Vollmondkind - Gemeinsam bleiben - Kerry McKilroy - E-Book

Vollmondkind - Gemeinsam bleiben E-Book

Kerry McKilroy

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Beschreibung

Der dritte Teil meiner Geschichte über Freundschaft, Gefahr und Gemeinschaft knüpft nahtlos an die Ereignisse aus Teil 2 an. Die Geschichte wird erneut aus Lucys Perspektive erzählt und beginnt unmittelbar nach dem dramatischen Kampf gegen die Dunkelheit. Vincents Angriff hat die Gemeinschaft der Mondkinder schwer getroffen. Lucys bisherige Welt zerbricht und sie ist lebensbedrohlich geschwächt. In ihrem engsten Umfeld fehlen genau jene Personen, die sie am dringendsten braucht. Gleichzeitig wachsen ihre Fähigkeiten. Sie erkennt ihre Aufgabe und gewinnt an Selbstvertrauen. Die Verbindungen zu ihren Verbündeten werden stärker. Doch es bleibt keine Zeit, um wertvolle Kräfte zu sammeln. Die nächste Attacke steht unmittelbar bevor. Lucy und die Mondkinder ergreifen drastische Maßnahmen, um den drohenden Kampf zu verhindern. Doch schnell müssen sie einsehen: Niemand entkommt der Dunkelheit; am wenigsten das Vollmondkind selbst. Zwanzig Jahre später: Die Dunkelheit hat ihre Widerhaken in Lucy geschlagen und streckt die grausamen Klauen nach Lucys Familie aus. Lucy, Tristan und Sam sind erwachsen geworden. Sie sind fest in der Gemeinschaft der Hüter verankert. Zudem wächst eine neue Generation Mondkinder heran. Lucy will das Monster in sich allein bekämpfen. Doch die Dunkelheit ist zu stark. Nur mit der Hilfe und den Fähigkeiten aller Verbündeten kann sie das Mondlicht in sich wiederfinden. Eine lange verschollene Prophezeiung, uralte Runen und ein Ritual, dass es so noch nie gab, werden ihre einzige Chance. Doch nicht nur Lucys Leben steht auf dem Spiel. Scheitert sie im Kampf gegen die Dunkelheit, wird es die Gemeinschaft der Mondkinder vernichten und alle, die sie liebt, werden mit ihr untergehen. Wird es Lucy und den Mondkindern gelingen, die Dunkelheit zu besiegen? Reicht der Schutz von Hütern und Wächtern aus, um die Gemeinschaft zu erhalten, wenn das Vollmondkind selbst die größte Gefahr darstellt? Für alle Fans von fantastischen Geschichten rund um Freundschaft, Schicksal und außergewöhnliche Begabungen. Wenn du Buchreihen wie Tintenherz, Alea Aquarius oder die Chroniken von Narnia liebst, wird dich auch die Vollmondkind Reihe in ihren Bann ziehen. Perfekt für Jugendliche ab 12 Jahren und Erwachsene, die Urban Fantasy mögen. Eine Geschichte voller Kampfgeist, Gefühl und der Suche nach Schutz. Dieses Buch aus der Vollmondkind Reihe ist Lucys nächstes Abenteuer und ihr wichtigster Kampf.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 487

Veröffentlichungsjahr: 2025

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WIDMUNG

Regulus

hellster Stern im Sternbild Löwe

Polaris

hellster Stern im Sternbild kleiner Bär

Geografische Nordrichtung, Polarstern nahe dem Nordpol

Sirius

hellster Stern am Südhimmel Stern des Südens

Meine drei Musketiere

Gemeinsam mit euch für den Rest aller Zeiten …

INHALTSWARNUNG

Liebe*r Leser*in,

vielen Dank, dass du dich für mein Buch entschieden hast. Damit du die Geschichte von Tristan und Lucy bestmöglich genießen kannst, gibt es hier eine Themenübersicht, was dich in meinem Roman erwartet. Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Inhaltswarnung liest, da sie auch ein Spoiler für meine Geschichte ist.

„Vollmondkind – Gemeinsam bleiben“ enthält Passagen zu Entführung, Krankenhausaufenthalt, Haft, Tod von geliebten Personen und Tieren, Naturkatastrophen und Pandemie, Stalking und Verfolgung, Eifersucht, psychische und körperliche Gewalt, Panikattacken, Feueralarm, Schlaflosigkeit und Erwähnung von Depressionen.

Bitte gehe zu jeder Zeit achtsam mit dir um. Falls es dir nicht gut geht, finde jemanden, dem du vertrauen kannst. Suche Schutz und hole dir Hilfe.

Ich wünsche dir nun viel Spaß mit meiner Geschichte.

Alles Liebe

Deine Kerry

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

GEGENWART

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

KAPITEL 45

KAPITEL 46

KAPITEL 47

KAPITEL 48

KAPITEL 49

KAPITEL 50

KAPITEL 51

KAPITEL 52

KAPITEL 52

KAPITEL 53

KAPITEL 54

EPILOG

PROLOG

5. Juni 2020

„O bitte! Komm mir nicht mit deinen Lieblingsargumenten, der Pubertät und dem Vollmond.“ Wutentbrannt schleudert sie mir diese Worte entgegen. „Meinst du wirklich, alles lässt sich mit solchen Banalitäten erklären?“

„Ja“, antworte ich knapp und drehe mich um. Ich muss die Diskussion im Keim ersticken. Nicht aus Schwäche oder Dominanz, sondern zu ihrem Schutz.

Das dunkle Monster aus meinem Inneren drängt mich, es freizulassen. Es hat seine Krallen ausgefahren. Freudig bohrt es seinen schwarzen Stachel unbändiger Wut in jede meiner Zellen. Es raunt mir zu, mich nicht länger dagegen zu wehren. Meinem Gegenüber eine Lektion zu erteilen, die es nicht vergisst. Ihm zu zeigen, wer die Meisterin der Dunkelheit ist und wie ein richtiger Wutausbruch aussieht.

Voller Verzweiflung balle ich meine Hände zu Fäusten und bohre meine Fingernägel in die Handflächen. Ich brauche ein Gegengewicht zu dem Druck, der mich zu zerstören droht. Innerlich und äußerlich. Doch ich habe dafür keine Kraft. Gestern nicht, heute nicht, morgen nicht. Seit Wochen nicht, um ehrlich zu sein.

Die Nächte bringen statt Schlaf und Erholung nur Sorgen, Ängste und eine endlos lange Liste an Gefahren. Dunkelheit umgibt mich dann nicht nur äußerlich. Vielmehr bin ich erfüllt von einer monströsen, schwarzen Macht, die mir alle Hoffnung raubt und lediglich Leere zurücklässt. Tagsüber bietet sich keine Möglichkeit, neue Kraft zu sammeln. Momente wie dieser beanspruchen mich auf allen Ebenen und rauben Energie, die ich nicht mehr habe.

Meine Gegnerin steht mir gegenüber. Ihre stahlblauen Augen funkeln mich an. Die Augenbrauen sind zusammengekniffen. Ihre Fäuste hat sie in die provokant zur Seite geschobene Hüfte gestemmt. Ahnt sie, womit sie sich anlegt? Kann sie nur im Ansatz einschätzen, wie dramatisch die Folgen für uns alle sind, sollte ich die Dunkelheit in mir nicht mehr im Griff haben? Nimmt sie das Risiko bewusst in Kauf?

Unweigerlich wandern meine Gedanken zu einem anderen verzweifelten Kampf vor langer Zeit. Ich werde alles tun, um ihr diese Erfahrung zu ersparen.

Ich wappne mich für eine neue Runde in unserem Streit und suche nach aussagekräftigen Argumenten, innerer Ruhe und dem letzten Fünkchen Energie für den heutigen Abend.

KAPITEL 1

15. Oktober 1999

Jemand hebt mich hoch. Finger krallen sich in meinen Brustkorb und meinen Oberschenkel. Ich fühle die Erschütterung von wackeligen Schritten in meinem Rücken. Mit jedem Atemzug spüre ich den Oberkörper, an den ich gepresst werde.

Ich bin zu keiner Gegenwehr fähig. Die gnadenlose Dunkelheit umfängt jeden Winkel meiner Seele. Tiefe Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit haben von mir Besitz ergriffen. Ich weiß nicht, wer mich trägt. Ich will es gar nicht wissen. Das Bild meiner reglos am Boden liegenden Mutter ist das Einzige, was ich innerlich vor mir sehe.

Nachdem uns allen die Kraft ausgegangen ist, hatten wir der Dunkelheit nichts mehr entgegenzusetzen. Also wird es Vincent sein, der mich mitnimmt. Ich erwarte, jeden Moment in sein Auto verladen zu werden. Doch nichts dergleichen geschieht. Vielleicht habe ich die Autofahrt nicht mitbekommen. Dann sind wir auf seinem Anwesen irgendwo im Norden. Egal, ich habe aufgegeben.

Ich dämmere weg. Wie durch einen langen Tunnel höre ich, dass Tristan nach mir ruft. Aber ich bin zu schwach, um zu antworten.

In mein Bewusstsein dringt ein heller Fleck. Silbernes Licht bahnt sich seinen Weg durch die schier endlose Dunkelheit. Wo bin ich? Wie spät ist es? Wer ist bei mir? Ich halte mich an diesem kleinen Punkt fest. Konzentriere mich darauf und versuche, nicht wieder zu entgleiten.

„Frau Lu?“

Tristan. Ich will antworten. Ich will ihm sagen, dass ich ihn höre. Aber ich kann nicht. Die Dunkelheit blockiert meine Sinne. Einzig dieser Lichtfleck durchdringt sie.

