Vom Ende eines langen Sommers - Beate Teresa Hanika - E-Book

Vom Ende eines langen Sommers E-Book

Beate Teresa Hanika

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Marielle lebt als Bildhauerin in Amsterdam. An einem der ersten warmen Frühlingstage kehrt die Vierzigjährige mit einem riesigen Strauß roter und blassrosa Tulpen vom Bloemenmarkt zurück und findet vor ihrer Wohnungstür ein Paket. Altmodisch verschnürt und geheimnisvoll. Der Inhalt: Tagebücher ihrer vor kurzem verstorbenen Mutter Franka. Ein Leben lang fühlte Marielle sich von ihr unverstanden. Immer war ihr diese stolze, kühle Frau fremd geblieben. Nun beginnt sie zu lesen. Von jenem langen Sommer 1944, den Franka auf einem Gut in der Toskana verbracht hatte. Von einer Begegnung, die das Leben der jungen Frau für immer veränderte. Und von einem Verhängnis, das über die Generationen hinweg zu wirken scheint.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 358

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

»Bei vielen Dingen ist es einem nicht klar, dass man sie zum letzten Mal erlebt. Mir war nicht klar, dass es der letzte Sommer mit meiner Mutter werden sollte.«

Marielle lebt als Bildhauerin in Amsterdam. An einem der ersten warmen Frühlingstage kehrt die Vierzigjährige mit einem riesigen Strauß roter und blassrosa Tulpen vom Bloemenmarkt zurück und findet vor ihrer Wohnungstür ein Paket. Altmodisch verschnürt und geheimnisvoll. Der Inhalt: Tagebücher ihrer vor kurzem verstorbenen Mutter Franka. Ein Leben lang fühlte Marielle sich von ihr unverstanden. Immer war ihr diese stolze, kühle Frau fremd geblieben. Nun beginnt sie zu lesen. Von jenem langen Sommer 1944, den Franka auf einem Landgut in der Toskana verbracht hatte. Von einer Begegnung, die das Leben der jungen Frau für immer veränderte. Und von einem Verhängnis, das über die Generationen hinweg zu wirken scheint.

Autorin

Beate Teresa Hanika, geboren 1976, lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Regensburg. Für ihre Jugendbücher wurde sie u.a. mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet und für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Der Roman »Das Marillenmädchen«, ebenfalls bei btb erschienen, wird in sechs Sprachen übersetzt.

Beate Teresa Hanika

Vom Ende eines langen Sommers

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2018 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: semper smile, München unter Verwendung eines Motivs von © Getty Images/Fischer Floriane/EyeEm Satz: Uhl + Massopust, Aalen Alle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-641-19618-9V002
www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

Für meine Schwestern Sanne und Stift

Prolog

Bei vielen Dingen ist es einem nicht klar, dass man sie zum letzten Mal erlebt. Der letzte Blick auf den Liebhaber, der nie wiederkehrt, das letzte Wort, das man mit jemandem spricht, der einen für immer verlässt. Mir war nicht klar, dass es der letzte Sommer mit meiner Mutter werden sollte. Ich weiß nicht, ob manche Dinge mit diesem Wissen anders gewesen wären. Ob sich die Reise mit meiner Mutter nach Italien anders entwickelt hätte. Diese letzte Reise, von der ich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wusste, dass es die letzte sein sollte.

Wir erreichten das Meer in der Dämmerung. Der Fahrer hatte die Route über La Spezia gewählt, entlang der Küste, weil es Mutter sowieso egal war, auf welchem Weg wir in die Toskana kamen, zu dem Ort, der ihr immer schon so viel bedeutet hatte. Ich hatte nur mit den Achseln gezuckt. Wir saßen zusammen auf der Rückbank und schwiegen. Wir schwiegen schon an die drei Stunden. Davor hatte meine Mutter einmal das gleißende Licht über den Alpen erwähnt und dann den Blick auf die Poebene. Ich lehnte meinen Kopf gegen die Scheibe, schloss die Augen und dachte daran, dass es immer unmöglicher wurde, diese Reise zu überstehen, den zusammengekniffenen Mund meiner Mutter, die Erinnerungen an zurückliegende Sommer, heiß und unendlich, mit der flimmernden Luft über den italienischen Bergen, dem Dorf und dem Gut meiner Verwandten.

Der Chauffeur hielt in einer kleinen Haltebucht, von der aus man zum Meer hinuntergehen konnte, und öffnete die Wagenverschläge. Ich ließ ihn Mutter hinaushelfen und stieg alleine die Treppe zum Strand hinab. Die Wellen rollten träge ans Ufer. Die meisten Badenden waren schon zurück in ihren Hotels, nur vereinzelt saßen Paare nebeneinander im noch warmen Sand und blickten auf die Stelle, an der die Sonne im Meer versunken war. Und während sie den silbrigen Glanz der Wellen sahen, sah ich mich selbst, damals als Kind mit den Muscheln spielen. Neben mir meine Kinderfrau Martha und meine Mutter hinter uns. Sie stand an der Uferpromenade, die Hand über die Augen gelegt, und hatte den Blick auf irgendetwas in der Ferne fixiert, das ich nicht wahrnehmen konnte.

»Was tut sie da?«, hatte ich Martha immer wieder gefragt.

»Sie denkt wichtige Dinge«, gab sie zur Antwort.

»Welche Dinge?«

»Dinge, die nur in den Köpfen von großen Frauen vorgehen.«

»Auch in meinem?«

»Natürlich. Irgendwann einmal.«

Ich steckte mir eine besonders große Muschel in die Rocktasche und hüpfte an Marthas Hand ein paar Schritte Richtung Meer.

»Was soll das?«, sagte sie und lachte, und das salzige Wasser umspülte unsere Füße, bis Mutter energisch in die Hände klatschte, so laut, dass sie das Kreischen der Möwen übertönte. Schnell zog Martha mich zurück zum Wagen und klopfte mir den Sand von meinem dunkelblauen Rock und der Bluse.

Wenn Martha jetzt bloß hier wäre, dachte ich, dann wäre alles leichter. Vielleicht auch nicht.

Der Fahrer führte Mutter die Treppen hinunter, aber als ihre Füße den Sand berührten, blieb sie stehen, klein und zerbrechlich, ihr weißes Haar leuchtete hell in der schnell einsetzenden Dämmerung.

