Vom Zauber der Kindheit - Roswitha Gruber - E-Book

Vom Zauber der Kindheit E-Book

Roswitha Gruber

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Beschreibung

Kindheit und Jugend früher - wie erging es den Großmüttern von heute? Roswitha Gruber schildert anschaulich das Leben "in der guten alten Zeit, das natürlich auch nicht immer frei von Sorgen und Nöten war. Viel harte Arbeit gab es auf dem Land, Kriegs- und Nachkriegsnöte galt es zu überstehen." Daneben erzählen die Geschichten von Kinderstreichen, von lustigen und traurigen Begebenheiten, Glücks- und Unglücksfällen, der Suche nach einem passenden Beruf oder der großen Liebe. Roswitha Gruber widmet sich der Schilderung starker Frauen mit außergewöhnlichen Lebensgeschichten. Für jeden ihrer Romane recherchiert sie dafür ausführlich und nähert sich in langen, intensiven Gesprächen dem Schicksal ihrer Protagonistinnen an. Roswitha Gruber lebt und arbeitet in Reit im Winkl.

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LESEPROBE zu

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2012

© 2014 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheimwww.rosenheimer.com

Titelfoto: © Bundesarchiv, Bild 183-44206-0003 / Fotograf: Schlegel

Lektorat: Ulrike Nikel, Herrsching am Ammersee

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

eISBN 978-3-475-54371-5 (epub)

Worum geht es im Buch?

Roswitha Gruber

Vom Zauber der Kindheit

Großmütter erzählen

Kindheit und Jugend früher – wie erging es den Großmüttern von heute? Roswitha Gruber schildert anschaulich das Leben in der »guten alten Zeit«, welches natürlich auch nicht immer frei von Sorgen und Nöten war. Auf dem Land gab es viel harte Arbeit. Es galt Kriegs- und Nachkriegsnöte zu überstehen. Daneben erzählen die Geschichten von Kinderstreichen, von lustigen und traurigen Begebenheiten, Glücks- und Unglücksfällen, der Suche nach einem passenden Beruf oder der großen Liebe.

Roswitha Gruber widmet sich der Schilderung starker Frauen mit außergewöhnlichen Lebensgeschichten. Für jeden ihrer Romane recherchiert sie dafür ausführlich und nähert sich in langen, intensiven Gesprächen dem Schicksal ihrer Protagonistinnen an. Roswitha Gruber lebt und arbeitet in Reit im Winkl.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Vaters Liebling

Stadtluft

Bergbauernkind

Der Vogelhändler

Eine Kindheit im Schloss

Prüfungen des Lebens

Ein konsequentes Mädchen

Vatersuche

Lehrerstöchter

Familie anno 1920

Der rote Fuchs

Ein kleines Glück

Die gute alte Zeit

Vorwort

Es hat mir seit jeher viel Freude gemacht, mich mit Frauen im Großmutteralter oder sogar im Urgroßmutteralter zu unterhalten und ihnen zuzuhören, wie sie aus ihrer Kinder- und Jugendzeit erzählen. Und mit der gleichen Begeisterung, mit der sie ihre Erinnerungen schildern, höre ich zu. Das Ergebnis solcher Begegnungen ist in diesem Band festgehalten.

Frauen kommen hier zu Wort, die aus den unterschiedlichsten Regionen und Gesellschaftsschichten stammen. Obwohl sie sehr verschiedenartige Lebensmuster hatten und die eine ein Schloss, die andere eine ärmliche Hütte ihr Zuhause nannte, ist ihnen vieles gemeinsam: ihre Kindheit und Jugend waren überschattet vom Zweiten Weltkrieg. Einige von ihnen haben sogar noch den ersten großen Krieg miterlebt. Ihr Leben war bestimmt vom Kampf ums tägliche Brot, es war geprägt von Arbeit und Pflichterfüllung, von Entbehrungen und Gehorsam. Für Vergnügungen, Spiel und Ablenkung blieb nur wenig Zeit.

Trotzdem sehen sie rückblickend ihre Jugend überwiegend in einem rosigen Licht. Sie sind der Überzeugung, dass sie alles in allem eine schöne Kindheit hatten und dass ihnen die viele Arbeit und die strenge Erziehung nicht geschadet haben. Alle diese Frauen haben sich eine gehörige Portion Lebensfreude und Optimismus bewahrt und schauen trotz ihres teilweise hohen Alters noch voller Tatendrang in die Zukunft.

Vaters Liebling

Katharina, Jahrgang 1932, aus Mommenheim/Rheinhessen

Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, fällt mir auf, dass meine frühesten Erinnerungen mit meinem Vater zu tun haben. Meine Mutter trat erst in Erscheinung, als ich schon nicht mehr ganz so klein war. Das liegt sicher nicht nur daran, dass sie als Näherin viel außer Haus gearbeitet hat, denn auch mein Vater war als Vollzeitlandwirt nicht immer zu Hause. Wahrscheinlich ist der Grund dafür eher darin zu suchen, dass meine Mutter mit mir nicht viel anzufangen wusste.

Bestimmt hatte auch sie ihre guten Seiten, aber es war nicht gerade das, wonach ein kleines Kind sich sehnt. Mein Vater war da einfühlsamer, und er liebte mich wirklich, während ich bei meiner Mutter eher den Eindruck hatte, dass sie mich ablehnte. Sie begann sich erst für meine Person zu interessieren, als ich alt genug war, um arbeiten zu können. Das behaupte ich nicht nur, weil ich das als Kind so empfand. Es gibt auch Aussprüche von ihr, die das belegen. Doch davon später.

Im Zusammenhang mit meinem Vater fallen mir eine ganze Reihe von Begebenheiten ein. Obwohl er sich oft mit mir beschäftigte, kam auch bei ihm die Arbeit an erster Stelle, denn davon lebten wir ja schließlich. Aber mein Vater verstand es, die Arbeit spielerisch zu gestalten, und so entstand das bei mir sehr beliebte Spiel »Bohnenmühle«. Jedes Mal, wenn wir Stangenbohnen ausgepalt hatten, »auskiwweln« sagte man bei uns, nahm er ein Blatt Papier und zeichnete ein Mühlespiel auf. Derweil suchte ich aus dem Bohneneimer neun große weiße und neun dunkle Bohnen aus. Damit spielten wir Mühle. Das war seine Art Belohnung für meine Arbeit. Aus meiner Sicht war das jedoch keine wirkliche Arbeit gewesen, sondern nur die Vorbereitung zum Mühlespiel. Eigenartigerweise gewannen wir immer abwechselnd. Ob er da ein bisschen zu meinen Gunsten gemogelt hat?

Auch eine andere Arbeit machte mir der Vater erträglicher – das Abkeimen von Kartoffeln. Da die Keime schädlich für Schweine sind, war es von klein auf meine Aufgabe, diese zu entfernen, bevor die Kartoffeln für die Schweine gekocht wurden. Ich verabscheute das. Deshalb breitete mein Vater eines Tages, bevor er aufs Feld ging, die entsprechende Menge Kartoffeln im Hof aus und erklärte mir: »Es reicht, wenn du die Kartoffeln am Nachmittag kochst. Ich habe sie aber schon in den Hof gekippt, damit die Hühner die Keime abpicken. Dann hast du weniger Arbeit.« Es funktionierte! Ich hatte nicht nur meinen Spaß, wenn sich die Hühner über die braunen Erdknollen hermachten, sondern es ersparte mir tatsächlich das zeitraubende Abkeimen. Ich brauchte nur noch ein wenig nachzuarbeiten. Dann wusch ich die Kartoffeln und warf sie in den großen Kessel.

