Vom Pol zum Pol – Klima im Wandel - Jürgen Bennemann - E-Book

Vom Pol zum Pol – Klima im Wandel E-Book

Jürgen Bennemann

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Beschreibung

Nicht ahnend, dass die damaligen Eindrücke und Erfahrungen schon 25 Jahre später geradezu historisch sein würden, sind diese zunächst privat gedachten Aufzeichnungen von zwei Eismeerreisen 1996 und 1998 in ARKTIS und ANTARKTIS aus dem Blickwinkel eines Schiffsarztes direkt an Bord des großen deutschen Forschungseisbrechers POLARSTERN entstanden. Darin geht es neben der medizinischen Versorgung von über 100 männlichen und weiblichen Besatzungsangehörigen aller Herren Länder u.a. um die Naturwissenschaften wie Geophysik, Meereskunde (Ozeanographie), Glaziologie, Biologie, Meteorologie und Astronomie sowie um die KLIMATOLOGIE, aber auch um Seemannschaft und lustige Polar- und Äquatortaufe. Die reiche, zwar amateurhafte, aber ebenso authentische Bebilderung von damals wurde später hinzugefügt.

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Seitenzahl: 302

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99146-555-3

ISBN e-book: 978-3-99146-556-0

Lektorat: Mag. Vanessa Meder

Umschlagfotos: Jürgen Bennemann, Alexey Sedov | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: siehe Bildunterschriften im Text

Trotz aller Bemühungen ist es dem Autor nicht gelungen, alle Rechteinhaber der Bilder ausfindig zu machen. Setzen Sie sich daher bitte mit dem Verlag in Verbindung, falls Vergütungen anliegen.

www.novumverlag.com

Anmerkung

Mit dem deutschen Forschungseisbrecher„POLARSTERN“1996 und 1998 ins nördliche und südlicheEISMEERAuthentische Tagebuchaufzeichnungen eines Schiffsarztes

Vom POL zum POL

– Klima im Wandel–

Schiffstagebuch

Band I

ARKTIS

8.7. – 23.9.96

Unser Kurs vom Pol zum Pol

Anschlag zum Endlos-Eismeervideofilm (zwecks Verkürzung der Wartezeit) 2006 im Praxiswartezimmer

Für Ulrike

Dies Buch ist mit großem Dank meiner Frau gewidmet, die mich zweimal drei Monate lang ins Polarmeer ziehen ließ, mich dann ab Kapstadt vier Wochen lang an Bord begleiten konnte und als Freundin der Literatur letztlich bei der Bearbeitung des Manuskriptes mit guten Ideen geduldig und sachverständig unterstützt und beraten hat.

Vorwort

Mit der zunehmenden Bedeutung der Klimaforschung wird auch den Polargebieten hohe Beachtung geschenkt. Neben Fernerkundungen mit Hilfe von Satelliten- und Flugzeugeinsätzen sind insbesondere direkte Messungen im Ozean – unter besonderer Beachtung des Eises – und in der Atmosphäre unbedingt notwendig.

Expeditionen mit der Segelyacht GRÖNLAND unter CARL COLDEWEY 1886 in die Arktis und mit der GAUSS unter ERICH von DRYGALSKI 1891 in die Antarktis begründeten erste deutsche Entdeckungsreisen in die Meereisregionen beider Hemisphären.

Große internationale Beachtung bei der Eroberung der Polargebiete fanden die norwegische Expedition mit der FRAM 1893-1906 unter F. NANSEN mit dem Erreichen des Nordpols und die Durchquerung des antarktischen Kontinents bis zum Südpol von SCOTT und AMUNDSEN 1910.

Nach mehreren Unternehmungen im letzten Jahrhundert erhielt die deutsche Polarforschung in den vergangenen 50 Jahren mit der Gründung des ALFRED-WEGENER-INSTITUTS (AWI) einen deutlichen Auftrieb. Dazu leistet das eisgängige Forschungsschiff POLARSTERN als Basis für nationale und internationale Studien einen wichtigen Beitrag.

Um diese Arbeitsplattform umfassend nutzen zu können, muss sowohl die technische Ausrüstung als auch die Besatzung des Schiffes den Anforderungen der vielfältigen Forschungsprogramme gerecht werden.

Ersteres haben die Wissenschaftler und Techniker des „AWI“ fachkundig erledigt, für letzteres hat die erfahrene Reederei F. LAEISZ zu diesen speziellen Einsatz geeignetes Schiffspersonal angeheuert und bei der nicht alltäglichen Besetzung der Arztposition viel Geschick bewiesen. Hier muss ein breiter Aufgabenbereich abgedeckt werden, um den Menschen an Bord gerade in der polaren Einsamkeit ein hinreichendes Sicherheitsgefühl zu vermitteln.

Die vorliegenden Tagebuchnotizen des Schiffsarztes während einer Arktis- und einer Antarktisreise der POLARSTERN bieten einen tiefen Einblick in seine fachliche Arbeit und beleuchten interessante Vorkommnisse im Bordleben.

Prof. E. Augstein (persönliches Copyright des wissenschaftlichen Fahrtleiters von 1996)

Wie es dazu kam

Einerseits war da ein alter Herr aus der Nachbarschaft, der mir schon als Kind von seiner Arbeit als Kumpel im Steinkohlenbergbau auf einer mysteriösen, großen, weißen Insel weit oben im Eis erzählte, die er „Spitzbergen“ nannte. Als Konfirmationsgeschenke kamen dazu die Bücher „Knaurs Geschichte der Entdeckungsreisen“ und die „Grosse Weltreise mit A. E. Johann“. Noch heute Teil meiner Bibliothek, enthalten beide u. a. mehrere Kapitel über die Entdeckung der Pole.

In einem meiner Notizbücher aus den 60er-Jahren findet sich dann folgerichtig erstmals das eigentliche Schlüsselwort … „Arktis“.