Marielle Amsterdam, April 2004

Es sind die Tulpen, die mich nach Amsterdam gebracht haben. Die Tulpenfelder vor Haarlem, schnurgerade mit nickenden Blütenköpfen, die Märkte mit ihren Ständen, kübelweise Blumen, dicht an dicht gedrängt. Ganze Tage könnte ich dort zubringen. Mit einem Arm voller Tulpen komme ich vom Bloemenmarkt zurück. Rote und blassrosa gefüllte Tulpen. Es ist April, und ich kann den Frühling förmlich riechen. Er liegt in meinem Arm und macht mich seltsam froh und mein Herz leicht. Mit einer Hand sperre ich die Tür zu dem roten Backsteinhaus auf, dessen Dachgeschoss ich bewohne. Die Katze zwängt sich mit einem Schnurren und steil aufgestelltem Schwanz vorbei und schießt die Treppe nach oben.

»Ella ohne Tulpen, das ist wie …« Roos, die in der kleinen Wohnung im Erdgeschoss wohnt, steckt den Kopf zur Tür heraus und überlegt. Ihr fällt nichts ein, dafür lächelt sie breit und winkt mich zu sich. »Hast du fünf Minuten?«

Vorsichtig stelle ich meinen Korb vor ihre Wohnungstür und lege den Strauß Tulpen darauf ab.

»Es gibt was zu feiern.«

Ich folge ihr durch einen kleinen, dunklen Gang, der mit Schuhregalen und Klamotten vollgestopft ist, in eine quadratische Küche ohne Herd, mit zwei Stühlen, einem Tisch. An der Wand lehnen diverse Gitarren nebeneinander. Roos öffnet das Fenster und holt eine Flasche Sekt herein, die neben der Butterdose auf der Fensterbank steht. Ganz schön früh für die Tageszeit.

»Was ist passiert?«

»Du kennst doch die Bar in der Slappersteeg, diese kleine Spelunke mit den Jazzkonzerten.« Sie lässt den Korken gegen die Decke fliegen, und der Sekt perlt über ihre Finger. Sie schenkt sich Sekt ein und mir Mineralwasser. »Du wirst es nicht glauben.«

»Dort, wo du kellnerst.«

»Gleich gegenüber. Per, der Typ aus der Bar, hat mich gesehen.«

»Gesehen.«

»Na ja, ein paarmal war er auch schon hier bei mir.« Roos macht ein verlegenes Gesicht, was ihr ziemlich schwerfällt. Sie drückt mir das Glas in die Hand. Ich mag Roos sehr. Sie ist groß und schlank, mit rotem gelockten Haar und Sommersprossen. Ihr Vater ist Afroamerikaner und ihre Mutter Holländerin. Ihre Mutter hat sich optisch durchgesetzt. »Er meint, ich wäre langsam zu alt für den Job. Kellnern ist echt ein Knochenjob. Schließlich bin ich bald fünfunddreißig. Und er mag mich.«

Roos schleppte ständig irgendwelche Kerle an, die sie mochten und die meinten, sie wüssten, wie sie ihr Leben zu führen hatte.

»So.«

»Ich will mit fünfundvierzig ja nicht aussehen wie ein Wrack.«

Ich sehe sie fragend an.

»Per meint, ich könnte in seiner Bar singen. Statt zu kellnern.«

»Das wolltest du doch schon immer.«

»Meine Gebete wurden erhört!« Wir prosten uns zu und nehmen beide einen beherzten, großen Schluck. »Das ist bislang noch nie passiert.«

»Alles wird gut«, prophezeie ich ihr, »irgendwann ändert sich immer alles. Es kann nur besser werden, weißt du.«

»Stimmt. Warum soll das nur bei mir nicht so sein?«

»Man muss nur daran glauben.«

»Red keinen Scheiß. Du weißt, dass ich an so was nicht glaube.«

»Solltest du aber. Eines meiner Bilder ist nämlich verkauft worden. Das mit der Augenklappe.«

»Na gut. Dann glaube ich es eben. Wenn du es sagst.«

Wir trinken die Gläser leer und Roos bringt mich zur Tür.

»Kommst du heute Abend?«

»Mal sehen.«

»Um Mitternacht. Mein erster Auftritt. Du musst kommen und mich sehen.«

»Du weißt doch, dass ich nicht mehr so gerne ausgehe.«

»Was ein Fehler ist. Ach ja, bevor ich es vergesse …«, sie deutet auf ein Paket, das vor der Tür auf dem Boden steht. »Das hat der Postbote für dich dagelassen. Hat ganz schön geflucht, weil’s so schwer war. Der Arme.«

Ich bücke mich und sehe auf den Absender. Maria di Renzi. Farnocchia.

Marielle Farnocchia, August 2003

Früher gab es eine lange Tafel, an der wir zum Essen bei meiner Tante Maria di Renzi zusammenkamen. Da waren Maria und Emilia und ihre Männer Mario und Silvio, die Kinder Margarethe, Ricardo und Anna, meine Mutter und ich. Und ab und zu stahl ich mich davon, kletterte auf ihren Schoß und stibitzte eine Scheibe Weißbrot ohne Salz und ein Stück Käse und diese kleinen runden Tomaten, die noch warm von der Sonne waren. Marthas Rock war wie eine Schaukel. Breitbeinig saß sie auf dem Holzstuhl. Ich zog die Beine an und spielte mit den Zipfeln ihrer Schürze. Ich spürte Marthas Finger auf meinem Scheitel, dann und wann fiel ein Krümel von ihrem Brot auf meine Stirn oder meinen Nacken. Der Tisch war klein geworden, klein und rund. Mehr Platz wurde nicht benötigt. Emilia, Silvio und Mario lebten nicht mehr, und die Kinder waren nach Rom und Florenz gezogen.

Fast jedes Jahr waren wir hierhergekommen, hatten im Sommer ein paar Wochen auf dem Landgut »Castelmonioni« in der Nähe von Lucca verbracht. Nun saß meine Mutter etwas verloren am Fenster, Zia Maria saß mit dem Rücken zu der großen Flügeltür, die zur Terrasse hinausging. Auch meine Tante hatte sich an den Tisch angepasst, klein und rund, ihr weißes Haar adrett geschnitten, kurz im Nacken mit leichten Wellen um ihr faltiges Gesicht.

»Marielle ist am Tag unserer Abreise erst nach München gekommen. Gerade noch rechtzeitig. Keinen Tag früher. Mit dem Flugzeug von Amsterdam nach München«, erzählte meine Mutter ihrer alten Freundin

»Und warum seid ihr nicht gleich zusammen hierher weitergeflogen?«

»Fliegen ist immer eine Strapaze. Ich werde nicht mehr fliegen. Nicht mehr in diesem Leben. Dafür bin ich zu alt.« Mutter tupfte sich mit der Serviette über die Lippen. »Dieses Fliegen ist doch kein Reisen. War es noch nie.«

»Da muss ich dir recht geben, Franka. Und doch ist es die einfachste Möglichkeit für Marielle, hier bei uns zu sein.«

Meine Mutter schnaubte durch die Nase und legte ihre Gabel neben den Teller, sagte aber nichts.

