Von der Leistung kein Zyniker geworden zu sein - Ralph Giordano - E-Book

Von der Leistung kein Zyniker geworden zu sein E-Book

Ralph Giordano

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Beschreibung

Auf dem Prüfstand: Deutschland Geschichtsleugnung, Krisen, Zusammenstöße unterschiedlicher Kulturen, Zukunftsängste – unser täglich Nachrichtenbrot. Ralph Giordano dokumentiert, warum er dennoch nicht zum Zyniker geworden ist und warum er seinen Humor behalten hat. Dieser themenreiche Sammelband vereint Reden und Schriften von Ralph Giordano über Deutschland zwischen 1999 und 2011. Auch im neunten Lebensjahrzehnt hat Deutschlands erster Mahner nichts eingebüßt von seiner Beobachtungsgabe, seiner Sensibilität und seiner Fähigkeit zur historischen und politischen Analyse. Wie in seinem Welterfolg »Die Bertinis«, seinen Bestsellern über die deutsche Geschichte und seinen unnachahmlichen literarischen Reiseberichten erweist sich Ralph Giordano auch in diesem Band als ein Meister der Sprache, der in seinem ganz eigenen Stil kleine und große schriftstellerische Kunstwerke schafft. Bei all den so unterschiedlichen Fragen, auf die er Antworten sucht, am Ende steht immer die Sorge um seine beiden Heimatländer: um Deutschland, dem er sich trotz der Verfolgung im Dritten Reich untrennbar zugehörig fühlt, und um Israel, der Heimstatt der verfolgten Juden, dessen Existenzrecht er mit Zähnen und Klauen verteidigt.

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Seitenzahl: 440

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Inhalt

CoverTitel»Und da war sie, diese Wand …«1999Vorwärts! Stopp! Halbe Kraft voraus!Udel – Tschako – Dreckmannwiese2002Pathologischer AntiamerikanismusIslam, Islamismus – Totalitarismus des 21. Jahrhunderts?»Ich betreibe mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln Hochverrat«Apropos Leni Riefenstahl2003»O die Kinder, die Kinder!«»Stimmt!«»Das Schicksal war nett zu mir«2004»Das tut ihr einem fünfzigjährigen Mann an«»Wir wollen Polen, und wir wollen es mit Haut und Haaren«»Es lebe – Otto Pankok!«Von der Leistung kein Zyniker geworden zu sein2005Was für eine Frage!Warum wird die Unversehrtheit des Täters höher eingestuft als die des Opfers?Einspruch!Ihr habt den Opfern einen Namen gegebenWissen diese Leute überhaupt, wovon sie reden?2006Vom Steubenweg 36 nach Auschwitz – zum Schicksal der Blankeneser Juden»Das gute Leben« – trotz allem»Und da sollte der ›kleine Günter‹ nicht mitgerissen sein?«»Ich habe die großen Ideen gründlich satt«Der Hungk – die Hüng …2007»Mishkenot Sha’ananim – wohnen Sie da nicht schön?« Eine Erinnerung an Teddy KollekEs lebe die armenische Sache!Nein und dreimal nein!»Ich weiß nicht, was soll es bedeuten …«Die Humanitas ist unteilbar2008Nicht die Migration – der Islam ist das Problem»Von der Hand in den Mund«2009Es begann nicht am 9. November 1938 – Rede zu einem Schicksalsdatum deutscher Geschichte2010Die VVN hat immer zur Internationale der Einäugigen gezähltVerräterische Leerformeln»… so lange hat Sarrazin recht«»Wat mutt, dat mutt«Wo ist die Trauer um die Aramäer?2011AghetIn memoriam Jürgen FuchsJe blutiger der Zusammenprall, desto beschädigter IsraelEin Jude und ein Moslem auf Deutschland-SafariAugen auf, verdammt!BuchAutorImpressum

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»Und da war sie, diese Wand …«

Statt eines Vorworts

Rede zum 60. Jubiläumsjahr des Verlags Kiepenheuer & Witsch, Berlin, 30. September 2011.

An diesem Tag möchte ich über etwas sprechen, wovon ich unverschämterweise hoffe, daß es in die Annalen des Verlags eingehen könnte. Deshalb und weil es mir auf jedes Wort ankommt, habe ich es aufgeschrieben und lese es Ihnen nun vor.

Es geht dabei um etwas Elementares, etwas, ohne das der Mensch nicht leben kann, das aber, wie alles Kostbare, ständig bedroht ist – es geht um Zugehörigkeit. Im konkreten Fall genauer: um ihren Verlust und um ihre Rückgewinnung.

Was Kiepenheuer & Witsch zu dieser Rückgewinnung beigetragen hat, das ist die Geschichte, die ich Ihnen zum 60. Jubiläumstag des Verlags und im 50. Jahr meiner ersten Begegnung mit ihm erzählen möchte – in gebotener Kürze, aber aus der Tiefe meiner Biographie.

An den Anfang das Geständnis: Über die größere Strecke meines »sündhaft langen Lebens« habe ich mich eher unbehaust gefühlt, emotional, politisch, in einem ganz persönlichen Sinn und – in langandauernder Distanz zu Deutschland. Ein Prozeß von früh an.

Zugehörigkeit war für den Sprößling des Jahrgangs 1923 so selbstverständlich wie die Luft zum Atmen da oben in Hamburgs Norden, eingesponnen in den Kokon der Familie, vertrauter Nachbarschaft und heißgeliebter Spielgefährten. Ein Elysium, das gerade mal zehn Jahre dauerte, also ein kurzes Glück nur. Hier der Versuch, Ihnen den Verlust anhand von Daten und Jahreszahlen stichwortartig begreiflich zu machen – die Chronik einer exemplarischen Isolation.

1933, April: »Hie Arier, hie Nichtarier!« So schon am ersten Schultag auf dem Johanneum, einem humanistischen Gymnasium – die erste Spaltung. Sommer 1934: »Ralle, mit dir spielen wir nicht mehr, du bist Jude«, so Heinemann, bis dahin mein bester Freund – Einkehr von Liebes- und Freundschaftsverlust als Alltagserfahrung.

1935, September: Der Zwölfjährige brütet dumpf über dem Text der Nürnberger »Gesetze zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre«, die Lektüre nicht immer verständlich, aber bedrohlich genug. Codex einer neuen Zeitrechnung für Deutschlands Juden, also auch für die Mutter – und ihren Anhang.

1938, 10. November, nachmittags – unter meinen Sohlen in der Hamburger Innenstadt die knirschenden Glassplitter der gestern nacht eingeworfenen Fensterscheiben jüdischer Geschäfte. Und in mir, wie an eine imaginäre Leinwand geworfen und so bis heute vor meinen Augen, das Menetekel: »Wer das getan hat, der ist zu allem fähig.«

1939, Anfang September, kurz nach Kriegsausbruch, auf der Gestapo-Leitstelle Hamburg, Stadthausbrücke – »staatsfeindlicher Äußerungen« wegen, »die das Miststück deiner jüdischen Mamme dir eingegeben hat«. Ich war 16 – wie habe ich dieses »Verhör« überstanden?

Herbst 1941: erste Kenntnis vom Massenmord an Juden im Osten Europas. Die Furcht vor dem jederzeit möglichen Gewalttod wird zum zentralen Lebensgefühl.

1944, August, ich war 21: zweites »Verhör« auf der Gestapo, Johannisbollwerk, Abteilung »Rassenschande« – Prügelorgien, Unwirklichkeiten, die in den alles übertäubenden Wunsch münden, nie geboren worden zu sein …Wie können Menschen Menschen so etwas antun?

14. Februar 1945, der Deportationsbefehl für die Mutter und Flucht in ein lang vorbereitetes, wenn auch rattenverseuchtes Versteck. Dann, am 4. Mai, kurz vor dem Hungertod, das Unglaubliche, die Befreiung durch die britische Armee.

Ein unvollständiger Kalender jener zwölf Jahre. Aber kann es da verwundern, daß wir lange nur von »den« Deutschen gesprochen haben und uns im Krieg als Teil der Anti-Hitler-Koalition fühlten? Was ist unverständlich an dem Vorsatz, an der Selbstverständlichkeit, den blutigen Staub dieses Landes so rasch wie möglich von unseren Füßen zu schütteln, wenn wir davonkommen würden? Zugehörigkeit? Ein Fremdwort. Wie hätte die denn in dieser verlogenen Verdrängergesellschaft der ersten bundesdeutschen Nachkriegsjahrzehnte entstehen können? Würde sie, so gründlich verlorengegangen, überhaupt je zurückzugewinnen sein? Und hier, bei dieser alles entscheidenden Frage, ob ein Dasein gelingt oder mißlingt, hier kommt der Verlag Kiepenheuer & Witsch ins Spiel. Durch ein Buch.