In einem Tagebucheintrag vom 14.11.1966 glaubte ich, in „allgegenwärtiger Polarität“ das „Grundkonzept von Natur und Kosmos“ zu sehen.“

Aus den 70er-Jahren existieren neben zwei bemerkenswerten Zeichnungen des damals 6-jährigen Sohnes mit den zwei Polen, wie oberhalb zu sehen, noch mehrere Bewerbungsbriefe an den Norddeutschen Lloyd, 1988 an die Kreuzfahrtabteilung der HAPAG-Lloyd, das Arbeitsamt Hamburg und an die Hamburg-Amerika-Linie um eine Anstellung als Schiffsarzt, „am liebsten auf der ‚Polarstern‘“. Nach mehreren weiteren Anläufen, nicht zuletzt animiert von den im „Marine-Forum“, der Monatszeitschrift für Marineoffiziere (s. 1. Seite auf Bd. II), regelmäßig erscheinenden Artikeln über die „Polarstern“ als dem immer öfter durch die Medien geisternden Flaggschiff der deutschen Meeresforschung sowie durch das Buchgeschenk meiner Schwester „Unternehmen Polarstern“ von 1988 aus dem ECON Verlag, kam schließlich 1995 vom „AWI“ tatsächlich eine positive Antwort:

„Hiermit bestätigen wir, daß Sie im Zeitraum vom 8.7.96 bis 30.9.96 bei der Reederei F. Laeisz in einem befristeten Heuervertrag stehen und als Schiffsarzt auf dem deutschen Forschungsschiff ‚Polarstern‘ gemustert werden. Ihr Arbeitsvertrag wird Ihnen Anfang Juni zugeschickt. Die Angaben zum Seefahrtsbuch komplettieren wir in Bremerhaven Anfang Juli.“

Vorsehung, Schicksal, Zufall, Selbstläufer, glückhafte Verkettung, Fügung oder auch ein Paradebeispiel früher Prägung, wie auch immer: Die kritische Masse sozusagen war erreicht. Der Funke hatte gezündet.

Der Traum, nach so viel Hartnäckigkeit, Penetranz und Bahnung, dazu optimal passend zur chronischen Überlastung im Beruf, jetzt soll er Wirklichkeit werden.

Es wird ernst

Nun also doch nicht die ersehnte ANTarktis, sondern das Nordpolarmeer, die ARKTIS, sinnigerweise abgeleitet vom altgriechischen arktos = άρκτος = der (Eis)Bär, soll es sein. Da muss wohl durch, wer letztlich das Land der Träume, das Südpolarmeer, die ANTARKTIS erleben will. Schon im Märchen muss ja durch einen Berg von – immerhin schon vorgesüßtem – Brei, wer ins gelobte Land, wer ins Schlaraffenland will.

Reden und träumen kann man viel. Nun aber sind sie alle durchlaufen, die komplizierten Phasen der von langer Hand geplanten intensiven Vorbereitung. Jetzt geht es richtig los, ins real existierende, tatsächlich in greifbare Nähe gerückte Eismeer, ins Nordpolarmeer. Zum Flüchten zu spät.

Montag, den 8.7.Anfahrt nach Bremerhaven

Das Stadium endloser, unsäglicher Bürokratie, die Suche nach einem geeigneten, vertrauenswürdigen Praxisvertreter, der Schriftwechsel mit Kassenärztlicher Vereinigung und Ärztekammer, Rentenversicherung, Seekasse, Berufsgenossenschaft, persönlicher Vorstellung beim berühmten „AWI“ (Alfred-Wegener-Institut) in Bremerhaven, Heuervertrag mit der Reederei etc. etc., die obligatorische Seediensttauglichkeits- und „Seefestigkeits“untersuchung (Nichts leichter als das!) beim Hafenarzt in Oldenburg/H. endlich vorüber. Leben und Denken, die Zeit, da die „Polarstern“ mit gefühlt wachsender Geschwindigkeit näherrückt, beginnt sich schon jetzt im Vorfeld zu verdichten. Auf geht’s zur Einschiffung nach Bremerhaven, wo sie, die „Polarstern“, schon ungeduldig wartet.

Endlich an Bord!

In die „Laptev-See“ soll es gehen? Laptev? Wo soll das denn wohl sein? Bis dato niemals von gehört. Womöglich noch viel, viel weiter östlich als die Phantasie jemals reichte? Vielleicht noch weiter weg als Sibirien?

Bei „Kaiserwetter“ Ankunft im dortigen „Kaiserhafen“. Dort liegt es, unser Schiff, schon fest vertäut an der Pier.

Hinten das „AWI“

Abschied in Bremerhaven. Familie von Bord.

Tief in seinem Leib surren Tag und Nacht schon jetzt ohne Unterbrechung zahllose Motoren. Wie aufregend schon dieses monoton beruhigend beunruhigende und zugleich erwartungsvolle Dauergeräusch, wie zum Panthersprung bereit! Dieser abenteuerliche Geruch nach Dieselöl, geradeso wie schon damals bei der Flotte 1993 im größten amerikanischen Kriegshafen „Roosevelt Roads“ auf Puerto Rico. Diese Steigerung des Fernwehs bis zum körperlichen Schmerz!

Es geht an Bord. Das wuchtige, massige Schiff, bis zur Halskrause mit Hochtechnologie angefüllt, gleicht einem Labyrinth. Mein Vorgänger, der sich bewegt, als sei er hier zuhaus (ist er nach mehrmaliger Eismeerreise wohl quasi auch), empfängt mich mit angenehm zurückhaltender, freundlich engagierter Kollegialität.

Über den ganzen, langen Tag mit viel Geduld und unter besonderer Betonung des Schiffshospitals geht seine Einweisung ins verwirrend komplexe Innenleben dieses Kolosses.

Vom OP über die Röntgeneinrichtung, die Sterilisationsanlage, das Labor, die Apotheke, die Zahnstation, die Fachbibliothek, das große Videoarchiv zur vom Doc zu bewirtschaftenden „Zillertal“-Bordkneipe etc., bis der Schädel mir raucht. Soviel geballte Technik, in dieser Verdichtung derart komplizierte Einzelheiten, so viel Vorbereitung auf Eventualitäten – für den Anfang beinahe zuviel.

Angesichts der Unwägbarkeiten und vielen Fragen, die zuletzt doch ohne Antwort bleiben müssen, will der Mut mir sinken.

Dienstag, den 9. Juli.

Wohltuend geht an diesem ersten Morgen eine kühle, frische Brise durch den Hafen. Die Hospitaleinweisung wird unverdrossen fortgesetzt. Wegen der Formalitäten geht es in die Stadt zur „Kommandozentrale“, dem „AWI“, dessen riesiger Gebäudekomplex einem Schiffsrumpf nachempfunden zu sein scheint.

Bei dieser Gelegenheit gleich gegenüber das Schifffahrtsmuseum wie auch das Museums-U-Boot besehen, ist Ehrensache. Noch ein gemeinsamer Spaziergang am Strand.

Noch ein Abschiedsschoppen Downtown. Abschied vom Festland für lange Zeit. Abschied in die Eiswasserwüste, Abschied ins Ungewisse.

„WEGENER, Alfred, (1880-1930), dt. Geophysiker und Meteorologe. Prof. in Hamburg und Graz. Entwickelte die Theorie der Kontinentalverschiebung (veröffentlicht 1912); er arbeitete außerdem v. a. über die Thermodynamik der Atmosphäre und die Entwicklung geophysikalischer Instrumente.