Nicht nur die Arbeit, auch andere Fertigkeiten brachte mir der Vater »spielend« bei. Von ihm lernte ich zum Beispiel das Schleifenbinden. Dazu befestigte er eine Kordel an einem Wagenrad. Schritt für Schritt machte er mir dann vor, wie man eine Schleife bindet. Während er den Wagen ablud, übte ich so lange mit der Kordel, bis ich ihm voller Stolz berichten konnte: »Ich kann’s.« Er war es auch, der mir das Sonnensystem erklärte. Das mag er zwar nicht in den richtigen Größenverhältnissen getan haben, aber er machte es so, dass ich verstand, wer wen umkreist. Als Erde diente ihm das Mehlfass, die Sonne war der Salznapf und der Mond das kleine blau emaillierte Fetttöpfchen. Diese Gefäße baute er auf dem Küchentisch auf und bewegte sie entsprechend umeinander. Viel später, als wir dieses Thema in der Schule durchnahmen, konnte ich mit meinem Wissensvorsprung glänzen.

Außer Äckern für Getreide, Rüben und Kartoffeln gehörten zum elterlichen Besitz auch Weinberge, und nachdem mein Vater herausgefunden hatte, dass ich Traubensaft liebte, füllte er jedes Jahr extra für mich fünfzig Liter ab. Damit er haltbar wurde, musste ich in dem kleinen Dorfladen ein weißes Pulver kaufen, das unter den frischen Most gerührt wurde, bevor er in Flaschen abgefüllt, verkorkt und an einem gesonderten Platz im Weinkeller für mich aufgehoben wurde.

In der Kriegszeit war neben allem anderen auch der Zucker rationiert. Jeder Winzer bekam jedoch ein bestimmtes Kontingent – wenn ich mich nicht irre, einen halben Zentner –, damit er seinen Haustrunk süßen konnten. Das war eine Art Wein für den Eigenbedarf, aber so minderwertig, dass man für ihn diese Bezeichnung gar nicht verwendete. Der echte Wein, der direkt aus den Trauben gepresst wurde, musste ja verkauft werden, damit man Geld einnahm. Der Haustrunk entstand, indem man auf die bereits ausgepressten Trauben, den so genannten Trester, Wasser gab. Diese Mischung ließ man stehen, bis sie gärte. Dann presste man das Wasser wieder ab. Ohne Zucker war dieses Getränk kaum genießbar. Genügsam, wie mein Vater war, verwandte er aber nur wenig Zucker, damit der Mutter genug zum Backen blieb. Seinen Trunk süßte er stattdessen mit einem dicklichen Zuckerrübensirup, den er in einer mühsamen Prozedur selbst herstellte.

Aber auch ich war Nutznießer dieses Zuckers. Da es in meiner Kindheit so gut wie keine Süßigkeiten gab, durfte ich mit der Hand Zucker aus dem Sack schöpfen und davon so lange essen, bis ich nicht mehr konnte. Das war von meinem Vater nicht nur nett gemeint, sondern auch klug gedacht, denn auf diese Weise bekam ich bald genug von dem Zucker und hatte kein Interesse mehr, heimlich davon zu naschen.

In meiner frühen Kindheit, ich war noch nicht schulpflichtig, ist es einmal vorgekommen, dass mitten im Winter unsere Kühe die Maul- und Klauenseuche hatten und unser Hof unter Quarantäne stand. Man konnte bleiben – oder man ging und durfte nicht zurück, bis alles vorbei war. Nun stand ich vor der Wahl, meine Mutter zu ihrer Nähkundschaft zu begleiten und dort auch zu übernachten, oder mit meinem Vater in wochenlanger Abgeschiedenheit auf dem Hof auszuharren. Ich entschied mich für den Vater, denn es machte mir überhaupt nichts aus, allein mit ihm im Haus zu sein. Manchmal stand ich am Fenster und beobachtete das Treiben auf der Straße. Oftmals blieben Kinder unter dem Fenster stehen und starrten mich an, als ob ich ein Affe im Zoo wäre. Neben seiner Stallarbeit musste mein Vater sich damals auch um den Haushalt kümmern. Er machte das ganz großartig, zumal er ans Kochen ohnehin gewöhnt war, weil meine Mutter meistens bei ihren Kunden aß.

Anfangs habe ich geglaubt, sie nähe hauptsächlich, um den kargen Ertrag aus der Landwirtschaft aufzubessern. Heute denke ich, dass Nähen eine Art Leidenschaft von ihr war. Es war ihr wichtiger als alles andere. Es war bei ihr das, was man heute Selbstverwirklichung nennt. Dafür spricht auch die Geschichte, von der ich gar nicht weiß, wie oft sie sie mir erzählt hat.

Sie hatte nie eine Schneiderlehre gemacht, nähte aber von Kindheit an wahnsinnig gern. Ihre Fertigkeiten hatte sie sich nach und nach durch Zuschauen erworben. Immer wenn die Näherin in ihr Elternhaus gekommen war, hatte sie mit leuchtenden Augen hinter ihr gestanden und ihr zugesehen. Schon früh hatte sie angefangen, Puppenkleider zu nähen, und bald schon hatte sie sich an Schürzen für sich und ihre Schwestern versucht. Zu ihrem größten Bedauern aber musste sie alles mit der Hand nähen, denn es gab keine Nähmaschine im Haus – die Näherin brachte immer ihre eigene mit. Mutters sehnlichster Wunsch war es von klein auf gewesen, eine solche Maschine zu besitzen. Deshalb häufte sie Pfennig auf Pfennig, Mark auf Mark. Sie sparte ihr Kirmesgeld, sie verzichtete auf ein neues Kleid und ließ sich stattdessen von den Eltern Geld geben. Von ihrer Patin erbat sie sich immer nur Bargeld als Geschenk. Um zusätzlich etwas zu verdienen, arbeitete sie neben ihren Pflichten im Elternhaus bei den Bauern auf den Feldern oder putzte beim Lehrer und beim Pfarrer. Als sie endlich genug beisammen zu haben glaubte, fuhr sie nach Mainz. Stolz betrat sie den Laden, in dem das Objekt ihrer Begierde stand. Selbstbewusst trug sie ihren Wunsch vor, doch als es ans Bezahlen ging, fehlten ihr fünfzig Mark. Tief enttäuscht fuhr sie nach Hause und sparte eifrig weiter. Bei ihrem nächsten Besuch in Mainz blätterte sie dem Ladeninhaber die Summe hin, die er beim vorigen Mal genannt hatte. »Mein liebes Fräulein«, lachte dieser gequält, denn er sah ein Geschäft durch die Lappen gehen. »Die Preise haben sich seit Ihrem letzten Besuch leider geändert. Heute kostet die Maschine das Doppelte.« Wie niedergeschlagen meine Mutter in diesem Moment war, kann man sich vorstellen. Völlig mutlos kam sie zu Hause an und berichtete, was geschehen war. Da sprach ihr Vater ein Machtwort: »Mutter, jetzt gib endlich dem Mädchen das Geld, das es für die Maschine braucht.«

Am übernächsten Tag schon begleitete meine Großmutter höchstpersönlich mit wohlgefülltem Portemonnaie ihre Tochter nach Mainz. Jetzt verlangte der Händler mindestens das Dreifache von dem Preis, den er beim letzten Mal genannt hatte. Die Großmutter zuckte angeblich nicht einmal mit der Wimper. Sie zahlte den geforderten Betrag – wohl wissend, dass sie diese Maschine nie wieder so billig erwerben würde wie heute. Denn auch sie hatte inzwischen mitbekommen, dass Inflation herrschte und man froh sein musste, wenn man für sein Geld überhaupt etwas bekam. Ihre Tochter aber, meine Mutter, war überglücklich. So war sie 1923 in den Besitz einer Nähmaschine gekommen, auf der ich heute noch nähe. Meine Mutter vervollständigte ihre Nähkünste und war bald sogar in der Lage, eigene Schnitte anzufertigen. Drei Jahre nach dem Maschinenkauf heiratete sie, und von nun an trug mein Vater ihr die Maschine immer in die Häuser der Kunden.

