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Rolf Bläsing

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Beschreibung

Ehekrise, Klimakrise, Identitätskrise – für Arno, Mitte 40, geht es so nicht weiter. Immer hat er ja gesagt, zu Silke, zum Haus, zu den Kindern, sogar zur Familienkutsche. Einmal muss er etwas anders machen als die anderen. Er beschließt, ein Jahr lang in kein Auto zu steigen – obwohl er in einem Landstrich lebt, in dem der eigene Wagen so lebensnotwendig ist wie der Colt im Wilden Westen. Das gibt Ärger. Mit Silke, mit der Familie, den Kollegen. Nur nicht mit Annette, Grünen-Politikerin und Arnos Jugendliebe... „Bläsings Geschichten strotzen vor trockenem Humor. Witzige Dialoge, kuriose Szenen – nach ‚Der Halbmarathon-Mann’ kommt auch ‚Vollkasko’ ausgesprochen kurzweilig daher.“ HNA.

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Rolf Bläsing

Vollkasko

Roman

Impressum

ISBN 978-3-8412-0310-6

Aufbau Digital,veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, April 2012© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, BerlinDie Originalausgabe erschien 2011 bei Aufbau Taschenbuch;Aufbau Taschenbuch ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung capa, Anke Feselunter Verwendung eines Motivs von Carla Brno/bobsairport

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,KN digital - die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

www.aufbau-verlag.de

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Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

Impressum

Inhaltsübersicht

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 1

Arno Eggenthal dachte nach. Das war nichts Besonderes, denn Arno Eggenthal verbrachte viel Zeit mit Nachdenken über das, was einem im Leben so passieren konnte, über Krankheiten zum Beispiel, die man bekommen konnte, oder über mögliche Lottogewinne oder Beziehungsprobleme; alles Dinge also, die das Leben veränderten und in seinem Falle doch eher theoretischer Natur waren, denn er war bisher nie ernstlich krank gewesen und er spielte auch kein Lotto, und ein echtes eigenes Beziehungsproblem, wie es bei Bekannten ständig vorkam, das war ihm bisher fremd erschienen, fast unangemessen und auch ein bisschen anstrengend. Meinungsverschiedenheiten, wenn man das so nennen wollte, hatte es in letzter Zeit allerdings auch zwischen ihm und Silke, seiner Frau, häufiger gegeben. Wie vor einigen Minuten.

Sie hatten ihn in der Küche stehenlassen, Silke, die seinen Ausführungen nicht weiter zuhören wollte, und Luca, sein sechzehnjähriger Sohn, der ihm schon seit etwa einem Jahr nicht mehr zugehört hatte, und so war Arno die Treppe hinauf ins obere Stockwerk gegangen, in sein Arbeitszimmer, wo er jetzt am Fenster stand und hinausschaute.

Es war Freitagabend, die Nachbarn kamen von der Arbeit nach Hause, stellten ihre Wagen ab, und die Straße füllte sich. Zu manch einem Haus gehörten vier Autos, denn das Dorf hatte keine Verkehrsanbindung, es gab fast ein Parkplatzproblem hier am Ortsrand, in der Siedlung, wie sie es weiter unten im Dorf nannten.

Eggenthal musste diesmal aus einem ganz persönlichen Grund nachdenken, es ging um etwas, das ihn direkt betraf. Er hatte vorhin in der Küche durch einen einzigen Satz seine Lage verändert, es war dramatischer verlaufen, als er es geplant hatte, und es ging darum, ob er sich jetzt im Recht fühlen und trotzig sein durfte und, der erhofften Unterstützung seiner Frau beraubt, unbeirrbar sein Ziel weiterverfolgen konnte. Oder ob er, wie Silke es beim Verlassen der Küche formuliert hatte, sie tatsächlich nicht mehr alle hatte.

Die Ursachen für den Disput lagen Monate zurück. Es hatte im Sommer des vergangenen Jahres begonnen. Ein brandheißer, staubig trockener Juli war nach einem Kälteeinbruch von einem verregneten August abgelöst worden, Eggenthal wurde im Urlaub mit Wasser nur so zugeschüttet, und dieser Umstand gab ihm zwangsläufig viel Zeit zum Nachdenken und schärfte seine Sinne für die weitere Entwicklung.