Schrieb u. a. über ‚Die Entstehung der Kontinente und Ozeane‘.“

Quelle: „Der grosseBrockhaus“ von 1957, Bd 12, S. 383

Donnerstag, den 11.7.

„Es warten auf Dich …“

Freitag, den 12.7.

Und da! Zwanzig Minuten vor „Leinen los“ über alle Lautsprecher der dringliche Durchruf nach dem Schiffsarzt. Alarm! Bei abschließenden Arbeiten auf Deck zwischen Ketten und Ankerspill ist soeben ein Werftangestellter vor lauter Aufregung bewusstlos zusammengebrochen.

Auf dem Vorschiff, noch gar nicht so recht an Bord angekommen, zum Glück mit den vorhandenen Notfallinstrumenten aber schon hinreichend vertraut, in gewohnter Manier sofortige Wiederbelebungsmaßnahmen, bis der Notarzt erscheint. Die Aufregung ist groß. Defi-Elektroschock. Vorsicht, die Stahlplanken könnten den Stromschlag leiten und die Umstehenden gefährden. Nach 30 Minuten geht es über die enge Stelling endlich an Land, wo auf der Pier jetzt ein Rettungswagen steht.

Schiffsarztkammer

Schon sind wir, maßlos überhitzt und von der ca. halbstündigen Herzmassage völlig erschöpft, mit der Welt fertig noch ehe es richtig begann. Soll das die Feuertaufe gewesen sein? Große Betroffenheit in allen Gesichtern. Seht nur, so werden hier alle dem „ship’s doc“ auf Gedeih und Verderb die kommenden drei Monate lang ausgeliefert sein. Da mag es jetzt dem einen oder anderen von uns grausen. Wohin sind wir bloß geraten? Wenn das nur nicht so weitergeht. Die Männer, sie trösten mich. Alle denkbaren Widrigkeiten hätten wir somit doch wohl abgearbeitet.

10 Uhr 20. Mit Verspätung die Leinen los. Mit kleiner Fahrt gleiten wir aus dem Hafen. Den Kapitän auf der Brücke, fast wie beim Bund, hier allerdings ohne militärischen Gruß, unterrichtet der Schiffsarzt von dem traurigen Vorfall.

Und schon folgt die vorgeschriebene, sicherungstechnische Führung durchs Schiff. Inklusive Sichtung der umfangreichen Fachbibliothek stürzt sich der „ship’s doc“ danach sogleich in seine Aufgaben im Schiffslazarett. B.a.w. also muss dies sein Zuhause werden. Ein jeder Griff hat, wie eben gesehen, baldmöglichst zu sitzen, besser heute als morgen. Zudem macht in dieser Situation Passivität melancholisch und instabil. Aktivität, aktives Handeln dagegen schafft Selbstvertrauen und innere Sicherheit. Hier ist beides vonnöten. Zu allem Überfluss erzählt einer der Wissenschaftler, seinerzeit habe vor Jahren hier an Bord ein Blinddarm operiert werden müssen. Ja, und? Immer nur kommen lassen!

Auf Anhieb freundlich zugewandte Begrüßung durch Prof. A., den wissenschaftlichen Fahrtleiter, inklusive Vorstellung bei der Besatzung im Vortragssaal. Wohl wäre er mir auch ein potentieller Verbündeter für den Fall interkurrenter Konflikte und Krisensituationen. Das wirkt jetzt beruhigend.

Erstes gemeinsames Abendessen. An der „Tafel“ der Offiziere muss Fuß gefasst werden. Sind denn gar keine Leidensgenossen in Sicht? Wie unangenehm.

Noch ist die See ruhig, der Horizont bis Mitternacht hell, was nun täglich deutlicher werden soll, denn wir bewegen uns strikt nach Norden. Schon in zwei Tagen werden wir bei 66 Grad nördlicher Breite den Polarkreis erreichen, von wo ab zu dieser Jahreszeit seit Jahrmillionen die Nacht zum Tage wird. Nur, so recht vorstellen kann man es sich bis jetzt eigentlich nicht.

Samstag, den 13.7.

Thema Sicherheitsübungen. Die sind bekanntlich Vorschrift und Routine nicht nur im Flugzeug, sondern auch auf allen seegehenden Schiffen. Mit Polarkleidung, Schwimmweste und Schutzhelm geht’s in die Boote.

Danach ist für die erste Happy hour der Reise am Abend das „Zillertal“, unsere Bordkneipe, erstmals dringend mit den nötigen Spirituosen zu bestücken. Außerdem wartet der Brutschrank auf die ersten, ebenso vorschriftsmäßigen wie lästigen, bakteriologischen Eis- und Wasserprobenuntersuchungen aus Schwimmbad, Eisbereitern und sämtlichen Wasserkränen auf Colibakterien – hier erst recht: wie unangenehm; wie sollen denn die da wohl hineingekommen sein? Ganz im Sinne der Beschäftigungstherapie ist der Schiffsarzt traditionell aber auch der „Bordkinomann“. Als solcher hat er für die Mannschaften, wohlgemerkt inkl. Frauen, das allabendliche Video-Wochenprogramm zu erstellen, vor den beiden Messen anzuschlagen und aus dem umfangreichen Videoarchiv zweimal täglich Videofilme aufzulegen. Vielleicht sonst noch Wünsche?

Wir stehen in Stirnhöhe des „norwegischen Löwen“. Kommt mir irgendwie bekannt vor. Ziemlich genau hier muss es gewesen sein, dass sieben gewisse blutjunge Kieler Studenten auf einem Segeltörn (ohne Motor!) in sturmdurchtoster Sommernacht vor jetzt fast genau 30 Jahren auf dem Wege zum nahen „Sognefjord“ bei Orkanstärken von ca.10–12 (s. Foto) in einer Monsterwelle (sog. „freak wave“) durchkenternd mit Mann und Maus und zweimal Mann über Bord (inkl. hiesigem „ship’s doc“) um Haaresbreite für immer zu den Fischen gegangen wären. Persönliche Schweigeminute!

Tag des Orkans. Wurde danach, als wir nur noch unter Lebensgefahr hätten fotografieren können, sogar noch viel schlimmer!

Sodann repetierend nochmals Lehrbücher, Defi, OP-Tisch, Narkosegerät und Zahnstation durchexerziert. Stoßgebete zum Himmel. Die (medizinische) Verantwortung ohne Pause so ganz allein in den nächsten drei Monaten auf den ach so schwachen Schultern tragen, das drückt jetzt nach dem gestrigen Ereignis doch sehr aufs Gemüt. Da passt die intuitiv mitgeführte Moll-Mundharmonika gut zur Stimmung. Zur Entspannung aus dem Seesack am Abend dazu die mir von meinem jüngeren Sohn mitgegebene Lektüre „Entdeckung der Langsamkeit“ von Nadolny, zu meiner Überraschung ein richtiges Arktis-Buch, kurioserweise zufällig optimal passend zur jetzigen Lage.