Als ich im zweiten oder dritten Schuljahr war, musste ich meist zum Nähen mitgehen. Aber nicht, damit ich beaufsichtigt war, sondern um zu helfen. Damals gab es ja noch keine Zickzack-Maschinen. Alle Nähte mussten von Hand versäubert werden. Meine Mutter zeigte mir, wie das ging, und danach musste ich stundenlang umstechen. Diese Arbeit habe ich gar nicht gerne gemacht, weil ich es hasste, still zu sitzen und dazu beständig unter den Augen meiner Mutter zu sein. Als mich einmal eine Kundin bedauerte und zu meiner Mutter sagte: »Lisbeth, lass das Kind doch nicht immer nähen. Es möchte sicher viel lieber draußen rumspringen«, da reagierte sie wie eine Furie: »Was soll das? Meinst du vielleicht, ich hätte mein Leben aufs Spiel gesetzt, nur dass die da draußen rumspringt?«

Diese Worte beeindruckten mich mächtig. Noch hatte ich keine Ahnung, woher die Kinder kamen, und wusste folglich auch nicht, auf welche Weise meine Mutter dabei ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben konnte. Aber die Worte »Leben aufs Spiel setzen« riefen in mir die Vorstellung hervor, dass meine Mutter etwas Großes, etwas Heroisches für mich vollbracht haben musste. Meine Achtung für sie wuchs, und ich entwickelte sogar eine gewisse stille Verehrung. Später, als ich dann um das Geheimnis von Zeugung und Geburt wusste, verlor meine Mutter diesen Heiligenschein wieder.

Kurze Zeit danach erfuhr ich von jemand, dass ich eigentlich einen Bruder gehabt hätte. Der sei drei Jahre vor mir geboren worden, aber tot zur Welt gekommen. Neugierig, wie ich war, nahm ich all meinen Mut zusammen und sprach meine Mutter darauf an. »Wenn dein Bruder am Leben geblieben wäre«, war ihre Entgegnung, »dann wärst du heute nicht auf der Welt.«

Diese Aussage traf mich hart, und der Rest an Zuneigung ihr gegenüber erlosch. Ihre Worte bestätigten mir, dass ich für sie eigentlich nur als Arbeitshilfe wertvoll war. Bei meinem Vater musste ich zwar auch arbeiten, aber auf eine andere Art. Mit ihm geschah das sozusagen auf einer Stufe. Bei der Mutter dagegen hatte ich immer das Gefühl von Herrin und Sklavin.

Obwohl ich in jungen Jahren schon viel arbeiten musste, blieb doch immer auch ein wenig Zeit für mich. Meist war ein ganzes Rudel Kinder beisammen, und wir tollten auf der Straße herum. An eines unserer liebsten Spiele darf ich gar nicht mehr denken, sonst überläuft mich heute noch eine Gänsehaut. In unserer Nachbarschaft stand ein altes Haus, das nicht mehr bewohnbar war und aus dem die Leute sich alles Mögliche herausholten: Fußbodenbretter, Türen, Steine, Fenster, Dachziegel. Als das Haus nur noch ein Gerippe war, spielten wir Kinder mit Begeisterung darin. Wir kletterten auf die Mauern und liefen über die freigelegten Balken. Wir liebten das, und es kam uns kein Gedanke, in welcher Gefahr wir uns befanden. Wie leicht hätten wir abstürzen können! Kein Erwachsener schaute nach uns. Entweder wussten sie nicht, wie gefährlich das Haus mit der Zeit geworden war, oder sie vertrauten auf unseren Schutzengel. Die Freundschaft unter uns Mädchen war besonders eng. Oft kamen sie zu mir, wenn meine Mutter mich wieder einmal reichlich mit Arbeit eingedeckt hatte, und packten mit an, damit ich schneller fertig war und zum Spielen hinaus konnte.

Mit der Zeit fand ich es sogar nicht mehr schlimm, meine Mutter zu ihren Kunden zu begleiten. Dadurch erlebte ich auch viel Interessantes. Schon allein, dass ich in die unterschiedlichsten Häuser kam und sehen konnte, wie andere Leute wohnten, beeindruckte mich. Auch dass wir an den Mahlzeiten der Familien teilnahmen, faszinierte mich. Denn jede Hausfrau kochte anders, jede Familie hatte andere Essgewohnheiten. Da ich oft dabei war, wenn meine Mutter ein Brautkleid nähte, engagierten sie mich manchmal auf der Stelle zum Schleiertragen. An einzelne solcher Szenen kann ich mich nicht mehr erinnern, aber später wurde mir wiederholt gesagt: »Du warst ja so brav in der Kirche, während der ganzen Trauung hast du dagestanden wie eine Eins.«

Ein anderes Erlebnis aus dieser Zeit ist mir dagegen lebhaft in Erinnerung geblieben. Meine Mutter arbeitete mehrere Tage hintereinander bei einer Familie. Während sie dort neue Kleidung anfertigte, befand sich eine Frau von auswärts im Haus, die Wäsche flickte. Das Auffällige an ihr war nicht nur ihre kleine Gestalt, sondern vor allem ihr mächtiger Buckel. Noch deutlich sehe ich das Bild vor mir: Meine Mutter saß an ihrer Nähmaschine vor dem Fenster, schräg hinter ihr stand ich, und neben mir saß die kleine Frau. Unvermittelt äußerte sie: »Das Kind kriegt mein Kreuzchen.«

Sie langte nach ihrer Handtasche, wühlte ein bisschen darin herum und förderte ein Zeitungspapierpäckchen zutage. Neugierig beobachtete ich, wie sie es aufwickelte. Heraus kam ein wunderschönes geschnitztes Elfenbeinkreuz. Die Feinheit dieser Arbeit und den Wert dieses Kreuzes vermochte ich zu dieser Zeit noch nicht einzuschätzen. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass mir da etwas sehr Kostbares anvertraut wurde und dass ich es in Ehren halten musste. Heute bewahre ich dieses Kreuz in einem Safe in meiner Bank auf, wenn ich für längere Zeit aus dem Haus bin. Denn jedes Mal, wenn ich auf Reisen war, hatte ich ein ungutes Gefühl, wenn ich das Kreuz unbewacht in meiner Wohnung wusste. Wenn es gestohlen würde, wäre das ein unersetzlicher Verlust für mich. Nicht aufgrund seines materiellen, sondern wegen des ideellen Wertes, den es für mich darstellt. Als Kind nahm ich das Kreuzchen einfach dankbar entgegen. Erst später machte ich mir Gedanken darüber, warum die Frau es verschenkt und warum sie es ausgerechnet mir gegeben hatte. Vielleicht fühlte sie ihren Tod herannahen und wollte dieses Kreuz, das ihr selbst viel bedeutet hatte, in guten Händen wissen. Vielleicht hatte sie die Gabe, in dem kleinen Kind, das ich damals war, zu erkennen, dass ich einmal für solche Dinge ein Gespür entwickeln würde. Womöglich hatte sie aber auch nur Mitleid mit der armen Kleinen, die immer im Nähzimmer der Mutter sein musste, oder es war einfach ein Zeichen von Anerkennung und Dankbarkeit, weil ich sie niemals, wie andere Kinder das getan hatten, wegen ihres Buckels verspottet oder ausgelacht hatte.

