Vom amerikanischen Traum zum amerikanischen Albtraum - Heinrich Anker - E-Book

Vom amerikanischen Traum zum amerikanischen Albtraum E-Book

Heinrich Anker

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Beschreibung

Nicht erst seit der Finanzkrise von 2008 nehmen die Konflikte in den Gesellschaften des Westens zu. Allgemein wird dies ökonomisch erklärt – mit wachsenden Disparitäten von Vermögen und Einkommen. Davon müsste die Linke mit ihrer Umverteilungsphilosophie profitieren. Im Aufwind befindet sich jedoch die Rechte, obgleich sie mit ihrem Neoliberalismus die sozialen Konflikte noch anheizt. Wie das? Hinter den wirtschaftlichen Spannungen verbirgt sich eine tiefe Sinnkrise. Diese macht sich die Rechte zunutze, indem sie simplizistische Versatzstücke von Sinn anbietet. Mit Erfolg, weil der Mensch nach nichts so sehr strebt wie nach einem Sinn im eigenen Leben. Wie der Neoliberalismus Menschen und Gesellschaften zerstört, wird am Beispiel USA aufgezeigt. Von dort kommen auch mögliche Lösungen.

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Seitenzahl: 360

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99146-757-1

ISBN e-book: 978-3-99146-758-8

Lektorat: Birgit Himmüller

Umschlagfoto: Marian Vejcik | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Heinrich Anker

www.novumverlag.com

Widmung

Für Verena, meine Frau, und Bettina, meine Tochter

Einleitung

„Oneof the greatest reasons why so few people understand themselves, is that most writers are always teaching men what they should be, and hardly ever trouble their heads with telling them what they really are.“

Adam Smith

„How selfish soever man may be supposed, there are evidently some principles in his nature, which interest him in the fortune of others, and render their happiness necessary to him, though he derives nothing from it except the pleasure of seeing it.“

Adam Smith

Die Leitfrage dieses Werks lautet: Weshalb erstarken in zahlreichen Ländern der westlichen Welt in den letzten 30 bis 40 Jahren rechtspopulistische bis (proto)faschistische Bewegungen, deren bisheriger Höhepunkt der 6. Januar 2021 war, als es einem Mob mittels eines Sturms auf das Capitol in Washington D.C. beinahe gelang, die Gewährleistung der Wahl Joe Bidens als neuem Präsidenten der USA zu verhindern? Wie konnte es kommen, dass im Jahr 2020 ca. 74 Mio. WählerInnen ein zweites Mal Donald Trump wählten, dies trotz seines gestörten Verhältnisses zur Demokratie? Es ist davon auszugehen, dass es sich um ein Zeichen einer tiefen Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft handelt. Damit sind jedoch die USA nicht alleine: In etlichen weiteren Staaten des Westens zeigt sich dasselbe Phänomen. Weshalb dies ausgerechnet in westlichen Ländern, die in Sachen demokratischer Freiheiten und materiellem Wohlstand deutlich besser dastehen als der Rest der Welt? Woran fehlt es den Menschen, dass sie zunehmend Parteien und Bewegungen wählen, welche das Recht des Stärkeren verkünden und statt einer funktionierenden Demokratie das Heil einer „starken Führung“ propagieren und dafür Zustimmung finden?

Für die überwiegende Zahl der Autorinnen und Autoren liegen die Gründe auf der Hand: Hinter einem hohen durchschnittlichen materiellen Wohlstand in der westlichen Welt verbergen sich wachsende Einkommens- und Vermögensdisparitäten.

Gegen diese Sichtweise gibt es nichts einzuwenden, aber sie macht den letzten Schritt nicht: Materielle Sorgen und Nöte erklären den Aufschwung antidemokratischer Parteien und Bewegungen in den letzten Jahrzehnten nicht. Die Verunsicherung und Frustration vieler Menschen geht weit über das materielle Sein hinaus: Sie berührt Fragen der Stellung des Individuums in der Gesellschaft; diese wiederum sind verbunden mit den grundsätzlichsten Fragen des menschlichen Daseins überhaupt: „Wo ist mein Platz in dieser Gesellschaft?“ Oder sogar: „Habe ich überhaupt einen Platz im Leben?“ „Bin ich in dieser Welt gewollt?“ „Hat mein Dasein Sinn?“

Um die Tragweite der Sinn-Thematik zu erkennen und zu verstehen, gilt es, sich damit zu beschäftigen, welches denn die existenziellen Bedürfnisse des Menschen sind, wonach er strebt, was ihn motiviert, was ihm Kraft und Zuversicht gibt.

Es gibt etliche Wissenschaftszweige, welche sich mit dem Wesen des Menschen, d. h. mit dem Menschenbild befassen. Im vorliegenden Werk wird auf Erkenntnisse der Philosophie, der Neurobiologie, Anthropologie, bestimmter Zweige der Psychologie, der Evolutionsbiologie und der ökonomischen Verhaltensforschung zurückgegriffen.

Sie alle verweisen darauf, dass das, was den Menschen zum Menschen macht, in seinem Willen zum Sinn liegt. Die Sinnfragen des Menschen beginnen mit Fragen nach dem „Warum?“ und „Wozu?“ alltäglicher Handlungen und reichen bis zum Sinn seines Daseins, seiner Stellung im Kosmos. In diesem würde er sich verlieren, würde er nicht zugleich in der zwischenmenschlichen Kommunikation erfahren, dass er als einmaliges Subjekt etwas besitzt, was ihm nichts und niemand nehmen kann:Würde. Ohne diese Würdigung, ohne diese Wert-Schätzung als Mensch unter Menschen könnte er keine Ich-Identität aufbauen und hätte keinen einigermaßen stabilen Bezugspunkt, von welchem aus er seine Stellung im großen Ganzen definieren könnte – er ginge in diesem verloren. Entsprechende Verunsicherungen, welche letztlich den Selbstwert der Menschen unterminieren, sind das Einfallstor für Usurpatoren, Demagogen und Diktatoren mit ihren vordergründig-einfachen, für Menschen in existenzieller Not und Verzweiflung verführerischen Welterklärungen und Weltbildern.

Das Aufkommen von Mussolinis Faschismus und Hitlers Nationalsozialismus sind vor dem Hintergrund tiefgreifender gesellschaftlicher Krisen und Erschütterungen zu sehen. Vordergründig handelte es sich um materielle Krisen – ohne „1929“ wäre Hitler mit seiner NSDAP wohl nicht Reichskanzler geworden –, dahinter stehen jedoch noch tiefergreifende Problematiken: Sinnkrisen. Die Niederlage des Kaiserreichs von 1918, die Scham des sozialen Abstiegs und der Verarmung sowie die Zerrissenheit der Weimarer Republik als Sinnbild der Zerrissenheit der Gesellschaft trugen neben der wirtschaftlichen Not das Ihre dazu bei, dass viele Bürgerinnen und Bürger nicht mehr wussten, woran bzw. an wen sie sich halten sollten, um ihre Identität und ihre Menschenwürde – ihren Selbstrespekt und die Gewissheit, einen Platz im Leben zu haben – aufrechtzuerhalten. Geistige Nöte dieser Art waren das Einfallstor für den Faschismus und den Nationalsozialismus.

