Von Drachen und Mördern - Sasha Winter - E-Book

Von Drachen und Mördern E-Book

Sasha Winter

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Beschreibung

Ein Raubmord vom vergangenen Wochenende gibt der Kölner Kripo Rätsel auf. Denn das schöne Opfer war schon seit Tagen tot! Bei ihren Recherchen stoßen die Ermittler auf einen weiteren Todesfall im direkten Umfeld der jungen Frau. Zufall? Die Aufklärung gerät zu einem ungeahnten Wettlauf gegen die Zeit, bei dem das Team um Daniel Wagner scheinbar immer einen Schritt zu spät kommt.

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Seitenzahl: 473

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Von Drachen und Mördern

September 2015

Copyright by editor

[email protected]

ISBN 978-3-7323-6136-6 Paperback

ISBN 978-3-7323-6137-3 Hardcover

ISBN 978-3-7323-6138-0 e-book

Tredition GmbH, 20144 Hamburg, Germany

www.tredtion.de

Umschlagillustration: steffensbrushdesign, Köln/Germany

„Eigentlich fürchten wir nicht den Tod, wir fürchten, dass niemandem unsere Abwesenheit auffällt, dass wir einfach spurlos verschwinden.

Und ich zeige Dir die Angst in einer Hand voll Staub“

T.S.Eliot

„Märchen sagen Kindern nicht, dass es Drachen gibt. Kinder wissen schon, dass es Drachen gibt. Märchen sagen den Kindern, dass Drachen getötet werden können.“

Vielleicht hätte Gilbert Keith Chesterton erwähnen sollen, dass die meisten Menschen auch als Erwachsene gern glauben möchten, dass dieses Kunststück gelingt. Auch wenn nur wenige tatsächlich losziehen und es versuchen.

Der Rest schließt Versicherungen ab.

Nun ist die Wahrscheinlichkeit eines Blitzeinschlages in die Etagenwohnung im 2. Stock mit nachfolgendem Brand ungefähr ähnlich hoch wie ein Autounfall auf dem Arbeitsweg eines U-Bahn-Pendlers. Aber es kann ja nicht schaden, gegen alles Mögliche versichert zu sein. Es gibt kein besseres Geschäft. Millionen mit der Angst. Die Milliarden mit der Hoffnung macht die Pharmaindustrie.

Haben Tibeter eigentlich Versicherungen?

Immer wieder treffe ich Menschen, die sich mit verklärtem Gesichtsausdruck an ihre Jugend auf dem Land erinnern. Als man auf der Dorfstraße noch Rollschuh fahren und„Hüpfekästchen“ aufmalen konnte, weil kein nennenswerter Verkehr die Aktivitäten störte. Auf Bäume klettern, Bäche stauen und mit einer kleinen Horde Gleichgesinnter allen möglichen Unsinn anstellen. Alles war ein Abenteuer und Hausarrest die Höchststrafe. Als sich Kinder noch richtig austoben konnten, anstatt den ganzen Tag über fast bewegungslos vor Ihren technischen Geräten zu hocken.

Meine Erinnerungen sehen da ein bisschen anders aus. Aber das hat nicht viel zu sagen, mit dem Erinnern ist das ja so eine Sache….

Als kleiner Junge wollte ich immer wie „Superman“ werden. Doch sie nannten mich: „Lukas, der Dorfhippie aus der Kommune!“

Ja, auch ich wuchs auf dem Land auf. In einem kleinen Kaff im Süddeutschen mit 500 Einwohnern. Wobei ich lange den Verdacht hatte, dass die Hühner und Schafe mitgezählt wurden. Die meisten Einwohner lebten hier schon seit Generationen. Und wer dazu gehören und in der Dorfgemeinschaft akzeptiert werden wollte, sollte mindestens einen Urgroßvater auf dem Dorffriedhof haben. Wir waren Zugezogene. Und nicht eben die Sorte Zugezogene, die sich ein hübsches Fachwerkhäuschen auf dem Land liebevoll restaurieren, in der nahegelegenen Kleinstadt einem respektablen Beruf nachgehen und jeden im Ort freundlich grüßen.

Nun, meine Leute haben auch versucht, ein Fachwerkhaus zu renovieren. Das Ergebnis war aber die meiste Zeit nicht dafür geeignet einen Preis bei „Unser Dorf soll schöner werden“ zu gewinnen. Dafür fehlte es grundsätzlich an Geld und leider auch am handwerklichen Geschick der diversen Hausbewohner.

Meine Eltern träumten vom einfachen, selbstbestimmten Leben auf dem Land. Naturnah und mit Bio-Anbau noch bevor es in Mode kam. Sie fanden ein preiswertes Häuschen mit großem Garten, das sie mit Gleichgesinnten in ein kleines Paradies verwandeln wollten. Doch, wie gesagt, das Projekt hatte in den ersten Jahren ein paar „Startschwierigkeiten“, wie es mein Vater so gern auszudrücken pflegte. Konkret gesagt regnete es hin und wieder mal ins obere Stockwerk, weil das Dach in beklagenswertem Zustand war und die alten Rohre und elektrischen Leitungen waren kaum in besserem Zustand. Immerhin, Strom und fließend Wasser waren vorhanden. Geheizt wurde lange Zeit mit Holz und so richtig warm wurde es im Winter eigentlich nie. Dafür kochte die Gerüchteküche und der Dorfklatsch trieb obskure Blüten. Einer Gesellschaft deren Wertungskriterium hauptsächlich aus „was werden denn die anderen sagen“ besteht und in der jede Individualität der angepassten Mittelmäßigkeit geopfert wird, weil nur das den Frieden halbwegs sichert, einer solchen Gesellschaft ist eine „Hippiekommune“ natürlich ein absoluter Dorn im Auge. Da kann man noch so freundlich grüßen, da wird man nicht zurückgegrüßt.

Wobei sich unsere Hausbewohner wohl auch nicht sonderlich bemühten. Man wollte ja schließlich mit all diesen reaktionären Spießern auch nicht viel zu tun haben. Die Abneigung bestand also durchaus auf beiden Seiten. Und das war natürlich schlecht gelaufen für mich kleinen Knirps, denn hier galt „Sippenhaft“. Den Dorfkindern wurde kurzerhand untersagt, mit „so etwas wie mir zu spielen“. Meine selbstgestrickten Pullis, Jacken, Mützen und Socken in allen Regenbogenfarben, trugen mir natürlichjede Menge Spott und Hohn und so manche Beule oder dicke Lippe ein. So verbrachte ich die meiste Zeit im Haus oder im Garten, wo ich vor unfreundlichen Übergriffen sicher war. Meine Einschulung war nur eine vorübergehende Abwechslung und die morgendliche Busfahrt geriet sehr schnell zum Spießrutenlaufen, denn die Hänseleien wurden nicht weniger.

Es wäre vermutlich die Hölle geworden, wäre nicht Chris gewesen. Chris, der blondgelockte Sonnenschein, sportlich, waghalsig, großspurig. Der Anführer jeder Kindergang. Chris, der im fünften Schuljahr mein bester Freund wurde und es auch blieb, bis die Hölle uns einholte.