Es waren aber nicht nur freudige Anlässe, für die meine Mutter zu nähen pflegte. Nach einem Sterbefall brachte sie in den Trauerhäusern immer die Trauergarderobe für die ganze Familie in Ordnung. Bei einem solchen Anlass sah ich zum ersten Mal einen Toten, weshalb sich mir dieser Tag besonders eingeprägt hat. Bei unserem Eintreffen nahm mich die Tochter des Verstorbenen bei der Hand und wollte mich gleich zu ihm führen, obwohl meine Mutter sie daran zu hindern suchte, weil ich noch zu jung sei. Die Hausherrin aber entgegnete: »Ach, lass das Kind ruhig mit mir gehen. Sterben gehört zum Leben. Es ist kein Fehler, wenn man mit dieser Tatsache früh genug vertraut gemacht wird.«

Wir traten an das Bett des Toten. Er war schon ein sehr alter Mann, trug einen Vollbart und lag mit geschlossenen Augen da. Seine Tochter flüsterte mir zu: »Siehst du, er schläft.« Deshalb hatte ich überhaupt keine Angst und auch kein unheimliches oder unbehagliches Gefühl. Meiner Überzeugung nach war dieses frühkindliche Erlebnis die Ursache dafür, dass ich auch später völlig unbefangen an jedes Totenbett treten konnte.

Im Winter pflegte mein Vater oft Schneemänner mit mir zu bauen. Einmal war es eine ganze Schneemannfamilie. Vater und Mutter Schneemann waren etwa so groß wie ich. Davor stand, aufgereiht wie die Orgelpfeifen, eine ganze Reihe kleiner Schneemannkinder. So etwas hätte meine Mutter nie mit mir gemacht – es wäre in ihren Augen reine Zeitverschwendung gewesen. Das Einzige, was sie für mich tat, war, mir zu Weihnachten neue Puppenkleider zu nähen, und die waren wirklich immer ganz entzückend, das muss man ihr lassen.

Einmal hatte ich mir beim Spielen mein Kleid eingerissen, was für meine geschickte Mutter eigentlich kein Problem darstellte. Aber ich hatte wahnsinnige Angst, ihr den Schaden zu beichten, und vertraute mich lieber dem Vater an. Der war sofort bereit zu helfen, konnte aber mit einer normalen Nähnadel nicht umgehen. Also führte er mich in die Scheune, nahm die grobe Nadel und den groben Faden, mit denen er immer die Säcke flickte, und nähte unbeholfen den Riss an meinem Kleid. Die Mutter hat die laienhafte Flickarbeit natürlich sofort bemerkt, aber da sie wohl gerade gut gelaunt oder von diesem Reparaturversuch ihres Mannes gerührt war, schimpfte sie nicht, sondern trennte wortlos die Naht auf und reparierte das Kleidchen fachgerecht.

In der schlechten Zeit während des Zweiten Weltkriegs, als es nichts zu kaufen gab, hatte meine Mutter einmal durch ein Tauschgeschäft Schuhe für mich aufgetrieben, worüber sie sehr glücklich war. Ich aber lehnte sie ab, weil es Bubenschuhe waren. Selbst nachdem meine Mutter sie mit roten Holzperlen verziert hatte, fand ich sie nicht schöner, doch blieb mir nichts anderes übrig, als sie zu tragen. Schließlich konnte ich im Winter nicht barfüßig herumlaufen.

Meine Erstkommunion fiel in das Jahr 1942. Zu diesem Anlass nähte mir die Mutter ein schönes weißes Kleid samt passendem Täschchen. Den Stoff hatte sie noch aus besseren Tagen herübergerettet, und auch die Unterwäsche war mein Eigentum. Alles andere jedoch war zusammengeborgt: Schuhe, Handschuhe, Strümpfe und Kränzchen. Zu einem Kommunionkind gehörte natürlich auch ein Gebetbuch. Statt glücklich darüber zu sein, ein eigenes zu haben, störte mich daran, dass es nur Silberschnitt hatte, denn alle anderen Kinder hatten ein Buch mit Goldschnitt. Dieser Unterschied war so lange schlimm für mich, bis ich erfuhr, dass den anderen die Bücher nicht wirklich gehörten, weil es die der Eltern waren. Mein Buch dagegen war mein Eigentum.

Der Weiße Sonntag fällt ja meist in eine Zeit, in der es noch recht kühl ist. Um die Kirche zu heizen, fehlten die Kohlen. Nun durfte sich damals jeder Winzer Schlacken von der Bahn holen, die zerkleinert in den Weinbergen verteilt wurden. Zum einen dienten sie dazu, den Boden aufzulockern, zum anderen nahm die dunkle Schlacke mehr Sonnenwärme auf, und nicht zuletzt war man der Ansicht, dass die winzigen Reste von Mineralien darin ein guter Nährstoff für die Trauben seien. Unter diesen Schlacken befand sich immer noch ein bisschen Koks. Damit sein Töchterchen am Weißen Sonntag nicht zu frieren brauchte, machte sich mein Vater große Mühe, stellte ein Sieb auf, wie es früher die Maurer verwendet haben, um die Steine vom Sand zu trennen, und durch dieses warf er mit einer Schaufel seine sämtlichen Schlacken. Auf diese Weise bekam er drei Säcke Koks zusammen. Ein Nachbar, auch Vater eines Kommunionkindes, spendierte trockenes Rebholz, und so konnte man die Kirche zur Erstkommunion heizen, und keines der Mädchen brauchte in seinem weißen Kleidchen zu frieren. Zur nachmittäglichen Feier gab es dann tatsächlich eine Buttercremetorte, für die meine Mutter von langer Hand die Zutaten zusammengespart hatte. Von unseren Hühnern hatten wir die Eier, der Zucker stammte aus Vaters bewusstem Zuckersack, musste aber, weil er viel zu grob zum Backen war, noch mit der Kaffeemühle zermahlen werden. Dieser Zucker war auch wichtig für die Weihnachtsplätzchen. Auch das muss ich meiner Mutter lassen – die Zeiten konnten noch so schlecht sein, sie brachte immer zwölf Sorten Plätzchen auf den Weihnachtstisch.

Apropos Weihnachtsplätzchen, da fällt mir ein Erlebnis mit meiner Großmutter väterlicherseits ein. Sie war eine liebe Frau, und Weihnachten stand immer ein Pflichtbesuch bei ihr an, den ich jedoch mit Begeisterung machte, denn bei ihr durfte man sich an Weihnachtsplätzchen satt essen, während meine Mutter die unseren zu verstecken pflegte. Wenn ich am Weihnachtsmorgen zur Großmutter in die Stube trat, stand die flache, ovale Emailschüssel schon auf dem Tisch, voll mit Plätzchen. Meistens brachte ich sogar eine Freundin oder einen Freund mit, wenn ich der Oma ein frohes Weihnachtsfest wünschte. Auch die durften sich an den Plätzchen bedienen. Einmal hatte ich den Willi dabei, dem es so gut schmeckte, dass er Plätzchen in die Hosentasche stecken wollte. Da schritt meine großzügige Großmutter allerdings energisch ein: »Nein, nein, Willi, mitnehmen darfst du keines. Aber hier darfst du dich satt essen.«

Eine wichtige Rolle in meiner Kindheit spielte auch meine Patin, die man bei uns Götchen nannte. Sie war eine Schwester meiner Mutter und lebte mit ihrer Familie in Mainz. Schon als kleines Kind habe ich viel Zeit bei ihr verbracht. Nach ihrer Erzählung muss ich einmal den Ausspruch getan haben: »Ach, Götchen, bei dir ist immer Sonntag.« Dieses Gefühl hatte ich wahrscheinlich deshalb, weil ich bei ihr immer mein Sonntagskleid trug. Außerdem bekam ich in ihrem Haus sonntägliches Essen, darunter Dinge, die ich von zu Hause nicht kannte, wie etwa Kalbsleberwurst. Auch das Gulasch schmeckte bei der Patin viel besser als zu Hause. Ich schob das auf die Größenunterschiede bei den eisernen Bratentöpfen, die in Rheinhessen »Kroppen« heißen, und das veranlasste mich zu der Aussage: »Götchen, wenn ich mal verheiratet bin, kaufe ich mir auch so einen kleinen Kroppen und nicht so einen großen, wie ihn meine Mutter hat. Aus dem kleinen Kröppchen schmeckt das Gulasch viel besser.« Erst später kam ich dahinter, woran das lag: Die Patin hat ans Gulasch nicht so viel Wasser gegeben wie meine Mutter.