Heute sind diese Tore wieder offen. Im vorliegenden Werk wird versucht, diese Entwicklung mit dem Aufkommen des neoklassischen Neoliberalismus in Verbindung zu bringen: Er „zwingt“ uns mit immer größerer Macht, uns gemäß seinem „Menschen“-Bild, d. h. gemäß dem radikal materialistischen, eigennützigen, asozialen homo oeconomicus, zu verhalten. So etwas wie Sinn und menschliche Wertschätzung kennt dieser kranke Narziss nicht – er klammert das Menschlichste des Menschen aus und veranlasst uns, uns nicht nur im wirtschaftlichen, sondern zunehmend auch im gesellschaftlichen Leben nach der Maxime der Eigennutzenmaximierung zu verhalten. Auf der Grundlage radikalen Eigennutzenstrebens kann jedoch so etwas wie Gesellschaft nicht entstehen – es gäbe kein sich seiner selbst bewusstes Ich und kein entsprechendes Du, welche sich auf der Grundlage von Dialog und Verständigung zur Kooperation verständigen könnten, es gäbe kein Ich und Du, die sich gegenseitig bestätigen, Mensch zu sein und als Individuum in einem größeren Ganzen aufgehoben zu sein, letztlich einen Platz im Leben zu haben, d. h. einen Daseinssinn.

Wenn Sie glauben, dass „der Markt befiehlt“, wenn Sie glauben, „die Gesetze des Marktes zwingen die Menschen zu bestimmten Verhaltensweisen“, wenn Sie glauben, dass „dann, wenn ich etwas nicht tue (z. B. Waffen produzieren), es jemand anderes tut“, wenn Sie glauben, der Markt sei ein Nullsummenspiel, in welchem es nur Sieger und Verlierer gibt, wenn Sie glauben, die „Gesetze des Marktes“ seien unumstößlich wie etwa die Gesetze der Schwerkraft, wenn Sie glauben, dass die Eigennutzenmaximierung der einzige Weg sei, sich im Wirtschafts- und im Gesellschaftsleben zu behaupten, wenn Sie glauben, Ihr Lohn sei eine Entschädigung für Ihr erlittenes Arbeitsleid, wenn Sie glauben, das neoliberale Eigennutzenstreben sei der einzige Weg zu ökonomischer Effizienz, dann hat der neoklassische Neoliberalismus Sie schon „erwischt“; ebenso, wenn Sie versuchen, mittels der „Work-Life-Balance“ etwas an Lebensqualität zu retten, ebenso wenn Sie sich nicht daran stoßen, dass die Wirtschaft wie die Politik Sie mittels materieller „Anreize“ zu einem bestimmten Verhalten veranlassen wollen. Demokratie basiert darauf, dass Bürgerinnen und Bürger etwas tun, weil sie es für sinnvoll halten. Materielle Anreize sind hingegen der Versuch, die Frage nach dem Sinn zu überspielen und die Bürgerinnen und Bürger wie Pawlow’sche Hunde auf bestimmte Verhaltensweisen zu konditionieren und zu dressieren – möglichst ohne, dass sie dies bemerken. In Kreisen der neoklassisch-neoliberalen Wirtschaftslehre hält man Solches für so genial, dass der „Nobelpreis“ für Wirtschaft dafür vergeben wird.

Je mehr die neoklassisch-neoliberale Wirtschaftslehre und -praxis, je mehr auch die von ihr zunehmend determinierte Politik die Stellschrauben so stellt, dass wir uns gemäß dem eigennützigen homo oeconomicus verhalten, desto mehr entschwindet das aus unserem Leben, was uns zu Menschen macht: die Einsicht in den Sinn unseres Daseins und unseres Tuns. Mit ihren einfachen, eklektischen Weltbildern und Welterklärungen gelingt es rechtspopulistischen bis protofaschistischen Kräften, den Durst nach Sinn vieler Menschen – vordergründig! – zu stillen, sie aber letztlich für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren, d.h. ihnen ihre Würde als Subjekt zu nehmen.

Die westliche, ursprünglich christlich-jüdische Zivilisation ist aufgebaut auf dem Prinzip „Glaube, Hoffnung, Liebe“, das Prinzip der ihr feindlich gesinnten rechtspopulistischen bis rechtsextremen Strömungen beruht ausnahmslos auf der Triade „Glaube, Hoffnung, Hass“. Letzterer ist das Schlangenöl, mit dem rechtspopulistische und rechtsextreme Kreise versuchen, die Menschen für sich zu gewinnen. Wo Menschen verunsichert und frustriert und vielleicht schon aufgebracht sind, wo sie eine Sinnleere und Hoffnungslosigkeit quälen, ist es einfacher, sie mit Hass auf- und anzustacheln, als an das Prinzip der Liebe zu appellieren. Denn Hass, d. h. Gewalt, ist einfach, simpel, nackt, direkt, derweil die Liebe – die radikale Antithese zur Gewalt – einerseits ein komplexes Phänomen ist, andererseits jedoch nicht im Geringsten: Wir werden zur Erkenntnis kommen, dass Sinn und Nächstenliebe Entsprechungen aufweisen. Ihre Gemeinsamkeit ist der Gedanke des Dienens und die damit verbundene Sinn-Erfahrung: „Ich bin für jemand gut!“, „Ich bin für etwas gut!“, „Es ist gut, dass es mich gibt!“, „Ich habe einen Platz im Leben!“, „Ich werde respektiert!“ – das ultimative Bedürfnis des Menschen. Dies ist umso fesselnder, als zahlreiche Erkenntnisse der eingangs erwähnten Wissenschaftszweige darauf hindeuten, dass das Bild des Menschen als eines Wesens auf der Suche nach Sinn dem heutigen Wissensstand entspricht.

Weshalb das Beispiel USA? Sie stehen wie kein anderes westlich-demokratisches Land für den neoklassischen Neoliberalismus, und nirgendwo sonst stand die Demokratie in den letzten Jahrzehnten so sehr auf der Kippe wie am 6. Januar 2021 in den USA anlässlich des Sturms auf das Capitol. Aus diesem Grunde wird in diesem Werk versucht, die Krisen der westlichen Demokratien exemplarisch anhand der vielschichtigen Krisen in den USA darzustellen, die Verursacherrolle des neoklassischen Neoliberalismus herauszuarbeiten und nach Möglichkeiten einer „Heilung“ Ausschau zu halten – auf den Nihilismus des Neoliberalismus muss es eine sinnvolle Antwort geben!

Kapitel 1: Was den Menschen zum Menschen macht – auf der Suche nach einem zeitgemäßen Menschenbild

Einleitung

Menschenbilder (Motivationstheorien) und gesellschaftliche Institutionen und Systeme sind untrennbar miteinander verbunden:

Je nachdem, welche Bedürfnisse bzw. Eigenschaften den Menschen zugeschrieben werden, entstehen um sie herum spezifische gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Ordnungen und Systeme. Nachfolgend ein paar Beispiele:

Davon ausgehend, der Mensch sei von Natur aus ein blutrünstiges, gewalttätiges Wesen, kam Thomas Hobbes zum Schluss, dass Individuen ihre Freiheit vollständig einem übergeordneten Wesen (dem Leviathan) bzw. einer übergeordneten Macht (absolute Herrschaft) zu delegieren haben, anders gäbe es keine Ordnung und keinen Frieden. So wurde Hobbes zum Vordenker des Absolutismus.Als Gegenprojekt dazu ging Adam Smith aufgrund empirischer Beobachtungen davon aus, dass der Mensch nicht ein a priori gewalttätiges Wesen ist, das in einen Käfig gesperrt werden muss, denn die gewalttätigen Neigungen des Menschen werden durch zwei intrinsische Gegenkräfte in Schach gehalten: durch die menschliche Empathie und das menschliche Gewissen. Aufgrund dieser zwei inneren Kontrollinstanzen ist der Mensch fähig zu Freiheit und Verantwortung – die Grundvoraussetzung nicht nur für einen freien Markt, sondern für eine freie Gesellschaft schlechthin.Als eine weitere Antwort auf den Absolutismus Hobbes’ gingen aus der Französischen Revolution zum einen die Forderung nach Liberté,Égalité und Fraternité, zum anderen diejenige nach der Dreiteilung der staatlichen Macht und Gewalt in Legislative, Exekutive und Judikative hervor – die sechs Bausteine der Demokratie als gesellschaftliches Ordnungsprinzip.Der neoklassische Neoliberalismus versteht sich als Naturwissenschaft und beruft sich auf das darwinistische Selektionsprinzip der Natur. Er fordert eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung, welche darauf abzielt, dem Stärkeren alle Hindernisse, insbesondere staatliche Gesetzgebung und Kontrolle, aus dem Weg zu räumen.Der Taylorismus geht davon aus, dass Arbeitskräfte bewusst mit ihrer Leistung zurückhalten. Taylors Antwort war das Scientific Management: die Zerlegung der Arbeit in einzelne messbare Arbeitsschritte und das Fließband, welches den Arbeitsrhythmus vorgibt.