Frontispiz von William Turner (Copyright)

Den ersten Sturm soll es bald geben. Da wäre es ja vielleicht doch besser zuhaus, oder? Assoziation: „Fährt ein weißes Schiff nach Hongkong“, sprich, auf Fernweh folgt immer auch Heimweh. Um 23 Uhr 20 ist es draußen, so nie gesehen, hier noch immer taghell.

Sonntag, den 14.7.

Die Röntgen-Fotochemie für die Dunkelkammer muss soeben neu angesetzt werden. Gehörte wegen in der Praxis üblicher, automatischer Entwicklungsmaschine und Röntgenassistentin eigentlich bisher nicht unbedingt zu meiner Routine. Aufs Neue soeben planmäßig auch schon wieder diesen verflixten, heißgeliebten Brutschrank beschickt. An Oberdeck Videoaufnahmen gemacht. Auf der Kommandobrücke gewesen. Eingewöhnung ist schwer, kommt aber mit der Zeit letztlich zuverlässig von selbst.

Wir stehen jetzt sozusagen beim „Haaransatz“ des besagten „norwegischen Löwen“, sprich bei 63° nördlicher Breite. Bin zurzeit mit Husten und Harnwegsinfekt selbst mein bester Patient. Im „Zillertal“ jetzt selber mein bester Gast, das wäre mir wesentlich lieber. Sehr einsam und ausgesetzt kommt man sich als der Doc jetzt hier vor. Wenn dem hier was passiert, hilft ihm, wie man so sagt, „kein Schwein“. Oder doch? Immerhin steht ihm eine nette, junge Krankenschwester zur Seite. Zudem haben die Offiziere eine medizinische Kurzausbildung gemacht und sich so gewisse medizinische Grundkenntnisse erworben. Immerhin tröstlich. Wie sollte es denn sonst auch gehen? Zu Columbus’ Zeiten war alles viel schlimmer.

Schon will es draußen überhaupt nicht mehr so recht dunkel werden. Ein mir von meinem Bruder mitgegebener, dicker Brief enthält, siehe da, eine so bisher auch nie gesehene, sprechende und zur jeweils eingestellten Weckzeit sogar laut krähende Armbanduhr. Dazu sein Kommentar: „Eine so nette, süße, französische Mädchenstimme kann im ewigen Eis doch etwas sehr Erwärmendes sein … Der Hahnenschrei soll Dir die heimatlichen Zwerghühner ersetzen und die Eisbären verschrecken. Wünsche Dir alles Gute für Dein Abenteuer und habe große Hochachtung vor Deinem Mut!“ So etwas kann man hier allerdings sehr gut gebrauchen, nämlich als Hilfe bei der Einhaltung ungeahnt vieler kleiner (nicht zuletzt auch Sprechstunden-) Termine.

Langsam ziehen wir durchs Nordmeer unsere Bahn. Aus dem CD-Player Schubert und Horowitz. Der Seegang und das stampfende Schiff wiegen uns in den Schlaf. Wie nett: Das Diensttelefon schweigt.

Montag, den 15.7.

Zwei Faxnachrichten nach Haus abgesetzt, solang es noch funktioniert. Telefonieren von der Funkbude aus ist heute allerdings Fehlanzeige.

An Bord läuft alles so seltsam ruhig. Sogar einen Mittagsschlaf – was war das doch gleich – gibt es hier. Das Bewusstsein, jede Minute könnte mich, wie gehabt, bis zum Äußersten fordern, ist, obschon aus klinischen Zeiten hinreichend bekannt, allerdings doch wieder gewöhnungsbedürftig. Prophylaktisch nochmals ein tiefer Blick in die erstaunlich qualifizierte, bordeigene Fachbibliothek über Magenperforation, Technik der zahnärztlichen Anästhesie und die Blinddarmoperation, obwohl besonders letztere früher bis zum Umkippen bei Tag und bei Nacht mit Wonne wohl hunderte Male selber gemacht.

Um 16 Uhr haben wir den Polarkreis geschnitten. Die Bordzeit wurde um eine Stunde vorausgestellt. Um 23 Uhr 20 heute ausnahmsweise pünktlich in die Koje.

Dienstag, den 16.7.5. Tag auf See

Am Nachmittag Kolloquium der internationalen Wissenschaftler (ihrer Bärte wegen, pardon, hier liebevoll „die Fusseligen“ genannt) im Kinosaal. Auf Englisch. Am Abend die Lofotenkette steuerbords 15 sm querab. Im Fernglas dort drüben bei strahlendem Abendsonnenschein grüne Niederungen zwischen herrlich hohen, weißen Bergen. Die Lofoten, ja, eine Extrareise wären sie wert. Sanft und hellgrün bis bläulich getönt wiegt uns das Meer. Trotz der vielen Menschen ist so gar keine Unruhe im Schiff. An Oberdeck jetzt 10 °C plus.

Komme soeben aus dem „Zillertal“, unserer allabendlich außerdienstlichen Kommunikationszentrale. War zwar zunächst ohne den rechten Antrieb, fand es dann aber dort, wie es ja bekanntlich oft ist, doch lustig und interessant. Jeder ist hier für jeden zu sprechen, vom Professor bis zum Chefkoch. „Captain Morgan“, unser Lieblingsrum, tut ein Übriges, wirkt, „sofern vorhanden“, anregend aufs Hirn und lockert anfangs die dann allerdings bei dem einen oder anderen zunehmend schwerer werdende Zunge.

Zur allabendlichen „Ronde“ noch um 24 Uhr auf die Brücke. Von dunkler Nacht keine Spur. Hell leuchtet noch jetzt die Abendsonne im Westen. Im Osten ist die norwegische Steilküste mit ihren durch die helle Mitternachtssonne widerscheinenden, schneebedeckten Bergmassiven zu sehen. Steuerbords tummelt sich der erste Wal meines Lebens. Es beginnt mir langsam zu dämmern, dass es zu dieser Jahreszeit hier tatsächlich überhaupt gar nicht auch nur ein kleines bisschen dämmern will. In dieser Situation jetzt bloß nicht die Nacht mit dem Rollo künstlich verdunkeln. Dieses unwirklich-nächtliche Sonnenlicht, man muss es aus nächster Nähe erleben.

Mittwoch, den 17.7.