04-10- Samstag

Sie hatten den Wagen, wie abgesprochen, im kleinen Weg zwischen Garten und Schrebergartenkolonie rückwärts geparkt. Es war kurz nach elf und ziemlich dunkel. Doch der Vollmond spendete genügend Licht, und im Moment leider auch die Nachbarn. Die unbegreiflicherweise im Garten grillten. Im Oktober! Besser gesagt, die Party fand auf der Terrasse statt, mit Fackelbeleuchtung im Garten. Was prinzipiell auf’ s Gleiche rauskam. Der Garten war beleuchtet wie eine Kirmesbude. Die ca. 15 Gäste tummelten sich noch immer unter den aufgestellten Heizpilzen, jener fantastischen Erfindung, die dem nordeuropäischen Bistrogast im November noch den Sommer suggeriert und dazu beiträgt, dass sich die armen Eisbären in naher Zukunft auch ohne Heizpilze fühlen werden, wie in Italien. Mesut hatte gerade seine Patrouille beendet. „Scheiße, Mann, wie lange wollen die denn noch feiern, die halten noch die ganze Nachbarschaft wach“. Er rief Mehmet an. Warten und gegen halb zwei zuschlagen. Okay. Was war mit der Tussi aus der Nachbarwohnung? Anscheinend nicht zu Hause, alles war dunkel. Gestern Abend übrigens auch schon; Mesut hatte sich umgeschaut, er wollte auf Nummer sicher gehen. Kevin’ s Laune sank auf den Tiefpunkt. Er war ohnehin total nervös. Die Warterei machte ihn langsam kirre. „Mann, Alter, ich frier mir hier noch die Eier ab. Warum kommen wir nicht in zwei Stunden wieder? Setzen uns erst mal ins Warme, irgendwo“. Mesut überlegte einen Moment. Warum nicht? Bei dem Lärm aus dem Nachbargarten, würde man den startenden Wagen wohl kaum hören. „Okay, fahren wir“.

Der Obdachlose im Schrebergarten hinter ihnen spähte vorsichtig durch die Lücken in der Hecke. Eigentlich war sein neues Domizil für die Nacht der pure Luxus. Das Gartenhäuschen war unverschlossen und vergleichsweise warm. Trocken war es sowieso und normalerweise sehr ruhig und verlassen. Heute Abend hielten ihn der Gesang und das Stimmengewirr von der Terrasse gegenüber wach. Und schien das Liebespaar im Corsa vor der Hecke ebenso zu stören, denn er konnte hören, wie der Wagen, der erst vor Kurzem dort geparkt hatte, angelassen wurde und wegfuhr. Beim Blick auf das Kennzeichen musste er grinsen. K-UK, ‘na kuk mal an’, dachte er und machte sich noch ein Bier auf.

Als sie gegen halb zwei wiederkamen, war es endlich ruhig. Still und dunkel lag der Garten vor ihnen, nirgendwo brannte jetzt noch Licht. Die Gartentür war ein Kinderspiel, für die Hintertür hatten sie ja den Schlüssel. Die Bude hätte auch eine Musterwohnung in einem dieser Lifestyle-Magazine sein können, doch Mesut und Kevin hatten hauptsächlich Augen für die Objekte, die sie so schnell und leise wie möglich abtransportieren wollten. Es ging einfacher und schneller als gedacht. Kevin machte eine letzte Runde und fand noch zweihundert Euro in einem Becher im Küchenschrank, die er schnelle einsteckte. Mesut ‘präparierte’ derweil die Wohnungstür. „Alles klar, wir können“, flüsterte er Kevin zu. Doch der lauschte an der Nachbartür. Absolute Stille. Sie sahen sich an. „Okay, ein Versuch. Wenn’ s sofort klappt, schauen wir uns die Bude eben noch an. Die Tussi scheint ja wirklich ausgeflogen zu sein“. Es dauerte tatsächlich nicht einmal eine Minute, Mesut machte die ‘Daumen-hoch-Geste’, öffnete die Tür vorsichtig und lauschte. Leise schlichen sie in eine kleine Diele. Eine vorsichtige Inspektion bestätigte ihren Verdacht: Niemand zu Hause! Kevin begann im Schlafzimmer. Als er den Schmuck einsteckte, begann er zu frohlocken. Den würde er behalten. Ebenso wie das Bargeld. Das könnte ihn nächste Woche den Hals retten. Ein erstickter Laut aus dem Wohnraum ließ ihn aufhorchen. In der Diele stand bereits fertig zum Abtransport ein großer Flachbildfernseher. Mesut stand, die HiFi-Anlage in den Armen zwischen Wohn- und Essbereich und machte mit dem Kopf eine leichte Bewegung nach hinten. „Kein Wunder, dass es hier totenstill war, krieg jetzt nicht die Panik, Alter, aber schau Dir das mal an“. Kevin ging um Mesut herum und konnte gerade noch einen panischen Aufschrei unterdrücken. Vor ihm, zwischen Sofa und Tisch, lag die Leiche einer jungen Frau. Dass sie tot war, sah er sofort, da brauchte er kein Medizinstudium. Ein dunkler Fleck hatte sich seitlich unter ihrem Kopf auf dem hellen Teppich ausgebreitet. Jetzt war ihm auch schlagartig klar, woher der sonderbare Geruch kam, der ihm schon beim Eintreten aufgefallen war. Ihm war plötzlich speiübel. Raus, nichts wie raus hier, der Fluchtinstinkt trieb ihn augenblicklich in die Diele. „Alter, bleib cool, die kann uns nichts mehr. Schnapp Dir die Sachen und ab“, Mesut’ s Tonfall war knallhart. Wenige Minuten später saßen sie im Wagen. Kevin zitterte und brauchte drei Versuche, bis er den Wagen endlich gestartet hatte und losfahren konnte. Mesut fluchte und beobachtete angestrengt die Fenster der Häuser. Zum Glück blieb alles dunkel, anscheinend hatte niemand etwas bemerkt.

Bis auf den angetrunkenen und ziemlich erbosten Obdachlosen, der aus dem Gartenhäuschen ins Freie torkelte. Es dauerte immer ewig, bis er bei der Kälte einpennte. Und diese ‘Hirnis’ hatten ihn geweckt, was ihn ärgerte. Wieder das blaue Auto. Unersättlich, oder was? Er warf ihnen eine leere Bierflasche hinterher, doch der Wagen war schon um die Ecke gebogen und verschwunden.