Bei der Entwicklung seines Menschenbildes verfolgte Adam Smith einen sozialwissenschaftlichen Approach: „Welche Eigenschaften des Menschen machen – als Alternative zum Absolutismus – eine freiheitliche Gesellschaft und Wirtschaft möglich?“ Als Kitt der Gesellschaft identifizierte Adam Smith die menschliche Fähigkeit zur Empathie und die Steuerung durch das Gewissen.

Schon die Utilitaristen stellten jedoch die Weichen in Richtung Psychologie: Der „Motor“ in Wirtschaft und Gesellschaft war für sie das individuelle Glücksstreben des Menschen. Diesem sprachen sie immerhin noch eine gesellschaftsbildende Komponente zu: Sie sahen das Glück des Ich im Glück des Du, sodass das Glücksstreben aller Individuen zum größten Glück der größten Zahl führen musste. Zwar war ihr Ansatz bereits ein individueller, psychologischer, aber er besaß in der Maxime des größten Glücks der größten Zahl noch eine gesellschaftlich-ethische Komponente. Diese fiel dann mit dem Neoklassiker Edgeworth endgültig weg, und die Wirtschaftslehre wurde zur reinen Mathematik und Psychologie auf der Grundlage des einseitigen Bildes des Menschen als eines radikalen Eigennutzenmaximierers. Als solcher ist der Mensch wie Tiere konditionierbar und damit berechenbar – von da her auch der Titel von Edgeworths Hauptwerk „Mathematical Psychics“. Die Wesensbestimmung des Menschen durch Edgeworth verwandelte sich in der Wirtschaftslehre immer mehr zur Verhaltensnorm. Die Wirtschaftslehre beruht deshalb bis heute nicht mehr auf der empirischen Erkenntnis, wie der Mensch ist – der Ansatz von Adam Smith –, sondern, wie er sein soll bzw. wie er sein muss: Der Mensch wird für das von der neoliberal-neoklassischen Wirtschaftslehre als ideal betrachtete Wirtschaftssystem verzweckt, d. h. einzig als Objekt betrachtet.

Diese rein objektive Sichtweise wird dem Menschen nicht gerecht: Er ist immer und überall zugleich Individuum, d. h. Subjekt, wie auch Teil der Gesellschaft und als solcher „Objekt“. Zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Subjekt und Objekt besteht ein unaufhebbares Spannungsverhältnis, welches der reale Mensch unablässig ausbalancieren muss.

Selbst wenn wir davon ausgehen, dass dieses Spannungsverhältnis unausweichlich ist, stellt sich die Frage: Gibt es ein Konzept, welches das Menschenbild der Psychologie mit demjenigen der Soziologie theoretisch und praktisch verbindet? Gibt es ein Menschenbild, welche die subjektive und objektive Seite miteinander verbindet? Dies ist tatsächlich der Fall: Was Individuum und Gesellschaft bzw. Individuen und gesellschaftliche Institutionen miteinander verbindet, ist das existenzielle Bedürfnis des Menschen nach Sinn – nach dem Sinn seines Tuns und seines Daseins. „Sinn“ besitzt eine radikal individuelle, aber auch eine unverzichtbare soziale, sprich: gesellschaftliche Dimension.

Nachfolgend werden das Sinn-Konzept der Psychologie und der Soziologie in ihren Grundzügen skizziert. Zum einen wird dabei auf die sinnzentrierte bzw. humanistische Psychologie gemäß Viktor E. Frankl zurückgegriffen, zum anderen auf die humanistische Soziologie, wie sie von Walter Rüegg und Ruth Meyer Schweizer an der Universität Frankfurt am Main, sodann an der Universität Bern gelehrt wurde. Anschließend wird versucht, die beiden Konzepte in Theorie und Praxis miteinander zu verknüpfen, um auf diese Weise den Menschen als ganzheitliches Wesen zu erfassen: als Individuum einerseits, als Glied der Gesellschaft andererseits.

„Sinn“ in der humanistischen Psychologie Viktor E. Frankls

Viktor Frankl (1905–1997) ist der Begründer der sog. Logotherapie und Existenzanalyse (LTE). Er versteht sie als sinnzentrierte Psychologie. In Fachkreisen gilt sie nach der Psychoanalyse Freuds und der Individualpsychologie Adlers als dritte (und jüngste) der drei großen Wiener Psychiatrie-Schulen. Sehr vereinfacht ausgedrückt, schreibt Frankl in Übereinstimmung mit Freud den Menschen einen Sexualtrieb – einen Willen zur Lust – zu, in Übereinstimmung mit Adler einen ebenfalls triebgesteuerten Willen zur Macht. Das genuin Menschliche ist nach Frankl jedoch eine dritte Dimension: der menschliche Wille zum Sinn. Er ist nach Frankl das Menschliche des Menschen und folglich die stärkste Motivationskraft des Menschen überhaupt. Deshalb ist er durch nichts zu ersetzen oder zu kompensieren. Gemäß der Frankl-Schülerin Elisabeth Lukas [1998, S. 39] sind

„Menschen um einer sinnvollen Aufgabe willen bereit (…), Verzichte in Kauf zu nehmen und, wenn es sein muss, Bedürfnisse ungestillt zu lassen. Das leibliche und seelische Wohlbefinden spielt bei der Suche nach Sinn eine zweitrangige Rolle. Dem gegenüber kann ein Scheitern bei der Sinnsuche durch kein wie immer geartetes psychophysisches Wohlbefinden austariert werden“.

Grafisch lässt sich Frankls Konzept von „Sinn“ folgendermaßen darstellen:

Abb. 1: Die drei Dimensionen der Motivationstheorie Viktor Frankl

Alle drei Dimensionen von Frankls Motivationstheorie, die geistige, psychische und physische, wirken zu jeder Zeit zusammen. Die psychische und physische Dimension teilt der Mensch mit der Tierwelt, die geistige Dimension ist die dem Menschen eigene. In einer ersten Annäherung ist diese geistige Dimension die vermittelnde Instanz zwischen dem Triebleben des Menschen (Instinkte, Psyche) und der natürlichen, sozialen und kulturellen Außen-, Um- und Mitwelt des Menschen. In dieser geistigen Dimension sieht Frankl die Freiheit des menschlichen Willens und die Freiheit des Menschen (zur Verantwortung) begründet.

„Geist“ ist nach Frankl ein immaterielles Prinzip. Nach Frankl äußert sich jedoch die geistige Dimension mittels zweier empirischer Eigenschaften: Selbstdistanzierung und Selbsttranszendenz.