Ihm fiel damals auf, dass der Sommer erst im Herbst fortgesetzt wurde, um dann allerdings bis Ende Oktober anzuhalten. Der November und auch der Dezember brachten Temperaturen, die an den Frühling erinnerten. Dann kam der Winter, gleich drei Mal. Das erste Mal vom 26. bis 27. Januar, und zwar mit Minustemperaturen! Das zweite Mal mit Schnee am 7. Februar von 7 bis 12 Uhr und dann noch mal, völlig unverhofft, am 8. Februar von 14 bis 17 Uhr.

Es schien, als wären die Jahreszeiten, so wie er sie bisher kannte, verschwunden, und zwar so plötzlich, als hätte jemand mit dem Finger geschnippt oder als hätte es einfach nur »Peng!« gemacht. Nachdem sie früher schon hin und wieder unzuverlässig gewesen waren, was sich durch das falsche Wetter zum falschen Zeitpunkt geäußert hatte und als zufälliges und immer wieder mal auftretendes Phänomen erklärt worden war, waren sie nun ganz weg, hatten sich abgemeldet und aufgelöst, so jedenfalls empfand es Eggenthal.

Und dann kam, Anfang Februar, auch noch die offizielle Bestätigung, der große Klimakatastrophenaufschrei, und alles, was die Zeitungen seit über zehn Jahren in kleinen Überschriften auf Seite siebenundzwanzig gedruckt hatten, brachten sie plötzlich auf Seite eins in Großbuchstaben. Die Reaktionen waren eher putzig und zeigten, dass noch nicht alle bereit waren für die neue Erkenntnis: Im Radio stellte der Nachrichtensprecher fest, dass das Unglück nicht aufzuhalten und die Lage ernst sei. Eine Minute später sagte eine Moderatorin des gleichen Senders: »… und wir freuen uns auf einen phantastischen Tag mit Sonne und Temperaturen bis siebzehn Grad!« Siebzehn Grad plus wohlgemerkt, im Februar.

Eine Woche später hieß es im Nachrichtenteil seiner Tageszeitung, dass die Klimaveränderung nur noch durch sofortiges Handeln gemildert werden könne. Am nächsten Tag brachte die gleiche Zeitung auf der Autoseite einen Bericht mit der Überschrift: »Faszinierender neuer Audi R8. Alles richtig gemacht!« Die technischen Daten: 420 PS, 301 km/h Spitze. Verbrauch: 20 Liter.

Die Tourismusbranche ließ ganz sachlich verlautbaren, dass der Klimawechsel eine Veränderung der Reisegewohnheiten mit sich bringen werde, auf die man sich einzustellen habe, und ein Kollege von Eggenthal sagte mit einem Blick aus dem Fenster: »Ohne die Klimaveränderung würden die Blumen jetzt nicht so schön blühen.« Na ja. Er war erst dreiunddreißig.

Eggenthal hatte die Thematik bisher nie wirklich an sich herangelassen, doch das mit den Jahreszeiten beunruhigte ihn schon ein wenig. An denen hing er nämlich, wie ihm jetzt auffiel, ziemlich stark. Sie gehörten zu seiner Ordnung. Er konnte sich noch daran erinnern, wie die Menschen auf dem Dorf früher, als er fünf oder sechs gewesen war, nach ihrem Rhythmus gelebt hatten. Der blühende Garten im Frühling, das Wachstum auf den Feldern, die Tiere, die aus den Ställen auf die Weiden kamen. Getreideernte und Heumachen im Sommer, im Herbst Rüben und Kartoffeln, die neue Aussaat, der laubbedeckte Garten mit leeren Beeten und dunklen, schweren Farben. Schließlich wurden die Feldmaschinen gereinigt, der Lauf der Dinge verlangsamte sich, es ging auf Weihnachten, und die Weihnachtszeit begann tatsächlich erst Anfang Dezember und nicht schon im Oktober mit dem üblichen Kitsch in den Geschäften.