„Mond?“ Ich muss es zumindest versuchen.

Keine Antwort.

„Tristan?“

Stille.

„Sam?“

Nichts.

Wo ist das Licht? Gut, der Punkt ist noch da. Ich behalte ihn im Blick. All meine Gedanken fixiere ich darauf. Will sie nach draußen schicken, in der Hoffnung, dass sie Tristan erreichen. Doch es gelingt mir nicht.

Das Licht verblasst. Die Dunkelheit bleibt.

Eine große Hand stützt mich im Nacken. Ich werde halb aufgerichtet. Irgendetwas ist an meinem Mund. Kühle Flüssigkeit rinnt in meine Kehle und reflexartig schlucke ich. Meine Glieder fühlen sich an wie Wackelpudding. Selbst wenn ich wollte, ich könnte mich nicht bewegen. Nachdem ich ein paar Schlucke getrunken habe, werde ich sanft zurück auf mein Kissen gelegt. Die Hand, die eben noch in meinem Nacken lag, streicht mir über die Stirn.

„Ach, Lucy.“

Die Stimme kommt mir bekannt vor, aber ich kann nicht reagieren. Da ist wieder das Licht. Diesmal größer und heller. Ich lege meine ganze Konzentration in den Gedanken an Tristan. Das Problem ist, ich habe kaum Kraft. Trotzdem verstärkt sich das Licht. Ganz leise ruft er nach mir. Ich will antworten, aber schaffe es nicht.

Ich träume von Tristan. Von unserer Zeit auf dem Drywon-Beinn, von seinem Lachen und unseren Nächten an der Feuerstelle unter freiem Himmel mit Sato zwischen uns. Ich spüre seine Liebe, sehe sein verschmitztes Lächeln und fühle Satos warmes Fell unter meinen Fingern. Ein tiefer Frieden erfüllt mich.

Ich heiße das Silberlicht wie einen Freund willkommen. Mit jedem Atemzug wird der helle Punkt größer. Ich habe den Eindruck, ich kann das Licht länger halten. Wieder einmal versuche ich, Tristan zu erreichen, doch er kommt mir zuvor.

„Frau Lu?“

„Tristan?“

„Frau Lu, endlich!“

„Mein Tristan …“

„Wie geht es dir?“

„Weiß nicht.“

Schon drängt sich die Dunkelheit nach vorne. Meine Kräfte verlassen mich erneut.

„Tristan?“

„Frau Lu? Lucy? Lucy!“

Das Licht wird schwächer. Ich kann ihn kaum noch hören. Wenigstens fühle ich Satos Fell unter meinen Fingern. Kurz bevor die Dunkelheit wieder meinen Geist umnachtet, kommt mir ein wichtiger Gedanke. Aber ich kann ihn nicht zu Ende bringen.

Wo bin ich?

Jemand hilft mir, etwas zu trinken. Wie viel Zeit ist seit dem letzten Mal vergangen? Stunden? Tage?

Diese große, starke Hand hält mich nicht nur, sondern streicht sachte um mein Gesicht. Ich konzentriere mich auf meine rechte Seite. Dort fühlt es sich an, als würde Sato neben mir liegen. Kann das sein?

Lautes Stimmengewirr dringt zu mir durch. Was ist da los? Ich schaffe es nicht, meine Augen zu öffnen.

„Wie geht es ihr?“

„Unverändert.“

„Darf ich?“

„Natürlich.“

Die tröstende Hand verlässt meine Stirn und auch Satos Fell verschwindet von meinen Fingern. Stattdessen spüre ich, wie mich zwei andere, kühle Hände abtasten. Mein Puls wird gefühlt, meine Reflexe geprüft und zu guter Letzt leuchtet man mir in beide Augen. Das Licht blendet mich so sehr, dass ich nichts anderes erkennen kann. So hell es auf meiner Netzhaut tanzt, die Dunkelheit in meinem Inneren kann es nicht auslöschen.

„Sie hat kein Fieber, keine äußerlichen Verletzungen und soweit ich sehen kann auch keine neurologischen Schäden.“

„Das ist gut.“

„Sie ist immer noch dehydriert. Ich gebe ihr eine weitere Infusion.“

„Muss das sein? Sie nimmt das Trinken, das ich ihr gebe.“

„Es wäre besser.“

„In Ordnung.“

An meiner rechten Hand spüre ich einen leichten Druck und einen kurzen Stich. Dann strömt Flüssigkeit in meine Adern.

Um mich herum tritt Stille ein. Die Personen haben den Raum verlassen, ich höre ihre Stimmen von etwas weiter entfernt. Nach einiger Zeit kehren sie zurück. Wieder werde ich kurz untersucht und die geschäftig klingende Stimme sagt: „Versuchen Sie es weiter und geben ihr regelmäßig zu trinken. Die Kanüle lassen wir liegen, falls sie weitere Infusionen braucht. Ich habe einen Spezialisten zu Rate gezogen. Sollte sich ihr Zustand verschlechtern oder sollte sie bis morgen nicht aufgewacht sein, muss sie zur Überwachung ins Krankenhaus.“

„Verstanden.“

„Alles Gute.“

„Danke sehr.“

Satos Fell schiebt sich zurück unter meine rechte Hand. Ihre Wärme hält die Dunkelheit auf, die sich ihren Weg zurück bahnen will. Mein letzter Gedanke gilt Tristan.

„Ich bin in Sicherheit.“

Diese kurze Nachricht schicke ich ihm. Mittlerweile weiß ich, dass ich bei Sato bin – und bei Alexander.

„Frau Lu, halte durch, ich bin auf dem Weg.“

Alexanders Hand ist wieder auf meiner Stirn. Das Silberlicht schimmert schon eine Weile und ich spüre, wie ich zu Kräften komme. Ich befeuchte meine Lippen und versuche es mit einem vorsichtigen „Alexander?“. Alles, was herauskommt, ist ein klägliches Krächzen.

„Lucy?“

Ich nicke zaghaft und lächele, als Sato winselt.

„Willst du was trinken?“

Wieder nicke ich und Alexander gibt mir behutsam etwas Wasser. „Danke.“ Ich nehme all meine Kraft zusammen. Langsam öffne ich die Augen.

Mein Hüter sitzt neben mir. Seine Haare sind verstrubbelt, er hat einen Dreitagebart und unter seinen Augen sind tiefe, dunkle Ringe. Doch sein Lächeln spricht Bände, genau wie die Tränen, die ihm über die Wangen laufen. „Da bist du ja wieder. Endlich!“ Er schließt mich in die Arme.

„Meine Mutter … ist sie …?“

„Es hat sie sehr mitgenommen, aber sie wird wieder.“

„Und Josh?“

„Er hat zwanzig Stunden am Stück geschlafen, ist aber mittlerweile wohlauf. Holly hat sich um ihn gekümmert und auch regelmäßig nach Risa geschaut. Er ruft täglich mehrfach an und fragt nach dir. Es wird ihn freuen, zu hören, dass du endlich zurück bist.“

„Wie lange …?“, frage ich, aber ich kann meinen Dämmerzustand nicht in Worte fassen.

„Drei Tage.“

Ich sinke zurück ins Kissen. Drei Tage!

„Hast du Hunger?“, fragt Alexander. „Ich kann dir eine Suppe warm machen.“

Mein Magen knurrt laut. Alexander lacht und verlässt das Zimmer, um mir die Suppe zu holen. Währenddessen kraule ich Satos Fell und versuche, mich an irgendetwas aus den vergangenen drei Tagen zu erinnern. Doch da ist nur Schwärze mit ein paar Ausnahmen.

Wenige Minuten später ist Alexander zurück und gemeinsam löffeln wir unsere dampfenden Suppen. Anschließend sinke ich in die gemütlichen Kissen. Draußen ist es dunkel. Der Mond steht fast rund am Himmel. Er ist wie immer Anker und Trost zugleich.

„Ich bin wirklich müde“, sage ich.

„Wirst du zurückkommen?“

Es klingt seltsam, aber ich verstehe, was er meint. „Ich bleibe hier. Ich schlafe nur und Sato passt auf mich auf, nicht wahr?“

„So wie die letzten drei Tage. Sie wird dir keinen Millimeter von der Seite weichen.“

Am nächsten Morgen betritt Alexander in Begleitung unseres Hausarztes das Zimmer.

„Guten Morgen, junge Dame.“

Ich erkenne die Stimme von gestern wieder und lächele ihm unsicher zu.

„Wieder zurück unter den Lebenden?“, fragt er und weiß gar nicht, wie nah er der Wahrheit damit kommt. Erneut werde ich untersucht, abgetastet und angeleuchtet. Dann nickt der Arzt und wendet sich an Alexander. „Das sieht sehr viel besser aus als gestern. Ich denke, wir können den Zugang entfernen und Lucy weiterhin Ihrer Obhut überlassen.“ Vorsichtig entfernt er die Kanüle und klebt mir ein großes Pflaster auf die Hand. Ernst schaut er mir in die Augen. „Du hast uns große Sorgen gemacht, Lucy.“

„Tut mir leid.“

„Kannst du dich an etwas vor deinem Zusammenbruch erinnern?“

Mein Blick schnellt zu Alexander, der hinter unserem Hausarzt steht. Ein leichtes Kopfschütteln ist die Antwort.

„Bist du gestürzt oder wurdest du geschlagen? Hat dich ein fester Gegenstand an der Wirbelsäule erwischt?“

„Keine Ahnung. Ich denke nicht.“

Der Arzt mustert mich mit gerunzelter Stirn. Dann sagt er zu Alexander: „Wie gesagt, es ist ein untypisch langer Verlauf eines Locked-In-Syndroms, zumal ohne spezifische körperliche Ursache. Um so etwas in Zukunft zu vermeiden, wäre es hilfreich, zu wissen, was den Zusammenbruch herbeigeführt hat.“

Mein Zustand hat einen Namen? Die Bezeichnung passt. Ich war über Tage gefangen in der Dunkelheit.