Selbstdistanzierungbedeutet: Der Mensch ist grundsätzlich fähig, seine Gefühle und Instinkte wahrzunehmen und sie zu objektivieren, d. h. sich davon abzulösen: Wir Menschen denken, fühlen und handeln nicht nur, sondern wir nehmen zugleich wahr, dass und was wir denken, fühlen und handeln. Und uno actu bewerten wir es auch.1Vereinfacht ausgedrückt: Dank unserer Fähigkeit zur Selbstdistanzierung sind wir in der Lage, „über der Sache“ zu stehen.DieSelbsttranszendenz(die Überschreitung seiner selbst) besagt: Aufgrund unserer Fähigkeit zur Selbstdistanzierung können wir Menschen uns grundsätzlich von unseren psychischen Regungen und instinktiven Reflexen ablösen. Wenn der Mensch ein Wesen ist, das im Gegensatz zum Tier nicht allein durch seine psychischen Triebe und Instinkte gesteuert ist, können – und müssen – wir uns an etwas orientieren, was nicht wieder nur wir selbst sind, sondern an etwas, was außerhalb von uns selbst liegt. Ein Beispiel: Ein Schiff findet den Hafen nur, wenn der Leuchtturm fest am Ufer steht und sich nicht auf dem Schiff selbst befindet. In Übereinstimmung mit der philosophischen Anthropologie erscheint der Mensch in Frankls Motivationstheorie – darin stimmt er mit Rüegg/Meyer überein – als zur Welt offenes, nicht nur auf seine Triebe und Instinkte fixiertes Wesen.

Wenn der Blick des Menschen über seine Triebe und Instinkte hinausschaut, fällt sein Blick auf andere Menschen und auf die natürliche Mitwelt. Dabei kommt er in Kontakt mit der Kultur: Nur dank der durch die Gesellschaft vorgegebenen Kommunikationsformen ist der Mensch fähig, seine soziale und natürliche Mit- und Umwelt begrifflich zu erfassen und sinnhaft zu strukturieren, d. h. Phänomene zu benennen, sie einander zuzuordnen und sinnhaft miteinander zu verbinden. Und nur dank der durch die Gesellschaft determinierten Phänomene wie Sitten, Normen, Werte und Beliefs ist er in der Lage, selbst sinnhaft zu handeln und das Handeln anderer Menschen dem gemeinten Sinn nach zu deuten und zu bewerten.

Empirisch sind Logotherapie und Existenzanalyse vergleichsweise schwach unterfüttert und entwickelt. Viktor Frankl sind jedoch namhafte, streng empirisch ausgerichtete „Anwälte“ zugewachsen. So würde Frankl wohl jedem Wort des Evolutionsbiologen Gerhard Neuweiler [2009, S. 189] zustimmen, wenn dieser schreibt: „Was den Menschen gegenüber dem ihm noch so nahestehenden Tier auszeichnet, ist nicht so sehr seine blitzschnelle Auffassungsgabe und analytische Intelligenz als vielmehr seine Fähigkeit, sich zu beherrschen, vor allem seine Gefühle, Wut, Zorn, Freude, Euphorie im Zaum zu halten [Selbstdistanzierung – HA] und seine Reaktionen in den Kontext gesellschaftlicher Gegebenheiten und Überlegungen zu stellen, die sich auf längerfristige interessen- und wertegeleitete Ziele richten [Selbsttranszendenz – HA].“

Bei Neuweiler kommen diejenigen Eigenschaften, welche Frankl unter dem Begriff „Geist“ zusammenfasst – Selbstdistanzierung und Selbsttranszendenz – klar zum Ausdruck.

In „Man’ Search for Meaning“ [Frankl, Viktor E., 1984, S. 17], der englischsprachigen Ausgabe seines Büchleins von 1946 über seine Zeit im KZ (… trotzdem Ja zum Leben sagen) schreibt Frankl: „happiness (…) cannot be pursued; it must ensue, and it only does so as the unintended side effect of one’s personal dedication to a cause greater than oneself or as the byproduct of one’s surrender to a person other than oneself.“ Dabei versteht Frankl „happiness“ als Resultat gelungener Sinnerfüllung.2

In der „dedication to a cause greater than oneself“ distanziert sich der Mensch von seinen eigenen unmittelbaren Interessen, schaut über sich hinaus, überschreitet – transzendiert – sich selbst und erfährt sich als aktives, handlungsfähiges, die Wirklichkeit mitgestaltendes, die Wirklichkeit bereicherndes und in diesem Sinne machtvolles – „selbst-mächtiges“ –, wirksames Wesen. In „one’s surrender to a person other than oneself“, im Dienst an einem Du, löst sich der Mensch wiederum von sich selbst und nimmt sich im Spiegel ebendieses Du – d. h. auf dem Weg der Empathie – als wertgeschätztes, willkommenes Wesen wahr.3 „Dedication to a cause greater than oneself“ und „one’s surrender to a person other than oneself“ besitzen eine gesellschaftlich-normative Dimension – sie gehören zu jenem Universum, welches die Soziologie als „Werte“ bezeichnet: Kategorien des Sollens auf der Dimension „wichtig – unwichtig“.

Die Erfahrung eigener Gestaltungs-Macht, d. h. eigener Wirksamkeit, und die Erfahrung von Wert-Schätzung, die Erfahrung, für ein Du, eine Gemeinschaft, eine Gruppe, ein Team etc. bedeutsam zu sein, sind gemäß LTE existenziell: Sie münden in die (Selbst-)Gewissheit, „gut“ für jemanden oder „gut“ für etwas zu sein, letztlich: „Ich habe einen Platz im Leben!“ Dies ist gleichbedeutend mit der existenziellen, nicht weiter hinterfragbaren Erfahrung des eigenen Daseins-Sinns. Es handelt sich um eine individuelle, subjektive Sinnerfahrung.

Der Sinn des Tuns und des Daseins sind gemäß Viktor Frankl radikal individuell: 1. Jedes Individuum steht an einem anderen Ort im Leben und hat einen anderen Blick auf das Leben, 2. Sinn lässt sich nicht verordnen, sonst verlöre der Sinn gewissermaßen seinen Sinn.4

Die Sozialwissenschaften müssen zur Kenntnis nehmen, dass „Sinn“ etwas radikal Subjektives ist. Aber damit ist das Konzept „Sinn“ aus humanistischer Sicht noch nicht abgeschlossen. Die Sozialwissenschaften haben zum Sinn-Konzept Entscheidendes beizutragen.

„Sinn“ in der humanistischen Soziologie

Soziologie als humanistische Wissenschaft definiert Rüegg [1978, S. 56] folgendermaßen: „Soziologie ist eine systematische Erfahrungswissenschaft, welche soziales Handeln und dessen verfestigten Formen in ihren geschichtlichen Sinnzusammenhängen und ihren Auswirkungen auf zukünftige mitmenschliche Wirklichkeit kritisch analysiert.“5

Wie Frankl geht Rüegg [1982, S. 3] aus „von der anthropologisch gesicherten Feststellung, dass der Mensch in seinem Handeln nicht durch Instinkte und artspezifische Lernprozesse festgelegt ist, sondern sich als weltoffenes Wesen an Sinnbildern orientiert“. Im Gegensatz zu Frankl, für den als Psychologen die Sinnwahrnehmung eine Frage des Hier und Jetzt ist, sieht der Soziologe, dass diese Sinnbilder „auf geschichtlichen Traditionen beruhen, die er [der Mensch – HA] in seinem Alltagshandeln aktualisiert und internalisiert, die jedoch im Hinblick auf die Zukunft nur dann Sicherheit gewähren, wenn sie einen die Alltagserfahrung übersteigenden: transzendenten und von ihr ablösbaren: absoluten Sinn vermitteln“ [Rüegg, Walter, 1982, S. 3] – einen Fix-Stern oder Leuchtturm, ließe sich ergänzen.