Er dachte an die schönen Momente, die er als Erwachsener mit den Jahreszeiten gehabt hatte. Früher zum Beispiel, so bis er Ende zwanzig war, kam er an den Wochenenden öfter betrunken heim, nachts natürlich. Manchmal war dann November, und er stand noch ein bisschen vorm Haus und schaute nach oben zum Himmel. Der Nieselregen störte ihn in seinem Zustand nicht, der Wind war stark und angenehm und jagte hell- und dunkelgraue Wolkenfetzen vor sich her, die hin und wieder den Mond durchblicken ließen. Das Gleiche funktionierte in den Winternächten, wenn Schneetreiben das Licht der Straßenlaternen dämpfte, und im Frühjahr, wenn die Vögel bereits anfingen zu lärmen und die Katzen der Nachbarin um ihn herumstrichen, und im Sommer, wenn er in lauen Nächten das ferne Quaken der Frösche hören konnte.

Solche Eindrücke hatte er natürlich nicht nur nachts und betrunken, sondern auch am Tag und nüchtern. An dem Land, in dem er wohnte, liebte er vor vielem anderen die Jahreszeiten, sie waren immer da gewesen, verlässlich und beständig. Er wollte sie behalten. Wenn der Winter hart war, hatte man sich das Frühjahr verdient, dann machte es umso mehr Spaß. Nicht aber, wenn sich ab November das Wetter auf eine mittlere Einheitstemperatur von zehn Grad plus einpendelte und zwischendurch alle paar Wochen ein idiotischer Wind stundenlang zwischen den Häusern rumjaulte. Das war kein Zustand. Das war eine Katastrophe.

Allerdings war er sich nicht sicher, ob von solchen Sentimentalitäten ein hinreichender Anspruch auf den Erhalt der Jahreszeiten abzuleiten war. Als er seine Gedankengänge eines Abends Silke unterbreitete, hatte er nicht das Gefühl, dass sie es für sinnvoll hielt, ihnen zu folgen. Offensichtlich stand seine Argumentation auf tönernen Füßen. Was er brauchte, war eine Legimitation, etwas Handfestes, vielleicht auch etwas Radikales. Möglicherweise musste er sogar selbst etwas tun und ein Zeichen setzen.

Dieser Eindruck verstärkte sich, als er am Samstagvormittag eine Zeitungsmeldung über eine kleine verkehrspolitische Revolution im etwa einhundertfünfzig Kilometer entfernten Gantenheim las: »Grüne unter Führung von Annette Felber setzen Umgehungsstraße durch.« Da war sie, auf dem Foto, mit vier anderen Abgeordneten, etwas kleiner als die Leute um sie herum, aber sie zog den Blick auf sich, und ihr Lächeln war offen und nicht so verkniffen wie das der anderen.

Annette. Sie tauchte immer mal wieder in seinen Gedanken auf, er wusste nicht, ob ein System dahintersteckte, aber vielleicht waren es ja genau solche Situationen wie jetzt, in denen er sich an sie erinnern sollte. Auf Verdacht googelte er ihren Namen und wurde fündig: »Annette Felber für die Grünen im Stadtparlament von Gantenheim«, las er. Annette war sich also treu geblieben, die ganze Zeit. Und sie lebte immer noch in der Nähe von Frankfurt. Es war ein paar Jahre her seit ihrem letzten Treffen. Sie war eine Klassenkameradin, das heißt eigentlich war es etwas mehr, was sie verbunden hatte. Damals.

Eggenthal dachte wieder an sein Jahreszeitenproblem. Er beschloss, erst einmal die weitere Entwicklung der Lage zu beobachten. Es gab im Frühjahr erste Kalkulationen darüber, wie viel die Rettung der Welt kosten würde, man veranschlagte so etwa fünfhundert Milliarden, Eggenthal las es und fragte sich unwillkürlich, wo man denn seinen Anteil einzahlen könne, es wäre ja schließlich ganz praktisch, wenn jeder seinen Beitrag leisten würde, und das Problem wäre behoben.