Im Glauben, daß die Feinde meiner Feinde auch meine Freunde sein müßten, war ich 1946 in die Kommunistische Partei Deutschlands, Landesorganisation Hamburg, eingetreten. Ich brauchte elf Jahre, bis 1957, um zu erkennen, daß die Welt mit dieser Partei nicht bewohnbarer gemacht werden könnte. (Wobei mich in der Erinnerung noch heute die Überzeugungskraft entsetzt, mit der ich meine politischen Irrtümer damals unter die Leute gebracht habe.) Ein falscher Traum, der der Wirklichkeit nicht standhielt.

Aber wie war es dazu gekommen, zu dieser Fehlentscheidung, diesem Verlust an humaner Orientierung, dieser, wenn gewiß auch marginalen Teilhabe an Stalins Mordsystem? Eine Frage, die mir die Seele abdrückte, moralisch und intellektuell.

Der sie mir dann stellte, hieß Wolfgang Leonhard, Autor von Kiepenheuer & Witsch und des Bestsellers »Die Revolution entläßt ihre Kinder«. Historisches Treffen in Köln, Anfang Februar 1959. Leonhard: »Meine Parteigeschichte kennst du ja – nun erzähl mir mal deine.« Ich soll stundenlang geredet haben. Danach Leonhard, gebieterisch: »Das, Exgenosse Giordano, schreibst du auf!« Ich, zögernd, aber innerlich doch auf dem Sprung: »Was würde das werden? Vielleicht achtzig, neunzig Seiten …« Darauf Wolfgang Leonhard: »Falsch – daraus werden 270 Seiten!« Es wurden 272!

Von Carola Stern gegen einen murrenden Caspar Witsch durchgesetzt, erschien »Die Partei hat immer recht« im April 1961 bei Kiepenheuer & Witsch, Köln, Rondorfer Straße 5. Nicht die Biographie eines enttäuschten Kommunisten, sondern eine Anatomie des Stalinismus. Wie es der Partei gelang, einen Mann mit großer Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu gewinnen, eine Zeitlang zu halten und ihn dann wieder zu verlieren. Die eigene Vita also unter das Elektronenmikroskop der Selbsterforschung gelegt … Dabei ging viel Haut mit ab. Aber schlimmer, als einen politischen Irrtum zu begehen, ist es, keine Konsequenzen aus ihm zu ziehen. Heute sage ich: Es war wie eine zweite Befreiung.

Das Buch »Die Partei hat immer recht« veränderte mein Leben von Grund auf, krempelte es um und um, innerlich wie äußerlich. Hier verlief die Nahtstelle zwischen dem verlorengegangenen, nun aber Stück um Stück zurückkehrenden Zugehörigkeitsgefühl.

Den Anfang machte, noch im April 1961, ein Interview über das Buch vor laufender Kamera des Fernsehens, einer Zunft, bei der ich dann auch gleich blieb – erst drei Jahre im NDR Hamburg, dann, ab 1964, vierundzwanzig beim WDR. Dies eine Epoche, wie ich sie mir in den allerkühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Ein Stichwort – Hunger, Slums, Folter, Flüchtlinge –, und ich konnte für den WDR in die Welt hinausfliegen, wohin ich wollte. Es war die erste Einfügung in eine größere Gemeinschaft, was ihre Wirkung auf mich nicht verfehlte. Da wurde eine Tür aufgestoßen, die lange verschlossen gewesen war und durch die ich nun gehen konnte. Dann die Explosion der 68er; die neue Ostpolitik, eine Ära ehrlicherer Auseinandersetzung mit der Nazizeit als bisher … Das Ganze eine Häutung, die meinen Standort im Sinne einer Annäherung veränderte. Schließlich, was ich zu meinen Lebzeiten nicht mehr erwartet hatte, der Mauerfall, der 9. November 1989, die Wiedervereinigung – was immer sich seither auch aufgetürmt hat, der Mauerfall wird mich bis an mein Ende zu Tränen rühren. Der Ablauf der Geschichte selbst war also der Regisseur meiner Annäherung an Deutschland.

Dieser Prozeß hatte das große Loch in mir spürbar verkleinert – aber weg war es nicht. Da fehlte noch etwas, da klaffte noch ein Defizit. Und nun, an dieser Stelle, nimmt Kiepenheuer & Witsch den Faden wieder auf. Dreißig Jahre nach »Die Partei hat immer recht« und drei Jahre nach meiner Pensionierung beim WDR 1988 mit 65, 1991 erscheint dort mein Buch »Israel, um Himmels willen, Israel« – dem unter totaler Mißachtung geheiligter Begriffe wie »Ruhestand« und »Lebensabend« in den anschließenden zwanzig Jahren Schlag auf Schlag elf weitere Bücher folgen werden.

Es war die Freiheit, ein Leben wie auf Flügeln. Vor mir lag der horizontlose Acker der Literatur. Begrenzungen gab es nicht, sowenig wie Zensur. Irland, Ostpreußen, Sizilien … Tiefe Lotungen in Historie und Gegenwart, vom Verlag großzügig ermöglicht, bis an Ort und Stelle alles durchgearbeitet war. Dabei im Rücken immer das Mutterschiff in Köln, das zum Mittelpunkt der schöpferischen Arbeit, ja, des ganzen Lebens geworden war.

Wohl durfte ich mich schon früher Schriftsteller nennen – war 1982 doch, nach vierzigjähriger Arbeit, meine Familien-und-Verfolgten-Saga »Die Bertinis« erschienen, dazu 1987 »Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein«. Aber so richtig getraut, mir den hohen Titel auch öffentlich anzuheften, habe ich mich erst nach Beginn dieser »zweiten Laufbahn«.

Heute bin ich, wo auch immer ich hinkomme, meist der Älteste, so alt, daß mir Siebzigjährige zwar nicht gerade wie Enkel, aber doch durchaus juvenil vorkommen wollen. Dabei ist ihr Zustand oft nicht nur schlechter als meiner in jenem Lebensabschnitt, sondern auch als mein gegenwärtiger. Mit anderen Worten – mit meiner physischen Verfassung habe ich Glück gehabt. Ich war 70, als ich mich nach dem Israelbuch 1993 an »Ostpreußen ade. Reise durch ein melancholisches Land« machte; 75 bei der »Deutschlandreise. Aufzeichnungen aus einer schwierigen Heimat«, 84 bei den »Erinnerungen eines Davongekommenen« 2007. Und werde an die 90 sein beim nächsten Buch im kommenden Frühjahr: »Von der Leistung kein Zyniker geworden zu sein. Reden und Schriften über Deutschland 1999–2011«, dem zwölften mit dem Signum K&W.

Initialzündung aber bleibt »Die Partei hat immer recht« – der Erstling, das Schmerzenswerk, das Debüt, des Autors eigene Kreuzigung. Bei dieser Gelegenheit eine Laudatio auf meinen Lektor und Freund Christian von Ditfurth, der mir stets wacker zur Seite gestanden hat und mit dem es nie andere Differenzen gab als den Kampf um die Kommata. Inzwischen habe ich allerdings den Widerstand aufgegeben, obwohl ich nach wie vor der Meinung bin, meistens recht gehabt zu haben. Aber in dieser Stunde der Wahrheit: Erwarten Sie bitte keine ungestüme Fortsetzung meiner Schriftstellerei! Vielmehr gestehe ich lieber gleich, daß sie in Buchform wohl getan ist, obschon ich das bereits mehrere Male angekündigt habe. Verbale Kreativität kann sich ja noch auf mannigfach andere Weise als zwischen zwei Buchdeckeln tummeln. Doch die Zeichen schrecken, so, wenn mir als potentieller Buchtitel und – thema seit geraumer Zeit nichts anderes einfällt als »Von der Widerspenstigkeit der Knöpfe« … Das braucht zwar noch kein Anzeichen von Demenz zu sein, sondern lediglich das verstörende Geständnis, daß es mit zunehmendem Alter in der Tat immer schwerer wird, Hemden zuzuknöpfen. Gleichzeitig aber spüre ich einen deutlichen Widerwillen, mich über dieses Phänomen ausführlicher einzulassen.

Nur fühle ich mich, halten zu Gnaden, mittlerweile eben doch ein bißchen erschöpft und öfter erinnert an den späten Thomas Mann, als ihm die schöpferische Puste auszugehen drohte, worüber er nachweislich seiner Tagebücher heftig erschrak. Lange währte die Phase allerdings nicht, denn er starb bald nach dieser Eintragung, mit 85 Jahren. Die habe ich inzwischen nun um weitere vier übertroffen, was sich unter anderem dadurch bemerkbar macht, daß ich aus der Kniebeuge nicht mehr ganz so rasch hochkomme wie einst im Mai, sondern, um ehrlich zu sein, mit ziemlichem Knochengekrache. Was nichts daran ändert, daß ich meinen Freunden und Feinden noch möglichst lange erhalten bleiben will.