Mesut rief Mehmet an. In fünfzehn Minuten am Lager. Nein, alles okay, keine Probleme. Kevin schnaubte. Er zitterte noch immer. Es war immerhin seine allererste Leiche. Der Anblick der blicklosen Augen in einem verzerrten Gesicht ließ ihn einfach nicht los. Er wollte nur noch nach Hause, so schnell wie möglich. Den Kram ins Lager räumen und den Wagen zurückbringen. Den Schlüssel konnte er auch in den Briefkasten werfen und Frank morgen anrufen. Voll krass Alter, wo gab es das denn. Da macht man einen todsicheren Bruch und stolpert über eine Leiche. Er fing an nervös zu kichern. Mesut sah ihn von der Seite an. „Bro, hör zu, ich erkläre das Mesut, okay?“ „Müssen wir das denn?“ „Na, was denkst Du denn? Oder sollen wir ihm sagen, die anderen Teile sind vom Baum gefallen?“ Schon klar, das ging nicht. Wären sie mit ihren verdammten Ärschen doch bloß da draußen geblieben! „Das mit der Leiche auch?“ Mesut nickte und knirschte mit den Zähnen. Mehmet wäre begeistert, oh Mann. Kurz hatte er das Gefühl, etwas vergessen zu haben. Im Geist ging er den Ablauf noch einmal durch, als ihm plötzlich eiskalt wurde. Scheiße, er hatte vergessen, die Hintertür zu ‘präparieren’. Jetzt war’ s zu spät, jetzt konnte man nur noch das Beste hoffen.

Kriminaloberkommissar Daniel Wagner von der Kripo Köln und seine Kollegin Gülsen Dirmici waren auf dem Weg zurück zu ihrer Dienststelle. Wagner suchte in der Innentasche seiner Jacke nach den Kaubonbons, die er, in weiser Voraussicht dort am frühen Abend als „eiserne Notreserve“ hinein gesteckt hatte. Normalerweise hatte er samstags um diese Uhrzeit Besseres vor, als mit einem Dienstfahrzeug Richtung Severinsbrücke zu seiner Arbeitsstelle zu fahren. Die beleuchtete Silhouette des Doms ragte in den Nachthimmel, das Panorama war selbst zu dieser Uhrzeit noch immer ein fantastischer Anblick, auch wenn jetzt natürlich nicht mehr allzu viele Lichter an den Promenaden leuchteten. Wagner war zwar ein „Immi“, wie die Kölner die Zugezogenen betitelten, fühlte sich aber nach all den Jahren, die er nun schon in der Stadt am Rhein wohnte, als Kölner. Die Nacht war wieder klar – vor ein paar Nächten hatte es im nahe gelegenen Bergischen Land schon den ersten Frost gegeben, obwohl der September angeblich der wärmste, seit Beginn der Wetteraufzeichnungen gewesen war. Nach einer etwas kühleren Woche, drehte der Altweibersommer aber noch einmal so richtig auf und Wagner hoffte, dass ihnen nun ein ebenso warmer Oktober bevorstand wie im vergangenen Jahr, denn er war manchmal eine richtige „Frostbeule“. Wenigstens hatte sich der nächtliche Einsatz gelohnt. Sie waren einem Tipp nachgegangen, wo sich die beiden Hauptverdächtigen einer größeren Einbruchserie treffen wollten und die kurzfristige Koordination mit den Kollegen der Wache drei in Ehrenfeld hatte zum Glück geklappt wie am Schnürchen. Und so hatten sie die beiden Vögel tatsächlich auf frischer Tat ertappt. Er schaute zu seiner Kollegin hinüber. „Auch eins?“ hielt er ihr kauend die Packung hin. „Lieber nicht“, war die Antwort. „Das süße Zeug bleibt mir grundsätzlich in den Zähnen hängen und nervt mich dann noch Stunden lang.“ Gülsen schüttelte lächelnd den Kopf. „Stehst Du auf das süße Zeug, oder was?“ „Ich hab den ganzen Tag so gut wie nichts gegessen und mein Blutzuckerspiegel ist im Keller. Da kann ich ziemlich ungemütlich werden“ verteidigte Daniel sich. „Na, dann war es ja gut, dass Du die Dinger nicht schon vor zwei Stunden gelutscht hast“, spielte Gülsen jetzt auf ihre Aktion im Industriegebiet im Kölner Westen an. „Mit einer ‘Kuschelnummer’ wären wir vermutlich nicht ganz so weit gekommen.“ „Der knallharte Bulle passt eben zu mir“ meinte Wagner jetzt grinsend „Und abgesehen davon, Kompliment, Du warst auch nicht schlecht.“ Alles in allem war sie sogar richtig gut gewesen, wie er jetzt, wenn er die vergangenen Stunden Revue passieren ließ, feststellen musste. Er war zunächst nämlich nicht gerade vor Freude an die Decke gesprungen, als die junge Kollegin ihrem Team vor einigen Wochen zugeteilt wurde. Im Kollegenkreis galt sie als zu ehrgeizig und daher eher unkollegial. Das machte ihm nichts aus, er wusste, was die Kollegen hinter seinem Rücken über ihn redeten. Sie hatte eine Zeit lang im Team von Kadir Toprak gearbeitet. Wagner konnte Toprak nicht ausstehen. In seinen Augen war Toprak ein totaler Machotyp, der lieber andere für sich arbeiten ließ, aber selbst gern die Lorbeeren einsammelte. „Ein kleiner arroganter Scheißer ohne Hirn“ war er ihn sogar einmal bei einer Besprechung angegangen. Das hatte einen ziemlichen Wirbel verursacht und war beinahe in einer echten Prügelei ausgeartet. Wagner hatte dieser Vorfall noch Wochen später geärgert. Zum einen, weil es wirklich nicht seine Art war, sich mit unfähigen Kollegen anzulegen, in der Regel hielt er sich eigentlich lieber im Hintergrund. Zum anderen, weil sein Vorgesetzter von ihm verlangt hatte, sich vor versammelter Mannschaft zu entschuldigen. Was er natürlich tagelang verweigert hatte, warum auch? Wenn er so recht darüber nachdachte, fielen ihm zu diesem speziellen Kollegen noch ganz andere Dinge ein. Seiner Meinung nach, hatte jemand wie Toprak überhaupt nichts im Polizeidienst verloren. Und seine negative Einstellung Minderheiten gegenüber, vorzugsweise Homosexuelle, gerne Russen, war ein offenes Geheimnis. Doch der Chef hatte Druck gemacht, denn Toprak selbst war doch tatsächlich mit Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeitsvorwürfen gekommen, war das zu glauben. Und so hatte er dann zähneknirschend um Verzeihung gebeten.

Gülsen musste also zumindest über ein ziemlich dickes Fell und viel Geduld verfügen, wenn sie es mit diesem Menschen ausgehalten hatte. Den Gerüchten, sie und Toprak hätten ein mehr als nur berufliches Verhältnis, schenkte er keinen Glauben. Er hatte Toprak selbst in Verdacht, das Gerücht in die Welt gesetzt zu haben. Und wenn er ganz ehrlich war, wollte er diesem Gerücht auch keinen Glauben schenken. Denn die bildhübsche Kollegin hatte es ihm irgendwie angetan. Nicht dass er sich auf eine Liasion mit einer Kollegin eingelassen hätte. Natürlich waren Beziehungen unter Kollegen nicht so gern gesehen, aber es gab sie, das war nun wirklich kein Geheimnis.

Nun hatte ihm die Dermici in den vergangenen Wochen bewiesen, dass sie es im Job wirklich drauf hatte und so hatte er zumindest beruflich keine Einwände gehabt, mit ihr vorläufig ein Zweier-Team zu bilden, obwohl er eigentlich in der Regel lieber allein arbeitete. Privat musste er sich sozusagen ein wenig zusammenreißen, aber das musste ja niemand wissen.