Ein solches Sinnbild ist die schweizerische Neutralität: Aufgrund der im Mittelalter noch extremen Armut der Bevölkerung der heutigen Schweiz dienten viele Männer in den Heeren der verschiedensten europäischen Fürstenhäuser als Söldner. In der Schlacht von Marignano im Jahre 1515 trafen die Heere des Herzogs von Mailand und des französischen Königs aufeinander. In der Folge metzelten sich auch Schweizer Söldner der beiden Heere nieder. Zudem erlitt das Mailänder Heer, welches von der schweizerischen Tagsatzung – das damalige Leitungsorgan der 13 Kantone der Schweiz – unterstützt wurde, eine Niederlage. Unter der Erschütterung ob dieser Selbstzerfleischung und der militärischen Niederlage soll der Gedanke der Neutralität der Schweiz entstanden sein. Sie ist bis heute ein wichtiger Bestandteil der nationalen Kultur. Eine außerordentliche Festigung erhielt das Sinnbild „Neutralität“, weil es sich historisch mehrmals bewährt hat. Am Wiener Kongress 1815 war sie eine der Bedingungen dafür, dass die Schweiz ein eigenständiger Staat wurde, und im 1. und 2. Weltkrieg blieb die Schweiz dank ihrer Neutralität davor verschont, Kriegspartei zu werden. Allerdings sei nicht verschwiegen, dass die Schweiz in diesen beiden Kriegen ihre Unschuld teilweise einbüßte, vor allem unter Druck des ‚Giant next door‘ namens Deutschland … dennoch ist die Neutralität eine Leitlinie der schweizerischen Außenpolitik, die vor wichtigen Entscheidungen immer wieder zum Thema wird, als Sinnbild einer Maxime bzw. Leitlinie, die sich in der Vergangenheit bewährt hat und dies deshalb mit einiger Wahrscheinlichkeit auch mit Blick in die Zukunft tun könnte. Das Sinnbild „Neutralität“ muss in der Schweiz niemandem erklärt werden – es ist sehr präsent. Allerdings heißt dies nicht, dass je nach politischer Couleur über deren Interpretation gestritten wird.

Rüeggs humanistisch-soziologisches Konzept von Sinn wird in Abb. 2 dargestellt und erläutert.

Was ist «Sinn»?

Gesellschaftliche Werte vermitteln den Individuen einer Gruppe, welches Handeln oder Verhalten oder allenfalls Unterlassen in einer spezifischen Situation «wichtig» oder «unwichtig» ist. Es ist z.B. wichtig, dass Richter «gerecht» urteilen. Trifft dies in einem konkreten Fall nicht zu, entsteht eine Spannung zwischen IST («ungerechtes Urteil») und SOLL («gerechtes Urteil»). Es kann sein, dass jemand dieses IST nicht akzeptiert und sich für ein gerechtes Urteil (SOLL) einsetzt, d.h. entsprechend handelt. «Sinn» erfüllt sich in diesem Handeln.

Werte sind normativ: Sie signalisieren uns eine Kluft zwischen IST und SOLL, Sinnerfüllung ist die pragmatische Seite von Werten: Es ist jenes Handeln, welches darauf abzielt, die Kluft zwischen IST und SOLL zu schliessen.

Abb. 2: Die Sinndimensionen in der humanistischen Soziologie nach Walter Rüegg; Quelle: Rüegg, Walter, „Der religiöse Bürger“, in: Schriftenreihe der Aktion „Kirche wohin?“, Nr. 2, Februar 1982, S. 4.

Zu den einzelnen Punkten in Abb. 2:

Nr. 1: Subjektivität/Individuum:

Darunter versteht Rüegg [1982, S. 4] „die menschliche Subjektivität, das Selbstverständnis des Menschen, die Sinngestaltung und Sinnerfüllung seines individuellen Kernes“. Diese „entzieht sich bewusstseinsmässig jeder äusseren Dimensionierung, spielt sich im Innern der Person ab, ist somit unzeitlich und unräumlich.“ Dies entspricht dem Konzept des Individuums in der LTE. Die Soziologie ihrerseits sieht jedoch dieses Subjekt eingespannt in die drei sinnstiftendenden Dimensionen der gesellschaftlichen Horizontale (das Subjekt als Teil von Gruppen und Gesellschaften), der Zeit (Vergangenheit – Zukunft von Individuum und Gesellschaft) und der Transzendenz (Raum und Zeit überschreitende, „letzte“, nicht weiter hinterfragbare, „ewig geltende“ Maximen und Glaubenssätze, „letzte Gewissheiten“). Diese drei Dimensionen werden nachfolgend näher erläutert.

Nr. 2: Die gesellschaftliche Horizontale/soziale Dimension (x-Achse):

Im jeweiligen Hier und Jetzt orientiert sich der Mensch an Mitmenschen, gehört zu oder bildet selbst soziale Gruppen und richtet sein Handeln sinngemäß auf Mithandelnde und gesellschaftliche Institutionen aus.

Nr. 3: Der geschichtliche Horizont/historische Dimension (z-Achse):

Die Menschen suchen den Sinn ihres Handelns nicht nur in den sozialen Bezügen auf der x-Achse, sondern auch in der Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft dem Ursprung ihrer individuellen und kollektiven Existenz, worunter erlernte Sitten, Normen, Werte und Beliefs zu verstehen sind.

Nr. 4: Vertikale der Transzendenz/überzeitliche Dimension (y-Achse):

Die Offenheit des Menschen zur Welt bringt es gemäß Rüegg mit sich, dass er auch die Zukunft als offen, d. h. unbestimmt und ungewiss wahrnimmt – als Chance, aber auch als angstmachende Ungewissheit. Damit verbindet sich nach Rüegg das Bedürfnis nach einer Ordnung, die von allen geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingtheiten abgelöst ist und welche zeitlos gültige – absolute – Antworten auf das „Woher?“, „Warum?“, „Wozu?“ und „Wohin?“ der menschlichen Existenz gibt. Die Vertikale der Transzendenz übersteigt das Natürliche und Zeitliche im Hinblick auf die menschliche Zukunftsorientierung, d. h. es handelt sich um einen Fixstern, der von Zeit und Raum unabhängig und deshalb immer da ist.6 Ein besonders in der westlich-demokratischen Welt wichtiges Beispiel ist die Triade „Liberté, Égalité, Fraternité“. Sie ist seit über 200 Jahren eine von Ort und Zeit unabhängige Maxime, welche die Kraft aus ihrer Geschichte zieht und auch als Orientierungsgröße für die Gestaltung der Zukunft dient – diese Triade ist nicht nur die alles überstrahlende Leitgröße von Staat und Gesellschaft in Frankreich, sondern sie dient auch vielen NGOs, welche weltweit für die Menschenrechte – Korrelat zu Liberté, Égalité, Fraternité – kämpfen, als Leitstern. Insofern als die Transzendenz „den Kern des individuellen Selbstverständnisses mit dem Übernatürlichen und Überzeitlichen verbindet, können wir sie als die religiöse Dimension bezeichnen“. [Rüegg, Walter, 1982, S. 5]. Will heißen: Der Fixstern „Liberté, Égalité, Fraternité“ verleiht dem Individuum einen Halt, Sinnorientierung und Kraft, wenn es sich an diesen hält, d. h. sich an diesen zurückgebunden fühlt und ihn immer wieder aufnimmt – im Wissen darum, dass er auch von den anderen Mitgliedern einer Gruppe oder Gesellschaft als Leitgröße anerkannt wird. Die lateinischen Verben religare („zurückbinden“) und religere („wieder aufnehmen“) prägen den Inhalt des Begriffs „Religion“.