Aus rein egoistischen Gründen ist es deshalb ein bißchen schade für mich, daß der Verlag den Sitz von der Marienburg in die Kölner City verlegt hat, unter uns gesagt. War es doch bis dahin von Bayenthal aus ein herrlicher Spaziergang oder ein kurzer Fahrrad-Sprint – Rondorfer Straße 5, 50968 Köln.

Aber es kommt noch etwas hinzu, was mir diese Adresse unvergeßlich gemacht hat. Setzt die Geschichte, die ich Ihnen hier erzähle, doch dort ihre eigentliche Pointe.

Denn da war sie, diese Wand, diese magische Wand links vom Eingang die Treppe hoch in den ersten Stock – Köpfe, viele Köpfe, nichts als Köpfe: Autorinnen und Autoren, die von Kiepenheuer & Witsch verlegt worden sind. Darunter viele Namen der Weltliteratur, ein erschütterndes Kaleidoskop quer durch die ebenso grandiose wie mörderische Historie des 20. Jahrhunderts, ein Anblick, an dem ich mich nicht sattsehen konnte! Ich nenne hier keinen Namen, weil man sie dann alle nennen müßte, um niemanden zurückzusetzen, und dazu sind es zu viele. Aber von dieser Wand ging für mich eine Strahlkraft aus, die ich nicht schildern kann. Und irgendwo im Hinterkopf dabei, über die Jahre und Jahrzehnte hin, wie eine Fata Morgana, der Gedanke: Eines Tages, vielleicht, eines auf jeden Fall fernen Tages könnte das eigene Konterfei sich darin eingefügt sehen, zu schön, um wahr zu sein, und doch mit Inbrunst gedacht. Und dann, nicht gleich, mit Ausdauer, mit Geduld und nichts anderem in der Brust als Demut, war es soweit. Ich kam, sah, glaubte es zuerst nicht, hörte aber, wie es »klack« machte in mir, unendlich leise, wie wenn ein Punkt auf ein I gesetzt wird, so leise, und doch sehr hörbar für mich. Ich war angekommen, wirklich angekommen, endlich. Ich erinnere mich oft an die denkmalgeschützte Stätte, wo nie ein böses Wort fiel und ich Sie alle lächelnd und freundlich in Erinnerung habe, die ganze Zeit über. Wie auch den väterlichen Kollegen und Prinzipal, von dem die Arbeitsatmosphäre geprägt war, mein guter Geist über die Dekaden hin: liebe Anwesende – Applaus für Dr. Reinhold Neven DuMont!

Nun, lieber Helge, Gevatter, bist du, nun sind Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie alle, wie Sie hier versammelt sind, an der Reihe, um die große Tradition fortzusetzen und sich den Herausforderungen zu stellen, die unser Zeitalter rascher Wandlungen für Literatur, Literaten und den Verlag mit sich bringt. Und das nun in den lichten Räumen des Verlagssitzes mit Blick auf Kölns imperialen Hauptbahnhof, und ganz in der Nähe, zum Anfassen, der Dom …

Zusammen mit dem Dank, daß Sie mir bis hierher zugehört haben, eine letzte Liebeserklärung. In meinem langen Leben, das sich bis auf zwölf Jahre dem hundertsten genähert hat, in diesen Äonen, hat es etwas gegeben, das nie angetastet worden ist. Eine eherne Konstante, ein Urverhältnis, eine Musik, mit der es nie Dissonanzen gab, Heimat auch in tiefster Heimatlosigkeit, etwas Rostfreies, pures Gold: die deutsche Sprache, unsere wunderbare, wunderbare Sprache!

»O gäb’ es eine Fahne, ein Thermopylä, wo ich mit Ehren sie verbluten könnte, all die einsame Liebe, die mir nimmer brauchbar ist!« – Friedrich Hölderlin, »Hyperion« … In welch anderem Idiom könnte das so ausgedrückt werden wie hier? Ich zitiere es immer wieder als Sinnbild sprachlicher Schönheit und – als Hölderlins schwieriges Verhältnis zu den Deutschen, beides gefaßt in die Nußschale komprimiertester Poesie. Ohne in den Verdacht der Unbescheidenheit kommen zu wollen – da darf ich Verwandtes fühlen.

Und so möchte ich denn hier zum Schluß noch einmal vermelden: Es war der Verlag Kiepenheuer & Witsch, der das Verdienst hat, mir nach so unheilvoller Vorgeschichte und so vielen Kratzern, Beulen und Stichen zu später Zugehörigkeit verholfen zu haben. Wofür ich heute dankbar und redlich Zeugnis ablegen wollte – in unerschütterlichem Glauben an das Kulturgut Buch. Also, für Kiwi und für uns alle: Masel tov, masel tov – und ein langes Leben noch!

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1999

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Vorwärts! Stopp! Halbe Kraft voraus!

»Hamburger Abendblatt«, 24. Juli 1999.

Der Schritt um die Ecke vom Gänsemarkt auf den Jungfernstieg fächelt mir ein sachtes Lüftchen zu, die Silhouette der Petrikirche sticht kupfergrün in einen Vormittagshimmel, wie er blauer nicht sein könnte, und aus der Mitte der Binnenalster schießt die Fontäne so steil hoch, als seien alle Gesetze der Schwerkraft aufgehoben, ehe der Schwall dann doch, in Myriaden Tropfen zersprüht, wasserstäubend zurückfällt.

Ich bin auf dem Wege zur Anlegestelle, und dort angelangt, geschieht auch schon, worauf ich, zugegeben klopfenden Herzens, sehnlichst warte: Mit weichem »Töff, töff, töff« aus dem Schornstein, kommt langsam ein Boot rückwärts aus seiner Liegestatt hervor, steuert um, schlägt einen Bogen auf die Pier zu und wird vor meinen Füßen unter markerschütterndem Pfeifton vertäut. Es kann nicht wahr sein und ist es doch: Nach 65 Jahren werde ich heute zum erstenmal wieder mit einem Alsterdampfer fahren! – also einem, dessen Schraube wirklich mit Dampf angetrieben wird, und nicht, wie die anderen, die sich zwar auch so nennen, tatsächlich aber Dieselmotoren haben.

»Manchmal ging es mit der Familie zur Richardstraße, wo die Alsterdampfer anlegten, an einem kleinen Ponton, der im Wasser des Kanals schaukelte. Diese Fahrten waren für Roman Bertini ein großes Erlebnis, nicht allein wegen der schönen Route, die nach kurzem Kanalabschnitt hinter der Uhlenhorster Brücke das grandiose Panorama der Außenalster mit den Hamburger Kirchtürmen am südlichen Horizont preisgab. Es war vielmehr der Dampf, der ihn inspirierte, vor allem die Stätte, aus der er hervordrang, nämlich der Maschinenraum. Den schmalen Kopf durch eine offene Luke gezwängt, konnte Roman in die bebende, stampfende, glühende Gruft hinabschauen. Er erblickte dort unten den Heizer, die stampfenden, vom Druck in den mächtigen Zylindern auf und ab geschleuderten Pleuel, den ganzen phantastischen Mechanismus einer Dampfmaschine, der damals Romans technisches Fassungsvermögen bei weitem überstieg, ihn aber in seiner bewegten Sichtbarkeit von allem Anfang an faszinierte.«

So steht es in meiner autobiographischen Hamburger Familien-Saga »Die Bertinis«, und so war es in meiner Kindheit Jahr um Jahr gegangen. Bis 1934, dann nicht mehr, der gewandelten, der Hakenkreuzverhältnisse wegen, die uns scheu machten in der Öffentlichkeit und fortan auf die geliebten Ausflüge »in die Stadt« verzichten ließen.

Aber nun, 1999, an einem Sommertag, sechseinhalb Jahrzehnte nach der letzten Fahrt, stehe ich auf den Planken eines, nein, des letzten der damaligen Alsterdampfer, der nach langer Odyssee für 950000 Mark vom »Verein Alsterdampfschiffahrt e.V.« liebevoll restaurierten »St. Georg«. Zwänge ich wie damals meinen Kopf wieder nach unten in den Maschinenraum, wo dank Ölbefeuerung zwar kein Heizer mehr zu schuften braucht, es aber dennoch heiß hervorquillt; sehe ich, wie damals, Pleuel, Kurbeln und Schieber in voller Bewegung stampfen, wirbeln, rattern; erkenne da unten Kupferrohre, das große rote Rad für die Umsteuerung, den Druckmesser, hinter dessen Glasscheibe der Zeiger nahe vor dem roten Strich 10 bar anzeigt; bestaune die ganze blinkende, wie auf Hochglanz polierte Metallpracht, und lasse mich von dem jungen Maschinisten, der die Kommandos des »Käpt’n« vom Bug her über ein Sprechrohr ausführt, belehren, daß der Kessel anderthalb Kubikmeter Wasser faßt und je nach Bedarf nachgespeist werden kann.