»Nun, Marielle, was macht die Kunst?«, wandte Zia Maria sich an mich.

Ich ignorierte Mutter, die ihre Gabel wieder in die Hand nahm, um das Stück Saltimbocca auf ihrem Teller hin- und herzuschieben.

»Gut. Ich habe ein schönes Atelier. Ich kann sogar die Sint Nicolaaskerk von dort aus sehen. Die Türme. Und die Glocken kann ich auch läuten hören. Im Hinterhof ist eine Werkstatt …« Ich merkte, wie brüchig meine Stimme klang, und brach ab.

»Das freut mich.« Zia Maria lächelte mich herzlich an und ich fühlte mich wie ein dummes, kleines Mädchen. Ich kann von dort aus die Sint Nicolaaskerk sehen. Was für einen Blödsinn redete ich da? Mutter zog eine Augenbraue missbilligend nach oben.

»Entschuldigt mich bitte.« Hastig stand ich auf, ließ mein Abendessen stehen, nahm mein Glas Wein und trat auf die Terrasse hinaus.

Die Grillen zirpten, ich lehnte mich an die Brüstung, von der aus man bis nach Farnocchia sehen konnte, dem kleinen Dorf, das nur einen kurzen Fußmarsch entfernt lag. Mitten in den rauen toskanischen Bergen, die auch heute noch schlecht mit Autos zu durchqueren waren. Aber wenn man sich zu Fuß auf den Weg machte, entdeckte man wilde kleine Flüsse, Berghänge voller Geröll und einsame Täler. Die kleinen Lichter leuchteten in der Ferne, dazwischen Weinberge und hinter mir die kargen Felsen der Apuanischen Alpen. Die Luft fühlte sich warm und weich an. Als wollte sie mich umarmen. Ich konnte mich erinnern, wie ich hier mit Ricardo, meinem Cousin, über die Brüstung geklettert war und mir beim Hinunterfallen den Fuß verstaucht hatte. Vorsichtig stemmte ich mich nun hoch und schwang meine Beine über den Stein und ließ sie auf der anderen Seite hinunterbaumeln. Vor mir lag der quadratische Innenhof, fein gekieselt, mit dem Brunnen in der Mitte. Um das ganze Grundstück zog sich eine Mauer mit einem ovalen Torbogen, an dem sich die Rosen hochrankten.

Wenn es früher auch der ganze Sommer gewesen war, den wir hier verbrachten, so waren es nun nur drei Wochen. Es war auszuhalten. Mutter war auszuhalten. Es fiel mir schwer, mir die Zeit mit ihr vorzustellen, doch ich beschloss, zuversichtlich zu sein.

»Verkauft sie die Skulpturen denn?«, hörte ich Zia Maria sagen.

»Komm. Sei nicht albern. Sie lebt von ihrem Erbe, vom Verkauf der Fabrik, genau wie ich. Sie hat noch nie eine einzige Skulptur verkauft.«

»Vielleicht sollte sie es lieber mit Malerei versuchen. Schon als Kind hat sie ganz bezaubernd gezeichnet. Kannst du dich an ihre Bilder erinnern?«

»Dunkel.«

»Franka, ich bitte dich. Die Sonnenblumen. Die Kirche von Farnocchia. Den kleinen Rocco, Rocco Mantovani …«

Mantovani. Rocco Mantovani war zwei oder drei Jahre jünger als ich gewesen, ein hübscher Junge, perfekt zu malen. Das Bild hatte ich im hinteren Teil des Gartens verbrannt und die Asche unter den Olivenbäumen verstreut. Nicht wegen des Jungen. Nein, es war mein Perfektionismus, der mich das Bild in kleine Stücke hatte reißen lassen. Ich fand, es war ihm nicht ähnlich genug, die Proportionen stimmten nicht und das Leuchten in Roccos dunklen Augen fehlte.

»Schon gut. Sie würde auch da nichts verkaufen.«

Ich nahm einen großen Schluck Wein. Was machte es schon?

»Das kommt vielleicht noch.«

»Dein Herz war schon immer zu groß, Maria.«

Zia Maria lachte. Kurz und hell. Als hätte sie sich verschluckt.

»Du musst ihr sagen, dass sie mehr essen soll. Sieh dir ihren Teller an. Sie hat das Essen nicht angerührt. Frauen in ihrem Alter dürfen nicht so dünn sein. Sie sollte mehr Pasta essen. Überhaupt. Frauen ab vierzig brauchen ein paar Kilos mehr auf den Rippen.«

»Sie ist erwachsen.«

»Sie sieht aus wie eine dieser furchtbaren Frauen aus diesen Zeitschriften. Knochige Schultern, nichts an den Hüften. Ich mache mir ernsthaft Sorgen um sie.«

Meine Mutter antwortete etwas, das ich nicht verstehen konnte, und ich legte den Kopf in den Nacken. Der Nachthimmel hing voller Wolken, so tief, als könnte ich danach greifen, sie streiften die Bergspitzen hinter mir. Die Blätter der Olivenbäume und Steineichen flüsterten im Wind.

Marielle Amsterdam, April 2004

Die Geschichte ist die: Meine Mutter und ich waren uns, seitdem ich denken kann, auf seltsame Weise fremd. Vielleicht war es aber auch gar nicht so seltsam, schließlich ist sie nicht meine leibliche Mutter. Franka Fellner ist 1964 von München nach New York gezogen. Damals war sie 37 Jahre alt. Sie wohnte in einem Apartment gleich beim Central Park, das schon seit den 1920er Jahren unserer Familie gehörte. Sie verbrachte dort das ganze Jahr 1964, während meine Großmutter daheim schier durchdrehte, weil sich jemand dringend um die Handschuhfabrik der Familie kümmern musste und Franka die Einzige war, die dafür infrage kam. Als sie nach einem Jahr nach München zurückkam, hatte sie mich. Ein Baby von gerade vier Wochen. Sie hatte mich in New York adoptiert. Bis heute verstehe ich nicht, warum sie das getan hat. Meine Mutter ist niemand, der etwas aus reiner Nächstenliebe tut. Wenn ich sie fragte, sagte sie, ich wäre das uneheliche Kind einer ihrer Hausangestellten gewesen. Ein Baby, das mir nichts, dir nichts ein so junges Leben komplett ruiniert hätte.