Sie machte für damalige Verhältnisse auch immer großzügige Patengeschenke. So war ich das einzige Kind im Dorf, das Rollschuhe mit Kugellager besaß. Zu Weihnachten bekam ich von ihr Schlittschuhe, ebenfalls eine Rarität damals. Der Mann meiner Patin war Leiter einer Segelflugzeugwerkstatt, wo allerlei Material abfiel, aus dem seine geschickten Hände so manches Spielzeug für mich bastelten. So baute er ein Puppenhaus, das einmalig war, denn es enthielt nicht nur Küche und Schlafzimmer wie die üblichen Puppenhäuser, sondern sogar ein Herrenzimmer, das liebevoll eingerichtet war. Es hatte einen Schreibtisch, an dem ein lesender Mann saß, und ein Bücherregal mit goldgeprägten Buchrücken. Auch eine Sitzecke war da, bestehend aus Tisch, Sessel und Sofa, und sogar einen richtigen Kachelofen hatte der Onkel eingebaut. Wie wurde ich von meinen Spielkameradinnen um dieses großartige Haus beneidet!

Auch eine andere Schwester meiner Mutter, Tante Lene, übte eine gewisse Anziehungskraft auf mich aus. Ihr Mann befuhr nämlich mit einem Kohlenschleppkahn den Rhein. Die ganze Familie war mit von der Partie, sodass sich ihr Familienleben in der Kajüte und auf Deck abspielte. Im Alter von fünf Jahren durfte ich zum ersten Mal für einige Wochen mitfahren. Ach, war das herrlich! Das viele Wasser rundherum, die ständig wechselnde Landschaft zu beiden Seiten, andere Kähne, die uns überholten oder entgegenkamen, die schönen Ausflugsdampfer, die vorbeiglitten!

Als ich das Alter erreicht hatte, in dem man auf eine höhere Schule wechseln konnte, hätte ich das gerne gemacht. Es wäre mein sehnlichster Wunsch gewesen, Ärztin zu werden oder Apothekerin. Aber das war bei uns unmöglich, denn wir befanden uns ja mitten im Krieg, und kein Kind aus unserer Klasse ist aufs Gymnasium gegangen. Außerdem wäre es auch sonst für mich kaum in Frage gekommen, weil meine Mutter das als Zeitverschwendung angesehen hätte. Sie wartete ja bereits sehnsüchtig auf meine Schulentlassung, damit ich sie endlich als vollwertige Arbeitskraft unterstützen konnte. Deshalb wurde ich nach Ende der Schulzeit auch gar nicht gefragt, ob ich einen Beruf erlernen möchte. Zu der Zeit wäre ich gerne Apothekenhelferin geworden, aber nach dem Willen meiner Mutter sollte ich voll ran, im Haus, im Stall, auf dem Feld und im Weinberg. Dabei fühlte ich mich oft überfordert. Eine ganz schwere Arbeit war zum Beispiel das Weinbergspritzen, weil man die schweren Behälter die ganze Zeit auf dem Rücken trug. War die Spritzbrühe einmal angerührt, musste man so lange sprühen, bis sie verbraucht war. Das konnte bisweilen von sieben Uhr in der Früh bis zum Mittag dauern, besonders wenn der Weinberg steil war. Völlig erschöpft kamen mein Vater und ich weit nach ein Uhr zu Hause an. Was aber tat die Mutter? Sofort nach dem Essen schickte sie uns wieder raus zum Rübenhacken. Darüber war ich wütend, nicht nur auf meine Mutter, sondern auch auf meinen Vater, der nicht den Mund aufgemacht hatte. Aber er ging einfach den Weg des geringsten Widerstandes. Allerdings widersetzte er sich meiner Mutter heimlich: Zwar zogen wir mit unseren Hacken los, doch dann suchte Vater ein schattiges Plätzchen und sagte: »Jetzt halten wir erst mal unseren Mittagsschlaf.«

Als ich sechzehn war, durfte ich mich in Mainz am Institut für Kirchenmusik anmelden, um Orgelspielen zu lernen. Das war schon immer mein sehnlichster Wunsch gewesen, und es hatte eine ganze Zeit gedauert, bis meine Mutter ihre Erlaubnis gab. Schließlich kostete der Unterricht nicht nur Geld, sondern zog mich auch für einige Stunden von der Arbeit ab. Als ich dann auch noch in den neu gegründeten Turnverein für Mädchen eintreten wollte, war es am Ende mit ihrer Großzügigkeit, und ich wurde vor die Wahl gestellt: »Entweder Turnverein oder Orgel. Beides gibt es nicht. Erstens wird uns das zu teuer, zweitens bleibt dann noch weniger Zeit für die Arbeit.« Ich entschied mich für die Orgel und habe das niemals bereut.

Die ganze Liebe und Zuwendung, die mein Vater mir schenkte, vermochten es nicht, das Defizit auszugleichen, das ich durch die Gefühlskälte meiner Mutter empfand. Deshalb nahm ich mir bereits als junges Mädchen vor: Sollte ich einmal Kinder haben, sollen sie nicht das Gleiche erleben. Ich werde ihnen viel Liebe, Wärme und Geborgenheit schenken. Ich glaube, dass mir das bei meinen beiden Töchtern geglückt ist.

Stadtluft

Hanna, Jahrgang 1907, aus Bad Schwalbach/Hessen

Mein Vater war Installateur an einer Klinik in Bad Schwalbach, und in diesem Ort habe ich auch meine ersten Lebensjahre verbracht. Wir wohnten in einem Haus in der Hauptstraße, im ersten Stock. Kurz nach meinem dritten Geburtstag sind wir nach Mainz gezogen, weil mein Vater dort eine bessere Anstellung gefunden hatte. Wir waren damals drei Geschwister: Liesel war vier und Heine drei Jahre älter als ich. In Mainz war es herrlich für uns Kinder. Wir wohnten am Barbarossaring in einem großen Haus, in dem es viele Kinder gab, mit denen wir spielen konnten – meistens auf dem großen Hof hinter dem Haus, wo man prima Seilspringen, Murmelnwerfen und Kreisspiele machen konnte. Sogar auf der Straße durften wir spielen, denn es fuhren ja noch keine oder kaum Autos.

In der Nähe unseres Hauses gab es einen Graben, in dem wir uns am liebsten aufhielten. Wir setzten uns auf Blechdeckel, die wir irgendwo aufgetrieben hatten, und rutschten immer wieder den Abhang hinunter – das war beinahe wie Schlittenfahren. Zum Rhein war es auch nicht weit, und so gingen wir oft zum Ufer oder über die Kaiserbrücke zur Petersaue, einer Insel. Alle Rheininseln in Mainz heißen Aue. Wenn man von der Brücke herunterstieg, war man auf einer Wiese, die für uns ein wunderschöner Spielplatz war.

Wenn ich nicht draußen war, habe ich gerne mit Puppen gespielt. An meine erste Puppe erinnere ich mich noch gut. Sie war klein und hatte einen Porzellankopf mit angemalten Haaren. Ich bekam sie zu Weihnachten und war so stolz darauf, dass ich sie unbedingt den anderen Mädchen im Hof zeigen wollte. Meine Puppe im Arm, stieg ich die Treppe hinab, stolperte und fiel die letzten Stufen hinunter. Dabei schlug die Puppe auf dem Boden auf, und der Kopf war kaputt. Nein, war das traurig! Das vergesse ich nie. Ich habe fürchterlich geweint – es war schließlich Weihnachten, und ich hatte nichts mehr zum Spielen. Das war schlimmer, als wenn ich mir selbst wehgetan hätte. Ich traute mich gar nicht mehr in den Hof, weil ich nichts zum Herzeigen hatte, und ging heulend zurück in die Wohnung. Meine Mutter war froh, dass mir nichts passiert war, und tröstete mich, so gut es ging. Sie meinte, das Christkind werde im nächsten Jahr einen neuen Kopf für die Puppe bringen. Was nützte das schon? Jetzt waren die Feiertage, und ich hatte nichts zum Spielen. Im nächsten Jahr zu Weihnachten bekam ich die Puppe tatsächlich mit einem neuen Kopf zurück. Da war ich selig und passte dieses Mal besser auf.