Dann, nach Durchfahrt der »St. Georg« unter dem rechten Bogen der Lombardsbrücke, vor mir die weite Fläche der Außenalster, segelbetupft und changierend, eine spiegelglatte Hoheit, östlich eingerahmt von Ufergrün und den Fronten vornehmer Hotels, westlich von dem gediegenen Scherenschnitt der Harvestehuder Seite, und im Norden begrenzt von der Brücke an der »Schönen Aussicht«.

Ich stütze mich auf die Reling, während die Fenster des Schiffes leise klirren, aus den Lautsprechern melodische Swingmusik nostalgische Gedanken weckt und eine ältere Frau in unverkennbar Hamburger Mundart mich fragt, ob Großeltern von mir in der Barmbeker Schwalbenstraße gewohnt hätten, »so um 1930 herum, als ich noch ein Kind war«. Auf meine Bestätigung – »ja, ja, mütterlicherseits« – ruft sie strahlend aus: »Dann hab’ ich doch auch ein bißchen von den ›Bertinis‹ miterlebt!«

Schwanewikbucht, Kuhmühlenteich, dann unter der Brük-ke hindurch in den Mundsburger Kanal, an dem weiter aufwärts einst die Anlegestelle Richardstraße gelegen hatte, Ausgangs- und Endpunkt unserer so früh abgebrochenen familiären Alsterdampferfahrten »in die Stadt« …

Und nun bin ich also zum erstenmal seit damals wieder auf dieser nassen Straße von und zum Jungfernstieg, inmitten der vertrauten Geräusche von einst, dem Stampfen, Schleudern und Zischen, aber auch, ebenfalls unvergessen, inmitten der Stille, dem leisen Gleiten des Bootes auf diesem wie verwunschenen Kanal, sowohl an Steuer- wie auch an Backbord schwellendes, dichtes, hängendes Grün, gerade, als wären wir im Regenwald und nicht inmitten einer Millionenstadt.

Vom Heck her steigen Dampfschwaden auf, verflüchtigen sich, lösen sich auf, wie die Erinnerungsfetzen an damals.

Dann, bei der Gertrudenkirche, wo der Mundsburger Kanal am breitesten ist, wendet das Schiff.

»PD. St. Georg. Reiherstiegwerft 1876. Länge 21 m, Breite 4,20 m, 75 PS. Umgebaut und restauriert 1994« lese ich auf einem Schild, gleichsam ein Ausweis der Verbundenheit und des Stolzes, wie sie sich personifizieren in dem dezent blauuniformierten Mann da vorn im spitzzulaufenden Bug, Käpt’n und Steuermann in einem, der alle notwendigen Manöver – »Vorwärts!« – »Stopp!« – »Zurück!« – »Ganz langsam!« – »Halbe Kraft voraus!« – über das Sprechrohr weitergibt; in dem Maschinisten, der sie auf dem heißen Platz zwischen Kessel und Antriebsaggregat empfängt und ausführt, und in dem »Decksmann«, der das Fahrgeld eintreibt und unterwegs unermüdlich den auskunftsfreudigen Cicerone und Reiseführer macht (wobei die Passagiere erfahren, daß die Becken der Binnen- und Außenalster mit ihren 185 Hektar der Ausdehnung des Fürstentums Monaco entsprechen).

Ganz von innen her dabei, behandeln die drei den schnaufenden Oldtimer wie ein lebendes Wesen, und das unter so offensichtlichem Spaß an ihrer Arbeit, daß meine schrullige Liebe zur Dampfmaschine und ich uns hier zusammen mit ihnen auf den Decksplanken der »St. Georg« ganz aufgehoben fühlen. So, wie es mir überhaupt geht in meiner Vaterstadt Hamburg, dessen phantastisches Türme-Ensemble – St. Katharinen, St. Jakobi, St. Petri, Nikolaikirche, Rathaus und Michel – jetzt vom Wasser her wieder die unvergleichlichste aller urbanen Kulissen bildet.

Dann pflügt die »St. Georg« – »Volle Kraft voraus!« – wieder auf den rechten Bogen der Lombardsbrücke und unter ihr hindurch auf die Pier am Jungfernstieg zu.

Beim Anlegemanöver geraten drei Entenkinder in arge Bedrängnis. Mittschiffs zwischen Ponton und Bordwand gefährlich eingeengt, paddeln sie hysterisch um ihr Leben, entkommen aber durch die Achtsamkeit des Steuermanns gerade noch rechtzeitig nach vorn ins Freie – gerettet!

Ich gehe an Land, steige aus, mische mich unter die Menge und schaue von oben zurück. Da liegt es, das Schmuckstück des »Vereins Alsterdampfschiffahrt e.V.«, das an etwa hundert Tagen des Jahres fährt, an manchen davon sechsmal, Wochenend-, Rund-, Brücken- und Charterfahrten eingeschlossen.

123 Jahre ist sie jetzt alt, die »St. Georg«, und hat mir heute, fast 25000 Tage nach meiner letzten Fahrt in der Kindheit, ein seltenes Erlebnis beschert. Also fällt es mir schwer, mich von ihrem Anblick da unten loszureißen. Doch dann kriege ich gerade noch mit, welchen Zauber die alte Dame immer noch ausströmt: Als die Dampfpfeife ertönt, ein schriller, greller, unverwechselbarer Urlaut, da schauen alle, aber wirklich alle wie auf Kommando in die gleiche Richtung!

Und so wird es bleiben, selbst wenn die Technik die Menschheit befähigte, das Universum zu erobern: Nichts, gar nichts wird je wieder auch nur annähernd heranreichen an das faszinierende Urbild der industriellen Revolution – die Dampfmaschine!

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Udel – Tschako – Dreckmannwiese

Rede vor dem Forum-P, Gemeinschaft von Angehörigen der Polizei Hamburg, gehalten am 7. Dezember 1999 im Hotel Intercontinental, Hamburg.

Das ist mir an der Barmbeker Wiege nicht gesungen worden und wahrlich auch über weite Strecken meines bisher verflossenen Lebens hin nicht, daß ich hier vor Sie trete, Angehörige der Polizei, und das auch noch als Ehrengast. Was mich, gebe ich zu, in eine Art freudige Erregung versetzt, bestätigt es doch, wie die Zeiten und damit die Menschen sich wandeln können, und zwar von beiden Seiten – wie ich hier noch etwas sibyllinisch andeute, wenn auch mit dem Versprechen, bald für Aufklärung zu sorgen.

Ich hoffe, Sie flüchten nicht schnurstracks, wenn ich sage: Ich habe in meinem Leben niemals, keinen einzigen Tag lang, eine Uniform getragen, was ja nicht heißt, daß man nicht dennoch ein anständiger Menschen sein kann – aber auch nicht, daß jeder Uniformierte nun schon ein solcher sein muß.

Mit diesem Entree will ich nicht gesagt haben, daß es, insgesamt gesehen, gar keine Berührungspunkte zwischen Polizei und mir gegeben hat, durchaus nicht, wenn ich einmal überschaue, wozu Ihre freundliche Einladung mich inspiriert hat: nämlich biographisch eine gewisse Ordnung in diese Beziehungen zu bringen, dem Gedächtnis nachzuhelfen mit einer kleinen Chronik über ein Dasein hin, das nun verblüffenderweise und trotz unseres mörderischen Jahrhunderts auf die Achtzig zueilt – ohne jeden Anspruch übrigens, schon deshalb ein Weiser sein zu wollen. In meinen Ganglienzellen allerdings, das darf ich sagen, haben sich bis heute frühe Bilder gespeichert, in denen auch Polizisten vorkommen, und das nicht zu knapp. Teils mit dunklen, teils mit hellen Memoiren, wie wir noch sehen werden, aber immerhin doch in einer Richtung, die mich in dieser Stunde hier nicht unglücklich sein läßt, um es mit hanseatischer Untertreibung zu sagen.

Trotzdem, gemach – es war ein langer Weg bis dahin …

Erste Erinnerungen sind Bilder von gravitätisch wandelnden, regelmäßig auftauchenden und von ihrer zivilen Umwelt seltsam abgehobenen Autoritäten da oben um den Barmbeker Bahnhof herum, polizeiliche Streifengänger, immer einzeln, immer allein, meist zu Fuß, manchmal aber auch auf dem Rad – von uns Straßenjungen »Udel« genannt. Erhabene Wesen waren das, ganz Repräsentanten einer höheren Gewalt, aber dennoch, unverkennbar, Menschen wie wir auch – eine Erkenntnis, die von uns mit einem Gemisch aus Respekt und flüsterndem Spott, vor allem jedoch mit Furcht vor Nähe quittiert wurde.