Ich kannte die Frau, die meine richtige Mutter gewesen war, nicht, aber ich rätselte darüber. Wenn wir in New York waren, sah ich mir die Frauen genau an, die bei uns putzten, kochten, auf mich aufpassten. Ich studierte ihre Gesichtszüge, ihr Haar, ihren Ausdruck, wenn sie lachten, irgendetwas, das sie verriet, sie als meine Mutter zu erkennen gab. Sie flochten mir das Haar zu Zöpfen, badeten mich in der großen Badewanne mit den goldenen Armaturen, die in der Mitte des Badezimmers stand, und lasen mir Gute-Nacht-Geschichten vor. Danach huschten sie davon, und wenn ich aus dem Fenster sah, konnte ich sie unten auf der Straße sehen, wie sie eilig ihre Mäntel zuknöpften, Männern flüchtig auf die Wange küssten oder den Arm hoben, um ein Taxi anzuhalten. Sie gingen mit mir im Central Park spazieren, wir drehten Runden um den See, an dessen Ufer ich Enten fütterte und kleine Steine springen ließ, im Winter fuhren wir mit dem Pferdeschlitten und ich versuchte mich unter den Decken an die Frau zu kuscheln, die ich für meine Mutter hielt.

Doch die Frauen mochten keine Berührungen und schoben mich weg, und so saß ich auf der anderen Seite und sah den Schneebrocken zu, die von den Hufen der Pferde aufwirbelten. Die Frauen wechselten schneller als ich schauen konnte. Mal waren sie jung und hübsch, zart und blond. Mal waren sie alt und ruppig und behandelten mich nur freundlich, weil sie es mussten. Manche zeigten mir kleine, ausgeschnittene Fotos von ihren Kindern. Kleine Mädchen, die vielleicht meine Schwestern waren und in den Vororten wohnten. Manchmal waren es auch Jungen, die ich dann nicht als Brüder haben wollte. Ich dachte, irgendwann würde mich eine von diesen Frauen mit hinausnehmen, hinaus in eine andere Welt, und es wäre mir egal gewesen, welche Welt das war. Sie würde mich abends in mein Zimmer begleiten und vorsichtig die Tür hinter uns schließen, damit niemand uns hören könnte, und dann würde sie sagen, dass ich das packen sollte, was mir am wichtigsten war.

»Mir ist nichts wichtig«, würde ich sagen, und schließlich würde sie eine Puppe, den Bären, der Geräusche machen konnte, und die Spieldose mit den tanzenden Pferdchen in einen kleinen Koffer packen.

»Ab jetzt heißt du nicht mehr Marielle Fellner.«

Ich würde nicken.

»Du heißt nun Ella. Nur noch Ella. Und du wirst vergessen, woher du kommst.«

Es passierte nie.

Als Martha dann auftauchte, war ich mir völlig sicher, sie musste es sein. Sie kam am Morgen meines sechsten Geburtstages. Sie sagte irgendetwas wie: »Alles Gute, meine kleine Prinzessin«, und ich flog in ihre Arme und weinte.

Ab diesem Tag war Martha immer da. Sie begleitete uns nach New York und nach Italien zu Zia Maria und Zia Emilia, und wenn wir in München waren, in dem riesigen Stadthaus in Bogenhausen, da wohnte Martha dann in dem Zimmer am Ende meines Gangs, und nachts, wenn es dunkel war und ich mich fürchtete, lief ich auf nackten Füßen zu ihr und schmiegte mich an ihren warmen, weichen Körper.

Mutter ahnte davon nichts. Weder davon, dass ich Martha innig liebte, noch davon, dass ich sie für meine Mutter hielt. Was Martha dachte, weiß ich nicht. Sie war da, wenn es nötig war. Sie brachte mich zum Lachen und tröstete mich, wenn ich traurig war.

Marielle Farnocchia, August 2003

Der erste Morgen in dem alten Gutshaus meiner Tante war immer besonders. Auch dieses Mal schlief ich in einem Zimmer, von dem aus man die Berge sehen konnte. Das Bett war riesig und die Matratze eigentlich zu weich, und doch schlief ich darin so tief und traumlos wie in keinem anderen Bett. Die Bettwäsche war aus Leinen und etwas kratzig, vor allem, wenn man am Tag davor zu lange in der Sonne gewesen war und sich die Haut auf Schultern und Armen verbrannt hatte. Aber sie war auch kühl und schmiegte sich federleicht an den Körper, und am Morgen, als ich aufwachte, schlug ich mir das Bettlaken einfach um den Körper und trat hinaus auf den Balkon.

Von oben sah ich Mutter und Zia Maria auf der Terrasse frühstücken. Sie saßen nebeneinander und schienen nicht zu sprechen. Mutter trug einen breitkrempigen Strohhut mit weißem Band, damit die Sonne sie nicht blendete, und Zia Maria eine riesige Sonnenbrille, die sie aussehen ließ wie eine verwirrte Hummel. Ich setzte mich auf den Korbstuhl, der in einer Ecke des Balkons stand, legte meine nackten Füße auf das Geländer und zündete mir eine Zigarette an. Ich rauchte fast nie, doch nun vermissten meine Hände ihre Beschäftigung.

Zuhause ging ich frühmorgens in meine Werkstatt, zog meinen zerschlissenen Overall an, setzte mir die Schweißbrille auf und begann, Eisenteile aneinander zu löten. Eine Woche zuvor hatte ich eine Frau entworfen. Sie war klein und buckelig und trug eine Weltkugel auf ihrem Rücken. Sie sah furchtbar aus. Alt, hässlich und ausgemergelt. Ich dachte, dass ich bald genauso aussehen würde. Aber ich mochte sie irgendwie, und als Roos mich besuchen kam, zuckte sie zuerst zusammen, doch dann sagte sie:

»Verdammt, Ella? Aber eigentlich hast du recht, wir Frauen tragen die ganze Welt auf unseren Schultern. Nur kein Mensch kapiert es.«

Hier waren meine Hände nutzlos. Ich klemmte mir die Zigarette zwischen die Lippen und knetete meine Finger. Die Sonne stand schon über den Bergen und wärmte bereits mein Gesicht. Es würde ein heißer Tag werden. So heiß, dass Mutter und Zia Maria sich spätestens um elf Uhr ins Haus zurückziehen und Patiencen legen würden. Der ganze Tag würde vergehen, ohne dass sie nennenswert miteinander sprechen würden. Vielleicht war das meiste zwischen ihnen gesagt. Nur das leise Geräusch der Karten auf dem runden Mahagonitisch würde zu hören sein. Als ich klein war, war dies der ideale Augenblick gewesen, um sich zu verdrücken und etwas zu tun, was nicht erlaubt war.

