleicht haben sie ein schlechtes Gewissen, weil sie keine große Feier für Miracolina ausgerichtet haben, doch das hat sie ja selber so entschieden. »Erstens«, hat sie gesagt, »ist der Zehntopfergang eine feierliche Angelegenheit, keine ausgelassene Party. Und zweitens, wer sollte denn überhaupt kommen?«

Gegen dieses Argument waren ihre Eltern machtlos. Während die meisten Zehntopfer in reichen Familien leben und Glaubensrichtungen angehören, die Zehntopfer einfordern, wohnt ihre Familie in einem Arbeiterviertel, in dem Zehntopfer nicht gerade üblich sind. Wer in einer reichen Familie groß wird, die sich mit Gleichgesinnten umgibt, hat zum Zehntopferfest viele wohlwollende Gäste – so viele, dass diejenigen, denen nicht wohl bei der Sache ist, gar nicht weiter auffallen. Wenn Miracolina dagegen ein Fest gäbe, würden sich die meisten Gäste unwohl fühlen. Deshalb will sie ihren letzten Abend zu Hause mit ihrer Familie verbringen.

Statt zu feiern, sitzt Miracolina zwischen ihren Eltern vor dem Kamin und sieht sich mit ihnen ihre Lieblingsszenen aus ihren Lieblingsfilmen an. Ihre Mom kocht ihr Lieblingsessen, Rigatoni all’amatriciana. »Stark und feurig«, sagt ihre Mom, »genau wie du.«

Sie schläft rasch ein an diesem Abend und hat auch keine schlimmen Träume, zumindest kann sie sich später an keine erinnern. Am Morgen steht sie zeitig auf, zieht sich ihre einfachen weißen Kleider an und macht sich fertig für die Schule. »Ich werde ja erst um vier Uhr nachmittags abgeholt. Warum sollte ich den Tag vergeuden?«

Obwohl es ihren Eltern lieber wäre, wenn sie bei ihnen zu Hause bliebe, ist ihr Wunsch ihnen an diesem Tag Befehl.

In der Schule sitzt Miracolina den Unterricht ab. Sie spürt schon eine merkwürdige Distanz zu ihrer Umgebung. Am Ende jeder Stunde gibt der jeweilige Lehrer ihr betreten ihre schriftlichen Arbeiten zurück und teilt ihr die vorzeitig berechnete Note mit.

»Tja, das war’s dann wohl«, sagen sie alle auf ihre eigene Art und Weise. Die meisten können es gar nicht erwarten, dass sie endlich aus ihrem Klassenzimmer verschwindet. Ihr Chemielehrer ist am freundlichsten. Er nimmt sich Zeit für sie.