Weit mehr aber noch als das Codewort »Udel« geisterte durch meine Kindheit ein anderes, eines, das ich seiner kraftvollen Fremd- und Stoßhaftigkeit wegen nur zu gern ausrief, sobald sich die Gelegenheit bot. Und die bot sich oft, weil wir ständig irgend etwas Verbotenes taten, worauf ich hier nicht intensiver eingehen will, obschon es doch längst verjährt ist. Dieses Wort lautete, erschrecken Sie bitte nicht: »Tschako!« Ich wiederhole: »Tschako!«

Darüber lese ich im »Kleinen Brockhaus« unter anderem:

»Militärische Kopfbedeckung ungarischen Ursprungs, zunächst aus Filz, später aus schwarzlackiertem Leder, im preußischen Heer 1842 durch Pickelhaube ersetzt. Doch behielten Jäger u.a. Spezialtruppen den Tschako bis 1918; danach nur noch teilweise von der deutschen Polizei getragen.«

Offen gesagt, ich habe keine Ahnung mehr, ob die Polizisten, bei deren Anblick ich aus sicherer Entfernung zur eigenen und zur Warnung der ebenfalls immer irgendwie gesetzeswidrig agierenden Spielgefährten den Alarmruf »Tschako!« ausstieß, nun auch tatsächlich einen solchen trugen. Heute glaube ich eher, daß es sich um ein Synonym für Polizei und Polizisten schlechthin gehandelt hat, aber das, wie Sie erkennen können, mit bleibender Eindruckskraft aus frühen Tagen. Die Möglichkeit für mich, es laut in die Runde zu rufen und so als wichtiger Wächter zu fungieren, ergab sich häufig an der Dreckmannwiese, Richtung Bramfeld, ein flaches, unbenutztes Areal, auf dem aus unerfindlichen Gründen kein Fußball gespielt werden durfte, aber gerade eben deshalb doch gespielt wurde. Da kam dem Warner eine wichtige Rolle zu – die meine.

Doch keine Mißverständnisse, feindlich ging es damals nicht zu, und geschnappt wurden wir, meist um vieles schneller als die Per-pedes-Streife, höchst selten. Und natürlich lag auch keineswegs bei jeder Begegnung ein Delikt vor – ich will mich sogar an freundlich ausgetauschte Begrüßungen erinnern, ungeachtet so ungleicher Kräfteverhältnisse.

Angedauert hat der Zustand in meinem Fall dann jedoch nicht. Denn eines Tages, im April 1933, klingelte es bei uns an der Haustür, und das um sechs Uhr früh, also zu ungewohnter Stunde. Davor stand ein Hüne von Gestalt, der in die Wohnung stürmte, die Zimmer durcheilte und ohne ein Wort wieder verschwand – mein Vater war, wie sich später herausstellte, von Nachbarn denunziert worden, wegen »illegaler Treffen«. Folgen gab es, diesmal, nicht. Es hatten auch keine solchen Treffen stattgefunden.

Der Beamte, der uns stumm und überfallartig ein neues Zeitalter signalisiert hatte, war kein »Udel«, sondern Zivilist, und trug also keinen »Tschako«. Aber seine Organisation hieß: »Geheime Staatspolizei«, abgekürzt Gestapo. Ein Kürzel, das für uns über die folgenden zwölf Jahre hin zum Synonym für die »neue Zeit« werden sollte, für das »Dritte« oder auch, wie es sich nannte, »Tausendjährige Reich«, eine Ära, die das Zentrum unseres Lebensgefühls sehr rasch in die Furcht vor dem jederzeit möglichen Gewalttod verwandelte. Nicht weil wir uns auf die Straße stellten und »Nieder mit Hitler!« riefen, sondern weil wir da waren auf der Welt – unser »Verbrechen« bestand in unserer physischen Existenz als »Nichtarier«.

Und in dem schieren Schrecken Gestapo war das Wort Polizei einbegriffen …

Ihre Leitstelle befand sich im Stadthaus, Ecke Neuer Wall, wohin ich am 1. September 1939 verbracht und vier furchtbare Tage gefangengehalten worden war, wogegen die Abteilung Rassengestapo, am Johannisbollwerk gegenüber der Hafenfront, mich im August 1944 in eine Obhut nahm, der lebend zu entkommen ich nicht mehr geglaubt hatte. Es hat viele Jahrzehnte gedauert, bis ich mich überhaupt wieder in die Nähe dieser Gebäude wagte oder gar einen Blick auf sie werfen konnte, ohne zu fürchten, davon überwältigt zu werden.

Ich will hier keinen Abriß meines Lebens von 1933 bis 1945 geben, es mag ja inzwischen einiges darüber bekanntgeworden sein. Nur soviel: Es wird wohl niemanden verwundern, daß die unbeschwerte »Tschako-Zeit« bald zu einem prähistorischen Schemen wurde, weil alles, was Uniform trug, für mich »Feind« war, darunter selbstverständlich auch Polizisten.

Und dennoch, so berechtigt es auch objektiv gewesen sein mag, subjektiv wurde ich eines anderen belehrt. Das Leben meiner Familie, der Eltern, Brüder und meines, haben wir einem deutschen Polizisten zu verdanken – einem Gendarmeriewachtmeister aus Oebisfelde, Kreis Gardelegen. Ich habe ihm in meiner Hamburger Familien-und-Verfolgten-Saga »Die Bertinis« ein Denkmal gesetzt. Die Erklärung, auf das Wesentlichste gerafft: Nach unserer Ausbombung in der Nacht vom 29. auf den 30. Juli 1943 gegen das strenge Verbot für uns, die Stadt zu verlassen, waren wir in einem kleinen Dorf der Altmark untergekommen. Wo es so aussah, als könnten wir dort angesichts des immer größeren Chaos durch den überlegenen alliierten Luftkrieg die Zeit bis zu der sich klarer und klarer abzeichnenden Niederlage Hitlerdeutschlands durchstehen. Aber davor war der Gemeindediener des Ortes, kein Parteigenosse, der uns mit seinem infernalischen Haß verfolgte und schließlich meinen älteren Bruder und mich als »Rassenschänder«, damals die schlimmste aller Anklagen, bei der Gestapo in Gardelegen denunzierte. Die beauftragte den Gendarmeriewachtmeister aus dem nahen Oebisfelde mit der Untersuchung. Und so wurden wir Zeugen, wie der Polizist, nach einer kurzen, strengen Mitteilung an uns über seinen Auftrag, in die Höfe eindrang, um mit einer immer dicker werdenden Akte herauszukommen, und das über vierzehn Tage hin. Wir wußten: Unser Leben lag in seiner Hand. Ein falsches Wort, und wir wären des Todes gewesen.

Danach trat er wieder bei uns ein und teilte das Ende der Untersuchung mit, streng, ohne eine Silbe über das Ergebnis oder das kleinste Zeichen von Sympathie – nur seine Augen verrieten ihn.

Der Oebisfelder Gendarmeriewachtmeister muß kein falsches Wort in seinem Bericht an die Gestapo Gardelegen gesetzt haben, denn wir wurden nicht verhaftet. Wohl mußten wir auf ihren Befehl am 4. Mai 1944 nach Hamburg zurück, und das letzte, das schrecklichste der zwölf Jahre mit Zwangsarbeit, Verhör, Folter und Illegalität begann. Aber auf den Tag ein Jahr danach, am 4. Mai 1945, wurden wir aus unserem Versteck in Hamburg-Alsterdorf von britischen Truppen des Feldmarschalls Montgomery befreit.

Wenn auch nur noch von geringer Ähnlichkeit mit menschlichen Wesen und zu schwach, unseren Befreiern aufrecht entgegenzutreten: Auf Händen und Knien krochen wir ihnen entgegen, als die Panzer von der Innenstadt auf den Flughafen Fuhlsbüttel zurollten.

Aber daß wir lebten, daß wir das Unglaubliche, die Befreiung, erlebten, das hatte in der Hand dieses deutschen Polizisten aus Oebisfelde gelegen, und er hatte uns vor KZ und sicherem Tod bewahrt – Ehre und Ruhm ihm und seinesgleichen. Ich werde diesen Retter nie vergessen, solange ich lebe.

Nun sind seit damals 55 Jahre vergangen, und in solcher Spanne kann vieles passieren zwischen Individuen und Ordnungshütern.

Denn nun kam sie, die nach so heftigem Widerstand fast gegen die ganze übrige Menschheit von außen geschenkte Demokratie, jedenfalls für den größeren Teil des damals gespaltenen Deutschland. Und von da an wird’s verworren, trübten sich die vorher so klaren Fronten zwischen Freund und Feind, da mit der Freiheit auch die Freiheit für Irrtümer gekommen war.