Als ich älter war, bekam ich eine außergewöhnliche Puppe, die bestimmt einen halben Meter groß war. Es war eine Gliederpuppe, deren Arme, Hände und Beine man bewegen konnte. Überdies hatte sie echtes Haar und Schlafaugen. Ich liebte sie heiß und innig, und da ich schon immer gern genäht habe, habe ich für sie aus jedem Stück Stoff, das ich erwischen konnte, Kleider genäht. Einmal habe ich von der Schneiderin, die gelegentlich zu uns ins Haus kam, einen schönen dünnen Stoff bekommen, der gerade für eine Schürze reichte. Damit ich der Puppe diese Schürze anziehen konnte, setzte ich sie auf meinen Schoß, doch was dann passierte – ich weiß es nicht, weil alles so schnell ging. Jedenfalls fiel die Puppe auf den Boden und knallte direkt auf ihren Porzellankopf. Wieder gab es zum nächsten Weihnachtsfest vom Puppendoktor einen neuen Kopf, aber der war lange nicht so schön wie der erste. Trotzdem habe ich diese Puppe heute noch. Sie liegt im obersten Fach meines Kleiderschranks, aber erneut ohne Kopf.

1913, als ich fünfeinhalb Jahre war, kam ich in die Schule und bekam eine große Tüte, die bis oben hin voll war mit Süßigkeiten, Schnuckelzeug hieß das bei uns. Ich war so stolz, vor allem auf den nagelneuen Lederranzen und die Schiefertafel, an der an zwei Kordeln ein Schwamm und ein Lappen baumelten. Die Griffel hatte man in einer Dose aus Holz, die aufschiebbar war. In der Klasse verglichen wir unsere Dosen miteinander, und meine war besonders schön bemalt. Später kamen dann Federmäppchen in Mode. Damals hatten wir auch nachmittags Schule, von zwei bis vier. In der Mittagspause mussten wir immer schnell heim, um zu essen und danach unsere Hausaufgaben zu machen. Da gab es kein Pardon. Die Mutter war streng und hat immer alles kontrolliert.

In Mainz wurden noch zwei Geschwister geboren, zuerst der Willi und dann, als ich schon sieben war, die Anni. Ich weiß noch, wie ich sie immer ganz stolz im Kinderwagen herumgeschoben habe. Leider ist sie nicht sehr alt geworden. Mit anderthalb Jahren starb sie an der Englischen Krankheit, wie man die Rachitis damals nannte und an der früher öfters Kinder gestorben sind. Ich habe anfangs gar nicht glauben können, dass sie tot war. Sie lag in ihrem Kinderwagen wie immer und war schön angezogen. Es sah aus, als würde sie nur schlafen. Zur Beerdigung durften wir Geschwister nicht mit. Da waren nur die Eltern dabei, und mein Vater, der inzwischen in den Krieg hatte ziehen müssen, bekam extra Heimaturlaub. Wenig später, es war 1915, kam die Nachricht, dass er gefallen war. Diesen Tag vergesse ich nie, denn niemand wusste, was aus uns werden sollte. Meine Mutter stand nun allein da mit vier kleinen Kindern und mit wenig Geld, denn ihre kleine Rente reichte nicht zum Leben.

Zum Glück hatte sie ihre Eltern, die sie sehr unterstützt haben. Trotzdem musste sie arbeiten gehen, wenn sie uns etwas bieten wollte. Zu ihrem Glück fand sie eine Putzstelle in unserer Volksschule. Ja, meine Mutter hat viel gearbeitet, damit wir Kinder nicht hinter den Freunden zurückstehen mussten, deren Väter noch lebten. Wenn wir einen Schulausflug machten, gab sie uns immer etwas Geld für unterwegs, damit wir uns eine Limonade oder etwas Süßes kaufen konnten.

Weil die Mutter durch ihre Arbeit oft nicht zu Hause war, mussten meine Schwester und ich im Haushalt mithelfen, aber das war ein Vergnügen für uns. Liesel hat nämlich gern Geschirr gespült, und ich habe gerne geputzt. Jeden Tag habe ich eifrig die Küche sauber gemacht – mit Ausnahme unter dem Küchentisch, denn der hatte ganz unten noch ein Ablagebrett, unter das man mit dem Schrubber schlecht drunterkam. Ich fand das nicht so tragisch und putzte einfach immer schön um den Tisch herum, und ich fand, dass alles blitzsauber war. Als dann einmal meine Mutter kam, zeigte ich ihr die Küche voller Stolz. Sie schaute rundherum, aber leider auch unter den Tisch. »Komm mal her, Hanni! Da drunter muss man auch putzen. Merk dir das! Die Ecken sind wichtig. Daran sieht man, dass jemand sauber ist.« Das habe ich mir für mein Leben gemerkt.

Die Brüder brauchten im Haushalt nicht zu helfen, dafür waren früher nur die Mädchen da. Kochen mussten wir allerdings nicht, denn nach dem Krieg gingen wir eine Zeitlang in eine Suppenküche, die in unserer Schule eingerichtet worden war. Man nahm zu diesem Zweck eine Art Eimer mit Deckel mit, in den dann die Suppe gefüllt wurde. Sie war immer gut – mal gab es Bohnensuppe, mal Erbsensuppe, mal Linsensuppe oder Kartoffelsuppe, immer abwechselnd. Zu meinen Aufgaben gehörte auch das Einkaufen. Ich fand es schön, mit meinem Korb loszuziehen, in dem ich dann alles sorgfältig verstaute. Manchmal musste man Schlange stehen, besonders als die Lebensmittelkarten eingeführt wurden, denn es dauerte immer lange, bis der Kaufmann die richtigen Marken herausgesucht und ausgeschnitten hatte.

Die Ferien verbrachten wir immer bei den Großeltern, die einen Bauernhof in der Nähe von Bad Schwalbach hatten, mit allem Viehzeug, was so üblich war: Kühe, Schweine, Ziegen, Schafe, Hühner, Gänse und ein Pferd. Das wurde manchmal vor die Kutsche gespannt, und dann fuhr man nach Bad Schwalbach zum Einkaufen. Es gab ja noch keine Bahn- oder Busverbindung. Aber ich fand es immer himmlisch, in der Kutsche zu fahren! Der Hof der Großeltern stand auf einer Anhöhe direkt am Waldrand. Kaum trat man aus der Haustür, war man schon im Wald, der ein Paradies für uns war, denn damals konnten Kinder noch allein den Wald durchstreifen. Dort haben wir Verstecken gespielt oder Räuber und Gendarm, oder wir haben Beeren gesucht: Himbeeren, Heidelbeeren, Brombeeren. Zuerst stopften wir sie nur in den Mund, erst danach haben wir unsere Kannen gefüllt, damit die Großmutter Marmelade und Gelee kochen konnte.

Auch in den Stall sind wir gerne gegangen, haben beim Melken zugeschaut und die noch warme Milch getrunken. Einmal, es muss noch vor dem Krieg gewesen sein, waren wir bei den Großeltern, und weil es Sonntagmorgen war, trug ich mein schönes, neues weißes Kleid. Stolz wollte ich es der Großmutter vorführen, aber die war noch beim Melken. Also stürmte ich in den Stall und kam dabei den Kühen etwas zu nahe. Auf einmal machte es »Platsch«, und mein weißes Kleid war braun gesprenkelt. Natürlich war mein Kummer groß, und ich habe schrecklich geheult, aber zum Glück ließen sich die unschönen Flecken restlos entfernen.