Tromsö, historisch-traditioneller Stützpunkt aller Arktisfahrer, querab. Ein Fünfzigtausend-Seelen-Städtchen von Lebertran voll. Viele sonderbare Seevögel begleiten uns. Wunderbare Einsamkeit.

Anruf von zuhaus! Dort mit Blick auf den häuslichen Herd, hier zur gleichen Zeit aufs sonnenbeschienene Nordkap.

Hatte heute vormittag endlich genügend Zeit, in Ruhe das gesamte Schiff über seine zehn oder noch mehr Ebenen ein weiteres Mal vom obersten bis zum untersten Deck mit Blick in alle Maschinen- und Rechnerräume, Werkstätten und Labors bis hin zur Bierlast und zur Wäscherei ganz tief in der Bilge zu begehen.

Ein großer Hai, dann ein Fischdampfer mit Harpunenkanone kreuzen unseren Weg. Falls sich die beiden begegnen sollten, geht es womöglich ersterem schlecht.

Die Zeit scheint (s. oben Nadolny) irgendwie eingeschlafen zu sein, wohl weil sich auch hier schon der Sonnenstand zumindest in der Vertikalen kaum ändert. Noch gegen 21 Uhr sieht man in Liegestühlen Lesende auf der Helikopter-Plattform.

In der Bibliothek, unserem „Blauen Salon“. Das lohnt sich immer. Stoße dort diesmal in einem isländischen Wörterbuch z. B. auf Huhn = haene und Hunger = hungur. Das nennt man indogermanische Sprachverwandtschaft. Von Island bis Indien. Und da sollen nicht alle Menschen Brüder sein oder wenigstens eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages werden?

Nachricht vom Funker: Heute wurde er zu Grabe getragen, unser armer Infarktpatient. Tut uns allen so leid. Wir sind traurig. Aber besser konnten wir nicht.

Die wandernde Mitternachtssonne (eigene Collage)

Jetzt um 24 Uhr steht die Sonne noch immer bei 7° über der Kimm und wird zwar um unseren Bug herumwandern, aber statt letztlich unterzugehen, sogleich wieder steigen! Man mag es kaum glauben und muss es gesehen haben. Es kommt eben alles auf den Standort an. Wahrhaftig, eine solche Reise muss das Denken verändern.

Donnerstag, den 18.7.

Wale in ganzen Rudeln! Sie benehmen sich, als wären sie intelligent, was wohl auch zutrifft (Nachtrag 2023: Siehe dazu Logbuch „Tagebuch einer arktischen Reise“ von Arthur Conan Doyle über Walfang und Robbenjagd aus dem Jahre 1880).

Wir alle wollen sie sehen. Bei der Gelegenheit bringt mir, dem Greenhorn, Herr Fahrtleiter die Grundziele der Polarforschung nahe. Die nämlich wolle letztlich die Erweiterung der Kenntnisse um die Klimafunktion der Polarmeere. Es ginge um Tiefenströmungen, die den gesamten Globus umfließen und physikalischen Gesetzen gehorchen, die hier erforscht werden sollen. Warmes Wasser steige empor,kaltes Wasser sinke dagegen ab, und so entstehe auf diese Weise ein von Pol zu Pol reichender, ebenso ungeahnter wie gewaltiger, globaler, ewiger Kreislauf, der auch Motor des Golfstromes sei. Er spricht von der Ozeanografie, um die es auf dieser Expedition vornehmlich gehen soll.

„OZEANOGRAPHIE (Meereskunde), die Wissenschaft vom Meere; sie beschäftigt sich i. e. S. mit den physikalischen und chemischen, i.w. S. mit biologischen, geologischen und geophysikalischen Erscheinungen und Vorgängen im Weltmeer, d. h. sie erforscht die Eigenschaften des Meerwassers und der in ihm gelösten und schwebenden Stoffe, die dem Meer zur Verfügung stehende Energie (Meeresströmungen) sowie den Meeresboden, seine Formen, Ablagerungen und nutzbaren Bodenschätze (Manganknollen) wie auch die Lebewesen, die das Meereswasser und den -boden bevölkern (Ertragssteigerung der Seefischerei, Nutzbarmachung neuer Nahrungsquellen, z. B. Krill). Ein Schwerpunkt der modernen internationalen O. ist die Erforschung der Wechselbeziehungen zwischen Wasser- und Lufthülle der Erde, die für das Klima entscheidend ist, ein weiterer die Erkundung der mittelozeanischen Rücken, deren Ergebnisse in einer neuen Theorie zur Entstehung der Kontinente und Meere zusammengefaßt wurden (s. Plattentektonik).“

Quelle: „Der grosse Brockhaus“ von 1955, Bd. 7, S. 640f

Seit Stunden befinden wir uns in russischen Gewässern. Alle bereiten sich auf Murmansk, unseren auf dieser Reise einzigen anzulaufenden Hafen, vor. Dort kämen russische Wissenschaftler an Bord. Glasnost (kyrillisch: гласность = Öffentlichkeit) und Perestroika (перестройка = Umbau) machen’s neuerdings möglich. Und feiern sollen die können! Meistens mit reichlich Wodka.

Heroischer Selbstversuch: Test am Laboranalysegerät mit dem eigenen Blut. Alle Werte – kann es denn sein – sind so ziemlich normal.

Freitag, den 19.7.Murmansk

Soeben durchlaufen wir den nicht endenwollenden, irgendwie missfarbenen Murmansk-Fjord. Ufernah wimmelt es – wie man weiß, jetzt aber mit eigenen Augen sieht – von lauter abgewrackten, halb auf Grund liegenden Schiffsrümpfen und verrottenden Atom-Ubooten.

Dort drüben Einheiten der russischen Flotte und zwei große, ausgemusterte Flugzeugträger mit typisch katapultförmigem Vorschiff, daneben als traditionell russische Spezialität mehrere mächtige Atomeisbrecher im „Päckchen“. Der eine von ihnen, „Rossija“, heißt es, würde uns angeblich retten für den Fall, dass wir uns im Eise ernsthaft festfahren sollten, was offenbar nicht ganz ausgeschlossen wird. Wohlan denn.

An den Ufern kaum Grün, stattdessen viel nackter, von den Eiszeiten stark geschliffener Fels. Auf einer Anhöhe vor der Stadt ein an die Freiheitsstatue in New York erinnerndes, überdimensioniertes, in kommunistischem Realismus grob gehauenes Monument des unbekannten Soldaten.

Anlegen im Hafen pünktlich um 10 Uhr. Das sichere Manöver scheint wie gesteuert von Geisterhand. Umso menschlicherer Herkunft doch sicher nicht die Brühe, die unsere Schrauben und Strahlruder hier vom Grunde aufwühlen.