Nach Rüegg kann die religiöse Sinndimension – sie trägt dazu bei, die Ungewissheit der Zukunft in Zuversicht zu transformieren, Angst in Hoffnung und Entschlossenheit – die verschiedensten Formen annehmen. Sie reichen von Horoskopen, pseudowissenschaftlichen Psychologien über Stammesriten, Sektenschwärmerei, Staatskulten und Weltreligionen bis hin zu philosophischen und wissenschaftlichen Weltanschauungen, soweit sie aus der Sicht einer Gemeinschaft oder Gesellschaft den Anspruch einer absoluten Gültigkeit erfüllen – bis hin zu Heraklits „Alles fließt“, Camus’ „Sisyphe heureux“ und Formen des A-Theismus, der auch Maximen – Fixsterne – anerkennt, die unabhängig von Ort und Zeit als gültig betrachtet werden können.

Gemäß Rüegg liegt allen diesen i. w. S. religiösen Ausdrucksformen eine jeweils in sich stimmige und damit ihren Anhängern und Anhängerinnen plausibel erscheinende symbolische Ordnung der Zukunftserwartungen zugrunde. Diese Ordnung „wird jedoch handlungsmässig erst wirksam, wenn sie über die unmittelbare Beziehung zwischen der überzeitlichen Vertikalen der Religion und der individuellen Dimension der Selbstbestimmung hinaus auch die soziale Horizontale und den geschichtlichen Horizont erfasst“. [Rüegg, Walter, 1982, S. 6]. Will heißen: Religiöse Glaubenssätze und Maximen entfalten nach Rüegg ihre sinnstiftende Wirkung erst dann voll, wenn sie von allen Mitgliedern einer Gruppe geteilt, d. h. als gültig anerkannt werden: Erst wenn das Ich vom Du und das Du vom Ich weiß, dass sie sich an denselben Fixsternen orientieren, können sie sinnhaft miteinander interagieren, d. h. dann, wenn sie dieselbe „Religion“ verfolgen.

Erst die Stabilisierung religiöser Vorstellungen mittels sozialer Institutionen, Rollen und Normen, welche auch den folgenden Generationen übermittelt werden, vermittelt eine über die unmittelbaren Zwecke hinausgehende, in die Zukunft weisende, sinnstiftende Perspektive, welche uns die Angst vor der Zukunft zu nehmen vermag. Ein Gegenbeispiel: In den skandinavischen Ländern war die Lebenszufriedenheit sehr lange überdurchschnittlich hoch, weil der Sozialstaat – gewissermaßen eine Staatsreligion – eine hohe Zustimmung unter den Bürgerinnen und Bürgern genoss. Deshalb konnten die Skandinavierinnen und Skandinavier mit Zuversicht in die Zukunft blicken und ein vergleichsweise unbeschwertes Leben führen. Aus hier nicht weiter zu vertiefenden Gründen kommt dieses Modell immer mehr unter Druck, immer mehr Menschen beginnen an dessen Gültigkeit und Verbindlichkeit zu zweifeln, und die eigenen Zukunftsaussichten verdüstern sich – es machen sich Zukunftsangst und Sorgen bereit, und es kommt zu Verteilungskämpfen, wie sie zuvor noch nicht bekannt waren. Ein ähnliches Phänomen zeigt sich in den USA: Die transzendenten Fixsterne der Declaration of Independence wie Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz, Recht auf Leben, Freiheit, Pursuit of Happiness und Sicherheit sowie das Recht auf eine Regierung, welche sich für das Gemeinwohl einsetzt, verlieren nicht zuletzt vor dem Hintergrund zunehmender Einkommens- und Vermögensdisparitäten an Glaubwürdigkeit und verbindender Kraft. Menschen, die sich mit diesen Maximen verbunden fühlen, müssen feststellen, dass sich Teile der Gesellschaft zu ihrem eigenen Vorteil immer weniger daran halten. Dies weckt Zukunftsängste, Wut, nicht respektiert zu werden, Gefühle der Machtlosigkeit und Hass auf bestimmte Bevölkerungsgruppen oder (vermeintlich) eigennützige Eliten, denen man die Schuld für das eigene Elend zuschreibt. Unter diesen Bedingungen kommt es zum gesellschaftlichen Zerfall. Dieser ist zugleich auch eine Bedrohung der persönlichen Identität der Menschen einer Gesellschaft: Woran kann man sich noch halten? Was gilt noch? Was bringt die Zukunft?

Der Mensch steht im Leben und erfährt und empfindet dann sein Tun und Handeln bzw. sein Dasein als sinnvoll (vgl. Abb. 3),

wenn er weiß, dass sein Handeln im Einklang mit lange gültigen Maximen steht wie die schon über 200 Jahre existierenden Menschenrechte (Transzendenz),wenn er Teil von Gruppen ist, in denen diese Maximen als gültig erachtet werden und sich die Gruppenmitglieder daran halten (soziale Dimension),wenn diese Maximen sich in der Vergangenheit bewährt haben, in der Gegenwart bewähren und man davon ausgehen kann, dass sie dies auch in Zukunft tun werden (zeitliche Dimension).

Eine besondere Maxime erwähnt Adam Smith: Eine Gesellschaft kann nicht existieren, wenn ihre Mitglieder nicht davon ausgehen können bzw. nicht die Ansicht teilen, dass es eine ausgleichende Gerechtigkeit gibt.

Abb. 3: Die drei Sinndimensionen gemäß humanistischer Soziologie

Einerseits ist Sinn nach Auffassung der humanistischen Psychologie etwas radikal Subjektives, andererseits ist jeder Mensch immer in die drei Dimensionen der Sinnstiftung gemäß humanistischer Soziologie eingebunden: Er wird in eine Gruppe hineingeboren (soziale Dimension) und teilt deren Vorstellungen von Geschichte, Gegenwart und Zukunft (zeitliche Dimension) sowie deren Vorstellung von Transzendenz (Religion i. w. S.). Diese drei Sinn-Dimensionen sind dem Individuum vorgegeben – es handelt sich um objektive Sinn-Dimensionen. Seinen individuellen, subjektiven Sinn findet das Individuum sodann in der Auseinandersetzung mit diesen drei objektiv vorgegebenen Sinn-Dimensionen.

Müssen die Sozialwissenschaften zur Kenntnis nehmen, dass „Sinn“ einen radikal individuellen Aspekt hat, muss die Psychologie ihrerseits zur Kenntnis nehmen, dass „Sinn“ immer auch eine soziale, d. h. gesellschaftliche, eine zeitlich-historische und eine transzendente Dimension besitzt. Individuelle Sinn-Findung ist immer in den Kontext gesellschaftlicher, objektiver Sinn-Gebung eingebettet.

Wie geht dies zusammen?

(Selbst-)Transzendenz – das Scharnier zwischen Individuum und Gesellschaft bzw. zwischen Psychologie und Soziologie

Gesellschaftliche bzw. kollektive Sinn-Systeme sind generalisiert – sie kommen den Individuen als vorgegeben, als entpersonalisiert und in diesem Sinne objektiv entgegen: „Man“ orientiert sich an bestimmten Werten und Normen, „man“ interpretiert die Vergangenheit in bestimmter Weise, „man“ blickt in bestimmter Weise in die Zukunft, „man“ pflegt bestimmte religiöse, philosophische u. a. Glaubenssätze.

Im Idealfall dient das kollektive Sinnsystem einer Gruppe oder einer Institution ihren Angehörigen als Rahmen oder Betätigungsfeld, in welchem sie ihren individuellen Sinn verwirklichen können. Das kollektive Sinnsystem ist das objektive Sinnangebot einer Gruppe oder Institution, in welchem die dazu gehörenden Individuen ihren eigenen Sinn finden und realisieren können. Ein Beispiel ist das kollektive Sinnsystem der weltberühmten Mayo-Klinik.