Es war der Moment, in dem ich mir die drückenden Schuhe von den Füßen gestreift hatte und hinter dem Gutshaus in den Olivenhain gelaufen war. Ich kletterte damals auf die knorrigen Bäume und pflückte die kleinen grünen Oliven, steckte sie in meine Rocktasche, um sie später Martha in der Küche zu zeigen. Ich fand einen verletzten Hund zwischen den Felsen am Ende des Grundstücks und pflegte ihn den ganzen Sommer, brachte ihm Wurst und Reste vom Braten, bis er eines Morgens davonlief, hinein in die Berge, und niemals wiederkam. Das undankbare Tier. Manchmal versteckte ich mich in einem von Zia Marias Lieferwagen, mit denen die Fahrer das Olivenöl an die Geschäfte und Märkte lieferten. Auf den Serpentinenstraßen fuhr ich mit, hinunter nach Partigliano, Pastino, Lucca, nach Vecchiano und ans Meer, roch das Salz und den Fisch, und wenn Stefano, einer der Fahrer, den Wagen abstellte, hüpfte ich hinaus und sprang mit all meinen Kleidern ins Wasser.

Ich glaube, Stefano wusste, was ich tat, doch er sprach nie darüber. Aber ich hatte den Eindruck, dass er oft den Motor länger laufen ließ, bis ich wieder hinaufgeklettert war auf die Ladefläche und gut zwischen den Kisten mit den klirrenden Ölflaschen versteckt war.

Daran dachte ich, als ich meine Finger knetete und Zia Maria und Mutter schweigsam nebeneinander auf der Terrasse saßen und ihre Kaffeetassen mit einer Hand balancierten. Ein dreirädriger, roter Piaggio Ape 50 kam die geschwungene Auffahrt hinaufgefahren und vor dem Lieferanteneingang zum Stehen.

Ich kannte den Mann nicht, der mit sichtlicher Mühe aus seinem viel zu kleinen Gefährt stieg. Es sah irgendwie aus, als müsste er sich auseinanderfalten. Dann lehnte er sich an die Seite des Piaggio und legte seine Finger an die Lippen und stieß einen schrillen Pfiff aus. Die Hunde begannen wie rasend zu bellen und schossen hinter dem Haus hervor, drei Cirneco dell’Etna, braune Jagdhunde mit absurd riesigen Fledermausohren, und Davide, der seit einigen Jahren den Handel mit Olivenöl von Zia Maria übernommen hatte, eilte hinterher. Ich hörte ihn mehrmals basta brüllen, doch die Hunde stürzten sich trotzdem auf den Fremden und begrüßten ihn überschwänglich.

Ich drückte meine Zigarette aus und beugte mich über das Geländer. Die Männer begannen eine Unterhaltung, wobei Davide wild gestikulierte und der andere nur ab und zu nickte. Er erinnerte mich schwach an jemanden, doch mir wollte nicht einfallen, an wen. Er sah auf eine raue Art gut aus, so, wie einen ein Wolf fasziniert oder ein Steppenlöwe. Man möchte ihn ansehen, ihm aber nicht zu nahe kommen, geschweige denn ihn streicheln. Mehrmals strich er sich seine schwarze Haartolle zurück und irgendwann zuckte er mit den Schultern, worauf Davide eine Flut von Schimpfwörtern ausstieß.

»Das ist doch verrückt«, konnte ich verstehen. »Du hast sie doch nicht mehr alle!«

Davide schlug mit der flachen Hand auf das Dach des Piaggio, dann wandte er sich um und blickte unvermittelt zu mir herauf. Kurz erwog ich in meinem Zimmer zu verschwinden und so zu tun, als hätte ich sie nicht bemerkt. Stattdessen blieb ich wie angewurzelt stehen. Ich zog noch einmal an der Zigarette und drückte sie dann am Geländer aus.

»Ah. Principessa Marielle«, er lächelte mir zu, »gut geschlafen?«

Er nannte mich principessa, nur um mich zu necken.

»Wie immer.«

Der andere runzelte die Stirn und warf mir einen undefinierbaren, kurzen Blick zu.

»Ein herrlicher Morgen!«

Ich nickte.

»Besser könnte er nicht sein.«

»Sonnig, klar. Perfekt.«

»Da hast du recht, Davide.«

»Solange einem niemand die Laune verdirbt, wird aus einem wunderbaren Morgen bestimmt ein wunderbarer Tag.«

»Man darf sich die Laune einfach nicht verderben lassen«, gab ich zurück, und Davide schüttelte nur den Kopf.

»Madonna mia«, sagte er.« Principessa, du hast keine Ahnung!«

Ich schwieg, und der Fremde ging um den Piaggio herum, faltete sich wieder zusammen und startete den Motor. Wir sahen ihm beide nach, wie er in einer Staubwolke den Hügel hinunterschoss.

Marielle Amsterdam, April 2004

Ich schließe die Tür hinter Roos und höre, wie sie die Holztreppen hinunterpoltert.

»Das Ding da, das kannst du unmöglich allein nach oben tragen. Das mach ich für dich«, hatte sie gesagt.

Und ich muss ihr recht geben. Es ist viel zu schwer.

Mit dem Fuß schiebe ich das Paket in die Mitte des Zimmers, dann packe ich meine Einkäufe aus und stelle die Tulpen in eine Vase. Sie sehen wunderschön aus. Rosa und hellrot, die Ränder zierlich ausgefranst, wie ein altmodisches Stück Stoff. Ich platziere die Blumen auf dem Küchentisch und lasse die Katze zum Fenster herein. Sie tritt von einer Pfote auf die andere und stellt ihr Fell auf.

Die Glocken der Sint Nicolaaskerk beginnen Mittag zu läuten, und ich setze mich auf einen der Holzstühle und betrachte das Paket. Es sieht aus, als wäre es ins Wasser gefallen, das Papier ist an manchen Stellen dunkel und wellig. Die Katze streicht herum und reibt ihre Nase an den Kanten.