„Halb zwei“ gähnte Gülsen jetzt. Der Bericht hat doch wohl Zeit bis zum Montag, oder?“ Wagner verspürte auch wenig Lust, sich mitten in der Nacht mit dem Papierkram zu beschäftigen „Klar, hat es. Wo wohnst Du, soll ich Dich nach Hause fahren?“, fragte er jetzt, obwohl er wusste, dass sie etwas außerhalb wohnte. „Nein Danke“, kam es auch prompt von der Beifahrerseite. „Ich wohne in Refrath, was ja nun wirklich nicht auf Deinem Weg liegen dürfte. Und außerdem bin ich mit dem Auto da“.

Im Wagen vor ihnen konnten sie den Fahrer telefonieren sehen. „Sollen wir mal den Umstand ausnutzen, dass wir in voller Montur in einem richtigen Bullenfahrzeug unterwegs sind?“ Daniel sah wieder zu ihr hinüber. Er hasste es, wenn die Leute während der Fahrt telefonierten, SMS schrieben oder Mails beantworteten, oder – immer beliebter – ihre Navigationsgeräte erst während der Fahrt programmierten. Er war sich sicher, dass die Zunahme der Verkehrsunfälle in den vergangenen Jahren in direktem Zusammenhang mit der Zunahme der technischen Spielzeuge standen, ohne die, zumindest in den Augen seiner jüngeren Landsleute, das Leben nicht vorstellbar war. Und die sozusagen Tag und Nacht online waren. Zu oft hatte er die Folgen gesehen, die nur wenige Sekunden Unaufmerksamkeit kosteten. Und die Lernresistenz seiner Mitmenschen diesbezüglich brachte in mittlerweile ziemlich schnell auf die Palme. Gülsen zuckte mit den Schultern. Sie wusste inzwischen, dass das Thema ein „rotes Tuch“ für Daniel Wagner war und außerdem, in ihrem Team war er der Boss. „Riesenkarre und zu geizig für eine Freisprechanlage“, sagte der jetzt gerade. „Das sind mir ohnehin die Liebsten. Na hoffentlich war das Gespräch wenigstens wichtig!“ Er zwinkerte ihr zu und schaltete für einen Moment das Blaulicht ein. Während er hinter dem SUV langsam rechts ran fuhr, tippte Gülsen bereits das Kennzeichen zur Überprüfung ein. Der Besitzer gehörte offenbar zu den „Unbelehrbaren“, bereits zweimal war er in diesem Jahr wegen Telefonierens am Steuer verwarnt worden. Außerdem mehrfach wegen Falschparkens und wegen einer Geschwindigkeitsübertretung in der Innenstadt, die Punkte gekostet hatte. Daniel war bereits an die Fahrerseite des SUV getreten und überprüfte die Papiere des Fahrers. „Kopa ceneni Salak, lass mich weiterfahren“ schallte es wütend aus dem Wagen. Gülsen beschloss, die Beamtenbeleidigung nicht zu übersetzen, sie wollte endlich Feierabend machen. Doch Kollege Wagner war wieder einmal für eine Überraschung gut. „Na, na, wir wollen doch nicht noch Beamtenbeleidigung dazu kommen lassen, oder? Halten Sie mal besser die Klappe, sonst werde ich etwas ungemütlich“, sagte er in ruhigem Ton zu dem aufgebrachten türkischen Mitbürger, der die Zähne zusammenbiss und ebenso überrascht wie Gülsen schien, dass der deutsche Polizist neben ihm des Türkischen mächtig war.

„Hab ein paar Kurse gemacht“, war Daniels Kommentar dazu als sie wenig später beim Polizeirevier fünf in Deutz ankamen. „Dachte mir, das könnte in Köln nicht schaden“. Er stieg aus dem Auto und reckte sich gähnend. „Dann bis Montag in alter Frische und gute Nacht“ und schon war er um die Ecke verschwunden. Gülsen tappte zu ihrem eigenen Wagen. Tja, gegen ein Feierabendbier mit dem Kollegen hätte sie nichts gehabt. Aber um diese Uhrzeit gab die Umgebung nicht mehr viel her und Fahren musste sie ja auch noch. Und der Kollege hatte es ja offensichtlich eilig gehabt, wegzukommen. „Dumme Pute“ schalt sie sich selbst beim Einsteigen. Einer wie der Wagner hat mit Sicherheit an jeder Hand fünf Groupies, was soll der mit einer zu klein geratenen Türkin? Zwanzig Minuten später schleppte sie sich die zwei Stockwerke in ihre Wohnung hinauf. „Ich bin ohnehin total fertig“ murmelte sie und freute sich auf ihr Bett.

Wo sie sich dann noch fast eine Stunde hin und her wälzte. Was sie dem Einsatz zuschrieb. Nicht etwa dass sie das unwiderstehliche Lächeln des Kollegen um den Schlaf brachte.

12-10-Sonntag

Der Taxifahrer lud grinsend die beiden eleganten Trolleys aus dem Kofferraum und stellte sie auf den Bürgersteig. Der Fahrgast drückte ihm zwei Scheine in die Hand. „Stimmt so“. Dann schnappte er sich die Trolleys und folgte seiner Frau, die bereits die Haustür aufschloss und für so profane Dinge wie Zahlen oder Gepäck nicht zuständig zu sein schien. London war anscheinend das Ziel des Wochenendtrips gewesen. Grundgütiger, dabei hatten die beiden mehr Gepäck dabei gehabt, als seine Frau für vierzehn Tage Türkei packte, und das war eine Kunst! Um Kunst und Kultur war es anscheinend auch in London gegangen. Man hatte sich auf der Fahrt vom Flughafen bis zur Haustür darüber ausgetauscht. Zumindest nahm er an, dass es darum gegangen war, er hatte nur die Hälfte des Geplappers von der Rückbank verstanden, dass seine nobel gekleideten Fahrgäste von sich gegeben hatten. Das Trinkgeld war anständig, immerhin. Gerade die Leute, die es sich leisten konnten, gaben in der Regel am wenigsten. „Die wissen eben, wie sie ihre Kohle zusammenhalten. Deswegen haben sie auch so viel davon“, pflegte seine Angetraute zu sagen, wenn er sich wieder einmal darüber beschwerte, wie man von so manchem Zeitgenossen heutzutage behandelt wurde. ‘Schön unterkühlt und niemals aus der Rolle fallen, auch so zwei Kandidaten’, dachte er, als er davon fuhr. Wäre er noch ein paar Minuten stehen geblieben, er wäre eines Besseren belehrt worden.