Auch als die Zeiten zunehmend schlechter wurden, fuhren wir oft aufs Land. Dort war immer eine große Familie am Tisch versammelt: die Großeltern, meine Mutter mit den vier Kindern und meine Tante Mina mit ihren drei Kindern. Die Großeltern bekamen keine Lebensmittelkarten, weil sie Selbstversorger waren. Meine Tante aber und meine Mutter legten ihre Karten zusammen, damit sie beim Metzger etwas Besonderes einkaufen konnten. Zwar haben die Großeltern selbst geschlachtet, sodass sie und damit auch wir Fleisch und Wurst fürs ganze Jahr hatten, aber es gab immer nur Blut- und Leberwürste. Zu gern hätten wir auch einmal echte Fleischwurst gegessen, und genau so eine erstanden meine Mutter und meine Tante beim Metzger. Als die Fleischwurst dann auf dem Tisch stand, wollte meine kleine Kusine Renate nicht teilen, doch ihre Mutter wies sie entschieden zurecht: »Was auf dem Tisch steht, ist für uns alle da. Da gibt’s nicht Mein und Dein.«

Eigentlich haben wir Kinder von der schlechten Zeit nicht viel mitbekommen. Unsere Familie hat, im Gegensatz zu anderen, dank der großelterlichen Landwirtschaft keine Not gelitten. Auch zu meiner Konfirmation hat die Großmutter Lebensmittel beigesteuert, damit es ein besseres Essen geben konnte als sonst. An meinem Kleid habe ich schon mitgearbeitet, genäht hat es eine Freundin meiner Schwester. Es war ein Zweiteiler, sodass ich später zu dem schwarzen Faltenrock verschiedene Blusen tragen konnte. In der Kirche saßen alle Konfirmanden vorne am Altar, auf der einen Seite die Buben, auf der anderen die Mädchen. Zu Hause gab es dann eine kleine Feier mit einem schönen Essen, und von meiner Patin Hanna, einer Schwester meiner Mutter, bekam ich ein silbernes Kettchen mit einem Anhänger. Das war fast das Schönste für mich, denn ich war ganz versessen auf Schmuck.

Weil meine Mutter mit uns in allen Ferien zu den Großeltern fuhr, wurde sie im Dorf oft gefragt: »Warum fährst du denn immer wieder mit den Kindern nach Mainz zurück? Du könntest doch gleich ganz hier bleiben. Bei deinen Eltern ist doch Platz genug.«

Dann antwortete meine Mutter: »Was sollen die Kinder denn auf dem Land anfangen? Wenn sie aus der Schule entlassen werden, sollen sie dann mit den Bauern aufs Feld gehen? Nein, sie sollen etwas Richtiges lernen. Deshalb bleiben wir in der Stadt.«

Meine Mutter ist also auch deshalb zum Putzen gegangen, um uns allen eine anständige Berufsausbildung zu ermöglichen. Meine Schwester ist Modistin geworden, hat aber so früh geheiratet, dass sie gar nicht dazu kam, ihren Beruf auszuüben. Heine ist zur Bahn gegangen, und der Willi ist Spengler und Installateur geworden wie unser Papa.

Als ich aus der Schule entlassen wurde, wollte ich unbedingt Schneiderin werden, aber 1922 war es unheimlich schwer, eine Lehrstelle zu bekommen. Auf einigen Umwegen habe ich es schließlich geschafft, eine Lehre samt abschließender Gesellenprüfung zu absolvieren. Später bekam ich dann die Gelegenheit, in einer großen Mainzer Firma zu arbeiten, die Herrenkonfektion herstellte und besser bezahlte als normale Schneiderateliers. Anfangs nähte ich noch die kompletten Kleidungsstücke, bis dann das Fließband eingeführt wurde und jede Näherin immer nur die gleichen Handgriffe machte.

Neun Jahre war ich bei dieser Firma. Dann musste ich gehen. Es hieß, es dürfe keine Doppelverdiener geben. Inzwischen hatte ich nämlich geheiratet, und mein Mann verdiente gut als Lokführer. Ich hatte ihn, wie sich das in Mainz gehört, auf einem Maskenball in der Stadthalle kennengelernt, wo ich, seit ich alt genug war, gerne zum Tanzen hinging. Dort entdeckte ich meinen Mann – er saß ganz allein auf der Empore, und ich dachte mir, diesen braven Burschen da oben, den könntest du zum Tanzen auffordern. Von der Zeit an sind wir immer zusammengeblieben und haben sechs Jahre später geheiratet. Weil meine Schwiegermutter aber anfangs entschieden gegen unsere Heirat war – sie war eine fromme Katholikin und ich evangelisch –, haben wir uns heimlich trauen lassen.

Jahre später hat meine Schwiegermutter eingesehen, wie falsch ihr Verhalten war, und sie hat zugegeben: »Ach, was hätte ich für einen großen Fehler gemacht, wenn ich euch beide auseinander gebracht hätte.« Diese Worte haben mich sehr gefreut.

Bergbauernkind

Kathl, Jahrgang 1929, aus Unken/Salzburger Land, Österreich

Wir lebten auf einem Bergbauernhof, der schon seit Generationen in der Familie war. Insgesamt waren wir neun Geschwister. Bei meiner Geburt hatte ich bereits drei ältere Brüder, den Adi, den Seppi und den Franzl, im Jahr darauf folgte der Anderl, und nach ein paar Jahren Pause kamen noch drei Schwestern und ein weiterer Bruder bei uns an. Da war ich schon alt genug, um mich um die Kleinen zu kümmern. Eines davon trug ich immer auf dem Arm herum. Zwar habe ich meine Geschwister sehr gemocht, aber manchmal war es mir doch recht lästig, denn ich hatte auch noch Aufgaben im Haushalt zu erledigen, und zum Spielen war für mich praktisch gar keine Zeit.

Als ich in die Schule kam, konnte ich nicht so lange still sitzen, wie das von uns verlangt wurde. Weil ich immer in Bewegung war, hat mir die Lehrerin die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. Trotzdem habe ich sie gern gehabt, denn sie war sehr mütterlich und hat uns viel beigebracht. Vor etwa zehn Jahren habe ich sie zum letzten Mal gesehen. Da war sie schon weit über achtzig, und als ich ihr das von den Händen erzählt habe, hat sie sich fürchterlich geschämt. »Habe ich das wirklich gemacht?«, fragte sie ein ums andere Mal.

Bevor wir Kinder im Winter in die Schule gehen konnten, musste oft erst der Schneepflug fahren, sonst wären wir nicht durchgekommen. Das war damals übrigens schon ein richtiger Lastwagen. Noch ein paar Jahre zuvor sah das ganz anders aus. Ich erinnere mich deutlich, wie eines Morgens einer meiner Brüder schrie: »Jetzt kommt der Schneepflug!«, und wir alle aus dem Haus gelaufen sind.

Da war wirklich ein riesiger Schneepflug, aber mit zehn Pferden davor. Die Rösser mussten zuerst durch den Tiefschnee stapfen und den Schnee hinter sich wegpflügen, während die Lastwagen später den Schnee vor sich wegschoben und dann freie Bahn hatten.

Unser Schulweg war etwa vier Kilometer lang. Den mussten wir bei jedem Wetter gehen, egal, ob es regnete oder stürmte. Manche Kinder haben oft nach dem halben Weg schon angefangen zu weinen, und ich war da keine Ausnahme. Wir waren ja auch nicht entsprechend angezogen. Anoraks gab es noch keine, und vor allem keine Hosen für Mädchen. Über unserem Kleid trugen wir eine Strickweste mit langen Ärmeln und darüber einen Umhang aus grünem Loden. Wir hatten gestrickte Handschuhe und gestrickte Strümpfe, die aber nur knapp übers Knie hinaufreichten. Bis zum Bein der Unterhose war also nichts als nackte Haut. Unsere Schuhe waren zwar richtig derbe, vom Schuster gemachte Lederschuhe, aber sie waren nicht gefüttert und ließen die Kälte durch. Einmal bin ich so durchnässt in der Schule angekommen, dass sich die Frau des Direktors erbarmt und mir eines von ihren Kleidern gegeben hat, während meine Sachen zum Trocknen am Ofen hingen, der mitten im Klassenraum stand.