Mit einem Blick auf mich herab ergänzt er: „Zum Glück hat das Blutbild keine auffälligen toxischen Substanzen ergeben. So können wir zumindest ausschließen, dass man dir etwas ins Getränk gemischt hat.“

Ich schaue Alexander an, der sich über den Nacken reibt. Mit einem Winken signalisiert er mir, dass wir alles Wichtige nachher besprechen, wenn wir wieder allein sind.

Der Arzt hat seine Tasche gepackt und verabschiedet sich an der Haustür von Alexander. Kurz darauf betritt mein Hüter den Raum wieder.

„Locked-In-Syndrom“, wiederhole ich, mehr für mich selbst. „Es gibt einen Fachbegriff für das, was Vincent mir angetan hat?“

KAPITEL 2

20. Oktober 1999

Auf Alexander gestützt bringen mich meine wackeligen Beine im Schneckentempo nach unten ins Wohnzimmer. Zitternd und schweißgebadet sinke ich auf die Couch, wo mein Hüter mir bereits ein gemütliches Lager vorbereitet hat. Ich fühle mich, als wäre ich einen Marathon gelaufen, dabei waren es maximal vierzig Schritte.

Alexander wuselt um mich herum. Wie in den vergangenen Tagen leistet Sato mir Gesellschaft.

„Wann kommt Tristan?“, frage ich, als Alexander einen Moment Pause macht und sich gegenüber von mir in den Sessel setzt.

„Er ist gestern Abend angekommen und war kurz hier. Du hast so tief geschlafen, dass ich ihn nach Hause geschickt habe, um sich ebenfalls auszuruhen.“

„Das ist gut.“ Ich versuche mich zu erinnern, ob ich etwas von Tristans Besuch mitbekommen habe. Ich weiß, dass er die ganze Zeit unsere Verbindung aufrechterhalten hat. Er war mein Anker, wenn ich Gefahr lief, mich im Nirgendwo zu verlieren. Wie anstrengend das für ihn gewesen sein muss, kann ich mir kaum vorstellen.

„Es ist schön warm draußen. Wäre es okay, wenn ich die Terrassentür ein wenig öffne und die frische Luft reinlasse?“

Ich werfe einen sehnsüchtigen Blick nach draußen.

Alexander zieht auf der Terrasse einen großen Liegestuhl in die Sonne. Dann legt er ein paar Decken und Kissen zurecht. Mit einer einladenden Geste streckt er mir die Hand entgegen und hilft mir auf. Die Schritte raus funktionieren schon besser. Mit einem zufriedenen Seufzer sinke ich zurück in die Kissen und blinzele in das helle Sonnenlicht.

„Nicht ganz so gut wie Mondschein, aber fürs Erste geht’s.“ Ich grinse und Alexander lacht.

„Ich sehe, dir geht es besser. Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich darüber bin.“ Er setzt sich auf einen Stuhl.

Eine Weile hänge ich meinen Gedanken nach. Das Quietschen des Gartentors holt mich zurück in die Gegenwart.

Mit freudig klopfendem Herzen setze ich mich aufrecht hin. Auch Alexander schaut in den Garten. Doch etwas ist komisch. Sato ist ungewöhnlich angespannt. Meine Nackenhärchen stellen sich auf. Ich versuche, meine Beine aus den Decken zu befreien. Aber in meinem körperlichen Zustand habe ich keine Chance zur Flucht.

Mein Hüter steht auf. Gemeinsam mit Sato stellt er sich wie ein Bollwerk vor mich. Ich kann nicht sehen, wer durch den Garten auf uns zukommt.

„Alexander.“

Meine Hände werden klamm.

Alexander weicht keinen Millimeter zur Seite. Sato knurrt. „Was willst du hier?“

„Reden. Mit Lucinda. Und mit dir.“

Ich kann nur die Füße unseres Besuchers sehen, aber seine Stimme zittert. Keiner von uns bewegt einen Muskel. Atmen die beiden Männer überhaupt?

„Bitte.“

Mühsam kontrolliere ich das Zittern meiner Hände. „Es ist okay, Alexander. Ehrlich.“

Mit einem halben Schritt zur Seite gibt er den Weg frei. Ich ziehe die Luft ein. Vor mir steht eine Version meines Vaters, die um Jahre gealtert scheint. Sein stets aufrechter Oberkörper ist zusammengesunken. Die dunklen Haare sind von grauen Strähnen durchzogen und stehen ihm vom Kopf ab. Tiefe Falten durchziehen sein ungewohnt blasses Gesicht und umranden dunkle Augenringe.

„Hallo, Lucinda.“

„Papa.“ Ich halte instinktiv die Luft an.

Alexander zeigt auf den Stuhl, in dem er eben gesessen hat. „Setz dich.“

Mein Vater nimmt Platz. Alexander sieht ins Haus und wieder zurück zu mir. Mit meinem Blick signalisiere ich ihm, dass er hierbleiben soll. Meine Gedanken sind noch nicht so schnell wie gewohnt. Aber selbst im Schneckentempo fallen mir verschiedene Möglichkeiten ein, wie die Sache hier ausgehen könnte. Zu viele, um damit allein zu bleiben.

Alexander nickt und sucht sich einen Sitzplatz zwischen mir und meinem Vater. Eine Weile vermeiden wir alle den Augenkontakt miteinander. Schließlich breche ich das Schweigen.

„Wie geht es Mama?“

„Sie ist sehr schwach. Die Nachbarin ist bei ihr, solange ich hier bin.“

Die Erinnerung an meine reglose und nicht ansprechbare Mutter hat mich bis in meinen Dämmerzustand verfolgt. Erstmals habe ich mit klarem Kopf die Möglichkeit, darüber nachzudenken. Mein Vater ist hier. Was hat ihn zu diesem Schritt bewogen? Er wirkt wacher, nicht so ferngesteuert wie am Tag des Kampfes. Trotzdem bin ich mir nicht sicher, was seine Absichten sind.

Er hebt den Kopf und sucht meinen Blick. „Wie geht es dir?“

„Es geht so. Ich bin ziemlich wackelig auf den Beinen.“

Bedächtig nickt er und wendet sich an Alexander. „Und dir?“

„Gut.“

Alexanders einsilbige Antworten passen nicht zu seiner sonst herzlichen, offenen Art. Sein Tonfall ist bestenfalls neutral. Traut er meinem Vater auch nicht über den Weg?

„Wird Lucinda gesund?“

„Natürlich. Es wird etwas dauern, aber wir werden Lucy wieder hinbekommen.“

„Danke, dass du dich um sie kümmerst.“

„Das ist mehr als selbstverständlich.“

„Nein, das ist es nicht.“

„Für mich schon.“

Beide wirken nach außen hin ruhig. Ihre Stimmen sind kein Dezibel lauter geworden, doch die Anspannung vibriert dicht unter der Oberfläche.

Dieser Besuch fühlt sich aus tausend verschiedenen Gründen seltsam an. In meinem Bauch bildet sich ein Knoten voller Misstrauen. „Kommst du allein? Oder steht Vincent hinter der nächsten Ecke, um das zu vollenden, was ihm am Freitag nicht gelungen ist?“

Mein Vater zuckt zusammen, als hätte ich ihn geschlagen. Dann richtet er sich auf und schaut mir in die Augen. „Nein, ich bin alleine hier. Ich habe Vincent gesagt, dass ich ihn nicht mehr in unserer Nähe sehen will. Ich bin fertig mit ihm. Ich weiß, es hat lange gedauert, aber ich bin aufgewacht. Niemand vergreift sich an meiner Familie.“

Alexanders Blick schweift durch den Garten. Einem Angriff der Dunkelheit können wir zu diesem Zeitpunkt nichts entgegensetzen. „Was willst du hier?“

Alexander formuliert es freundlich. Jeder Vorwurf ist aus seiner Stimme verschwunden.

„Ich wollte schauen, wie es Lucinda geht. Außerdem wollte ich mich bei dir bedanken, dass sie hier unterkommen kann. Und …“

„Ja?“

Ich halte die Luft an.

Mein Vater wirft mir einen langen Blick zu. Dann wendet er sich an meinen Hüter. „Ich wollte dich fragen, ob du dich weiterhin um Lucinda kümmern würdest.“

Ich platze heraus: „Geht es Mama so schlecht?“

„Nein.“

„Willst du mich nicht mehr zu Hause haben, weil ich mich den Mondkindern angeschlossen habe?“

„Du hast das ohne unser Wissen und ohne unser Einverständnis entschieden.“ Mit zusammengezogenen Augenbrauen fixiert er Alexander.

Dieser schüttelt den Kopf und blinzelt. Bevor er etwas erwidern kann, rufe ich: „Deswegen schickst du mich weg?“

Mein Vater richtet sich auf. Er kneift sich in die Nasenwurzel und holt tief Luft. „Nein, das ist es nicht. Es geht mir um deine Mutter. Ich habe einen Plan.“

„Was für einen?“, frage ich.

„Ich habe mir überlegt, dass wir alle Abstand brauchen. Zueinander und zu den letzten Ereignissen. Ich werde mit deiner Mutter verreisen, sobald sie wieder auf den Beinen ist.“

„Wohin?“

„Ich dachte an eine Kreuzfahrt.“

Ich reiße die Augen auf.