Elke Bertram merkte schon beim Betreten der Wohnung, dass etwas nicht in Ordnung war. Ein Blick durch den großzügigen, offenen Wohn- und Essbereich genügte um sehen, dass da etwas fehlte. Da konnte man natürlich schon mal die Contenance verlieren. Manfred Bertram rief die Polizei, während seine Frau die erste Bestandsaufnahme machte. Zeternd, heulend, fluchend. „Es geht gar nicht um die Wertgegenstände“, erklärte sie Giovanni Bianchi, dem Beamten, der als erster am Tatort eintraf. „Es ist wie ein persönlicher Übergriff, verstehen Sie, so…so“, sie wusste nicht, wie sie es beschreiben sollte. „Ich fühle mich irgendwie beschmutzt“. Bianchi nickte, er wusste, was gemeint war. Auf den ersten Blick schien ‘nur’ die teure Elektronik zu fehlen. Der zweite Blick offenbarte, was Frau Bertram eigentlich erschütterte. Die Diebe hatten alle Schränke und Schubladen geöffnet und teilweise durchwühlt. Wenn auch alles wieder verschlossen wurde, gesehen und angefasst wurde trotzdem, was höchst privat war. Bianchi sah sich um. Schicke Hütte, der Bruch hatte sich auf jeden Fall gelohnt. Frau Bertram wollte für ein paar Tage ins Hotel. Ihre Nerven würden das im Moment nicht verkraften. Herr Bertram flatterte um sie herum und versuchte sie zu beruhigen. Hotel hin, Wohnung her, Bianchi bat sie, ihm mitzuteilen, wo immer sie sich aufhalten würden. Elke Bertram sah ihn an, wie ein Wesen von einem anderen Stern und murmelte etwas von wegen ‘keine Ruhe finden’ und ‘auf den Nerven herum trampeln’. Bertram warf ihm einen entschuldigenden Blick über ihren Kopf hinweg zu.

Bianchi wurde von einer plötzlichen Unruhe vor der Wohnungstür abgelenkt. Eine gutgekleidete Dame, die er auf Mitte sechzig schätzte, stand im Hausflur und schien reichlich aufgeregt darüber zu sein, dass nebenan niemand öffnete. Ramon Sanchez, der Kollege der SpuSi, der gerade mit der Eingangstür der Bertrams beschäftigt war, rief Bianchi zu sich und deutete verstohlen auf die Frau. „Sie war mit Ihrer Tochter verabredet und hat sie schon mehrfach erfolglos versucht telefonisch zu erreichen“, erklärte er Bianchi mit einem kurzen Seitenblick auf die Dame, die nun ihr Handy ans Ohr hielt. Sekunden später waren leise, melodische Klänge aus der Wohnung zu vernehmen. „Da stimmt etwas nicht“, jetzt wurde die Dame etwas hysterisch. „Melanie würde niemals im Leben ihr Handy zu Hause liegen lassen“. Diese Aussage konnte Bianchi nachvollziehen. Er selbst hatte längst das Gefühl, dass sein pubertierender Nachwuchs die Geräte absorbiert haben musste. Man würde seine Tochter in der Tat eher ohne Socken in einem Schneetreiben im Dezember antreffen, als ohne Handy. Sanchez zeigte auf die andere Eingangstür. „Ich will es nicht beschwören, aber ich fürchte, diese Wohnung hier ist nicht die einzige, in die eingebrochen wurde“. „Einen Schlüssel haben Sie nicht?“ fragte Bianchi die Dame. „Doch aber nicht dabei. Der Schlüssel liegt zu Hause“. „Soll Sie der Kollege eben nach Hause fahren? Dann hätten wir doch eventuell schnell geklärt, wo sich Ihre Tochter aufhält“. „Oh, würden Sie das tun? Das wäre sehr freundlich, ich wohne auch nur ein paar Straßen weiter“. Bianchi rief einen jungen Kollegen aus der Bertram-Wohnung und bat ihn, sich um die ältere Dame zu kümmern. Elke Bertram bekam fast einen Anfall. „Was soll das jetzt? Sind wir hier nur Statisten? Schauen Sie sich unsere Wohnung an, ist ja nicht so wichtig für Sie, oder was?“ Bianchi versuchte sie zu beruhigen. Etwas später war der junge Kollege mit Dagmar Hartmann, wie sich die ältere Dame ausgewiesen hatte, wieder zurück. Bianchi ignorierte das Gezeter der Bertrams und schloss selbst die Eingangstür auf. Melanie Hartmann stand auf dem Klingelschild. Ihm genügte nur ein Spalt breit der geöffneten Tür und er wusste, dass Melanie Hartmann ihr Handy nie wieder benutzen würde. Und auch sonst nichts, was ihr im Leben lieb gewesen war. Der Geruch war für ihn unverkennbar und er bat die Mutter, mit dem Kollegen vor der Tür zu warten. Er betrat die Wohnung zunächst allein und fand die Gesuchte leblos im Wohnbereich. Er griff zum Handy. Hier war Verstärkung von Nöten. Der angeforderte Notarzt kümmerte sich zunächst um die Mutter, die einen Zusammenbruch erlitten hatte, als sie Bianchi, entgegen dessen Anweisung, umgehend in die Wohnung gefolgt war. Wenigstens hielt Elke Bertram jetzt endlich die Klappe. Bianchi hatte vom Ehemann die knappe Info erhalten, man ginge jetzt ins Hyatt. Prima, die Frau war ihm langsam aber sicher entschieden auf die Nerven gegangen.

Er war froh, als die Kollegen Schiller und Neugebauer der Abteilung ‘MOTO’ eintrafen. Wobei sich natürlich noch klären musste, um welche Art von Mord und Totschlag es sich hier überhaupt handelte. Auch Monika Baldus von der Spurensicherung forderte Verstärkung an. Die Nachbarwohnung war teilweise wesentlich durchwühlter, Fernseher und HiFi-Anlage waren weg. Was sonst noch fehlte, musste geklärt werden. Die Mutter war nicht vernehmungsfähig. Vor der Tür hatte sich eine kleine Traube neugieriger Nachbarn eingefunden, die zwischen den Einsatzfahrzeugen hin und her liefen und hoffte, so etwas mitzubekommen vom Geschehen. Etwas später hatte auch Bianchis Teamkollege Kamper seinen freien Tag drangegeben. Sie beschlossen, mit den ersten Zeugenbefragungen unverzüglich zu starten.