Etwas unlustig dreinschauende, streng uniformierte russische Zollbeamte, allgemeines Unbehagen verbreitend, kommen an Bord. Vielleicht ist ja die Perestroika hier oben noch nicht so recht angelangt. Trotz guten Gewissens jedenfalls befällt uns wie beim Eisernen Vorhang vor 50 Jahren das ungute Gefühl, irgendetwas verbrochen zu haben, wovon wir noch gar nichts wissen.

So auch beim Passieren der Hafenwache mit Passkontrolle zum obligatorischen Landgang. Alleingänge sind hier übrigens wenig gefragt, nicht zu empfehlen und von russischer Seite auch wohl ungern gesehen.

Tonnenweise Eisenerzkugeln im Hafen

Die mit +18 °C jetzt wohltemperierte Stadt von 500.000 Einwohnern voller Plattenbauten.

Zentimetergroße murmanskische Eisenerzkugeln im, interesse- und übungshalber, hier an Bord selbst angefertigten Röntgenbild

Die aber scheinen die Menschen – ein Wunder, dass hier überhaupt welche leben – doch so unglücklich wiederum auch nicht zu machen. Der Mensch gewöhnt sich wahrlich an alles. In den jetzt so spät am Abend noch unwirklich sonnigen, gleichwohl auffallend menschenarmen, an Wintertagen aber wahrscheinlich monatelang gruselig-stockfinsteren Straßen sehen wir viele heitere, nette, gute Gesichter. Dazwischen ein einzelner Bettler. Einige wenige hagere Bäume in zwei kleinen Parkanlagen. Eine einsame Heckenrose treibt mühsam einige Blüten, die erfrieren werden, ehe sie sich richtig entfalten.

Richtige Blumen sieht man nur auf dem einen oder anderen Balkon. Einkaufen kann man nur im „Uniwermagje“, dem scheinbar einzigen Kaufhaus der Stadt. Einzelhandelsgeschäfte sehen wir nicht. Ich bin entschlossen, alles positiv zu betrachten. Murmansk jenseits des Polarkreises (Polhöhe ca. 70°) kann nun mal nicht sein wie Kiel oder Stockholm. In der Disco des an der Hauptstraße gelegenen Hotels „Arktika“, nach unserem vorläufigen Eindruck womöglich das einzige einigermaßen erstrebenswerte Ziel in der Stadt, trifft sich fast wie verabredet die halbe Besatzung. An der Bar eine bildschöne Russin, die Augen macht. Aber wem? Wahrscheinlich fühlt sich irgendwie jeder von uns gemeint. Aber das gerade ist ja vermutlich ihr Trick.

Der Rubel – für 1 DM bekommt man hier zur Zeit ca. 3000 – ist inflationär. Für ein mittleres Bier müssen wir astronomische 12.000 bezahlen. Nun ja, die nächste Brauerei wird nicht grade um die Ecke sein.

24 Uhr. Die goldene Sonne, flach über dem Horizont, scheint immer noch strahlend hell und stimmt auch uns heiter. Die russischen „Wissis“ und ein sog. „Observer“ sind planmässig zugestiegen. Im zentralen „Blauen Salon“, wie gesagt unserer dezidierten Überlebenszelle für den Ernstfall, werden sie gebührend empfangen und ihr Bürgermeister samt Gefolge mit einem großen Buffet freundlich begrüßt. Man sieht darunter ungeahnt attraktive, wiederum intelligent aussehende, in traditionellem Chic gekleidete Russinnen. Deutsche, russische, englische und was weiß ich was noch für Zungen schwirren babylonisch wie wild durcheinander.

Unser fescher 1. Offizier spricht als Ostdeutscher mit ihnen fließend russisch und gibt einen brillanten Dolmetscher ab. Einige Brocken kann sogar ich verstehen. Versuche mich selber mehr schlecht als recht in russisch auf ein Gespräch mit meinem Nachbarn, dem Chef der murmanskischen Schiffergesellschaft. Bis hierher, sagt er, und soweit glaube ich ihn immerhin verstanden zu haben, reiche der Golfstrom. Schon klar!

Samstag, den 20.7.

Es wird zum Auslaufen gerüstet. Jedoch: Einer von unseren Leuten fehlt. Von der russischen Polizei wird er anscheinend willkürlich in der Stadt festgehalten und soll regelrecht von uns ausgelöst werden. Wie und warum, davon hören wir wenig bis nichts.

Der nette Herr W., mein Kontaktmann vom „AWI“, der uns bis hierher begleitet hat, fliegt von hier aus noch heute nach Bremerhaven zurück. Ich erwähne es, weil er netterweise einen Brief von mir für zuhause mitnehmen will.

Wir können kurioserweise nicht auslaufen. Von russischer Seite tauchen immer neue Hemmnisse auf.

Begreife jetzt den Tageslauf der polnahen Sonne schon besser. Sie durchläuft hier quasi eine flach ab- und dann schon wieder ansteigende Bahn, die zu dieser Jahreszeit den Horizont Tag und Nacht nicht berührt. Ihre Mittagshöhe geschätzt jetzt auf ungefähr 40°, wogegen zuhause jetzt vermutlich etwa um die 60°. Aber auch in der Nacht steht sie, die Sonne, hier immer noch bei 7° über dem Horizont, also ohne hinter ihm zu verschwinden.

Die Barentssee und das offene Meer haben uns wieder. Es geht in Richtung Franz-Josef-Land, 1874 unter Payer und Weyprecht, also bemerkenswerterweise von den Österreichern – damals noch eine (adriatische) Seemacht –, entdeckt. Im Hinblick auf die nächsten Tage, an denen ich die ersten Eisberge meines Lebens erblicken soll, kommt mir alles noch viel unwirklicher vor als ich es ohnehin schon empfinde. Und endlich dann von ganz oben gesehen, wird alle Geografie südlich liegen. Dass es sowas überhaupt gibt, Extrempunkt ohne jeden Norden. Ist das wohl Grenzerfahrung?

Übrigens: Sogar das Buch der Bücher steht hier in der Bibliothek, wie ich heute erstaunt feststellen konnte. Apropos: Der dort selbstverständlich auch vorhandene Duden sagt mir, „Bibel“ und „Bibliothek“, die beiden Worte, hätten etymologisch gesehen selbstverständlich eine gemeinsame Wurzel. Aus dem alten Byblos im heutigen Libanon nämlich kam das ägyptische Papyros der alten Griechen.

Was wird wohl sonst noch so alles auf uns warten?

Sonntag, den 21.7.