„Wir starten in Hamburg und nehmen eine Route in Richtung Amerika oder Afrika. Genaueres weiß ich noch nicht. Das hängt davon ab, wann sie transportfähig ist.“

„Das ist am anderen Ende der Welt!“, rufe ich. „Was ist, wenn …

„Das ist meine Sache.“ Mein Vater verschränkt die Arme.

Ich sinke tiefer in meine Liege. Meine Gedanken überschlagen sich. Doch die Haltung meines Vaters zeigt deutlich, dass ich keinen davon in Worte fassen darf.

Alexander sagt: „Okay. Das klingt … gut.“

Bis auf den Abstand zueinander. Mein Vater will mich loswerden.

Wäre ich kein Vollmondkind, hätte der Kampf mit Vincent nie stattgefunden. Ohne die Mondkinder wären wir eine ganz normale Familie. Meine Mutter läge nicht geschwächt zu Hause. Ich würde meine Herbstferien in der Bücherei verbringen. Mein Vater könnte in Ruhe arbeiten und müsste nicht mit Alexander klären, dass ich bis auf Weiteres bei ihm bleiben kann. Meine Meinung zu diesem Thema ist anscheinend egal.

Ich balle die Fäuste unter der Decke und könnte schreien vor Wut. Die Dunkelheit bedroht mein Leben und der Mond zerstört meine Familie.

KAPITEL 3

„War das gerade dein Vater?“

Tristan eilt um die Ecke. Er hat die Augen weit aufgerissen und seine Miene spiegelt unsere überraschten Gesichter vor einigen Minuten.

„Warum habe ich eine Haustür mit Klingel, wenn jeder durch den Garten kommt?“, brummt Alexander.

Ich muss lachen. Tristan steht vor mir und mustert mich mit zusammengezogenen Augenbrauen und gerunzelter Stirn. Ich strecke die Arme aus und rutsche zur Seite. „Komm her.“

Erst als er neben mir liegt und ich endlich in seinen Armen geborgen bin, erzähle ich ihm vom Besuch meines Vaters.

„Vertraust du ihm?“, fragt Tristan.

„Ich weiß nicht.“ Ich überlege einen Augenblick. „Vincent hat ihn lange Zeit manipuliert. Aber wenn er nach wie vor dessen Marionette wäre, hätte er vorhin die Möglichkeit gehabt, sein Werk zu vollenden oder mich zumindest mitzunehmen.“

„Stimmt.“

„Das ändert aber nichts daran, dass ich ein seltsames Gefühl habe.“

„Inwiefern?“

„Erstens finde ich es unglaublich, dass er Alexander damit überfällt. Er hat ihm keine andere Wahl gelassen, als zuzustimmen.“

Alexander schnaubt. „Ich habe keine Sekunde gezögert, Lucy. Du bleibst bei mir, solange du willst. Egal, ob deine Eltern drei Kilometer entfernt sind oder am anderen Ende der Welt.“

„Siehst du, das meine ich“, sage ich zu Tristan.

Er zieht eine Augenbraue hoch.

„Alexander sagt, solange ich möchte. Mein Vater hat meinen Willen komplett ignoriert.“

„Willst du denn nicht bei mir bleiben?“, fragt mein Hüter.

„Doch, natürlich. Aber darum geht es nicht. Ich hätte mir gewünscht, dass meine Meinung etwas zählt. Versteht ihr?“

Beide nicken.

„Ich danke dir, Alexander, dass ich hier sein darf“, sage ich. „Ich möchte sehr gerne länger bleiben. Unabhängig von den Plänen meiner Eltern.“

„Was ist dein Zweitens?“, fragt Tristan.

„Der Plan, meine Mutter von hier wegzubringen, klingt gut. Weit weg von Vincent, Claire und Natascha stehen ihre Genesungschancen besser. Aber was ist mit seiner eigenen Dunkelheit? Die kann er nicht abstellen oder zuverlässig kontrollieren. Wer steht ihr bei, wenn sie auf der Reise irgendeiner anderen Art von Dunkelheit begegnen? Vincent und sein Gefolge werden kaum die Einzigen auf der Welt sein, die eine Gefahr für Mondkinder und Wächter sind.“

„Ich glaube, Frau Lu, wir müssen darauf vertrauen, dass es die richtige Entscheidung für deine Eltern ist. Und wir müssen uns darauf konzentrieren, uns zu erholen, und gemeinsam an unserem Schutz weiterarbeiten.“

Wir liegen eine Weile schweigend aneinandergeschmiegt auf Alexanders schmaler Liege. Mit der Ausrede, Sato müsse Gassi gehen, hat er uns vor einiger Zeit allein gelassen. Ich bin sicher, er ist in der Nähe und will dennoch, dass wir ungestört miteinander reden können.

Ein paar Mal hole ich Luft. Aber jedes Mal verlässt mich der Mut.

„Na los, Frau Lu, frag schon.“

„Du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht willst“, entgegne ich.

„Alles gut.“ Tristan lächelt mir zaghaft zu.

Alexander kehrt zurück und will sich mit Sato an uns vorbei ins Haus schleichen. Doch Tristan bedeutet seinem Onkel mit einem kleinen Winken, dass er bleiben kann. „Du weißt, Frau Lu, wie angestrengt ich die Tage davor versucht habe, Genaueres zu sehen.“

Ich nicke.

„An diesem Morgen sah ich alles: Wie Natascha dich in einen abgelegenen Raum führt, wo Vincent auf euch wartet. Josh, der dich auf dem ganzen Schulgelände sucht. Dein Vater, der wie ein ferngesteuerter Roboter durch verlassene Gänge unserer Schule läuft, scheinbar willkürlich, aber doch mit einem Ziel. Deine Mutter, panisch und völlig außer sich, wie sie einen Taxifahrer anbrüllt, er solle sich gefälligst beeilen, es ginge um Leben und Tod. Und dich, Alexander, wie du eilig die Bibliothek verlässt.“

„Wusstest du, wo ich bin?“, frage ich.

„Den Raum, in dem Vincent auf dich gewartet hat, kenne ich nicht. Aber den kleinen Parkplatz hinter den Naturwissenschaftsräumen habe ich erkannt.“

„Echt? Woher?“

„Schulgarten-AG in der fünften Klasse.“

„Der Tipp war super“, sagt Alexander.

Auf meinen fragenden Blick erklärt mir Tristan: „Nach der ersten Vision bin ich aus dem Bett gesprungen. Ich habe das komplette Cottage zusammengebrüllt, bis endlich alle aufgestanden waren. Während Garric und Linda sich um mich gekümmert haben, hat sich Jeremy ans Telefon gehängt und probiert, Alexander zu erreichen. Er ist im Schulsekretariat gelandet und hat der armen Frau am Telefon eine wilde Geschichte erzählt, dass Alexander unbedingt zu diesem Parkplatz muss.“

„Sie kam in die Bibliothek gerannt und sagte, mein Auto würde gerade aufgebrochen. Nur leider hatte ich keine Ahnung, wo ich hinmusste. Aber es wäre ziemlich suspekt gewesen, wenn ich sie gefragt hätte, wo dieser Parkplatz ist, auf dem ich angeblich mein Auto geparkt hatte.“ Alexander schmunzelt.

„Und dann?“ Ich kenne meinen Hüter lange genug, um zu wissen, dass seine funkelnden Augen eine Pointe in der Geschichte ankündigen.

„Ich habe sie gefragt, wie der schnellste Weg dorthin sei und ob sie eine Abkürzung kenne, die sie mir verraten könnte.“

„Clever.“

„Danke. Trotzdem hat es zu lange gedauert.“

„Woher wusste es Josh?“

„Ein Wächter findet sein Mondkind immer, wenn es in Gefahr ist. Wahrscheinlich ist er seinem Instinkt gefolgt.“

„Gut zu wissen.“

Ich hoffe sehr, dass ich Josh als Wächter nicht allzu oft brauche. Sonst wird er nie ein eigenes Leben haben können, sondern mir ständig zu Hilfe eilen müssen.

Weil die Sonne mittlerweile hinter dicken Wolken verborgen ist, räumen wir unsere Sachen nach drinnen.

„Wann musst du zu Hause sein?“, fragt Alexander seinen Neffen, der rot um die Nase wird.

„I-ich dachte … vielleicht …“

„Na klar, kein Problem. Jetzt weiß ich auch, was in deinem Rucksack ist.“

„Erwischt.“ Mit einem kurzen Seitenblick zu mir versichert sich Tristan, dass es mir recht ist, wenn er heute Nacht bei uns bleibt.

„Aber Sternenhimmel wird heute nix, dafür ist es zu kalt.“ Ich grinse.

Wir machen es uns auf der Couch gemütlich und Tristan berichtet weiter von den Tagen bis zu seiner Ankunft gestern. „Jeremy und Linda haben versucht, hier in Deutschland alle zu erreichen, die dir hätten helfen können: Alexander, Risa, meine Eltern. Ich glaube, Linda hat kurz überlegt, auch die Polizei anzurufen, aber was hätte sie sagen sollen? ‚Mein Gastschüler, der eigentlich ein Seher ist, weiß, dass gerade eine Schülerin von der Dunkelheit entführt wird, und ihr Wächter ist noch nicht stark genug, um ihr zu helfen‘?“

„Das Gesicht des Polizeibeamten hätte ich zwar gerne gesehen“, meldet sich Alexander zu Wort, „aber ernst genommen hätte man es auf keinen Fall.“

„Vor allem, weil mein Vater anwesend war und Vincents Plan unterstützt hat.“ Bei der Erinnerung an die Aufforderung meines Vaters, gefälligst in Vincents Auto einzusteigen, überläuft mich eine Gänsehaut.