„Die Leiche wird erst abtransportiert, wenn draußen wieder etwas Ruhe herrscht“. Schiller hatte einen Blick auf die ‘Zirkusveranstaltung vor der Tür’ geworfen und wandte sich an Sanchez. „Wie sind die Diebe überhaupt reingekommen?“ „Das muss noch geklärt werden. Ich finde im Moment weder Spuren an der Haustür, noch an der Hintertür zum Garten. Wenn ihr die Vernehmungen hier im Haus startet, fragt mal wie das mit dem Abschließen der Türen so gehandhabt wird. Wobei beide Türen ein Sicherheitsschnappschloss haben. Da braucht man einen Schlüssel “.Manfred Schiller ging die Treppe hinunter, betrat den Garten und blickte sich um. Hinter ihm erschien sein Kollege Yannik Neugebauer. „Und, was meinst Du? Spekulieren wir mal ein bisschen wild herum?“ Schiller blickte zum hinteren Gartentürchen. „Lass uns mal schauen, was dahinter ist.“ Sie betrachteten versonnen den kleinen Weg, der den Garten von den Schrebergärten trennte. An der Ecke waren Reifenspuren zu erkennen, eine leere Bierflasche lag unter der Hecke. „Tja, wenn ich spekulieren sollte, würde ich sagen, die kamen durch die Hintertür. Die haben hier geparkt, alles durch den Garten abtransportiert und tschüss“. „Macht Sinn“, Neugebauer nickte. „War aber verdammt dunkel, oder?“ „Nicht unbedingt. Mittwoch hatten wir Vollmond, er muss also am Samstag noch relativ rund gewesen sein, das Licht hätte ausgereicht.“ Schiller war sich dabei sicher, denn er gehörte zu den Menschen, die bei Vollmond ‘schlaflos in Köln’ waren. „Stimmt – und die letzten Nächte waren sternenklar“. Schiller sah die Bewegung aus den Augenwinkeln, drehte sich schnell zum den Schrebergärten um und blickte angestrengt auf die Hecke. Da war es wieder! „Entschuldigen Sie, hallo! Hallo!“ rief er über die Hecke. „Siehst Du schon Gespenster?“ Schiller drehte sich um. „Nein, ich bin sicher, da stand gerade jemand hinter der Hecke“. „Das haben wir gleich“ Neugebauer ging ein paar Meter weiter zu einer halbhohen Gartentür und spähte darüber. „Polizei“ rief er plötzlich laut in seinem autoritärsten Ton. „Kommen Sie bitte zu uns heraus. Wir haben ein paar Fragen“, fügte er wesentlich freundlicher hinzu. Nur wenig später öffnete sich die Gartentür und ein junger Mann, in mehreren Schichten Kleidung, die nicht unbedingt zusammenpasste, stand ängstlich vor ihnen. „Ich nehme mal an, dass Sie nicht der Besitzer dieses Schrebergartens sind“, versuchte Schiller es freundlich. Der Obdachlose sagte nichts und starrte auf seine Schuhe. „Okay, wir sind nicht hier um Einbrüche in Schrebergärten zu untersuchen“. „Dat Türchen war offen, ich bin nicht eingebrochen“, jetzt kam etwas Leben in den jungen Mann. „Na, umso besser für Sie. Haben Sie hier übernachtet?“ „Ja, das kleine Gartenhäuschen war auch nicht abgeschlossen und da ist es gemütlich bei der Jahreszeit und man hat seine Ruhe“. „Hmmh, und Sie haben vergangene Nacht nicht zufällig etwas gesehen oder gehört?“ Der junge Mann machte unschlüssig ein paar Schritte nach hinten. Neugebauer folgte ihm sozusagen auf den Fuß. Der Obdachlose erkannte, dass er aus dieser Nummer wohl nicht so schnell herauskommen würde und es für ihn besser war, sich etwas kooperativer zu zeigen. „Einen blauen Wagen habe ich gesehen“, murmelte er dann. „Wann war das?“ „Na gestern Abend. Die Leute da drüben haben ‘ne Grillparty gefeiert. Einen Höllenlärm haben die veranstaltet. Kaum schlafen konnte man dabei“. Schiller und Neugebauer sahen sich amüsiert an. „Und wo war der blaue Wagen?“ „Na, hier hat der gestanden“ war die Antwort und der Obdachlose zeigte auf die Stelle, die Schiller wegen der Reifenspuren bereits in Augenschein genommen hatte. „Hab erst gedacht, die wär’ n da zum Poppen, Sie wissen schon“, er lachte anzüglich und die Beamten hatten einen hervorragenden Blick auf zwei, drei schwarze und mindestens zwei fehlenden Zähne. „Und?“ „Und was?“ „Waren die hier zum, was auch immer?“ „Keine Ahnung, die sind dann ja auch abgehauen“. „Wann war das denn?“ „Keine Ahnung. Kurze Zeit später war da drüben ja auch endlich Ruhe“. „Hmmh, und sonst noch was?“ „Naja, die sind dann später nochmal wieder gekommen“. „Was? Wann?“ „Keine Ahnung, ich hab gepennt. Bin nur aufgewacht, weil der Idiot Probleme hatte, den Wagen anzukriegen. Da wollte ich mal Bescheid sagen und bin raus. Hab dann aber nur noch die Rücklichter gesehen. Bin aber sicher, dass es derselbe Wagen war“. Schiller und Neugebauer sahen sich skeptisch an. „Tatsächlich, wieso das denn?“ „Naja, weil’ s doch wieder so’ n blauer alter Corsa war und wegen dem Kennzeichen“. „Sie haben sich das Kennzeichen gemerkt?“ Schiller starrte den Obdachlosen sprachlos an, Neugebauer zückte bereits den Kugelschreiber. „Nö, nicht so genau. Hab mir nur gedacht ‘guck mal, was wollen die denn hier?“ „Wie jetzt?“ Neugebauer ließ Block und Kugelschreiber sinken und sah Schiller ratlos an. Der tippte sich an den Kopf. „Guck mal, verstehen Sie, K – UK, Guck!“ Jetzt war auch bei den beiden Beamten der Groschen gefallen. Sie mussten sich das Lachen verkneifen. „Okay, der Kollege nimmt jetzt Ihre Personalien und Ihre Aussage auf, ich sag schon mal herzlichen Dank. Und besorgen Sie sich für die Zukunft einen anderen Schlafplatz“. Der Obdachlose stöhnte auf und gab Yannik die gewünschten Auskünfte. Verdammt, er hätte in der Hütte bleiben sollen. Jetzt war der beste Platz seit Jahren dahin, denn in nächster Zeit konnte er die Gartenhütte mit Sicherheit vergessen.

„Was meinst Du dazu?“ fragte Yannik seinen Kollegen später. Sie hatten die Nachbarn im Haus angetroffen und befragt. Tatsächlich konnte anhand der Party die Tatzeit etwas eingegrenzt werden. Am nächsten Tag musste natürlich die gesamte Nachbarschaft befragt werden. Ob hier etwas Nützliches dabei war, würde sich noch herausstellen. Der beste Hinweis schien im Moment tatsächlich noch die Aussage eines, zur Tatzeit vermutlich nicht gerade nüchternen, Obdachlosen zu sein. „Keine Ahnung“, Schiller zuckte mit den Schultern. „Passt aber erst mal zu unserer Idee, dass die Sache über den Garten gelaufen ist. Überprüfen müssen wir’ s. Vielleicht haben wir ja Glück“. Yannik nickte leicht verdrießlich. Dabei hatte der Sonntag so gut angefangen.