Er war fast erstaunt, als ihm bewusst wurde, dass er sogar bereit wäre, das Haus dafür zu verkaufen, wenn damit die Sache aus der Welt zu schaffen sei. Aber es war eben nur eine Theorie. Als er solche und ähnliche Gedankengänge eines Abends Silke unterbreitete, hatte er nicht das Gefühl, dass sie es für sinnvoll hielt, ihnen zu folgen.

Ein Lösungsansatz musste her, und in diesem Zusammenhang drängte sich ihm ein verwegener Gedanke auf. Es hatte etwas mit dem Ka zu tun. Eggenthal hatte sich den Ka vor zehn Jahren als Zweitwagen angeschafft, neben dem Kombi, weil er ihn für die billigste noch menschenwürdige Lösung hielt, zur Arbeit zu kommen. Es war übrigens mutig von ihm, im Ka zu fahren, fand er, und zwar nicht wegen des mangelnden Unfallschutzes oder des geringen Platzangebots, sondern weil er ein Mann war. In den zehntausend Ford Ka, die ihm in den letzten Jahren begegnet waren oder die er überholt hatte, saßen immer Frauen. Wenn jemals ein Mann am Steuer eines solchen Wagens gesessen hatte, dann nur Eggenthal. Es machte sonst keiner.

Jetzt ging es um den Erhalt der Jahreszeiten, Eggenthal wollte das Recht haben, ihn einzufordern, bei Politikern oder wem auch immer, und der Ka sollte seine Legitimation dafür werden. Eggenthal fühlte sich bereit, ihn zu opfern.

Neue Argumente dafür lieferte ihm der April. Die Hochdruckgebiete »Peggy«, »Renate« und »Silvia« bestimmten das Wetter, unterdrückten Schnee- und Graupelschauer, ließen Wind und Wolken keine Chance, und dreißig Tage lang fiel kein Tropfen Regen. Eines Abends versuchte er erneut, ein Gespräch mit Silke über die Jahreszeiten zu führen und wie sehr es ihn beschäftigte, dass sie sich immer weniger voneinander unterschieden. Aber er kam nicht richtig durch zu ihr, sie hatte einen stressigen Tag in der Bank verbracht, einige Mitarbeiter hatten sich über die Überlastung beschwert, meinten, die Arbeit sei ungleich verteilt; Probleme, die sie in den nächsten Tagen lösen musste.

»Es ist Mai«, sagte sie nur. »Und es ist Mistwetter. ›Mai kühl und nass, füllt dem Bauern Scheun und Fass.‹ Das ist ein uraltes Sprichwort, seit hundert Jahren bewährt, und so ist das Wetter. Genau richtig also, eher beruhigend. Seit wann beschäftigst du dich mit Meteorologie?«

Seit einem halben Jahr, hätte er antworten können, aber das hätte seine Argumentationsbasis nicht gestärkt. Er sah seine Situation jetzt klar: Es ging ihm nicht gut, und die Gründe dafür wurden nicht verstanden. Normalerweise hätte er es damit gut sein lassen. Aber nicht diesmal. Eggenthal spürte, dass er an einem Punkt angelangt war, der eine klare Haltung erforderte. Er würde eine Entscheidung fällen müssen, wie es aussah, allein, denn zu entscheiden gab es etwas. Zu stark und zu dauerhaft hatte sich Unruhe in ihm breitgemacht, das Gefühl, dass sich etwas ändern müsse, und dieses Gefühl wollte er loswerden.

Doch es dauerte an. Der Sommer ging nass und zu kalt dahin, im Urlaub waren sie nach Griechenland in die Hitze geflüchtet (Silke war dieses Jahr mit der Festlegung des Urlaubsziels dran gewesen), und dann kamen der September und das Gespräch mit seinem Mechaniker, der den Ka auf der Hebebühne hatte.