Zum Beispiel den meinen: nämlich zu glauben, die Feinde meiner Feinde müßten auch meine Freunde sein – das mag oft zutreffen, immer jedoch nicht. Ich warne deshalb vor allem die jungen Leute unter Ihnen, das zu glauben. Die Nazis hatten bekanntlich zwei Hauptfeinde – die Juden, dazu zählte ich selbst, und die Kommunisten, die Roten, die Bolschewiki. Und so wurde ich denn 1946 Mitglied der KPD, Landesorganisation Hamburg, Kreis V, gemäß meinem damaligen Erkenntnisstand überzeugt, hier mein Molekül beitragen zu können, die Welt ein bißchen bewohnbarer zu machen. Das war ein Irrtum, den als Lüge zu erkennen ich elf Jahre brauchte, bis 1957, ehe ich die Partei aus den gleichen antinazistischen und humanen Gründen, aus denen ich ihr beigetreten war, dann auch wieder verließ. Ich hatte einen politischen Fehler begangen, der, hätte ich ihn nicht korrigiert, mich geistig, politisch, moralisch und intellektuell verkrüppelt hätte, und ich hatte mich mit mir selbst auseinanderzusetzen, warum das geschehen konnte, schonungslos und ohne Eigenpardon. Denn schlimmer, als einen politischen Irrtum zu begehen, ist, keine Konsequenzen aus ihm zu ziehen. Das geschah öffentlich, mit meinem 1961 erschienenen Buch »Die Partei hat immer recht«. Keine Biographie eines enttäuschten Kommunisten, sondern eine Anatomie des Stalinismus auf deutschem Boden – wie es dieser Partei gelang, einen Mann mit meiner Biographie zu fangen, eine Zeitlang zu halten und dann wieder zu verlieren.

Aber bis es soweit war, habe ich, auch das längst verjährt, manchen Strauß mit der Polente ausgefochten, durchaus auch physisch, in vorderster Front, wie es einem Überzeugungstäter geziemt. Ich erinnere mich besonders an einen ziemlich schmerzhaften Zusammenstoß in der Nähe der Sternschanze, bei einem Aufmarsch der verbotenen FDJ, mit berittener Polizei, die auf uns eindrosch und dabei auch mich traf. Ich fand den Aufwand übertrieben, die Attacke unverhältnismäßig und auch unpädagogisch.

Ich bin erst nach dem Bruch mit der Partei in einem komplizierten Prozeß Anhänger der Demokratie geworden, richtig. Aber die frühe Bundesrepublik kann sich ruhig an ihre restaurative Nase fassen und sich posthum eingestehen, daß Antikommunismus allein keineswegs schon eine demokratische Legitimation ist. Und daß die demokratische Decke über lange Legislaturperioden der Nachkriegszeit hin angesichts einer tief in nazistischen Denk- und Verhaltenskategorien verharrenden Bevölkerungsmehrheit sehr, sehr dünn war. Von Ausnahmen abgesehen, kam die Mehrzahl der NS – Täter nicht nur straffrei davon, sie konnten ihre Karrieren auch unbeschadet fortsetzen, was mich nicht gerade ermutigte, in der damaligen Bundesrepublik eine humane Alternative zur DDR zu sehen. Bis mir klarwurde, daß von allen Staatsübeln in der Menschheitsgeschichte die demokratische Republik, der demokratische Verfassungsstaat, das kleinste ist, mit der unersetzlichen Kostbarkeit, daß wir hier ein angstfreies Gespräch führen können.

Verstörenderweise aber stelle ich heute fest, daß ich damals ein sehr eloquenter, höchst sattelfester Verfechter meiner politischen Irrtümer war. Und zwar so sehr, daß die örtliche Polizei mich, wenn ich in den Elbvororten der fünfziger Jahre bei illegalen Klebeaktionen von ihr erwischt wurde, lieber ungeschoren ließ, weil sich Ihre Kollegen, nach langen leidvollen Erfahrungen mit mir auf der Wache, meiner dröhnenden Agitation für den Sozialismus nicht gewachsen fühlten.

Die Erfahrung mit meiner bestürzenden Fähigkeit, falsche Ideen so überzeugend vorgetragen zu haben, daß berechtigte gegnerische Meinungen dagegen nicht ankamen, diese Erfahrung ist so nachhaltig, daß ich mich heute, wenn ich so richtig in Fahrt bin, ganz erschrocken frage: »Bist du allein schon deshalb auf dem richtigen Wege, weil du ihn trefflich formulieren und artikulieren kannst?«

Sie sehen, zu welch tiefschürfender Selbstkritik und spätem Eingeständnis mich Ihre damals zwar meiner Politsuada gegenüber recht hilflosen, nichtsdestotrotz aber im Recht befindlichen Kollegen veranlassen, und das mit posthumer Abbitte – ein Geständnis, das mir wichtig ist.

Mag manches, was ich hier zum besten gebe, auch anekdotisch klingen, so ist es dennoch wahr. Darunter erstaunlicherweise auch Amüsantes.

Zum Beispiel, daß ich einmal in einem Konflikt mit Polizisten, der vor die Schranken des Gerichts kam, obsiegte – was ja in Deutschland nicht so ganz selbstverständlich sein dürfte. Die Begebenheit selbst, auf das Essentielle geschrumpft: Ich werde im Kölner Süden von zwei Polizisten im Streifenwagen angehalten: Ich hätte soeben die Vorfahrt nicht beachtet, und zwar die ihres Wagens, und deshalb sei nun ein Bußgeld fällig. Darauf meinerseits Widerspruch, der unverkennbar Verblüffung auf die jungen Gesichter zauberte. Ob ich denn nicht wisse, daß Weigerung ein gerichtliches Nachspiel bedeute? Worauf ich mich zu ihrer noch größeren Verblüffung dennoch einließ, überzeugt, daß es keine Mißachtung der Vorfahrt gegeben, sondern genügend Distanz zwischen den beiden Fahrzeugen bestanden hatte. Darauf der eine von beiden: »Meinen Sie wirklich, daß Sie damit durchkommen – gegen uns beide?«

Einige Zeit danach staatsanwaltlich aufgefordert, zum Casus belli Stellung zu nehmen, schilderte ich schriftlich den Sachverhalt aus meiner Sicht. Mit dem Zusatz, daß die meisten Zivilisten gegen Polizisten erwarteter Aussichtslosigkeit wegen gar nicht erst Einspruch einzulegen wagten, und wohl auch aus Kostengründen nicht. Ich wolle mir aber solchen Mangel an Zivilcourage nicht zumuten und ließe mich deshalb auf ein Verfahren ein.

Nach längerer Windstille dann, ich hatte den Fall fast schon vergessen, Vorladung vor das Kölner Amtsgericht. Auf einer Bank sitzt ein junger Mensch in Zivil, den ich nicht zu kennen meine, der aber vor mir da war. Dennoch werde ich zuerst hineingerufen, vor eine Richterin, die meinen Brief vorliest und dann nachdrücklich – den Freispruch verkündet. Innerlicher Jubel, freundlicher Abgang. Draußen fragt der junge Mann in Zivil: »Wie ist es ausgegangen?« – Ich: »Freispruch.« Er, sichtlich erleichtert: »Gut so – ich war einer von den beiden Polizisten, damals.«

Shakehands …

(…)

»Die Polizei, dein Freund und Helfer«: Wie oft ist das – ironisch, verbittert, zynisch – schon kolportiert worden.

Und auch ich habe es manchmal nicht gerade wohlwollend vor mich hin gemurmelt: Etwa, als ich von der Unglaublichkeit des »Polizeikessels« auf dem Heiligen Geistfeld hörte, oder wie Anfang der neunziger Jahre eine Bande von 500 gesetzeswidrig demonstrierenden Neonazis in Fulda links und rechts von einem Polizeikordon begleitet wurde; oder wenn bei ähnlichen Anlässen nicht die Hakenkreuzler, sondern die Gegendemonstranten verdroschen werden. Mir ist dabei wohl bewußt, daß nicht Polizisten die Primärverantwortlichen für solche verkehrte Welt sind, sondern eine Legalitätsauffassung von Demokratie, die denen, die sie zerstören wollen, zuviel Freiheiten läßt.

Aber ich habe das Wort – »die Polizei, dein Freund und Helfer« – auch in seinem buchstäblichen Sinne, auf wohltuende Weise gespürt – seit ich auf eine neue, gefährlichere und fanatischere Weise bedroht werde. Ich kann und will dieses Thema um der Gerechtigkeit gegenüber der Polizei wegen nicht unterschlagen und spreche es doch mit innerer Zurückgenommenheit an, weil nichts verfehlter sein könnte, als hier den Eindruck eines angstschlotternden Opfers unserer Tage zu erwecken. Nein, es ist scheußlich genug, was da zeitweise briefkastenfüllend, telefonisch oder über Fax auf einen zukommt. Aber ich habe diesen Ungeist nicht als Staatsmacht kennengelernt, um nun vor deren Möchtegernnachfolgern zu Kreuze zu kriechen.