„Stimmt, da wäre die Polizei eher hinderlich gewesen oder vielmehr hilfreich für Vincents Plan.“ Alexander schüttelt sich ebenfalls.

„Frau Lu, es tut mir so leid“, flüstert Tristan.

„Dir muss überhaupt nichts leidtun“, antworte ich. „Ohne dich säße ich heute nicht hier. Du hast mich gerettet, und zwar nicht nur, indem du Alarm geschlagen hast. Sondern vor allem dadurch, dass du immer mit mir in Verbindung geblieben bist. Du warst mein Anker, sonst hätte mich die Dunkelheit bekommen.“

„Wie hast du das überhaupt über so eine lange Zeit geschafft?“, fragt Alexander.

„Linda hatte den Geistesblitz, Gracy zu alarmieren, die mit ihrem pinken Pick-up ins Cottage gesaust kam. Wir haben probiert, ob ich ihr Wächterlicht aufnehmen und an dich weiterleiten kann. Ich weiß nicht, ob das funktioniert hat oder ob es letzten Endes einen Unterschied gemacht hätte. Aber es gab mir auf jeden Fall neue Energie. Und dann warst du auf einmal weg.“

Ein gemeinschaftliches Schaudern geht durch unsere Gruppe.

Mir fällt ein, was ich Alexander längst fragen wollte. „Wie hast du es geschafft, dass mich Vincent nicht mitgenommen hat?“

„Tja, da musst du dich unter anderem bei deinem Vater bedanken. Ich glaube, der Moment, als du zusammengebrochen bist, hat ihn aus seiner Erstarrung geholt. Er hat selbst einige von Vincents dunklen Kugeln einstecken müssen. Aber ich denke, der Anblick von seiner Frau und seiner Tochter, die beide reglos am Boden liegen, hat ihn tiefer getroffen als alles zuvor. Er hat seine letzte Kraft mobilisiert und sich Vincent entgegengestellt. Gut, man muss zugeben, dass auch Vincent ziemlich erschöpft war. Ich weiß nicht, ob wir nicht das Blatt hätten wenden können, wenn wir länger durchgehalten hätten, aber …“

„Nein“, sage ich, „ich hatte das Gefühl, dass Vincent mit jedem Treffer stärker wurde. Irgendwie konnte er Josh und mir unsere Energie abziehen. Egal, wie lange wir ausgehalten hätten, Vincent wäre nicht vorher ausgestiegen.“

„Das ist ein interessanter Punkt, da müssen wir in Ruhe noch mal drüber sprechen. Am besten auch mit Josh.“

„Okay.“

„Auf jeden Fall“, fährt Alexander fort, „ging dein Vater auf Vincent los und sagte ihm, er habe erreicht, was er wollte, und solle verschwinden. Ron forderte ihn auf, seine beiden Komplizinnen zu nehmen und ihm aus den Augen zu gehen.“

„Das hat er einfach so gemacht?“ Tristan runzelt die Stirn.

Auch mir kommt das zu einfach vor. Schließlich hatte Vincent uns in diesem Augenblick genau da, wo er uns haben wollte: am Boden.

„Nein, natürlich nicht. Seine Wut war so offensichtlich, dass seine Hände erneut von Dunkelheit umgeben waren. Als ich Ron zur Seite stehen wollte, hat Vincent mich an der linken Schulter erwischt und aus dem Weg gestoßen.“

„Geht es dir gut?“ Mein Vater hat sich vorhin nach Alexanders Befinden erkundigt. Das war dann nicht nur Höflichkeit.

„Ja. Ich hatte einige Stunden kein Gefühl im linken Arm. Auch hier konnte Holly mit ihren Kräutern helfen.“

„Wie ging es weiter?“, fragt Tristan.

Ich boxe ihn in die Seite und ernte einen irritierten Blick.

Alexander lacht und winkt ab. „Zum Glück kamen in diesem Moment deine Eltern um die Ecke gefahren, Tristan. Dicht gefolgt von Holly. Damit waren wir in der Überzahl. Claire und Natascha nutzten das allgemeine Chaos, um sich ins Auto zu flüchten.“

„Feiglinge“, murmelt Tristan und ballt die Fäuste.

Alexander schüttelt den Kopf. „Vincent war immer noch ein unüberwindbares Hindernis. Seine Dunkelheit schuf eine Barriere zwischen euch und uns. Holly wollte sie durchbrechen, doch es ist ihr nicht gelungen. Wir hatten kein Wächterlicht mehr und waren machtlos gegen ihn.“

„Und dann?“, frage ich.

Alexanders Mundwinkel zucken. „Wir hörten die Martinshörner. Erst weit entfernt, dann immer näher und zahlreicher. Das war der Moment, wo Vincent den Rückzug antrat. Er rannte ins Auto und verschwand in einer Wolke aus Staub und umherfliegenden Kieseln. Holly und Tristans Eltern kümmerten sich sofort um dich und Josh. Jeder hatte einen von euch auf der Rückbank liegen und zunächst notdürftig versorgt. Sie wollten gerade auch Risa ins Auto tragen, als der erste Löschzug um die Ecke bog.“

„Löschzug?“, echot Tristan und spricht damit meine Gedanken aus.

Alexander nickt und schaut mich an. „Deine Mutter hatte den Feuermelder ausgelöst, bevor sie auf den Parkplatz trat. Anscheinend war ihr klar, dass wir Unterstützung brauchen. Dass die Leitstelle den Ferienbeginn nicht auf dem Schirm hat und gleich alle Wehren der Stadt alarmiert, war nicht absehbar. Immerhin hat es gereicht, um Vincent in die Flucht zu schlagen.“

Alexander lacht wieder.

Meine Mutter hat mit ihrem Geniestreich die Dunkelheit vertrieben!

Tristan trübt meine Hochstimmung mit seiner Frage: „Die fanden das bestimmt alles andere als witzig, oder? Es hat ja nicht gebrannt.“

„Das stimmt.“ Alexander wird ernst. „Unsere Gruppe sorgte für einige Verwirrung. Ron und ich waren körperlich am Ende. Risa war immer noch bewusstlos. Annemarie und Holly waren bei Lucy und Josh in den Autos geblieben, als sie die Feuerwehr entdeckt hatten. Ludwig tat sein Bestes, um die Situation zu erklären, aber …“

„Ein Feuerwehreinsatz ist ziemlich teuer“, unterbricht Tristan seinen Onkel.

Ich ziehe die Schultern hoch. Werde ich bis zum Ende meiner Tage arbeiten müssen, um den Einsatz aller Wehren unserer Stadt zu bezahlen? Ein bewusst ausgelöster Fehlalarm ist kein Kinderstreich. Was passiert mit Josh? Das ist garantiert der perfekte Anlass für seine Tante, um ihm richtig Ärger zu machen. Ich lasse den Kopf hängen.

Alexander legt mir die Hand aufs Knie und sagt: „Mach dir keine Sorgen. Es ist alles geregelt. Während Ludwig noch mit dem Einsatzleiter diskutiert hat, kam deine Mutter wieder zu sich. Ich weiß nicht, wie sie das geschafft hat, aber sie erfasste die Lage blitzschnell. Sie überzeugte die Feuerwehr, dass sie verwirrt und orientierungslos umhergelaufen war. Ihrer Erzählung nach konnte sie sich an nichts erinnern, nahm aber die Schuld für den Fehlalarm auf sich.“

Ich bin unfassbar stolz auf die Geistesgegenwart meiner Mutter. Gleichzeitig überflutet mich eine Welle der Schuldgefühle, dass ich sie in diese Lage gebracht habe. Nicht nur, was den finanziellen Betrag betrifft, sondern auch den Schaden, den ihr Ansehen durch diese ganze Aktion genommen haben könnte.

„Da sie noch ihre Hausschuhe trug, war sie bestimmt glaubhaft“, sage ich.

„Ja, das war sie“, antwortet Alexander. „Dein Vater erklärte sich bereit, die anfallenden Kosten zu übernehmen. Er bat die Schulleitung nur darum, dass der Name deiner Mutter nicht veröffentlicht wird, damit du keinen Nachteil davon hast. Euer Direktor war einverstanden und hat auf eine Anzeige verzichtet.“

„Das ist großzügig“, sagt Tristan.

„Ich werde nie wieder Taschengeld bekommen und bis zur Rente die Schulden bei meinem Vater abstottern müssen.“ Mir ist klar, dass dies bei allen Möglichkeiten, wie unser Kampf gegen die Dunkelheit hätte ausgehen können, immer noch ein Luxusproblem ist. Aber die drohenden Konsequenzen für mich und für Josh machen mir Angst.

Tristan nimmt mich in den Arm und streicht mir über den Rücken. „Wie ging es weiter?“

„Man brachte deine Mutter zur Kontrolle in die Klinik. Ich habe mein Auto geholt, genau wie dein Vater. Nur musste er seinen Wagen erst mal suchen. Vincent hatte ihn wohl derart ferngesteuert zur Schule gelockt, dass Ron nicht mehr wusste, wo er geparkt hat.“

„Das kann ich mir bei meinem Vater gar nicht vorstellen“, flüstere ich.