Wenn man so durchgefroren in der Schule ankam, hat man die ersten Stunden fast nichts lernen können. Es war, als ob das Gehirn auch eingefroren war. Dabei hatten meine Geschwister und ich es eigentlich noch gut. Es gab nämlich Kinder von noch weiter entfernten Höfen, die zweieinhalb Stunden Schulweg hatten. Im Winter sind sie in der Nacht losmarschiert und in der Nacht wieder heimgekommen, denn am Nachmittag war auch Unterricht. Auf dem Hinweg konnten sie bei gutem Schnee mit dem Schlitten fahren, mussten ihn dann aber zurück den ganzen Berg hinaufziehen. Lag der Schnee zu hoch, sind diese Kinder bei Verwandten im Dorf geblieben, bis sich das Wetter wieder beruhigt hatte.

Zum Mittagessen bin ich immer zu meiner Taufpatin gegangen, meine Brüder und Schwestern natürlich auch, und so war es immer ein ganzes Rudel, das da einfiel. Sie hat uns alle Tage eine Suppe gekocht, und dazu gab es ein Stück Brot.

An den Sonntagen sind die Kinder von den anderen Höfen in der Umgebung meist zu uns gekommen, und wir haben immer in einer großen Gruppe gespielt. Unter der Woche haben sie uns jeden Tag in der Früh abgeholt, und die ganze Schar ist gemeinsam zur Schule gegangen – dann war der Weg nicht so langweilig.

Ab Mai lief man natürlich barfüßig und war froh, das schwere Schuhzeug mal weglassen zu können. Außerdem mussten die Schuhe für den Winter geschont werden, und wenn man selbst nicht mehr hineinpasste, wartete schon der Nächste in der Geschwisterreihe – egal, ob Bub oder Mädchen. Nur der Älteste bekam immer neue Schuhe. Trotz allen Schonens hielten die Schuhe meist nur zwei bis drei Kinder aus, dann halfen selbst neue Sohlen nichts mehr. Auf diese Weise kam auch ich einmal zu neuen Schuhen, aber die waren genauso klobig wie die alten, denn schöne, zierliche Mädchenschuhe gab es damals nicht, zumindest nicht auf dem Land. Die wären auch unpraktisch gewesen bei den holprigen Wegen, dem vielen Regen und dem tiefen Schnee.

Die Kleidung wurde natürlich auch von einem zum andern vererbt – alles wurde aufgetragen, nichts weggegeben, das noch einigermaßen in Ordnung war. Gelegentlich bekamen wir auch abgelegte Sachen von Nachbarn und Verwandten. Wir Mädchen trugen eigentlich immer Dirndlkleider mit einer Schürze darüber. Pullover gab es nur für die Buben, und wir Mädchen mussten sie stricken. Stricken habe ich in der zweiten Klasse gelernt, aber zunächst ging es mir nicht besonders von der Hand, bis mich meine Mutter unentwegt üben ließ. Sie konnte gleichzeitig stricken und lesen. Abends, wenn alle im Bett waren, las sie gerne, aber weil sie das eigentlich für Zeitverschwendung hielt, hat sie nebenbei gestrickt.

Unser Spielzeug war bescheiden. Unsere Puppen hatten Köpfe aus Pappdeckel und waren immer gleich kaputt. Die Arme, Beine und Körper waren aus Stoff genäht und mit Lumpen gefüllt, aber das war meist ein Geschenk unserer Paten – die Mutter hatte keine Zeit für so etwas. Eine richtige, schöne Puppe, wie man sie in der Stadt kaufen konnte, haben wir nie gehabt. Wir wussten nicht einmal, dass es so etwas gibt, und haben es deshalb auch nicht vermisst.

Trotzdem waren wir an Weihnachten voller Erwartungen. Ich erinnere mich gut an ein Jahr, als ich noch nicht zur Schule ging. Wir Kinder saßen um den Küchentisch herum und warteten aufs Christkind. Wir nahmen an, dass die Mutter im Stall war und der Vater beim Holzhacken. Es war furchtbar spannend, und wir waren schon ganz nervös. Auf einmal rief einer von den großen Buben: »Passt auf, jetzt erschießt der Vater das Christkindl!«

Ein anderer deutete nach draußen und stimmte in das Schauermärchen ein: »Ja, da schaut her, da fliegt das Christkindl. Jetzt erschießt der Vater es.«

In dem Moment hörte man wirklich so etwas wie einen Schuss, doch es war nur ein Holzscheit, das im Hausgang zu Boden gefallen war. Wir Kleinen aber klammerten uns aneinander, weinten und jammerten: »Jetzt hat der Vater das Christkindl erschossen.«

Mittendrin rief es aber vom Gang her: »Ja mei, Kinder, jetzt ist es doch da!«

Wir rissen die Tür auf und sahen den Vater lachend auf dem Gang stehen und auf die offene Stube deuten: »Ja, geht rein, Kinder. Das Christkindl ist gekommen.«

In der Wohnstube stand dann der große Baum mit Kugeln und Kerzen. »Da ist ja eine neue Kugel!«, rief einer. »Und die da ist auch neu«, schrie ein anderer. Tatsächlich gab es in jedem Jahr ein, zwei Kugeln, die es im Vorjahr noch nicht gegeben hatte.

Anschließend stürzten wir uns voller Begeisterung auf die Weihnachtskekse, die unsere Mutter meist heimlich backte, und wir entdeckten immer wieder Sorten, die wir noch nicht kannten. Eine Krippe gab es auch, vom Vater und von den Buben selbst gebaut aus Rinden, Holz und Stroh. An Geschenken gab es nicht viel – manchmal eine der bescheidenen Stoffpuppen, meist aber nur ein Paar Socken, Strümpfe oder Unterwäsche. Einmal, als ich schon in die dritte Klasse ging, habe ich etwas ganz Besonderes bekommen: einen Handarbeitskoffer mit einer kleinen Puppe drin und ein paar Kleidungsstücken, die man besticken konnte. Damals hab ich mich wie verrückt gefreut!

An ein anderes Erlebnis, das ich mit vier oder fünf Jahren hatte, erinnere ich mich ebenfalls ganz deutlich. Mein Großvater war allein mit mir in der Stube, und wir saßen auf dem Sofa, das mit einem roten, kratzigen Wollstoff bezogen war, weshalb immer eine Decke darauflag. Wie so oft erzählte der Opa mir eine Geschichte, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und ein Mann mit schwarzem Gesicht hereinstürmte. Er trug eine schwarze Wollmütze und eine grüne Jacke, die mir bekannt vorkam. Über der Schulter hing leblos ein Tier, das alle Viere von sich streckte. »Schnell«, keuchte der Mann, »steht auf!«

An der Stimme erkannte ich, dass es mein Vater war. Der Großvater reagierte sofort. Er stand auf, riss mich vom Sofa hoch und klappte die Sitzfläche auf, sodass mein Vater das tote Tier hineinwerfen konnte. »Setzt euch sofort drauf und tut, als ob nichts gewesen wäre«, befahl er uns. Schweigend gehorchten wir. Mir flüsterte der Vater noch eindringlich zu: »Kathl, sei ein braves Kind. Rühr dich nicht vom Fleck und sag kein Wort. So kannst du deinem Vater helfen.«

Kaum war er in die Küche entschwunden, wurde die Stubentür abermals aufgerissen. Herein drängten zwei uniformierte Männer. Sie schauten argwöhnisch nach allen Seiten. »Wo ist dein Bub?«, richteten sie das Wort an den Großvater.

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