Ich sagte, auf eine neue, gefährlichere, fanatischere Weise bedroht – was ja nur bedeuten kann, daß ich als politischer Publizist schon vorher bedroht worden war. Das stimmt, aber über Jahrzehnte hin waren es meist frustrierte Altnazis, die sich so gar nicht damit abfinden konnten, daß die Weltgeschichte einen ganz anderen als den von ihnen erhofften Weg eingeschlagen hatte, und die ihre Wut darüber nun an meinesgleichen auszulassen versuchten. Das ist seit zehn Jahren anders – da sprechen Jüngere, Angehörige nachgewachsener Generationen, mit kälterem Haßduktus, intelligenter, gebildeter, intellektueller. Denn nun werden Mord- und Todesdrohungen gespickt mit lateinischen Zitaten und Signaturen, etwa »Hierosolyma est perdita«, also »Jerusalem ist verloren«, das »Hep! Hep!« der Römer im Jüdischen Krieg unter Titus 66 bis 70 nach christlicher Zeitrechnung. Dann aber »Hep! Hep!« auch als Schlachtruf und Eröffnungstrompete ungezählter Pogrome im Zeichen des Kreuzes über anderthalb Jahrtausende hin – ehe der kirchliche Antijudaismus im vorigen und unserem Jahrhundert schließlich in den »modernen«, den doktrinären, rassistischen Antisemitismus überglitt, der keine religiöse Maske mehr brauchte, sondern die Juden zum bösen Prinzip der Weltgeschichte erklärte – und in Auschwitz gipfelte.

Von solcher Kontinuität also sind Bekundungen, die heutzutage noch bestätigen, daß Hitler zwar militärisch, aber nicht geistig geschlagen ist, und auch ich bin von ihnen betroffen, weit über tausendmal seit 1991. Darunter ein von seinem Ausgangspunkt her nicht dingfest zu machendes Fax, das mir inzwischen Dutzende Male ankündigt, daß der Absender über eine eigens für mich angefertigte Gaskammer verfüge, die an einem Hausschwein von 69 Kilogramm (das ist mein Gewicht) erprobt worden sei und dessen Todeskampfzeit 14 Minuten gedauert habe – eine Frist, die man auch mir zugedacht habe, sobald man meiner habhaft geworden sei, was jederzeit stattfinden könne, ganz nach dem Gusto der Erbauer.

Über große Strecken dieser Bedrohung hat die Polizei das Ihre versucht, mich zu schützen, und das hat mir gutgetan. Gutgetan, wie auch die Hunderte und Aberhunderte von Briefen, deren Absender mich ihrer Sympathien und Solidarität versicherten, bewegende Angebote, das bewegendste darunter ein von neunhundert Schülerinnen und Schülern signiertes Schreiben einer Schule aus der Nähe Bonns.

Dann lud mich, im vorigen Jahr, der damalige Kölner Polizeipräsident Jürgen Roters ein, vor einem polizeilichen Auditorium über den 9. November 1938 zu sprechen, also die Reichspogromnacht – was dann auch geschah, mit anschließender langer Diskussion. Es wurde zu einem Erlebnis der besonderen Art, führte zu einem neuen Verhältnis, machte Mut und schaffte die Gewißheit, daß da etwas unter Nachgeborenen arbeitete, was mein Lebensthema und – problem war und ist.

Es war ein guter Tag gewesen, eine gute Stunde, da ist etwas gesät worden. (…)

So bin ich geblieben, nicht als jüdischer Racheengel oder als verlängerter Arm des strafenden Jehova, sondern als einer, der sich sein ganzes Leben lang herumgeschlagen und herumgeplagt hat mit dieser Last, Deutscher zu sein – deutscher Jude oder jüdischer Deutscher –, und der sie nicht abwerfen kann und nicht abwerfen will, versöhnungsbereit gegenüber jedem, der sich ehrlich müht – auch gegenüber jedem ehemaligen Nazi, der das tun will –, aber absolut unversöhnlich gegenüber jeder Art von Unbelehrbarkeit.

Zu diesem Gefühl dazuzugehören hat Ihre Einladung beigetragen, und dafür danke ich Ihnen – auch dafür, daß die Stunde in Hamburg stattfindet.

Es ist richtig, ich bin aus Köln angereist, wo ich seit langem wohne und wo die Anstalt zu Hause ist, der Westdeutsche Rundfunk, der mir von 1964 bis 1988 als Fernsehmann Möglichkeiten gab, die ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht auszumalen wagte – ein Stichwort: »Hunger«, Slums«, »Flüchtlinge« –, und ich konnte 25 Jahre lang hinausfliegen in die Welt und ihren Problemen nachgehen, wie ich wollte, in über hundert Filmen. Es war in des Wortes buchstäblicher wie übertragener Bedeutung ein Leben wie auf Flügeln, ein Abschnitt, ab dem ich in die Speichen meiner Begabungen greifen konnte und der mein Leben, nach den dunklen Jahren zuvor, licht gemacht hat. Ich will das Köln und dem WDR nicht vergessen.

Aber aus einem Hamburger kann nie etwas anderes werden als ein Hamburger, und aus einem Barmbeker schon gar nicht. Die Nabelschnur war nie durchschnitten und wird es, bis zu meinem hoffentlich noch fernen Ende, auch nie sein.

Hamburg – das war ja nicht nur Böses, nicht nur Braunes.

Hamburg – das war ja auch das Paradies der Kindheit; die schründige, uralte Eiche an der Sandkiste; war, neben der kerzenbeleuchteten Schneehöhle, der dreikugelige Schneemann vor dem Haus, Zylinder auf dem Kopf, zwei Kohlen als Augen und als Nase eine Wurzel.

Hamburg – das war der geduckte, verrußte, glasgeschuppte Hauptbahnhof und seine mächtigen, dampftosenden Lokomotiven; war die windige, weite, grau, blau oder grün schimmernde Fläche der segelbetupften Außenalster; war die in der Taille geraffte dreibögige Lombardsbrücke; die gellende, gischtige Maschinerie des Hafens, das Gebell seiner zahllosen Schlepper; war der Dom auf dem Heiligen Geistfeld mit seinen Buden und Karussells, seinem Punsch und seinem Hamburger Speck; war der Frühlingsregen und seine nassen, grauen Fäden; die trommelnden Gewitter der Kindheit mit ihren elektrizitätsprallen Wolkengebilden; war die Riesenzigarre des Luftschiffes »Graf Zeppelin« über Barmbeks Häuserschluchten; war der Stadtpark, sein Planschbecken und Pinguinbrunnen, sein Park-Café und Wasserturm; war oben vor dem letzten Haus der Hufnerstraße die kleine Treppe und ihr schräger, von zehntausend Hosenböden blankgewetzter Steinsaum; war die rumpelnde Linie 6 der Straßenbahn in die Stadt.

Nein, Hamburg war nicht nur Böses – und ist es schon gar nicht. Ich habe es gefunden, und es hat mich gefunden. Und diese Stunde bestätigt es.

Die Gefühle, wenn ich hier ankomme, habe ich am Ende meines letzten Buches, »Deutschlandreise. Aufzeichnungen aus einer schwierigen Heimat«, so ausgedrückt und will damit schließen:

»Auch diesmal wieder, beim Anblick Hamburgs, der Reliefs seiner Türme, der Silhouetten seines Hafens, und eingetaucht dann in den geliebten, erzvertrauten Stadtkörper – Herzklopfen, wie immer und unvermindert, Herzklopfen bis zum Halse!

Was kann eine Vaterstadt von ihrem 76jährigen Sohn mehr verlangen?«

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2002

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Pathologischer Antiamerikanismus

»MUT«, Nr. 418, Juni 2002.

Der Export des islamistischen Terrorismus nach Europa hat begonnen, und die Spuren sammeln sich in Deutschland. Anlaß genug, die Reaktionen einer bestimmten Spezies deutscher Intellektueller auf den 11. September 2001 unter die Lupe zu nehmen, wie sie sich gerade jetzt wieder niedergeschlagen haben in dem »Aufruf zu einer weltweiten Koalition für Leben und Frieden – eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens sieht anders aus« (als Entgegnung auf das amerikanische Manifest »Gerechter Krieg gegen den Terror«).

Es gibt kein Stereotyp, das in diesem ausgewalzten Katalog des pathologischen Antiamerikanismus vergessen worden wäre, nicht eines: die Gleichsetzung der Reaktionen auf den Anschlag von New York, Washington und Pennsylvania mit dem Massenmord selbst; der alte Vorwurf, in Wahrheit gehe es bei den Gegenschlägen nur um Erdöl und geostrategische Optionen der Supermacht; ihr Versuch, anderen den Willen aufzuzwingen, sei die eigentliche Quelle der Ohnmachts- und Demütigungsgefühle der Dritten Welt wie auch die Anwesenheit amerikanischer Soldaten in Saudi-Arabien »ein Stachel im Fleisch der eigenen Kultur«. Da wird sich lang und breit über Fundamentalismus ausgelassen, aber nicht über den islamistischen, sondern über den der Regierung Bush. Kurz, in diesem »Aufruf« haben die Unterzeichner den »Weltfeind Nr. 1« dingfest gemacht – den »Großen Satan USA«. Zwar wagen sie (noch) nicht, Israel den »Kleinen Satan« zu nennen, tun es aber klammheimlich zwischen den Zeilen und über den Nahostkonflikt.