»Der Motor ist noch okay, aber die Querlenker, die Stoßdämpfer und der Auspuff sind so gut wie hinüber. Die Reifen haben gerade noch die Mindestprofiltiefe, die Türschlösser und die Wischblätter müssten erneuert werden, und der Rost frisst sich langsam durch. Also wenn Sie den weiterfahren wollen, müssen Sie demnächst mal ’n bisschen was investieren.«

»Ich überleg’s mir«, sagte Eggenthal, doch weil er jahreszeitenbedingt im Moment nicht so tickte wie ein normaler Mensch, nahm er die Nachricht geradezu mit Genugtuung auf. Das war ein Wink des Schicksals, genau die Hilfe, die er gebraucht hatte. Der Ka war so gut wie Schrott, musste abgeschafft werden, und nicht nur das – er würde noch weiter gehen. Auf der Heimfahrt hatte er noch mal nachgedacht, er befasste sich ja seit Monaten damit, und heute, an diesem Montag, dem 17. September, vor einer halben Stunde, hatte er verkündet, was den Disput mit Silke ausgelöst hatte: dass er plante, ein Jahr lang kein Auto mehr zu fahren.

»Wie stellst du dir das vor?«, fragte Silke, als er ihr seine Idee vortrug. »Hast du dir mal die Folgen überlegt? Ich hol dich dann jedenfalls nicht ab, wenn du Überstunden machst und bis acht bei der Arbeit hängst.«

»Geht ja auch gar nicht«, sagte er.

»Warum?«, fragte sie.

»Weil ich nicht nur selbst nicht fahre, sondern auch ein Jahr lang in kein Auto einsteige.« Wie gesagt, sein Einfall war radikal.

Sie tippte sich an die Stirn. »Und wie willst du zur Arbeit kommen?«

»Zug.«

»Aha. Und wie zum Zug?«

»Fahrrad.«

»Und wie vom Bahnhof zur Bibliothek?«

»Bus.«

»Ich lach mich schlapp. Du weißt doch nicht mal, ob man beim Bus vorn oder hinten einsteigen muss. Ich kenn dich doch. Und eins sag ich dir gleich: Wenn ich Luca dann ein Jahr lang allein zu allen Terminen fahren soll, dann kannst du sehen, wo du bleibst. Ich hol dich jedenfalls nicht ab, wenn du nachts auf irgendeiner Fete hängst …«

»Geht ja auch gar nicht«, sagte er wieder.

Sie hatte ihn angesehen wie einen Idioten und die Küche verlassen. »Ich glaub nicht, dass du sie noch alle hast«, waren ihre letzten Worte gewesen.

Auf seinen Einwand, dass man ja nicht nur die Nachteile seiner Aktion sehen solle, reagierte sie nicht mehr, und Eggenthal, der immer noch aus dem Fenster seines Arbeitszimmers schaute, fand es etwas undankbar, wie wenig sie ihn in seiner Angelegenheit unterstützte. Es war ein selten emotionales Gespräch gewesen, so hatte er sie lange nicht erlebt.

Wenn sie verschiedener Meinung waren, nahm er es gewöhnlich hin. Es ging dabei meist um Kleinigkeiten wie das »richtige« Schließen der Wohnzimmertüren – Silke war nämlich der Meinung, dass man dabei jedes Mal den Griff herunterdrücken müsse, weil der Vorgang dann geräuschloser vor sich ging. Außerdem monierte sie häufig, dass er beim Schließen der Kühlschranktür nicht den Griff benutzte, sondern das Türblatt mit den Fingern berührte und dadurch Abdrücke hinterließ, die für ihn selbst noch nicht einmal sichtbar waren. Oder sie bemängelte mikroskopisch feine Partikel auf dem Badezimmerspiegel, die durch zu intensive Gurgelvorgänge Eggenthals entstanden waren und die sie jetzt aufwändig entfernen müsse. Eggenthal fand so etwas übertrieben, er war der Meinung, dass es reichte, wenn ein Spiegel dann geputzt würde, wenn er dran wäre, und das machte er dann auch gern selbst, er konnte nämlich Spiegel putzen und andere nützliche Dinge, aber das brauchte ja nicht alle drei Stunden zu geschehen; ein Bad oder eine Küche mussten schließlich nicht immer so aussehen, als seien sie gerade neu eingebaut worden.