Seit dem Sommer habe ich nichts mehr von Zia Maria gehört. Dann und wann hatte ich mich dabei ertappt, wie ich ihre Nummer in mein Telefon tippte, aber ich hatte sofort wieder aufgelegt. Erst letzte Woche noch hatte ich ihre vertraute Stimme hören wollen und mir vorgestellt, wie sie mit dem Telefon im Kaminzimmer saß, die drei Jagdhunde zu ihren Füßen. Das Feuer knisterte und sprühte Funken. Die Hunde winselten im Traum, ihre Pfoten bewegten sich, als würden sie laufen, einen Hasen hetzen oder die Spur eines Wildschweins aufnehmen. Doch was sollte ich mit ihr reden? Was wollte ich von ihr hören? Ich wusste es nicht, und deswegen hatte ich es bleiben lassen.

Vorsichtig gehe ich vor dem Paket in die Hocke und versuche, die Verschnürung mit den Fingern abzubekommen. Zia Maria hat kein Klebeband benutzt, sondern Schnur, die sie an die hundert Mal um das Paket gewickelt hat. Sie hat ein geradezu starrsinniges Faible für altmodische Dinge. Sie benutzt keinen Computer und kein Telefon mit Tasten. Sie nennt den Kühlschrank Eisschrank und gratuliert einem zum Namenstag.

Als ich die Schnur und das wellige Papier entfernt habe, kommt eine Kiste aus dunklem Holz zutage. Der Deckel sieht glatt und abgenutzt aus. Ein Briefumschlag liegt darauf. Meine Hände zittern, als ich ihn öffne.

»Mein Kind«, lese ich, »deine Mutter wollte, dass ich sie verbrenne. Vor vielen Jahren habe ich ihr versprochen, dass ich es tun werde. Ich hatte es mir auch fest vorgenommen, doch dann, als ich mit der Kiste vor dem Kamin saß und der Zeitpunkt gekommen war, konnte ich es nicht tun. Ich dachte, sie sollten bei dir sein, und somit auch die Entscheidung, was damit geschehen soll. Ich bin eine schlechte Freundin. Vielleicht die schlechteste.«

Mein Herzschlag und das Schnurren der Katze sind die einzigen Geräusche im Raum. Ich setze mich auf meine Fersen, das Knien fällt mir seit ein paar Wochen schwer. Die Katze springt auf die Kiste und macht einen behaglichen Buckel. Meine Mutter hat mir einiges hinterlassen. Aktien vom Verkauf der Fabrik. Die Wohnung in München. Grundstücke und Wald in der Nähe von Herrsching. Aber nichts, was mir eine Erinnerung an sie gewesen wäre.

Als ich im Herbst zurück in das Haus am Herzogpark kam, den Ort, an dem sie die letzten dreißig Jahre verbracht hatte, waren ihre persönlichen Dinge fort gewesen. Ich konnte es nicht fassen. Die Möbel standen an ihrem Platz. Alles war sauber und aufgeräumt, kein Stäubchen war zu sehen. Der Hausmeister hatte mich hineingelassen und mir die Schlüssel übergeben. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal dort gewesen war, denn im Sommer, vor unserer Reise nach Italien, hatte mich der Chauffeur am Flughafen abgeholt und danach meine Mutter, die schon unten im Foyer auf uns wartete.

Doch dort, im Haus, konnte ich nichts finden, keine Papiere, keine Aufzeichnungen, keine Briefe. Ich ließ die Schlüssel auf dem zierlichen Biedermeiertisch neben der Wohnungstür liegen und strich durch die Zimmer. Spürte den Holzboden unter meinen nackten Füßen und die Zeit, die vergangen war, in meiner Brust. In meinem alten Zimmer drehte ich mich einmal um mich selbst. Sie hatte nicht viel verändert.

Die cremefarbene Überdecke meines Betts war noch da, der Schreibtisch vor dem Fenster und der Schrank, in den ich früher meine Kleidung gestopft hatte. Ich bückte mich und sah unters Bett. Öffnete die Schubladen des Schreibtisches, ein dunkelblauer Fleck erinnerte an die ausgelaufene Tinte meines Füllfederhalters, sonst war der Schreibtisch leer. Im Zimmer meiner Mutter bot sich mir der gleiche Anblick. Alles war aufgeräumt, unberührt, beinahe steril. Als wäre das ganze Haus mit seinen vielen unbewohnten Zimmern, den schweren samtroten Vorhängen, den Lüstern an der Decke, den Büchern in den Regalen, die sie vermutlich nie gelesen hatte, den hohen Wänden mit Stuckleisten rundherum mir auch so vertraut von den Jahren, in denen ich hier gewesen war.

Selbst ihre Kleidung war nicht mehr da. Nur ganz fein hing ihr Geruch noch in den Schränken. Ich musste stundenlang in Mutters Schlafzimmer auf dem Boden gesessen haben, auf diesem wunderschönen Kelim wie aus Tausendundeiner Nacht, bis mir klar wurde, dass sie mir nichts von sich geben wollte oder vielleicht nicht konnte.

Die Katze sagt mir, ich soll die Kiste öffnen. Sie macht ein Gesicht, als müsste eine Maus in der Kiste sein oder ein zappelnder Fisch, etwas, womit man spielen und sich die Zeit vertreiben kann. Ich befürchte, sie enthält nichts, was ihr oder mir gefällt. Trotzdem ziehe ich sie näher an mich heran. Der Deckel ist mit einem einfachen Haken verschlossen, ich lasse ihn aufschnappen und beuge mich über die Kiste. Als ich den Deckel aufmache, steigt mir ein holziger, herber Geruch in die Nase. Dicht an dicht drängt sich ein Buch an das andere. Jedes mit einem dunkelroten Ledereinband. Ich nehme das oberste heraus und öffne das Tagebuch meiner Mutter.

Franka Farnocchia, Mai 1944

Sie weiß nicht, was sie von mir verlangt. Sie kann es noch nicht einmal erahnen. Mutter macht sich Sorgen um mich, schreibt sie, ich solle nach Hause kommen, zu ihr und meinen Schwestern, Vater wird ihr immer unerträglicher. Der Krieg hat ihn zu einem anderen Menschen gemacht, und die Einzige, die ihr bleibt, bin ich. Helene, die brave Helene, geht ihr auf die Nerven, und Grete wird bald heiraten und für immer fortgehen. Ich solle so schnell wie möglich nach München zurückkommen. Sie würde es nicht ertragen, noch ein Kind an den Krieg zu verlieren. Sie weint wohl jeden Tag und jede Nacht um Gustav, meinen Bruder, der gefallen ist, bis Vater sie anschreit, sie solle sich beruhigen. Es sei nun mal der Lauf der Dinge. Der Lauf der Dinge, schreibt sie, soll das sein? Der Lauf der Dinge? Dass man den Krieg überlebt und das eigene Kind nicht?

Ich verstehe sie.