Als sie zurück zum Einsatzfahrzeug gingen, waren bereits die ersten Reporter eingetroffen. Schiller stöhnte. Die schienen wirklich einen Radar zu haben. Er hatte in letzter Zeit mit diesem sogenannten ‘ Investigativen Journalismus’ seine Probleme. Hin und wieder beschlich ihn nämlich der Verdacht, die Herrschaften der Presse hielten sich für die besseren Ermittler. Wobei es selbstverständlich in erster Linie um satte Schlagzeilen und die entsprechend satte Auflage ging. Und die Geschwindigkeit, mit der jeder unbedingt der erste auf dem Markt sein wollte, leider der Wahrheit in der Regel im Wege stand. Die schnöden Tatsachen blieben auf der Strecke. So manche Ermittlung war ihnen dadurch schon zäh wie Kaugummi geraten, weil die geneigte Journaille ihre Spekulationen bereits dergestalt schlagzeilenträchtig unter’ s Volk gebracht hatte, dass eine unvoreingenommene Aufklärung der eigentlichen Umstände kaum noch möglich war. Hin und wieder war es wirklich zum Verzweifeln und Schiller hatte langsam die Nase voll von dem gesamten Berufsstand. Selbst privat neigte er mittlerweile dazu, seine Fußball-Konferenz-Sendung am Samstagnachmittag ohne Ton zu genießen und dabei lieber das Radio laufen zu lassen. Er konnte das Geplapper der Moderatoren einfach nicht mehr ertragen. Wenn man genau darauf achtete, beschlich einen das Gefühl, dass weite Teile der Sendungen nur noch aus einer unendlichen Kette von aneinander gereihten Spekulationen und Mutmaßungen bestand. Spielten die Interviewpartner nicht mit, wurde ihnen, noch vor laufender Kamera, das Wort im Munde herum gedreht oder sie wurden schnellstens abgewürgt. Und kaum war die Liga überhaupt gestartet, spielten die üblichen Verdächtigen bereits ständig gegen den Abstieg.

„Kein Kommentar“, brummte er daher und schob einen besonders eifrigen jungen Mann samt Ausrüstung zur Seite und stieg zügig in den Wagen. Auch Neugebauer war bereits bedient. „Super, mal sehen, wer die Sache schneller aufklärt. Die oder wir. Es werden noch Wetten angenommen“, er grinste spöttisch. Schiller fand das schon lange nicht mehr zum Lachen und enthielt sich jeden Kommentares.

13-10-Montag

Die Schlagzeile schrie einem schon beim Bäcker förmlich an und trotz Mini-Balken über den Augen wurde die ‘bildhübsche Melanie H. (34)’ von Ihren Freunden und Bekannten, Kollegen und Mitarbeitern problemlos erkannt. Die Firma brummte dementsprechend wie ein Bienenstock. Dr. Sebastian Wulff informierte auch dieses Mal die entsprechende Abteilung, nachdem er von Dagmar Hartmann gegen Mittag angerufen wurde und dachte ernsthaft darüber nach, ein paar Tage Urlaub zunehmen. Selbst in der Zentrale in Hannover konnte man es kaum glauben. ‘Wahrscheinlich ziehen die externen Bewerber ihre Bewerbung für den Posten des Resortleiters noch zurück, weil sie die Todesfall-Quote für leitende Posten in Köln für zu hoch halten’ dachte Wulff zynisch.

Sie mussten auf jeden Fall ein oder zwei Mitarbeiter aus anderen Abteilungen abziehen und die Resorts vorläufig umstrukturieren. Wulff hatte das Gefühl, in den vergangenen Tagen mehr Zeit im fünften Stock verbracht zu haben, als in den zehn Jahren zuvor. Vor dem Hauptportal lungerten die ersten Reporter herum. Frau Rathmöller machte ihn darauf aufmerksam, dass man den Mitarbeitern vielleicht nahe legen sollte, diesbezüglichen ‘Gesprächsanfragen’ unbedingt aus dem Wege zu gehen. „Schicken Sie eine Mail an alle Mitarbeiter, sie sollen sich bitte unbedingt von Reportern fernhalten“, stimmte er der Sekretärin zu und war dankbar für ihre Umsicht. Daran hatte er nun wirklich noch keinen Gedanken verschwendet. Bislang wurde aber zum Glück ja auch noch nie ein Mitarbeiter ermordet. Aber man konnte natürlich nicht wissen, was die Presse aus den Antworten der Kollegen machen würde und auf schlechte Presse in Verbindung mit einem Mord und den entsprechenden Ärger mit der Zentrale, konnte er wirklich verzichten. „Schicken Sie mir umgehend die Herren Schneider und Schumann nach oben“, wies Wulff seine Sekretärin an. ‘Und buchen Sie mir einen Platz nach Bali, one way’, fügte er in Gedanken hinzu.

Auch bei der Kripo Köln brummte es wie in einem Bienenstock. Die Konstellation der Verbrechen war aber auch zu seltsam. Zwei Einbrüche – ein Mord. Die ermittelnden Kollegen waren nicht zu beneiden. Schiller und Neugebauer beschäftigten sich zunächst mit dem Papierkram und dann mit ihrem Chef. Der hatte bereits die entsprechenden ‘Anfragen’ höherer Stellen erhalten, konnte aber lediglich mitteilen, das die Angelegenheit ‘mit Vehemenz und Konsequenz und selbstverständlich absoluter Priorität’ in seiner Dienststelle in Angriff genommen würde. Selbstverständlich mangelte es weder an ‘guten Tipps’ noch dem üblichen Druck. Aber Gerd Kramer kannte das. Er ließ sich nicht mehr aus der Ruhe bringen. Früher war er regelmäßig in die Luft gegangen und hatte sich lautstark über ‘diese Sesselpupser’ aufgeregt. Heutzutage war er ruhiger und diplomatischer. Man würde tun, was zu tun war. Er hatte clevere und engagierte Mitarbeiter. Amüsiert hörte er sich an, was die Befragung des Obdachlosen ergeben hatte. „Und, was denkt Ihr? Kam Euch das Ganze glaubhaft vor oder wollte der sich wichtigmachen?“ „Ich denke, da könnte was dran sein. Der Typ hatte ziemlich viel Schiss, er wusste ja, dass wir ihn im Grunde genommen dran kriegen können, weil er in der Gartenhütte gepennt hat. Aber klar, er war nicht nüchtern und ‘ne Uhr hatte er auch nicht“. „Aber unsere Befragung der Nachbarn im Haus grenzt die Tatzeit schon ein bisschen ein, denn die haben wegen des Partylärms auch nicht schlafen können und haben das Partyende mit ‘kurz vor zwölf’ angegeben. Wir werden nachher noch die ganze Nachbarschaft abklappern. Möglicherweise ist ja irgendjemand irgendetwas aufgefallen.“ Yannik kratzte sich am Kopf und blätterte in seinen Notizen. „Wollt ihr Euch diesen Obdachlosen noch einmal vornehmen?“ „Mal sehen, was sich nachher ergibt“. Schiller gab zu bedenken, dass es vermutlich schwierig sein würde, den jungen Mann auf Anhieb wiederzufinden. „In den Schrebergärten hält der sich garantiert so schnell nicht wieder auf“. „Was gibt’s von der SpuSi?“ „Sind noch mitten in der Auswertung“, Yannik klang zuversichtlich. „Wir haben zwar weder Laptop noch einen Computer, aber wir haben das Smartphone! Da sollten wir einen guten Überblick bekommen über Freunde, Interessen, vielleicht sogar ein gewisses Bewegungsprofil“. Kramer nickte. „Herr Bertram, unser Einbruchsopfer ist heute Morgen schon früh in der Wohnung gewesen und hat uns eine komplette Aufstellung der gestohlenen Gegenstände gemacht. Wir fahren jetzt als erstes ins Hyatt und befragen das Paar noch einmal gründlich“. „Hyatt ?“ „Ja, die wollten erst mal ein paar Nächte ins Hotel. Und wir müssen klären, ob es wirklich Zufall war, dass der Raub ausgerechnet an dem Wochenende durchgeführt wurde, als sich die beiden in London aufhielten. Und wir müssen die Schlüsselfrage klären“. „Wieso, es war doch ein ganz normaler Einbruch, oder?“ „Ja und nein. Es fanden sich zwar deutliche Spuren an der Wohnungstür des Mordopfers. Weniger deutlich waren die Spuren bei den Bertrams. Und wie die oder der Täter ins Haus gekommen sind, ist den Kollegen der SpuSi ein Rätsel. Sanchez vermutet, ebenso wie wir, dass die durch den Garten gekommen sind. Nur war die Hintertür ‘ ziemlich unversehrt’“. Schiller machte sich eine Notiz und blickte stirnrunzelnd aus dem Fenster. „Wie auch immer, legen wir los! Kamper und Bianchi sind schon mit der Kennzeichenprüfung zugange und können nachher gleich mit der Liste der gestohlenen Gegenstände weitermachen“. Yannik stand auf und streckte sich. „Toprak sollte dann bitte gleich mal bei seinen ‘speziellen Freunden’ anklopfen, vielleicht ist ja durch Zufall bereits eine teure HiFi-Anlage aufgetaucht“, auch Gerd Kramer erhob sich. „Wir sprechen uns später, Leute. Viel Erfolg!“ „Alles klar“, Schiller hatte bereits seine Jacke an und war auf der Suche nach den Autoschlüsseln. Der Kaffee im Hyatt war der Brühe ihrer alten Kaffeemaschine in jedem Fall vorzuziehen. Und einen guten Kaffee konnte er jetzt wirklich vertragen.