Alexander nickt. „Holly hat es geschafft, dass Josh immerhin so weit ansprechbar war, damit er ihr den Weg zu sich nach Hause zeigen konnte. Zusammen mit Tristans Eltern hat sie ihn nach Hause gebracht und sichergestellt, dass er gut versorgt ist. Dein Vater ist zu deiner Mutter in die Klinik und ich habe dich in meine Obhut genommen.“

„Danke, Alexander.“

„Ach, Lucy, das ist doch selbstverständlich.“

„Dann hast du bei Jeremy angerufen und alles erzählt“, sagt Tristan. „Alle waren erleichtert, als der Anruf kam. Davor habe ich ihnen einen ziemlichen Schrecken eingejagt, als ich dich nicht mehr fühlen konnte. Ich habe mir die schlimmsten Dinge ausgemalt. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich klarer denken konnte. Gracy sagte, dass ich es bei unserer tiefen Verbindung auf jeden Fall spüren werde, wenn du nicht nur ohnmächtig wärst. Ich bin zwischendurch einige Male in Gedanken in meine Festung, in die Bibliothek, gegangen, aber du warst nicht da. Warum bist du nicht dorthin gekommen, Frau Lu?“

Sein verzweifelter Blick trifft mich. Ich bekomme eine Ahnung davon, was Tristan in den ersten Minuten nach dem Kampf durchlebt haben muss. „Ich konnte nicht“, antworte ich leise. „Ich habe ganz am Anfang daran gedacht, aber den Ausweg schnell verworfen. Ich konnte Josh nicht den ganzen Kampf alleine überlassen. Und ich hatte Angst, dass Vincent mich in die Hände bekommt und sich auf irgendeine Art Zugang zu meinem Geist, zur Bibliothek und deiner Festung verschafft. Ich wollte nicht, dass er so etwas Wundervolles wie deine Festung zerstört und mit seiner Dunkelheit verseucht. Der Preis war zu hoch. Dann hätte er dich, mich und Erin.“

„Könnt ihr mir mal kurz erklären, wovon ihr sprecht?“, fragt Alexander.

„Später.“ Ich wende mich noch einmal Tristan zu. „Ich weiß, die Festung ist genau für solche Notfälle gemacht. Ich verspreche dir hiermit hoch und heilig, sie im Ernstfall zu nutzen. Aber dort … ich weiß nicht … es fühlte sich anfangs nicht richtig an. Und am Ende hatte ich keine Kraft mehr. Mein Zusammenbruch kam so schnell. Ich konnte nicht mehr denken, noch nicht einmal das Losungswort. Ich habe nur meine Mutter dort liegen sehen. Josh war neben mir am Boden. Es fühlte sich endgültig an und ging alles so schnell. Tut mir leid.“

„Alles gut.“ Tristan meidet meinen Blick und hat sich einige Zentimeter von mir abgewendet. Seine Arme umschlingen mich nicht mehr so zärtlich wie zuvor. Die Zurückweisung schmerzt. Ich möchte ihm meine Entscheidung begründen, weiß aber, dass ich jederzeit wieder so handeln würde.

„Gracy hatte mich überzeugt, dass ich die Verbindung aufrechterhalten muss, weil du noch irgendwo dort draußen warst“, erzählt Tristan. „Ich habe immer wieder nach dir gerufen, dich gesucht und auf ein winziges Lebenszeichen gehofft. Ich war kurz davor aufzugeben, als Alexanders Anruf kam. Jeremy und Linda hatten davor schon beschlossen, alles für eine Abreise vorzubereiten. Ihnen war klar, dass mich nichts mehr in England hielt. Die Bestätigung zu bekommen, dass du lebst, war eine unglaubliche Erleichterung und gab Gracys Theorie recht. Ich versuchte weiter, dich zu erreichen. Gracy hat neben mir ausgeharrt und mich mit Silberlicht versorgt, unbeirrbar und ziemlich stur für so eine kleine Person.“

Ich lächele. Hoffentlich lerne ich Gracy einmal kennen. Sie verdient meinen Respekt.

„Nach einigen Stunden kam endlich so etwas wie ein leichter Schimmer bei mir an“, sagt Tristan. „So kurz, dass ich unsicher war, ob ich es mir nur eingebildet hatte oder nicht. Aber Gracy hatte es auch gespürt. Da wusste ich, ich kann dich erreichen. Also musste ich dich halten und durfte nicht eine Sekunde loslassen. Garric schlug vor, mich in die Nähe der Kammer zu bringen, um von dort Energie zu holen. Er vermutete, dass die Kraftader spüren würde, dass du ihre Hilfe brauchst. Linda war erst strikt dagegen, aber dann ließ sie sich überzeugen. Garric und Gracy haben mich über die Kammer gebracht. Jeremy und Linda hatten, glaube ich, eine Standleitung am Telefon mit Alexander. Gracy wollte erst mitfahren, um mich weiter mit Silberlicht versorgen zu können. Aber nach fast achtundvierzig Stunden war sie am Ende ihrer Kräfte. Garric versprach, auf sie, das Cottage und Maiden Castle aufzupassen und drängte uns zur Abfahrt. Immerhin hatte ich in der Zeit über der Kammer mit meinen Kräften haushalten können. Ob es an Gracy lag oder ob die Kraftader wirklich geholfen hat, kann ich dir nicht sagen.“

„Das werden wir vielleicht nie herausfinden“, entgegnet Alexander. „Aber es ist letzten Endes auch unwichtig. Hauptsache, es hat funktioniert.“

Ich nicke und Tristan fährt fort: „Ich war sicher, ich würde die Fahrt überstehen. Wir hatten in der Zwischenzeit immer mal wieder Kontakt gehabt. Ich konnte spüren, wie du mit jedem Mal mehr zurückkamst und dich erholt hast. Ich brauchte weniger Energie, um die Verbindung konstant zu halten. Trotzdem war ich froh, als du das erste Mal wieder mit mir gesprochen hast. Auch, weil ich wusste, ich bin auf dem Weg und sehe dich bald.“

KAPITEL 4

21. Oktober 1999

Zuletzt habe ich an Lughnasadh auf dem Drywon-Beinn so gut geschlafen. Neben mir befindet sich Tristan noch im Reich der Träume. Ich nutze den Augenblick und betrachte ihn in Ruhe. Seine Gesichtszüge sind erwachsener geworden. Die Zeit an der frischen Luft hat ihm ein paar Sommersprossen um die Nase gezaubert.

Aus dem Erdgeschoss dringt leises Klirren von Geschirr und Besteck nach oben und sorgt dafür, dass ich mich ins Bad schleiche. Beim Blick in den Spiegel schnappe ich nach Luft. Dunkle Augenringe stechen aus meinem Gesicht hervor. Die Sommersprossen sind kaum noch zu sehen. Meine Haare stehen in alle Richtungen ab und verlangen nach einer Dusche. Dass Tristan gestern nicht schreiend die Flucht ergriffen hat, ist ein Wunder.

Einigermaßen wiederhergestellt verlasse ich etwas später das Bad. Alexanders Esstisch ist überladen mit allerlei Frühstückszutaten, die für eine Fußballmannschaft reichen.

„Wer soll das alles essen?“, frage ich.

Ich lache, als seine Antwort aus der Küche kommt: „Du.“

Tristan betritt gerade das Erdgeschoss, da klingelt es. Während mein Hüter mit einem breiten Lächeln zur Tür geht, beruhige ich die jaulende Sato.

Jeremy kommt mit großen Schritten auf mich zu. „Lucy, dear!“ Er zieht mich in eine feste Umarmung. „Was machst du für Sachen? Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Geht es dir gut? Erholst du dich?“

„Wenn du aufhörst, Fragen zu stellen, könnte sie antworten“, weist ihn seine Frau mit einem Augenzwinkern zurecht.

Er löst die Umarmung so weit, dass ich wieder zu Atem kommen kann. Mit gerunzelter Stirn fragt er: „Wo sind deine Sommersprossen hin? Du musst dringend in die Sonne.“

„Das mache ich, versprochen. Spätestens nächstes Jahr im Frühling sind alle wieder da.“

„Das ist zu lange. Eine Lucy ohne Sommersprossen ist wie ein Himmel ohne Sterne.“

„Jeremy, du bringst sie in Verlegenheit“, sagt Linda. Sanft zieht sie ihn von mir weg und umarmt mich. „Hallo, Lucy, ich hatte mich so darauf gefreut, dich kennenzulernen. Aber ich wünschte, die Umstände wären weniger dramatisch.“

„Tut mir leid.“

„Was heißt hier tut mir leid? Wenn sich einer entschuldigen sollte, dann dieser elendige Typ mit der Dunkelheit. Was fällt dem eigentlich ein? So viel Leid, so viel Gefahr. Nein, du musst dich keine Sekunde entschuldigen. Ich bin froh, dass es dir gut geht und dass wir dich wohlbehalten hier haben.“

„Ja, da bin ich auch sehr froh“, antworte ich, „und es ist unabhängig von den Umständen schön, dich endlich kennenzulernen. Ich habe schon viel von dir gehört.“

„Ich auch von dir, glaub mir.“ Linda schnaubt mit einem gutmütigen Seitenblick auf Tristan.

Alexander dirigiert uns an den vollgeladenen Esstisch. Die nächste Zeit vergeht mit munterem Geplauder. Viel zu schnell kommt der Moment, wo sich unser Gespräch den unvermeidlichen ernsten Themen zuwendet.

„Tristan, du weißt, dass Linda und ich zurück nach Maiden Castle müssen“, sagt Jeremy und schaut seinen Schützling an.

Mein Freund nickt und reckt das Kinn nach vorne. Er weiß, was kommt. Ich vermute, er hat seine Entscheidung längst gefällt.

Jeremy lässt sich nicht beirren. „Deine Ausbildung hat erst begonnen. Ja, wir haben einiges erreicht, aber da ist noch so viel mehr. Es wäre wichtig, dass du mitkommst und weiter mit Garric, Linda und mir …“

„Ich bleibe hier.“

„T., ich kann das verstehen.“ Linda dreht sich zu ihm und legt ihre Hand auf seinen Arm. „Ich weiß, du willst Lucy nicht alleine lassen. Aber jetzt abzubrechen, wäre sträflich.“

„Ich muss bei Lucy sein und sie schützen.“

„Wenn du sie schützen willst, musst du deine Fähigkeiten weiter schulen und stärken“, wendet Jeremy ein.