Aber ich kann nicht zurück. Ich denke an München, das Haus in Bogenhausen und die Fabrik, an Mutter und Vater, und der Hals schnürt sich mir zu. Mich interessieren Handschuhe nicht. Haben sie noch nie. Ich kann nicht zurück. Ich werde hier gebraucht. Zia Anna sagt es jeden Tag. Ohne Maria und mich wüsste sie nicht, wo ihr der Kopf steht. Wir helfen ihr im Haus und im Garten und mit den Deutschen, die seit kurzem bei uns ein und aus gehen. Zia Anna sagt, wir sollten höflich und zurückhaltend sein, wegschauen, wenn sie uns ansehen, und unser Haar mit einem Kopftuch bedecken und lange Röcke tragen. Selbst wenn es heiß ist. Das gilt mehr für Maria als für mich. Sie ist viel mehr im Haus, bringt ihnen das Essen und macht ihre Betten. Sie ist sehr hübsch, mit ihrem schwarzen, lockigen Haar und der hellen Haut, und mir entgeht nicht, wie die Offiziere sie anstarren.

»Mia cara«, sagte Zia Anna gestern, »du musst mir helfen, auf Maria aufzupassen, sie ist doch erst fünfzehn. Zwei Jahre jünger als du. Und die Männer sind wie hungrige Wölfe.«

Zwei Offiziere beherbergen wir gerade. Sie bewohnen das ganze obere Stockwerk. Dorthin ziehen sie sich zurück, breiten Landkarten auf dem großen Tisch aus, der in Zia Annas ehemaligem Zimmer steht, und beugen sich darüber. Woher ich das weiß? Ich bin auf die Remise gestiegen, abends, und habe hinübergesehen. Es war so dunkel, dass mich niemand bemerkte, auch Zia Anna nicht, sie hätte mich umgebracht, denn alles, was wir tun, ist verdächtig. Und ich kann sagen, sie beugen sich über Karten und rauchen Zigarren und trinken von Zia Annas Limoncello, bis sie glasige Augen bekommen. Dann putzen sie ihre Gewehre, nehmen sie auseinander und ölen sie ein.

Ich verabscheue sie.

Wenn Maria die Zimmer macht, dann nur, wenn die Männer weg sind, sonst muss ich mit hinauf, dann stecke ich mir Zia Annas Beretta unter die Schürze und bleibe im Gang stehen, bis Maria fertig ist.

»Was soll ich mit der Beretta tun?«, flüsterte ich.

»Du musst schießen, wenn sie Maria etwas antun.«

»Und dann?«

»Dann gnade uns Gott.« Zia Anna bekreuzigte sich mehrmals. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn und lief ihr über die Schläfen in den Kragen ihrer karierten Bluse. Sie sah aus, als hätte sie Fieber.

Maria war schon auf dem Weg zur Treppe, da hörten wir die Männer oben. Sie unterhielten sich. Leise. Im Krieg kann man niemandem trauen. Er verändert alles und jeden, sagt Zia Anna. Er macht aus Freunden Feinde. Ich blieb an der Zimmertür stehen, während Maria die Betten aufschüttelte. Die Männer lehnten sich in ihren Stühlen zurück und sahen ihr zu.

»Sie spricht kein Deutsch, he?«, sagte der eine an mich gewandt, der immer für alle redet. Sie nennen ihn Wittig. Nur Wittig. Der andere macht kaum den Mund auf. Glotzt nur.

Ich schüttelte den Kopf. Obwohl das nicht stimmte. Maria spricht Deutsch, genauso gut wie ich.

»Du bist aus Deutschland, nicht wahr?«

Ich nickte und spürte die Beretta unter der Schürze.

»Woher genau?«

»München.«

»Sehr gut. Das ist ein gutes Haus hier. Wir haben Glück gehabt, Kunz.«

Maria ging von Zimmer zu Zimmer und sammelte den Müll der Männer ein, die dreckige Wäsche stopfte sie in einen Sack. Ich begann zu schwitzen.

»Wie heißt sie?«

»Maria.«

»Wie noch?«

»Maria di Renzi.«

»Hübsches Ding. Und du?

»Franka Fellner.«

»Siehst du? Ein gutes Haus. Dein Vater ist doch Fabrikant für Handschuhe, oder? Ist doch so.«

Maria kam mit dem Sack zurück und gab mir mit einer fast unmerklichen Kopfbewegung zu verstehen, dass sie fertig war, und wir zogen uns zurück. Mein Herz schlug seltsam ruhig.

»Alles gut«, sagte Maria.

Seit General Badoglio den Waffenstillstand mit den Westalliierten unterzeichnet hat und Italien mit Deutschland im Krieg ist, ist nichts mehr sicher. Wir haben gehört, dass es Erschießungen gibt. Dass die Deutschen selbst vor Frauen und Kindern nicht haltmachen, wenn sie sie für Aufständische halten. Die Berichte sind lückenhaft, sie werden nur hinter der Hand weitererzählt und sind voller grauenhafter Details.

Die Wände haben Ohren bekommen. Wir können nur froh sein, dass wir hier so abgeschieden in den Bergen leben, und müssen zusehen, nicht zwischen die Fronten zu geraten. Deswegen sind wir freundlich und höflich zu den Offizieren. Wir bringen ihnen von unserem Wein und kochen ihnen das beste Essen, wir schweigen, wenn sie im Haus sind. Kopfbewegungen, ein verstohlenes Nicken, ein lautlos mit den Lippen geformtes Wort – mehr wagen wir nicht. Dann bleiben wir zusammen in der Küche. Zia Anna, Maria, die Köchin Giulia und ihr kleiner Sohn Mio, der immer auf dem Steinboden herumkrabbelt, und ich.

Zia Anna betet. Und oft wispert sie:

»Wenn doch Zeno zurück wäre.«

Dann beginnt Maria zu weinen, und ich streiche über ihren Rücken. Ich kenne Onkel Zeno nicht. Zu lange ist er schon im Krieg.

Natürlich weiß Mutter von alledem nichts. Wie sollte ich ihr davon erzählen, wo sie durch Gustavs Tod schon zerrüttet ist. Meine Briefe halte ich knapp. Ich erzähle vom herrlichen Wetter – das wirklich herrlich ist, mit meist strahlend blauem Himmel und kleinen Zirruswolken, so hoch, dass man sie für feinen Nebel halten könnte. Die Sonne scheint schon morgens heiß und ausdauernd, und der laue Wind, der manchmal Salz vom Meer bis zu uns heraufträgt, bringt kaum Kühlung.