Es waren Kleinigkeiten, an denen sie sich rieben, aber Eggenthal fand, dass sich diese in letzter Zeit häuften, vielleicht hatte er auch früher nie so darauf geachtet, jedenfalls fühlte er sich manchmal ein wenig kontrolliert.

Er setzte sich an den Schreibtisch und notierte sich noch mal die Eckdaten. Mit der Arbeit hatte sie schon recht: Mit dem Ka brauchte er genau fünfundzwanzig Minuten von der Haustür bis zur Arbeit. Einsteigen, losfahren, auf dem Parkplatz wieder aussteigen, das war’s. Ohne den Ka: etwa fünfzehn Minuten mit dem Rad zum Bahnhof, fünf Minuten Aufenthalt, dreißig Minuten mit dem Zug in die Stadt, zehn Minuten mit dem Bus zur Arbeit. Machte sechzig Minuten. Also morgens und abends über eine halbe Stunde mehr.

Statt um 7 Uhr vor 6 aufstehen, um den richtigen Zug zu erwischen. Durch Regen, Kälte und Hitze mit dem Rad, im Winter Dunkelheit. Angst vor Hunden. Zusätzlich: nicht mehr schnell mal abends in die Pizzeria fahren oder zum Spanier. Das war das, was ihm auf Anhieb einfiel. Schaffte er das?

Die Frage war berechtigt. Rein oberflächlich betrachtet sah es so aus, als habe Eggenthal sich mit den Jahren nur wenig verändert, etwas, was alle für erstrebenswert hielten, obwohl er selbst nie viel dafür getan hatte. Ein paar Falten auf der Stirn und um die Augen, das Haar dünner, aber noch nicht hoffnungslos verloren, die Gewichtszunahme, seit er zwanzig und dürr war, im deutlich einstelligen Bereich. Oberflächlichkeiten, die es einem erlaubten, den Alterungsprozess zu verleugnen oder mit so schwachsinnigen Sprüchen wie »Man ist so alt, wie man sich fühlt« zu kommentieren.

Eggenthal fühlte sich genauso alt, wie er war, und es war nicht zu leugnen, dass sich mit den Jahren Veränderungen eingeschlichen hatten. Wenn er morgens zu schnell aus dem Bett aufstand, konnte es vorkommen, dass ihn ein Ziehen im Rücken auf den ersten paar Metern zu einer krummen Haltung zwang, und wenn er beim Treppensteigen drei Stufen auf einmal nahm, wurde das gelegentlich von einem leichten Stechen im linken Knie begleitet. Als er neulich im Garten eine Rolle vorwärts vorführen wollte, hatte er das Gefühl durchzubrechen. Er hatte wohl ein wenig an Elastizität eingebüßt. Doch im direkten Vergleich mit einigen Bekannten, bei denen die Frauen sich die Brüste und die Männer die Hüfte machen ließen, konnte man noch nicht von Gebrechen reden. Es war noch einiges möglich, vorausgesetzt, man begann es irgendwann einmal.

Er dachte daran, wie er wohl im Vergleich mit seinen Klassenkameraden abschnitte. Annette hatte auf dem Bild in der Zeitung noch ziemlich jung ausgesehen. Er rief Theo Lammbeck an, mit dem er ebenfalls zur Schule gegangen war, und zwar von der ersten bis zur dreizehnten Klasse. Es war Urzeiten her, aber sie hatten einiges zusammen erlebt und sich nicht aus den Augen verloren, obwohl Lammbeck vor Jahren vierhundertfünfzig Kilometer südlich, in der Nähe von München, sesshaft geworden war. Sie trafen sich manchmal und telefonierten oft. Lammbeck würde ihn unterstützen, er hatte eine Antenne für solche Themen. Er hatte schon zu einer Zeit Solarzellen bei sich montiert, als alle anderen die Dinger noch für überdimensionierte Dachfenster hielten. Er machte so etwas nicht unbedingt, um Umweltbewusstsein zu demonstrieren, es waren mehr die technische Herausforderung und die Möglichkeit, mittelfristig Geld zu sparen, die ihn reizten. Weil er die Sachen pragmatisch anging und alles selbst machte, rechnete es sich meistens tatsächlich. Eggenthal, der bei der Installation der Anlage als Handlanger geholfen hatte, war fast schlecht geworden, als er Lammbeck damals auf dem Dach herumturnen sah, gesichert nur mit einem alten Hanfstrick, den er um den Bauch geknotet und oben um den Schornstein geschlungen hatte.