„Es hat gereicht, um sie zu warnen, nicht wahr?“, fragt Tristan.

Für mich sieht es so aus, als wäre es nicht das erste Mal, dass sie diese Diskussion führen.

Hilfesuchend blicken die beiden Hüter zu mir, aber ich muss sie enttäuschen. Ich werde Tristan nicht noch einmal wegschicken. Wenn er bei mir bleiben will, werde ich seine Entscheidung respektieren.

Jeremy seufzt und verdreht die Augen.

„Ich glaube, Sato muss Gassi gehen“, sage ich und stehe auf. „Tristan und ich erledigen das. Ihr könnt euch noch in Ruhe über Hüterkram oder so unterhalten.“

Ich bin froh, dass mir sowohl Tristan als auch Sato widerstandslos folgen.

Wenig später schlendern wir zum Feld nahe Alexanders Haus.

„Danke“, sagt Tristan.

„Nicht dafür. Dasselbe hast du oft genug für mich gemacht.“

„Ich hasse es, wenn sie mich unter Druck setzen.“ Er kickt einen Kieselstein durch die Gegend.

„Willst du mir deine Gedanken in Ruhe erklären?“

„Ich bleibe hier. Da gibt’s nicht viel zu erklären.“

„Etwas ausführlicher geht es bestimmt.“

„Ich ertrage den Gedanken nicht, dass ich dich aus der Ferne nicht richtig beschützen kann. Ich vermisse dich. Deine Nähe, deine Wärme, die Zeit mit dir. Ich will in deinem Leben sein und es nicht nur erzählt bekommen. Ich will an deiner Seite stehen, gemeinsam lachen und Dinge erleben.“

„Dafür haben wir noch ein ganzes Leben Zeit.“

„Zum Lernen auch. Oder willst du mich loswerden?“

„Nein, mein Tristan, ich will dich nicht loswerden. Aber ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass du für mich zurücksteckst und auf etwas verzichtest, das für dich wichtig ist.“

„Du bist wichtig für mich.“

„Du für mich auch, weißt du? Deshalb möchte ich, dass du diese Entscheidung nicht impulsiv triffst. Ich möchte, dass du dabei nicht nur mein Wohlergehen berücksichtigst, sondern auch deines. Du bist ein mächtiger Seher. Du musst lernen, wie du mit der Kraft und deinen Fähigkeiten umgehst, ohne dich in Gefahr zu bringen. Ja, du hast unglaubliche Fortschritte gemacht, doch es gibt unendlich viel zu lernen. Ob das sofort sein muss? Keine Ahnung. Ich bitte dich nur, denk in Ruhe darüber nach. Ich werde jede Entscheidung akzeptieren. Maiden Castle wird noch ein paar Jahre stehen. Das Wissen der Seher hat Jahrtausende überdauert. Ich laufe ebenfalls nicht weg. Ich werde hier auf mich achtgeben, dich vermissen und mich auf den Tag freuen, wenn du wieder an meiner Seite bist.“

Ich sinke auf einen großen Stein am Wegesrand. Ich habe meine Kraftreserven überschätzt.

Tristan verbringt die nächste Zeit damit, mit Sato über die Wiese zu jagen. Als er zu mir zurückkommt, haben sich die dunklen Wolken auf seiner Stirn verzogen.

„Alles klar“, sagt er, „gehen wir zurück.“

Er legt mir den Arm um die Taille. Die wenigen Meter zu Alexanders Haus schweigen wir. Egal, wie er sich entscheidet, es wird für mich in Ordnung sein.

Zurück im Haus verkrümelt sich die erschöpfte Sato in ihr Körbchen. Wir beide nehmen uns Zeit, um an den Tisch zurückzukehren. Von dort schauen uns drei erwartungsvolle, gespannte Gesichter entgegen. Ich will mich zu den anderen setzen. Doch Tristan zieht mich an seine Seite und drückt mir beruhigend die Schulter. Dann verkündet er: „Okay, ich habe mich entschieden. Jeremy und Linda, ich werde heute nicht mit euch zurückfahren.“

Die beiden werden blass. Jeremy setzt zu einer Erwiderung an, doch Linda legt ihm ihre Hand auf den Unterarm und nickt Tristan zu.

„Ich will Zeit mit Lucy verbringen und zu Hollys Hochzeit. Ich bleibe für den Rest der Herbstferien hier. Ich will Josh kennenlernen und Lucy helfen, auf die Beine zu kommen. Wenn in England die Schule wieder losgeht, komme ich zurück. Dann machen wir da weiter, wo wir aufgehört haben.“

Ich bin stolz auf meinen Freund und seinen ausgeklügelten Plan. Obwohl das für uns eine weitere Trennung bedeutet, bin ich erleichtert, dass er nach Maiden Castle zurückkehren will.

Tristan strafft sich. „Eine Bedingung habe ich: Die Weihnachtsferien verbringen wir alle zusammen. Wo, ist mir egal, aber ich werde kein Weihnachten ohne Lucy feiern.“

„Abgemacht“, sagt Alexander und lächelt seinen Neffen an.

„Klingt für mich nach einem Plan“, stimmt Jeremy zu und Linda ergänzt: „Nach einem sehr guten Plan.“

Die anschließende Organisation erfordert Tristans Eltern. Nach einem kurzen Anruf kommen sie innerhalb von Minuten bei Alexander an. Derweil richtet Tristan uns auf der Terrasse ein gemütliches Lager auf der breiten Liege. Wir machen es uns in der warmen Oktobersonne bequem.

„Wann ist Hollys Hochzeit?“, frage ich.

„Am 24. Oktober. Magst du mich begleiten?“

„Das schaffe ich nicht“, gebe ich zu. „Aber du solltest auf jeden Fall gehen.“

„Nein, dann bleibe ich hier und passe auf dich auf.“

„Wieso?“

„Alexander ist auch eingeladen. Er kennt Holly länger als ich.“

„Nichts da, Holly ist deine Herzensschwester. Du gehst auf jeden Fall auf ihre Hochzeit und Alexander auch. Ich komme schon klar.“

„Ich lasse dich nicht alleine“, protestiert Tristan.

Ich bin drauf und dran, einzuknicken, als mir eine Idee kommt. „Josh kann herkommen und mir Gesellschaft leisten.“

„Josh?“

„Ja, klar. Schließlich ist er mein Wächter, nicht wahr?“

„Hm …“

„Was?“

„Nix. Alles gut.“

„Tristan“, mahne ich, „ich kenne dich. Pass auf, ich frage Josh, ob er früher kommt. Dann könnt ihr beide euch kennenlernen. Aber egal, was du sagst, Josh gehört zu mir. Also kommst du am besten mit ihm klar.“

KAPITEL 5

22. Oktober 1999

Am nächsten Morgen weckt mich das Klingeln des Telefons. Ich höre Alexanders angespannte Stimme, kann aber die Worte nicht verstehen. Die Neugier treibt mich aus dem Bett. Am unteren Treppenende empfängt mich mein Hüter und sagt: „Deine Eltern sind auf dem Weg hierher.“

„Ist was passiert?“, frage ich. „Geht es meiner Mutter schlechter?“

Angst umklammert mein Herz. Mein Puls donnert.

„Nein, das nicht. Aber sie haben eine Kabine auf einem exklusiven Expeditionsschiff bekommen. Sie verlassen Hamburg heute Abend in Richtung Südamerika. Die genaue Route erzählen sie dir nachher.“

„So schnell? Ist meine Mutter kräftig genug?“

„Dein Vater sagt, das ist sie. Holly hat auch ihr Okay gegeben.“

Wir haben gerade noch Zeit, Tristan zu wecken und aufzuräumen. Dann klingelt es bereits.

Mein Vater sieht besser aus als bei seinem Überraschungsbesuch vor zwei Tagen. Als meine Mutter den Raum betritt, schnappe ich nach Luft. Sie geht gebeugt. Ihre zittrigen Arme stützt sie auf Krücken. Unter den Augen hat sie dunkle Ränder und ihr blasses Gesicht ist von Falten gezeichnet.

„Mama“, flüstere ich und kann die Tränen nicht zurückhalten. Unschlüssig verharre ich auf der Stelle. Eigentlich will ich zu ihr gehen, aber ich sollte ihr den schnellsten Weg zur nächsten Sitzgelegenheit nicht verstellen.

Tristan nimmt mich in den Arm.

Erst als meine Mutter sich auf einen Stuhl fallen gelassen hat, hebt sie den Blick und lächelt mich an. „Kein Grund zur Sorge, Lucy. Unkraut vergeht nicht.“

Ich gehe vor ihr auf die Knie. „Wie geht es dir?“

„Alles okay.“ Sie atmet schnell, ihre Stimme ist brüchig und ihre Arme zittern.

„Wir hätten zu euch kommen können.“

„Nein, so ist das besser“, sagt mein Vater mit gerunzelter Stirn. „Wir wollen nicht lange bleiben, wir haben einen strengen Reiseplan.“

„Wie ich dich kenne, seid ihr prima in der Zeit“, antworte ich.

Zuerst schaut er mich mit aufgerissenen Augen an und setzt zu einer Entgegnung an. Schließlich nickt er knapp, während er sich auf den Stuhl neben meiner Mutter setzt. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Alexander die kleine Sato an die Leine nimmt. Mit einer Kopfbewegung dirigiert er Tristan aus dem Raum und lächelt mir zu.