Ich schreibe ausführlich von meinen Spaziergängen in die Berge hinein, von den Hunden, die mich begleiten. Ich werde ihr von Valentinas Kräutergarten schreiben, der ihr mit Sicherheit gefallen würde, vom Rosmarin, der hier in so prächtigen Stauden wächst, dass man Hecken daraus schneiden kann. Vom violett blühenden Oregano – Valentina trocknet ihn und streut ihn großzügig über Bruschetta und Fleisch. Ganze Hänge sind von Majoran und Thymian bewachsen wie duftende Polster, die unter den Füßen kitzeln. Ich werde die dicken, samtigen Blätter des Salbeis beschreiben und den bittersüßen Geruch des Lavendels, in der Hoffnung, dass meine Zeilen sie so weit beruhigen, dass sie nicht auf meine Rückkehr nach Deutschland besteht.

Ich kann Zia Anna und Maria nicht verlassen. Was sollen sie denn ohne mich tun?

Marielle Amsterdam, April 2004

Ich lege das Buch aufgeschlagen zurück in die Kiste. Die Handschrift meiner Mutter hat sich in den vielen Jahren, die vergangen sind, kaum verändert. Steil und eckig, schräg zur rechten Seite geneigt. Sie war Linkshänderin, was sie immer maßlos geärgert hat. Mühsam stehe ich auf und trete ans Fenster. Ich liebe den Blick über Amsterdam. Die Heiterkeit, die diese Stadt ausstrahlt, mit all ihren bunten Häusern und den noch bunteren Menschen, die darin leben. Wie konnte ich im letzten Sommer auch nur mit dem Gedanken spielen, nicht hierher zurückzukommen und in Farnocchia zu bleiben?

Ich nehme mein Telefon in die Hand und wähle Zia Marias Nummer. Ich muss mit ihr sprechen. Warum schickt sie mir gerade jetzt Mutters Aufzeichnungen? Warum lässt sie mich nicht einfach vergessen und in eine neue, andere Zeit aufbrechen? Warum hat sie die Bücher nicht einfach verbrannt? Ich will sie nicht. Vielleicht will ich sie noch nicht einmal lesen und wissen, was darin steht, was meine Mutter bewegt hat, was sie angetrieben hat. Das Telefon klingelt, und nach nur wenigen Sekunden ist das Hausmädchen am Apparat.

Aber ich wisse doch, sagt sie, dass Signora di Renzi um diese Uhrzeit immer den Friedhof besuche. Davide habe sie hingefahren, und es werde noch geraume Zeit dauern, bis sie zurückkäme.

Ihre Stimme klingt leicht verärgert. Natürlich. Der Friedhof. Ich lege auf. Jeden Tag fährt Zia Maria hinunter nach Farnocchia, um die Gräber zu besuchen, die Blumen zu gießen und hier und da ein welkes Blatt abzuzupfen. Sie setzt sich dort auf die Bank gleich beim Eingang und faltet die Hände. Ob sie betet, weiß ich nicht. Wie konnte ich das vergessen?

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich wieder Mutter und Zia Maria vor mir, wie sie auf der Terrasse sitzen, beide in ihren perfekt geschnittenen Kleidern, die Füße auf zierlichen Fußschemeln.

Marielle Farnocchia, August 2003

Das Hausmädchen spannte den großen weißen Sonnenschirm auf, als ich zu ihnen auf die Terrasse trat. Ich hatte mir das weiße Sommerkleid mit dem flatternden Rock angezogen und mein blondes Haar zu einem losen Zopf gebunden.

»Wer war das eben?«, fragte ich. Ich meinte den Mann in dem roten Piaggio. »Der Mann, mit dem Davide eben im Hof gesprochen hat?«

Im Vorbeigehen nahm ich ein Cornetto con crema und biss vorsichtig eine Spitze ab. Ich hatte mir abgewöhnt, süßes Gebäck zu essen. Nur manchmal konnte ich nicht widerstehen.

»Setz dich doch erst einmal«, fuhr mich meine Mutter an. Hinter den dunklen Brillengläsern konnte ich ihre Augen nicht erkennen. Sie sah bleich aus, was ich aber auf das Morgenlicht schob. Auch ich selbst hatte im Spiegel viel zu blass ausgesehen, nach zu wenig Sonne und zu vielen Tagen alleine in der Werkstatt, an denen ich hauptsächlich mein Gesicht hinter der Schutzbrille verborgen hatte, während ich mit rostigem Eisen hantierte. Vielleicht war dies doch keine Beschäftigung für eine Frau, wie Mutter es oft ausdrückte.

»Ach so. Entschuldige, Mutter«, ich rückte mir einen Stuhl zurecht und setzte mich. Ich lebte schon so lange nicht mehr in ihren Kreisen, dass mir die Gepflogenheiten fremd geworden waren.

»Ein herrlicher Tag, nicht wahr, Marielle?« Zia Maria schob die Kaffeekanne etwas näher zu mir hin. »Erkennst du ihn denn nicht?«

»Wie sollte ich, ich habe ihn noch nie gesehen.«

Das Cornetto schmeckte köstlich nach Butter, und die cremige Vanillefüllung zerging förmlich auf der Zunge. Es musste aus dieser kleinen Pasticceria in Farnocchia sein, in der Zia Maria schon ihr ganzes Leben Brot und Gebäck besorgte. Wenn man den winzigen Laden betrat, überwältigte einen die Vielfalt an Köstlichkeiten, und man kaufte unweigerlich viel mehr ein, als man eigentlich wollte. Wenn man die Pasticceria verließ, hatte man beide Hände voll mit braunen Papiertüten, bis zum Überquellen gefüllt mit Cornetti und Pasticciotti, Mandorlini und der legendären Torta della Nonna. Seit Jahren vermied ich es, den Laden zu betreten.

»Falsch. Du hast ihn nur schon lange nicht mehr gesehen. Etwas über fünfundzwanzig Jahre. Ihr wart noch Kinder. Was waren das damals für schöne Zeiten. Ich fand, es waren die schönsten überhaupt. So friedlich. Aber im Nachhinein betrachtet ist fast alles schön.«

»Wie?«

»Er war einer von Ricardos besten Freunden. Ging hier ein und aus. So ein lieber Junge. Verträumt. Träumte immer vom Meer. Er redete von nichts anderem, als dass er zur See fahren wolle. Das war auch kein Wunder. Sein Vater war Comandante. Und sein Großvater. Und sein Urgroßvater. Eine Familie mit Salzwasser im Blut. Das sagt man nur so.« Sie lachte über mein verständnisloses Gesicht.