Seltsamerweise lief das Gespräch mit Lammbeck ähnlich ab wie das mit seiner Frau fünf Minuten zuvor, nur mit dem Unterschied, dass Lammbeck sich schlapp lachte über ihn. Da müsse man aber ganz schön die Zähne zusammenbeißen, meinte er und wollte außerdem wissen, warum es gleich eine so radikale Lösung sein müsse.

»Es geht um die Jahreszeiten«, sagte Eggenthal.

»Bist du dir sicher?«, fragte Lammbeck, und Eggenthal bejahte. »Wenn du meinst«, sagte Lammbeck. Schließlich fragte er ihn, ob er jetzt ein Jahr lang in seinem Kaff versauern wolle.

Das war nicht gerade die Form von Unterstützung, die Eggenthal sich erhofft hatte. Er hätte es wissen müssen. Lammbeck hatte nicht nur als Erster die Solarzellen gehabt – er war auch der absolute Motorrad- und Autofreak. Zum Schluss meinte er noch, sein Vorhaben würde Eggenthal mobilitätsmäßig auf den Stand von 1974 zurückwerfen.

Damit hatte er wohl recht. Damals, als Fünfzehnjährige, jagten Eggenthal und Lammbeck mit 1,3 PS starken NSU Quicklys und ohne Führerschein über die Feldwege. Solche Geräte standen in dieser Zeit in Kellern oder Scheunen von Verwandten oder Bekannten herum, oft seit Jahren nicht mehr genutzt, und es kostete nur ein wenig Quengelei und fünfzig D-Mark, sich so ein Teil zu organisieren. Sie waren für den Anfang nicht schlecht, aber der Maßstab waren die »richtigen« Mopeds, genauer gesagt die Kreidler mit fünf Gängen und 6,25 PS, die so ziemlich das Schärfste war, womit man als Jugendlicher unterwegs sein konnte.

Eggenthal träumte von der Kreidler, Lammbeck hatte sie ein Jahr später. Selbst zusammengespart. Er hatte schon vor zwei Jahren auf dem Hof seines Onkels angeheuert, eines Großlandwirts, und war innerhalb eines Jahres zum Mähdrescherfahrer aufgestiegen, alles neben der Schulzeit, versteht sich. Eggenthal fielen fast die Augen raus, als Lammbeck zum ersten Mal mit der Karre bei ihm zu Hause aufkreuzte. Drehzahlmesser, verchromter Tank, der Rest orange lackiert. Das Ding ging hundert Sachen.

Die Quicklys liefen siebenunddreißig. Sie waren gebaut worden, als Eggenthal noch gar nicht geboren war, der Hersteller hatte mit ihnen damals offiziell den »Kampf um den letzten Fußgänger« eröffnet. Lange her.

Kapitel 2

Die Welt war also gegen Eggenthal und seinen Plan. Seine Mitmenschen trauten es ihm nicht zu, weil sie ihn kannten, und das gab ihm zu denken. Er hatte ein wenig Anerkennung erwartet, das Vorhaben allein schien schon nicht einfach, und jetzt wurden bereits vor dem Startschuss die Hürden aufgebaut.

Bisher hatten er und Silke immer alles miteinander besprochen. Als die Kinder noch kleiner waren, gab es die üblichen Probleme in Kindergarten oder Schule oder die Betreuungsfrage, als beide wieder arbeiteten. Immer hatten sie sich abends hingesetzt, sich Zeit genommen und Lösungen gesucht und gefunden. Jetzt war Jana nicht mehr da, studierte in Hamburg und meldete sich für sein Empfinden viel zu selten, und zu Luca, der es inzwischen vermied, sich öffentlich mit ihnen zu zeigen, fehlte ihm seit Monaten der Zugang.

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