Dessen transzendente Komponente lautet: „The needs of the patient come first!“ Dies ist das oberste Sinnangebot der Mayo Clinic an Menschen, die in der Pflege und/oder Heilung leidender Menschen ihren individuellen Willen zum Sinn erfüllen wollen. So wird die Mayo-Klinik für diese Mitarbeitenden ein Mittel und ein Weg, selbst aktiv in die Welt einzugreifen, etwas in die Welt zu bringen und daraus die Erfahrung der eigenen Wirksamkeit und Wertschätzung zu beziehen.

Letztlich ist es diese in der Transzendenz verankerte Maxime, welche die Mayo-Klinik, ihre Mitarbeitenden und Patientinnen und Patienten zusammenbringt und deren individuellen Sinn-Strebungen miteinander zu einem großen Ganzen verknüpft – dies ist die soziale Dimension des kollektiven Sinnsystems der Mayo Clinic. Dieses Wissen verbindet alle „Stakeholder“, d. h. die Mitarbeitenden – Ärzteschaft, Pflegende, Administration – und die Patientinnen und Patienten und deren Angehörigen. Wo alle wissen, dass alle am selben Strang ziehen, kann eine solche Institution, sei es ein Hospital, ein NGO, ein privatwirtschaftliches Unternehmen, ein Sportclub usw. usf. außerordentliche synergetische Kräfte mobilisieren – es „brummt“.

Es kommt die dritte, zeitliche Dimension hinzu: Die Mayo Clinic wurde 1889 gegründet. Und seit je pflegt sie ihre hohen Standards – sie werden von Generation zu Generation weitergegeben, und die Mayo Clinic blüht. Sie zählt immer wieder zu den besten und renommiertesten Spitälern weltweit, und es ist für Medizinerinnen und Mediziner wie für die Pflegenden ein Ehrentitel, dort gearbeitet zu haben oder dort zu arbeiten. Die Kraft der transzendenten Dimension (in Zusammenhang mit Unternehmen u. a. Institutionen wird heute oft von „Mission“ oder „purpose“ gesprochen) und die Stärke des sozialen Zusammenhalts über Generationen hinweg zeigen, dass sich die Maxime, welcher die Mayo Clinic folgt, bewährt hat. Wenn man sie weiter pflegt, darf man zuversichtlich in die Zukunft blicken.

Institutionen mit einer ihre Eigeninteressen (Profitmaximierung, Selbsterhaltung) überschreitenden Mission – es kann sich dabei um jede Art von Institutionen handeln, von Spitälern über private und öffentliche Unternehmen, Verwaltungen, NGOs, Gewerbebetriebe, aber auch um Gruppen, beginnend bei der Zweierpartnerschaft über Gemeinschaften, Vereine, Clubs usw. – funktionieren als Sinn-Angebote an Individuen. Wenn sich diese darauf einlassen, können sie innerhalb dieser Institution ihren eigenen Willen zum Sinn leben. Solche Institutionen haben die Funktion der Sinn-GEBUNG, die Individuen haben darin die Gelegenheit zur Sinn-FINDUNG. Institutionen, welche Sinn-Gebung und Sinn-Findung in einem dialogisch partizipativ-konstruktiven Spannungsverhältnis zu halten vermögen, sind sich selbst verstärkende Systeme.

Das Zusammenspiel der kollektiven und der individuellen Sinnsysteme ist kaskadiert. Die kollektive sinnstiftende Mission der Mayo Clinic – „The needs of the patient come first!“ – hängt nicht in der Luft: Sie lässt sich an Maximen der Declaration of Independence der USA von 1776 – eine der ultimativen Quellen des kollektiven Sinnsystems der USA – festmachen, z. B. an den Maximen „Life“ und „Pursuit of Happiness“. Mit ihrer Mission stellt sich die Mayo Clinic in den Dienst der US-amerikanischen Gesellschaft bzw. des Lebens der Menschen. Letztere will sie so gut heilen, dass sie weiterhin ein sinnvolles Leben („Pursuit of Happiness“) führen können.

Was bei obersten Maximen der USA beginnt, setzt sich in der Mayo Clinic auf einer bereits konkreteren Ebene fort. Die Maximen der Mayo Clinic als Ganzes müssen sodann auf die verschiedenen Units heruntergebrochen werden, dort auf die Subunits usw. usf., bis zu den einzelnen Individuen. Dabei ist deren Arbeitsinhalt als Dienst an die jeweils übergeordneten Units zu definieren. Die Arbeitsinhalte sind mit den sie ausführenden Mitarbeitenden partizipativ so zu gestalten, dass sie darin einen sinnvollen Beitrag an das große Ganze der Mayo Clinic bzw. allenfalls an die Maximen der Declaration of Independence erkennen und sich mit ihren Fähigkeiten optimal einbringen können – eine wichtige Quelle der Erfahrung von Zugehörigkeit, Selbstwert und Daseinssinn für die Mitarbeitenden sowie Patientinnen und Patienten.

Wenn sich Gemeinschaften, Gruppen, Institutionen, Organisationen in Freiheit und Verantwortung an gemeinsamen obersten Maximen orientieren, können sie sich zwecks des Dienstes an diesen Maximen miteinander verflechten. So entsteht ein dichtes Netzwerk, das im Hinblick auf die gemeinsam verfolgten Maximen hohe Synergien zu entwickeln vermag. Es ist kein Zufall, dass die westlichen Demokratien diesbezüglich ausserordentliche Durchschlagskraft entwickelten. Ebenso ist es kein Zufall, dass in den westlichen Demokratien das Gesundheitssystem heutzutage in der Krise steckt: Es fehlt am gemeinsamen Verständnis der Akteure, was Gesundheit ist.7 Unter dem Zeichen des neoklassischen Neoliberalismus wurde die Gesundheit der Medizin entrissen und der Ökonomie überantwortet – außer bei der Mayo Clinic …

Nachfolgend soll auf einige wesentliche Aspekte des Zusammenspiels zwischen subjektiver, individueller Sinn-Findung und objektiver, gesellschaftlicher Sinn-Gebung hingewiesen werden:

Kollektive Sinn-Systeme werden durch die drei Dimensionen der Transzendenz, der sozialen Beziehungen sowie der zeitlich-historischen Dimension aufgespannt. Das kollektive, generalisierte Sinn-System bietet den Individuen den äußeren Rahmen ihres eigenen Sinn-Systems und ihrer eigenen Sinn-Verwirklichung.Aufgrund der Selbstdistanzierung und der Selbsttranszendenz haben alle Individuen einen ganz eigenen Blick auf die Welt; aus diesem Grunde ist ihr eigenes Sinn-System nicht deckungsgleich mit dem umfassenden generalisierten und auch nicht mit demjenigen der anderen Individuen.Jeder Mensch wird in ein bereits bestehendes kollektives, generalisiertes Sinn-System hineingeboren (Sinn-Gebung), hat diesem gegenüber jedoch dank der Fähigkeit zur Selbstdistanzierung und Selbsttranszendenz Ermessens- und Spielräume (Sinn-Findung).Es kann sein, dass diese Spielräume sehr eng sind: Als Gefangenem in Robben Island blieb Nelson Mandela noch eine allerletzte Freiheit: diejenige seiner Gedanken. Selbst in sog. totalitären Institutionen wie z. B. dem Militär entwickeln Menschen als geistbegabte Wesen Strategien, um sich der totalen Überwachung und Kontrolle zu entziehen und sich Freiräume zu erobern [Goffman, Ervin, 1983].8Die drei Dimensionen des generalisierten Sinn-Systems sind interdependent. Veränderungen auf der einen Dimension ziehen bestimmte Veränderungen auf den anderen mit sich. Veränderungen auf den drei Dimensionen des kollektiven Sinnsystems führen auch zu Veränderungen der Sinn-Systeme der Individuen und umgekehrt. Kollektive und Institutionen sind dann robust, d. h. nach außen adaptiv und nach innen integrativ, wenn zwischen dem kollektiven und dem individuellen Sinn ein Spannungsverhältnis besteht, und solange dieses Spannungsverhältnis auf konstruktive – partizipative – Art austariert werden kann.Diese Ausbalancierung ist so lange funktional, wie sie den Individuen die Erfahrung eigener sozialer Wirksamkeit und Wertschätzung und damit letztlich die Erfahrung der Sinnhaftigkeit ihres Daseins zu vermitteln vermag, die Erfahrung, Subjekt zu sein, die Erfahrung, angehört zu werden und wirksam zu sein, d. h. das eigene Schicksal mitbestimmen zu können.Gesellschaftliche Einheiten sind so lange stabil, als sie den Individuen die Erfahrung der Sinnhaftigkeit ihres Daseins zu bieten vermögen.9