Die ganze Nacht über haben wir, ohne Fahrt zu machen, außerhalb der Dreimeilenzone von einem russischen Tanker Treibstoff übernommen. Das ist wohl auch ein Grund für die Verzögerung in Murmansk gewesen. Weiterfahrt mit Kurs 38°. Die See mäßig bewegt. Wind 5. Strahlender Sonnenschein. Eine Strahlen-schutzaufklärung am Nachmittag dagegen gerät zu einem wissenschaftlich-physikalischen Kolloquium. Stichwort z. B.: periodisches System der Elemente, Radioisotope etc.

Anschließend kleiner, außerplanmäßiger Umtrunk beim Kapitän. Auch dort ist es immer sehr interessant.

Montag, den 22.7.

Eine letzte Faxnachricht ging nach Haus, denn morgen soll für viele Wochen die Satellitenverbindung abreißen. Nebel umgibt uns. Wassertemperatur hier nur noch um die 4 °C plus. Den ganzen Tag über war für den „ship’s doc“ fast nichts zu tun. Darf so endlich mal wieder lesen am Stück. Wie schön.

Kolloquium. Brillanter Vortrag von Prof. A. über die Grundbedingungen des globalen Klimas unter besonderer Berücksichtigung der Polregionen sowie über den Sinn unseres hiesigen Tuns mit anschließender Diskussion. Meine Frage nach dem Einfluss der Chaostheorie auf die ältesten Eiskerne, die man bisher erbohrt habe, sowie nach deren Alter. Antwort: Chaos selbstverständlich ja. Das Alter der Eiskerne: glatte 200.000 Jahre und mehr. Das freilich betreffe die ANTarktis. Hier in der Arktis erreiche die Eisdecke „nur“, aber immerhin,eine Dicke von teilweise bis zu 12 m.Trotz permanenter Sonneneinstrahlung befinde sich vor allem durch den Wärmeaustausch über die globalen Luft- und Meeresströmungen das Klima auf der Erde normalerweise in einem Gleichgewicht.

Die umstrittenen „Ozonlöcher“ träten in Wirklichkeit nur immer in kurzen Phasen auf. Ihre Bedeutung sei (Nachtrag: 1996!) durchaus noch unklar. Wärmeperioden wie die jetzige, womöglich nur zum Teil durch den Menschen verursacht, habe es in der Erdgeschichte schon oft gegeben. Kohlensäure werde nicht nur von den CO2-hungrigenPflanzen, sondern in riesigen Mengen auch durch Phytoplankton, das Meerwasser und die Algen der Ozeane aufgenommen und assimiliert, also reduziert und gespalten. Selbstverständlich wirke es insofern wie Dünger auf deren Wachstum. Mein Reden. Ein klassischer Rückkoppelungsmechanismus. Möglicherweise sei der Kohlendioxydanstieg in der Atmosphäre nicht nur Ursache, sondern teilweise auch Folge natürlicher Schwankungen. An diesen Auffassungen (Relativität auch der Wissenschaft) würde festgehalten bis zu deren Widerlegung. Stichwort Falsifikation. So ist es bekanntlich mit so vielen Informationen, die dann hier und da, wie man immer mal wieder liest, doch wieder nicht so zutreffen „wie bisher angenommen“.

Ein Wunder geschah. Aller Erledigungsdrang, alles Abhakbedürfnis fiel von mir ab und das wohl nicht nur durch die räumliche Entfernung. Eher dürfte es sich hier um eine Art „vegetativer Gesamtumschaltung“ handeln.

21 Uhr. Unser Professor bat uns heute in kleinem Kreise spontan und in gestriger Zusammensetzung zur Rotweinrunde diesmal auf seine geräumige Kammer. Unbedingt nötig wäre es, dass wir kämen. Der Lohn waren – man mag es abgehoben oder eintönig finden –, bedeutende Gespräche zur dazugehörigen Musik, u. a. über Beethoven und Haydn. Er ließ sogar vorsorglich den von mir erwarteten Telefonanruf von zuhaus von der Funkbude dorthin leiten, wo wir „eine wichtige Besprechung hätten“.

Morgen sollen wir – schon der notwendigen Abwechselung und Kurzweil wegen – das schwedische eisbrechende Forschungsschiff „Oden“ treffen, das ganz in der Nähe hier gerade ebenfalls Klimaforschung betreibt. Und dann sollen wir es endlich sehen, das lang ersehnte Eismeer.

Über allem wurde es zwanglos wieder zwei Uhr nach Mitternacht. Sieht irgendwie nach Nachteule aus.

In der Nacht in aufgeregter Suche nach einem Ausgang von endlosen Tunnelgängen geträumt. Kommentar überflüssig.

Barentssee, den 22.7.an Bord Polarstern

Liebe U.!

Schnell will ich mich per E-Mail noch einmal melden, denn wie ich höre, werden vielleicht schon morgen die Satellitenverbindungen zur Heimat abreißen. Daran siehst Du, wie weit wir uns schon im hohen Norden befinden. Gestern sah ich die Karte mit den Kreisen, die die geostationären Nachrichtensatelliten hier oben noch soeben bestreichen. Noch ein paar Meilen und wir sind aus der Welt!

Das Wetter war die letzten Tage hier wunderbar. Heller Sonnenschein Tag und Nacht!

Kaum, daß man weiß, wann man sich zur Ruhe begeben soll. Nur eben kommt dichter Nebel auf, den aber noch die Sonne durchdringt.

Mir geht es inzwischen nicht gerade schlecht. Lese viel, gottlob aber kaum noch Fachliteratur. Mein Appetit ist gut und ich führe – ganz nach der Bordroutine – ein geregeltes Leben wie schon lange nicht mehr. Als Doc wurde ich bisher kaum weiter gefordert. Der Himmel wird mir beistehen, wenn es wieder einmal schlimm kommen sollte.

Täglich finden wissenschaftliche Kolloquien statt. Zu klassischer Musik gestern auf des Kapitäns selbstverständlich etwas großzügigerer, fast suiteähnlicher Kammer gediegene Konversation mit Professor und Kapitän (dem Dir ja aus Bremerhaven bekannten damaligen I0 (1. Offizier) aus Ossiland. Mit ihnen war ich in kleiner Gruppe auch in Murmansk „an Land“, richtig nett. Viele Antworten habe ich bereits auf Fragen erhalten, die mich immer schon interessierten, zu denen mir sonst aber der rechte Zugang fehlte, selbst wenn einmal Zeit dazu war.

Dabei hilft mir eine Menge an erfreulicherweise noch immer vorhandenem Basiswissen aus Schule und Studium.