Der Text offenbart einen Geistes- und Moralzustand, dessen verworrene Argumentation an die Grenzen des Perversen stößt: Von Carl Amery und Christoph Hein über Tankred Dorst bis zu Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Dürr haben sich die Herren über die Gegenmaßnahmen des tödlich getroffenen Amerika so heftig echauffiert, daß für Trauer und Empörung über die Opfer des islamistischen Massenmords nicht mehr übrigblieb als zerfaserte Lippenbekenntnisse in kaum auffindbaren Nebensätzen.

Flankiert worden war der »Aufruf« übrigens zuvor von intellektuellen Stimmen, die die Toten vom World Trade Center mit der Erklärung zu rechtfertigen suchen, »den Armen der Welt sei jedes Verständnis versagt worden« und Terror deshalb »die Ersatzsprache der Gewalt, weil berechtigte Anliegen nicht gehört worden sind«.

Da muß einem doch unweigerlich eine Vision aufsteigen: der Kölner Dom durch bin Ladens Jünger auf »Ground Zero« planiert, und das mit Tausenden von Toten und Verletzten. Und mitten im Chaos dann, hinzugeeilt und rauchgeschwärzt, Klaus Theweleit, Karlheinz Stockhausen und Johano Strasser, die noch sprechfähigen Überlebenden flehentlich auffordernd, ihr Schicksal doch bitte als einen Krieg der Schwachen zu verstehen, denen der »Dialog« verweigert wurde, als einen Beweis enttäuschter Liebe, dem man Verständnis entgegenbringen müsse … Ich kann den Durs Grünbeins, Udo Steinbachs, Oskar Negts und Theodor Eberts ziemlich exakt voraussagen, was ihnen in solchem, hoffentlich nie realisierten Fall blühen würde: an Ort und Stelle gelyncht zu werden von Leuten, die nach dem »starken Mann« und nach Wiedereinführung der Todesstrafe schrien!

Wie, fragt man sich nach solchen Ergüssen, malt sich die Welt in den Ganglienzellen dieser deutschen Intellektuellen? Wo war ihr Aufschrei, als nach den zeitgleichen islamistischen Sprengstoffattentaten vom August 1998 auf die Botschaften der USA im kenianischen Nairobi und tansanischen Dar-es-Salaam über 200 Tote und über 4000 Verletzte zu beklagen waren? Als sie endlich ihre Stimme wiederfanden, nach dem 11. September 2001, dann nicht, um sich darüber zu entsetzen, daß hier soeben eine ganz neue, ganz originäre Form von globaler Furchtverbreitung aus dem Dunkel des islamistischen Wahnsinns heraus ihre furchtbare Visitenkarte abgegeben hatte, nein. Vielmehr taten sie so, als hätten amerikanische Kamikaze gerade mit Schaum vor dem Mund aus Rache- und Vergeltungswut die Kaaba von Mekka, das heiligste Symbol des Islam, zu Staub pulverisiert.

Aber die Armut der Dritten Welt, die großen Ungerechtigkeiten einer falschen Weltwirtschaftsordnung, die Zustände in den Slums zwischen Mexico-City und Lagos, Khartoum und Bangkok – das sei doch der Nährboden, der wahre Grund für die Anschläge gewesen! So die intellektuelle Rechtfertigungsklientel zwischen Rhein und Oder. Nur – kann man sich etwas Verlogeneres vorstellen als diese Alibiberufungen der islamistischen Massenmörder auf die Not der Dritten Welt und das Elend der Straßenkinder von Rio bis Manila?

Ich kenne die Apokalypse dort, ich war in 38 Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, und es war über Jahrzehnte hin eine ununterbrochene Konfrontation mit der Weltarmut. Ich weiß, welchen Anteil die weiße Vorherrschaft daran hat, man wolle mich darüber gefälligst nicht belehren! Ich weiß aber auch, welche endogenen, also eigenen, selbst verursachten Übel, Mißstände und Schlimmeres zu diesem Zustand beitragen, welche jahrtausendealten Denkweisen und Sozialstrukturen jeder notwendigen Entwicklung sperrig im Wege stehen und aufgebrochen werden müssen. Als wenn der größte Verhinderer dabei nicht die eigenen Eliten wären, die total versagt haben, gewohntermaßen jedoch alle Verantwortung an den »Westen« delegieren. Er, der Übeltäter, der Verursacher für alles? Auch für die traditionelle Entrechtung der Frauen zwischen Marokko und Indonesien? Oder gar für die Klitorisbeschneidung in Innerafrika? Etwas provinziell Lächerlicheres als einseitige Schuldzuweisungen an den Westen für den Aggregatzustand der Dritten Welt gibt es nicht.

Die fundamentalistischen Massenmörder aber sind alles andere als Sprößlinge aus den Slums von Kairo, Algier oder Bagdad. Die Drahtzieher eines globalen Terrorismus, der dabei ist, die konventionelle Interpretation dieses Begriffes zu sprengen, diese Tüftler an biologischen, chemischen und nuklearen Massenauslöschungssystemen, sie stammen nicht aus dem Hinterhof der Menschheit und dessen kulturellem Zerfall. Sie, die die Welt in die Finsternis des Mittelalters zurückbomben wollen, sind vielmehr logistisch hervorragend geschulte Vernichtungstechniker, die sich im Aktienhandel ebenso auskennen wie mit modernen Satellitentelefonen und unknackbaren Verschlüsselungsapparaten.

Nehmen wir also ihnen – und ihren intellektuellen Fürsprechern aus dem ansonsten so verfluchten Westen – keine einzige ihrer hehren Begründungen ab, nicht eine! Fallen wir nicht herein auf ihre angeblichen Ideale und verquasten Gottesideen, sondern stigmatisieren wir sie als das, was sie sind: Gewalttäter, Totschläger, Mörder, Massenmörder, Profikiller – und sonst gar nichts.

Und dies noch: Behalten wir auch sie genau im Auge, die ganze Sippschaft der organisierten »Friedensbewegten«, die sich grundsätzlich in der Adresse irren. Nach allen empirischen Erfahrungen läuft ihre Botschaft auf nichts anderes hinaus, als den Status quo von Gewaltherrschaft zu zementieren – Miloševi´c nach wie vor in Belgrad, die Taliban in Kabul. Pazifismus in einer nichtpazifistischen Welt ist keine Alternative, sondern lediglich ihre Vorspiegelung: »Lieber Osama bin Laden, können wir nicht einmal über deine arg verwundete Seele plaudern …?«

Die Lehre: Aufklärung und gutes Zureden haben ihre Grenzen. Uns sind durch den 11. September 2001 Verbrecher vorgeführt worden, die sich weder durch Furcht noch durch Eigennutz umstimmen lassen. Ihre Antriebsfedern sind, immer im Namen Gottes, Neid, Haß und Minderwertigkeitsgefühle – eine Kombination, die nicht mit Ruhe und Frieden liebäugelt. Sie legen nicht den geringsten Wert darauf, daß es ihnen gutgeht. Es genügt ihnen, daß es andern schlechtgeht.

»Ich hasse die Heiligen Kämpfer, sie sind Mörder. Ich mag auch nicht die Intellektuellen, die viele Rechtfertigungen finden für die Heiligen Kämpfer. Sie haben in ihrer Seele ein Stück vom Mörder.«

Ja!

Wer das gesagt hat, öffentlich und in Anwesenheit der deutschen Rechtfertigungsklientel? Der Präsident der Berliner Akademie der Künste.

Danke, Györgi Konrad!

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Islam, Islamismus – Totalitarismus des 21. Jahrhunderts?

»MUT«, Nr. 419, Juli 2002.

I.

Titelfrage und Untertitel, auf die ich mit dieser Arbeit eine eher stichwortartige Antwort zu geben versuche, drücken aus, wovon meines Erachtens in komplizierten Zusammenhängen die wahrscheinlich größte Bedrohung für eine stabile Weltordnung des gerade initiierten Centenniums ausgehen wird – nämlich von der desolaten Wirklichkeit einer in sich tief zerrissenen islamischen Welt. Ihr Aggregatzustand hat mit dem 11. September 2001 jenseits des Begriffes Terrorismus eine neue, originäre Form der Furchtverbreitung geboren, die unter der Alibiberufung auf den Nahostkonflikt und auf die Nöte der sogenannten Dritten Welt zum Selbstzweck bloßer Zerstörung geworden ist.