Das sinnzentrierte Menschenbild im Realitätscheck

Das hier entwickelte sinnzentrierte Menschenbild soll nachfolgend einem ersten kurzen Check unterzogen werden. Ein herausforderndes Phänomen ist die Frage: Wie kommt es, dass Menschen, welche in das Fahrwasser eines Idols, eines Demagogen, eines Usurpators oder gar eines Diktators, einer Ideologie, einer Verschwörungstheorie oder Sekte gelangt sind, mit rationalen Argumenten oder Appellen an den „gesunden Menschenverstand“ nicht mehr von ihrer Haltung abzubringen sind? Ein solches Beispiel ist der Nationalsozialismus. Es war ein Fanal, als Goebbels am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast in die Menge schrie: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Und diese antwortete mit einem dreifachen „Sieg Heil!“ – rauschhaft den eigenen Tod in Kauf nehmend.10

Der Historiker Wolfgang Mommsen [1995] fasst die deutsche Epoche von 1890–1918 unter „Bürgerstolz und Weltmachtstreben“ zusammen. Statt der allgemein erwarteten sieg- und ruhmreichen Rückkehr der Väter und Söhne zu Weihnachten 1914 implodierten diese Welt und das damit verbundene generelle Sinnsystem mit der Niederlage Deutschlands im 1. Weltkrieg 1918 vollständig. Statt stolze Bürger auf dem Schlachtfeld gedemütigte, statt des Platzes an der Sonne als neues Weltreich die Schmach der Niederlage. Mit dem Untergang des Kaisertums …

brach die transzendente Dimension – das Kaiserreich – zusammen, und der die Nation, die Familien und die Individuen behütende und beschützende Übervater verschwand,der rote Faden der mehr als 1000 Jahre übergreifenden glorreichen historisch-zeitlichen Dimension des Hl. Römischen Reichs Deutscher Nation riss, eine Zukunftsperspektive war auch aufgrund der politischen Wirren und der schwachen Demokratie nicht in Sicht, undin der sozialen Dimension finden sich gedemütigte, auf dem Feld geschlagene, oft versehrte und gescholtene Veteranen, trauernde Hinterbliebene und Millionen verarmter, gedemütigter Menschen ohne Zukunftsaussichten, ohne Hoffnung. Sie verstanden die Welt nicht mehr.

Thomas Mann und der 1. Weltkrieg

„Mit Beginn des Ersten Weltkriegs verlor sich Thomas Mann in einem Rausch des Nationalismus. Sein 600-seitiger Essay Betrachtungen eines Unpolitischen schlug streckenweise völkische Töne an: Man verteidigte nicht nur die besonderen Traditionen und Färbungen der deutschen Kultur, sondern steigerte sich vor dem Hintergrund der Weimarer Klassik, des Deutschen Idealismus und der Ästhetik der deutschen Romantik in ein Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Nationalkulturen hinein.“ [Wittstock, Uwe, 2021, S. 93]

Das totale Sinn-Vakuum und eine vollständige gesellschaftliche Paralyse – dies war der Zustand des generalisierten Sinn-Systems Deutschlands unmittelbar nach dem Krieg. Es gab keine Gewissheiten mehr, an denen sich die Menschen hätten festhalten und sich aufrichten, nichts mehr, worauf sie hätten hoffen können. Die Implosion des generalisierten Sinnsystems wirkte sich auch auf die Sinnwahrnehmung der Individuen aus: Sie verloren ihren einstigen Halt in der Obrigkeit des Kaisers, sie verloren, auf dem Schlachtfeld geschlagen, jenen persönlichen Stolz, welcher sich einst mit der Zugehörigkeit zum Kaiserreich, zur Nation der Dichter und Denker und zur globalen technologischen Führungsmacht verband. Sie verloren, mehr oder weniger kriegsversehrt und verarmt, ihren sozialen Status und Selbstwert – die Zeit schien stillzustehen. Aufgrund der politischen Zerrissenheit Deutschlands in den folgenden Jahren konnte sich kein neues, tragfähiges kollektives Sinnsystem etablieren.

Die Erfahrung der Deklassierung in der Folge des 1. Weltkrieges

„Ein britischer Geistlicher reist durch Deutschland und ist betroffen von der Armut vieler Menschen (…). In einem kleinen Hotel in einem Landstädtchen, wo ich in einer Art Vorraum zu sitzen pflegte, bemerkte ich ehrbar aussehende alte Leute, die von Zeit zu Zeit gleich Schatten ein- und ausschlichen. Als einer von ihnen herauskam, folgte ihm der Hotelbesitzer und sagte seufzend: ‚Das bricht einem das Herz. Sie haben wohl einige dieser Leute gesehen. Sie gehören zu den angesehensten Bürgern unserer Stadt, die sich vor dem Krieg zur Ruhe gesetzt hatten und Stammgäste unseres Kaffees waren. Sie schleichen jetzt gelegentlich herein und bitten um eine Tasse Kaffee oder sie sehen, ob ich irgendein kleines Geschäft für sie zu erledigen habe.‘ Man sieht solche Leute kaum auf der Straße, weil sie so wenig wie möglich ausgehen und so unendliche Sorgfalt darauf verwenden, ihr Äußeres in Ordnung zu halten. Aber sie bilden einen tragischen Hintergrund zu dem Leben des ganzen Landes.“ [Frankfurter Zeitung, 1923]

Die Sehnsucht nach der einigermaßen geordneten Vorkriegszeit, nach einstiger nationaler Größe, sozialer Stabilität und persönlichem Bürgerstolz war deshalb virulent – zumal nach der Niederlage von 1918 weitere Schläge folgten: 1923 die Ruhrkrise11, eine horrende Inflation als Folge des Siegfriedens und der damit verbundenen Reparationsforderungen der Alliierten und 1929 der US-Börsencrash, welcher die Wirtschaftswelt und mit ihr die ganze Gesellschaft noch weiter ins Elend stürzte.

Die Sozialisten als wichtige Gegenkraft zum Nationalsozialismus hatten nach Martin Broszat [1983]12 auf diese nicht nur wirtschaftliche, sondern auch gesellschaftliche und geistige Krise keine Antwort: „Eschmann sah geradezu einen Bedingungszusammenhang zwischen der im Massenerfolg des Nationalsozialismus zutage tretenden ‚Krise des Bürgertums‘ und einer ‚Krise des Sozialismus‘. Der Utopieverlust des organisierten deutschen Sozialismus, sein ‚Mangel an humanen Elementen, wie sie dem romanischen Sozialismus, an religiösen, wie sie dem englischen eigentümlich sind (beide über die Klassen hinaus wirkend)‘, die ‚Ausmerzung der Mitleidsidee‘ zugunsten einer geschlossenen, in sozioökonomischen Gesetzmäßigkeiten begründeten Ideologie, von der aus der ‚Untergang‘ oder die ‚Proletarisierung‘ des Mittelstandes doktrinär verkündet werde, habe die real existierende sozialistische Bewegung in eine fatale Isolierung gebracht.“