Kaum sind wir allein, lehnt sich mein Vater in seinem Stuhl zurück und lässt die Schultern sinken. Seine Mundwinkel entspannen und er hat seine Augenbrauen nicht mehr zusammengezogen. Erneut kann ich einen Kummer erkennen, den ich bei ihm vor dem Angriff nie gesehen habe.

„Wie geht es dir?“, frage ich ihn.

„Gut. Ich habe dir eine Mappe mit allen Informationen zusammengestellt. Die Nummer der Reederei und vom Reisebüro, falls etwas sein sollte. Zu Hause brauchst du dich um nichts kümmern. Die Nachbarin hat ein Auge auf die Post und die Blumen. Wenn du ins Haus möchtest, gib ihr bitte vorher Bescheid. Nicht, dass sie denkt, du wärst ein Einbrecher. Sie hat die Telefonnummer von Alexander und von Tristans Eltern. Sie wird sich melden, falls es etwas mit dir zu bereden gibt. Eventuell fährt sie im Januar ein paar Tage weg. Dann wäre es gut, wenn du nach dem Rechten sehen könntest.“

„Wie lange seid ihr denn unterwegs?“

„Ich habe uns bis Mitte April eine Kabine gebucht.“

„Mitte April!“

„Ja, wir wollten die Route immer schon auf Etappen machen. Jetzt bietet es sich an, die Tour komplett zu buchen.“

„Wo geht es hin?“

„Das siehst du alles in der Ausarbeitung.“

„Schon klar, aber … egal. Gibt es einen Arzt an Bord?“

„Natürlich. Wobei uns ein Schulmediziner nicht helfen kann.“

„Vielleicht nicht, was die Spuren des Angriffs angeht. Aber er kann schauen, dass der Rest ihres Körpers bei Kräften bleibt.“

„Streitet euch nicht“, sagt meine Mutter mit zittriger Stimme. „Holly hat mir Heilkräuter eingepackt und viele Tipps gegeben. Ich denke, ich werde jeden Tag so nehmen, wie er kommt. Das wird schon wieder. Mach dir keine Sorgen.“

„Natürlich mache ich mir Sorgen“, entgegne ich.

„Das musst du nicht, ich passe auf sie auf.“ Mein Vater schaut auf die Uhr.

„Ihr könnt fahren, wenn ihr losmüsst.“ Es zieht mir das Herz zusammen. Zu meiner eigenen Überraschung klinge ich gelassener, als ich mich fühle. „Sicher ist sicher und es ist eine weite Strecke.“

Kaum habe ich zu Ende gesprochen, steht er bereits und hilft meiner Mutter auf. Im Schneckentempo durchqueren wir den Flur und mein Blick fällt auf eine große Reisetasche.

„Ich habe dir ein paar Sachen eingepackt“, erklärt mein Vater. „Allerdings musst du deine Schulsachen holen, wenn die Ferien rum sind.“

„Alles klar, kein Problem.“ Ich will nicht an die Schule denken. Zum Glück ist bis dahin noch Zeit. In diesem Moment haben meine Eltern Vorrang, dann Tristan und übermorgen Hollys Hochzeit.

Mit vereinten Kräften helfen wir meiner Mutter die drei Eingangsstufen vor Alexanders Haustür hinunter. Als sie im Auto sitzt, steht ihr der Schweiß auf der blassen Stirn und ihre Hände zittern wieder. Alexander und Tristan kommen rechtzeitig mit Sato zurück, um einige Worte mit meinem Vater zu wechseln.

„Euer Gepäck sieht gar nicht danach aus, dass ihr ein halbes Jahr weg seid“, stelle ich mit einem Blick in den offenen Kofferraum fest.

Alexander zieht hinter mir scharf die Luft ein.

Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich so lange bei ihm bleibe. Ich riskiere einen kurzen Blick über die Schulter. Sein knappes Nicken und ein aufmunterndes Drücken meiner Hand versichern mir, dass ich willkommen bin.

Dann wende ich mich an meine Mutter, die uns beobachtet hat. Ich muss halb ins Auto klettern, um sie fest zu umarmen. Dabei kämpfe ich gegen meine Tränen an. „Danke Mama, für alles“, flüstere ich.

Sie schluckt und nickt mehrfach. Ihre Wangen sind feucht. „Alles in Ordnung“, antwortet sie leise und verstärkt die Umarmung. Meine Mutter schiebt mich sanft aus dem Wagen und sagt mit einem schelmischen Grinsen: „Du weißt doch, wie es heißt: Kommen wir übern Hund, kommen wir auch übern Schwanz.“

Diese Redensart hat mein Opa früher verwendet.

Tristan und Alexander sind an meiner Seite. Mein Vater steigt ins Auto, verabschiedet sich mit einem kurzen Winken und schließt die Tür.

Nachdem der Wagen außer Sichtweite ist, stehen wir eine Weile stumm auf der Straße vor Alexanders Haus und schauen meinen Eltern nach. Tristan bricht das Schweigen.

„Ein halbes Jahr?“

Ich kann weder reden noch denken. Erst recht will ich nichts von dem fühlen, was auf mich einstürmt. Daher drehe ich mich um und kehre zurück ins Haus.

Der einladend gedeckte Frühstückstisch verhöhnt mich. Mein Magen rebelliert und ich schaffe es knapp ins Bad. Lediglich Sato erwartet mich vor der Badezimmertür und geleitet mich ins Bett. Keine Ahnung, wie lange ich hier liege und an die weiße Wand starre. Mein Kopf ist wie leergefegt. Nach einer Weile wird Sato unruhig und ich höre, wie Alexander mit ihr zu einem Spaziergang aufbricht. Etwas später wird vorsichtig die Zimmertür geöffnet und Tristan legt sich neben mich. Ich rechne es ihm hoch an, dass er einfach nur da ist und mich hält.

Später sitzen wir gemeinsam im Wohnzimmer und ich erzähle ihnen, was ich über die Reisepläne meiner Eltern weiß.

„Darf ich die Route mal sehen?“, fragt Alexander.

„Klar, ich will sie mir auch anschauen. Ich muss ja wissen, wo meine Eltern die nächsten Monate sind.“

Gemeinsam öffnen wir den Umschlag, den mein Vater auf dem Wohnzimmertisch deponiert hat. Wir beugen uns über die mehrfach gefaltete Karte, auf der mit gelbem Textmarker die einzelnen Stationen eingezeichnet sind.

„Okay, Start in Hamburg, Zwischenstopp in Southampton, Dublin, dann Kanaren, Kapverden, Atlantiküberquerung …“, murmelt Alexander und verfolgt die Route mit dem Zeigefinger.

„Wow … Südpol, krass“, sagt Tristan.

Mein Blick folgt der gelben Linie um Südamerika herum und durch den Panama-Kanal.

„25. April, meine Güte“, flüstert Tristan, „das ist eine lange Zeit. Deine Eltern verpassen nicht nur Weihnachten und Silvester, sondern kommen erst einen Tag nach Ostern zurück.“

Langsam dreht er den Kopf zu mir. Er hat die Augen weit aufgerissen und legt mir sanft eine Hand auf die Schulter. Sein schuldbewusster Blick trifft mich mitten ins Herz. Er hat es im selben Moment verstanden, als es mir so richtig klar wurde.

„Mein Geburtstag spielt keine Rolle.“ Ich versuche, mit einem zittrigen Lächeln und einem Schulterzucken über den Schmerz hinwegzutäuschen. Doch eine verräterische Träne löst sich aus meinem Augenwinkel.

„Die Gesundheit meiner Mutter ist wichtiger. Wirklich, es ist kein Problem.“

„Netter Versuch, Frau Lu.“

Tristans mitleidiger Blick bringt mich fast um den letzten Rest Selbstbeherrschung. „Ich werde bei dir sein, wo immer du bist und egal, was die Hüter dazu sagen. Du wirst an deinem Geburtstag nicht alleine sein.“

„Ich bin ja auch noch da“, protestiert Alexander, „aber du hast recht. Lucy wird an ihrem Geburtstag gebührend gefeiert werden.“

„Danke“, wispere ich.

„Meinst du, Risa schafft das alles?“, fragt Tristan.

„Ich hoffe es. Ich glaube, die Anreise ist die größte Strapaze. Sie haben eine Kabine mit Balkon. Also kann sie sich dort entspannen und muss nicht auf die großen Decks, wo alle anderen Passagiere sind. Trotzdem kann der Schiffsarzt ihr nicht helfen, wenn die Dunkelheit übermächtig wird.“

„Holly hätte ihre Flitterwochen auf dem Schiff machen sollen“, sagt Alexander und seufzt leise, „dann hätte jemand ein Auge auf deine Mutter.“

„Ich habe eine Idee!“, ruft Tristan und schnappt sich noch einmal die Karte. „Hm … gar nicht so weit weg. Alexander, darf ich mal telefonieren?“ Mein Freund springt auf. Er wählt eine lange Nummer und trommelt mit den Fingern auf die Tischplatte, bis jemand rangeht.

„Garric? Hi, hier ist Tristan. Kannst du mir die Telefonnummer von Gracy geben? Wie, die ist bei dir?“ Ein Grinsen wandert auf Tristans Lippen. „Gracy, hallo. Pass auf, ich habe eine Frage oder vielmehr eine Bitte. Lucys Eltern brechen heute zu einer Kreuzfahrt auf und haben übermorgen einen Tag Landgang in Southampton. Ich nehme nicht an, dass sie nach London oder Stonehenge fahren. Daher war die Idee, ob du nach Southampton kommen könntest. Würdest du dich mit Risa treffen können und vielleicht Wächterlicht übertragen, um ihre