Öfter bin ich auf der riesigen Brücke, erhalte viele Erklärungen, sogar auch ohne besonders gefragt zu haben. Wir sehen Wale, Haie, Möwen aller Art, über die mir ein junger Biologiestudent noch eben alles Mögliche an Interessantem zu erzählen wusste. Auch so manche Horrorgeschichten von früheren Expeditionen erreichen mein Ohr.

Wohl wahr, daß dies keine Reise wie jede andere ist.

Versuche doch bitte, mich telefonisch zu erreichen. Um ca. 17–18 Uhr MEZ (= 19–20 Uhr Moskauer Zeit = Bordzeit) werde ich auf meiner Kammer sein, sodass wir frei sprechen können. Hoffentlich seid auch Ihr alle wohlauf und unsere Freunde sind lieb zu Dir …

Dienstag, den 23.7.

Bordzeit 11 Uhr. Position 77° Nord/55° Ost. Wassertemperatur +3 °C, Luft +4,7 °C. Relative Luftfeuchtigkeit 100 % (Nebel). 12 kn Fahrt. Die Satellitenaufnahmen sagen uns: In fünf Stunden werden wir an der Eiskante sein. Genießen wir noch die Ruhe. Von da an dürfte es Tag und Nacht pausenlos knirschen, poltern und krachen.

14 Uhr. 77.5° N/57° O. Die ersten Eisbrocken erscheinen vor meinem Fenster.

1410 Uhr: Schon befinden wir uns mitten im Scholleneis (Video/DVD). Und tatsächlich: Der ganze Schiffskörper bebt, knirscht, kracht und schwankt mit Krängungen bis 20° mehr als gedacht. Das klingt wenig, ist aber in Wirklichkeit viel, wenn man selber an Bord ist. Das Meer dagegen mit einem Male glatt wie ein Ententeich, denn die Wellen werden jetzt durch das Eis gebrochen. Die Wassertemperatur liegt heute – weniger geht übrigens im salzigen Milieu aus physikalischen Gründen auch gar nicht – bei -1,6 °C. Luft: +0,5 °C

Nachts 01:20 Uhr. Es ist taghell. Die Mannschaft der „Oden“, mit der wir heute längsseits gingen, fiel am Abend wie ein Heuschreckenschwarm in unser „Zillertal“ ein. Dort schlugen die Wellen hoch. Zu fortgeschrittener Stunde prompt deutsch-schwedische Verbrüderungsszenen in englischer Sprache, auch von „ship’s doc“ zu „ship’s doc“. Krister, Uli, Volker und Steffen. Es war fast wie an feuchtfröhlichen Studententagen.

Gleich mehrere Polarbären und ihre zahlreichen Spuren im Schnee wurden gesichtet.

Saukalt ist es draußen. Hohe Breiten.

Mittwoch, den 24.7.IM ARKTISCHEN EIS

Gleich beim Erwachen fällt mein staunender Blick erstmals, unvergesslich und wundersam, auf eine weiß-blaue Decke von schier endlosem Eis.

Siehe da, schon wieder frische Abdrücke dicker Tatzen im Schnee dicht beim Schiff.

Hier geben sich Eisbären die Klinke wohl in die Hand!

2022 von der 14-jährigen A. B. gezeichnet

Zum Teufel mit dem banalen Alltagsleben! Dazu passend eben ein Fax von zuhaus. Ich solle mich freuen über die Zeit, die mir hier geschenkt würde.

„Spuren im Schnee“

12 Uhr 15. Die Uhren stellen wir nun gar nicht mehr vor. Wozu auch? Hier sind wir doch „frei wie der Bursch“. Auf Position 80° N und 65° O leben wir wie losgelöst von der hier fast vergessenen irdischen Zeit. Die Uhren, wir könnten sie eigentlich verzögern oder auch ganz anhalten. Man würde es in unserem weltfernen, quasi autarken System gar nicht bemerken.

In einer großen Polynia (russisch = eisfreie Zone) stehen wir gerade östlich von Franz-Josef-Land, das sage und schreibe immerhin 300 Einwohner hat. Die Armen! Oder auch die Glücklichen!

Dort drüben endlich ein erster mittlerer Eisberg. Filmen mit offenem Hemdskragen an Oberdeck.

Die Satellitenverbindung ist heute wie vorausgesagt b.a.w. tatsächlich abgerissen. Schlimmer als in der Raumfahrt. Dazu passend die sog. „schwere Rammeisfahrt“ bei Tag und bei Nacht. Will heißen: Durch mehrere Meter dickes Eis kommen wir nur durch unentwegtes Vor und Zurück mit den 20.000 PS und der ganzen Wucht unseres 17.000-Tonnen-Schiffes voran. Die moderne, hochgezogene Bugkonstruktion macht, dass wir die Schollen nicht mit unnötig viel Kraftaufwand quasi spalten müssen, sondern erst aufschwimmen und sie dann mit unserem Eigengewicht brechen. Dazu muss – auf den ersten Blick paradox – seitlich möglichst viel Freiraum sein, da wir uns sonst leicht festfressen und einkeilen könnten.

Die herrlichsten Farben am Himmel, das tiefblaue Eis, die hügelkettenartigen Wolkenformationen über der Kimm: so bisher nie gesehen.

Donnerstag, den 25.7.

Position 80° N/80° O. Bis hierher kam schon 1596 der Holländer Barents, dessen Namen dieses Meer nördlich von Norwegen deshalb heute noch trägt. Beim Frühstück höre ich nicht ohne ein Unbehagen, auf einer Antarktisreise sei es vor Jahren neben besagter Blinddarmoperation sogar – ihr macht mir Mut – zu einem Magendurchbruch gekommen. Räuberpistolen? Das Hauptproblem sei die Narkose gewesen. Das allerdings glaube ich auf der Stelle und bewundere so oder so die damaligen Kollegen noch heute.

Die ganze Nacht rumpelten und pumpelten wir, dass es Art hatte. Maschinen ermüden nicht.

Radio Deutsche Welle. Nachrichten über Bombenleger und Flugzeugabstürze dringen kaum bis zu uns durch und können unseren Eiswüstenfrieden nicht stören. Hier ist noch alles im Gleichgewicht. Ja, hier ist die Welt (noch) in Ordnung.

Unglaublich: In mindestens fünf Farben – blau, weiß, braun (Algen), rot und grün – schillert das Packeis. Fast ungebremst und mit geballter Kraft donnern wir mitten hindurch. Man sollte es nicht für möglich halten.

Doppeltfußballfeldgroße Schollen schieben wir ohne Mühe beiseite. Selbst mein Freund, der altgefahrene Steuermann meint, „das glaubt uns zuhause kein Mensch.“ Man kann nicht genug davon haben. Vor Getöse, Rumoren und Holpern ist mir in diesem Moment sogar die Arbeit am Laptop kaum möglich.