Nicht nur der Kaffee war unvergleichlich besser. Der Ausblick auf das Rheinufer, die Hohenzollernbrücke und den Dom war es in jedem Falle auch. Da konnte der triste Anblick auf den Innenhof des Präsidiums von ihren Bürofenstern nicht mithalten. Schiller lehnte sich zurück, schaute hin und wieder aus den großen Panoramafenstern und überließ Yannik die Befragung weitest gehend. Die Bertrams schienen sich vom ersten Schock über den Einbruch erholt zu haben, waren aber entsetzt über das Schicksal ‘der armen Melanie’. Sie gingen kurz die Liste der gestohlenen Gegenstände durch. Schlüssel zur Wohnung besaßen nur die Bertrams selbst und ihre Reinigungskraft, eine absolut zuverlässige Türkin namens Ayse Eroglu, die das Paar bereits seit vielen Jahren beschäftigte. Schiller notierte sich die Adresse und Telefonnummer der Frau. Der Hausmeisterservice, den die Eigentümergemeinschaft beschäftigte, hatte den Schlüssel für die Vordertür und die Hintertür des Hauses, aber selbstverständlich keine Wohnungsschlüssel. Bertrams schienen irritiert über die Fragen zu sein. Name, Adresse und Telefonnummer dieses Dienstleisters wurden ebenfalls notiert. Es gab eine Anzahl Menschen, die von den London-Plänen Kenntnis hatten. Freunde, Kollegen, ja, natürlich auch die Reinigungskraft. Dass hier aber jemand eine ‘günstige Gelegenheit’ ergriffen haben sollte, erschien den Bertrams mehr als nur weit hergeholt. Man bewege sich schließlich in ‘gewissen Kreisen’. Schiller verzog das Gesicht und schaute wieder aus dem Fenster. Schon klar, in diesen Kreisen raubte und mordete man wahrscheinlich gesellschaftlich akzeptiert und bequem vom Schreibtisch aus. Sie verabschiedeten sich schließlich von den Bertrams, die Melanie Hartmann nur flüchtig gekannt hatten. ‘Eine nette, angenehme junge Frau, es ist einfach unfassbar’. Schiller fotografierte die Liste und mailte alles an Kadir Toprak, mit der Bitte, sich möglichst bald mit der Reinigungskraft der Bertrams zu unterhalten. Denn es stand zu befürchten, dass perfektes Türkisch hier von Nöten war, da war Toprak einfach der bessere Mann für diese Vernehmung. Schließlich machten sich die beiden auf den Weg, die Nachbarschaft zu befragen.

14-10-Dienstag

„Ich habe uns mal einen leckeren Kaffee besorgt“, Daniel Wagner stellte die Kaffeebecher auf Gülsens Schreibtisch ab und zog die Jacke aus. Gülsen nahm vorsichtig einen Schluck, mmh, heiß und gut. „Ist Cappuccino okay?“ fragte Daniel sie jetzt, „ich war mir nicht sicher“. „Doch, doch, absolut. Herzlichen Dank. Und heiß ist er auch noch“. „Hat mich auch beinahe die Fingerkuppen gekostet“ Daniel grinste sie an. „Aber gern geschehen! Was liegt an?“ „Kramer scheint ein wenig – naja - erregt zu sein, wegen des Raubmords vom Samstag. Besprechung in einer halben Stunde“. „Wir auch?“ Daniel war erstaunt. „Sind da nicht Manfred, Yannik und die Zwillinge schon dran?“ „Ja, sind sie. Aber er hat vorhin einen Anruf von der Pauli persönlich bekommen und seitdem scheint er ein wenig aufgelöst zu sein….“, Gülsen zog vielsagend die Augenbrauen hoch. „Das wäre ich auch bei der Pauli“ flachste Daniel und bekam von Gülsen eine Packung Taschentücher an den Kopf geworfen. Aber auch Gülsen musste grinsen. Sie war mit Sicherheit nicht die Einzige, die sich Frau Dr. Maren Pauli-Siebenthaler eher bei einer Charity-Veranstaltung der Reichen und Schönen vorstellen konnte, als mit den Händen in den Eingeweiden ihrer mausetoten Klientel in der Gerichtsmedizin. Die Pauli, unterkühlt wie ihr Arbeitsplatz, doch überaus kompetent, gehörte zu den wenigen Menschen, die ihren Boss einschüchtern konnten. Ein Umstand, der ihr durchaus bewusst war und den sie mit Vorliebe einsetzte, wenn Kramer mal wieder zu ungeduldig wurde. „Hast Du schon mit den anderen gesprochen?“ fragte Daniel. „Nein, eigentlich weiß ich im Prinzip nicht viel mehr als das, was gestern in der Zeitung stand.“ „Klar, wie auch“ stimmte Daniel zu, nahm den Deckel von seinem Kaffebecher und warf ein Stück Zucker hinein. „Wir waren ja auch fast den ganzen Tag nur unterwegs.“

Dreißig Minuten später hatten sie sich alle im Besprechungsraum versammelt. Gerd Kramer schaute in die Runde. „Zunächst einmal Herzlichen Glückwunsch Euch beiden“, Kramer nickte Gülsen und Daniel zu. „Die Kollegen von der Drei sind noch immer ganz aus dem Häuschen, über Euren Erfolg vom Wochenende. Ich hoffe, Ihr habt die Sache nun so weit abgeschlossen und seid mit dem Papierkram durch?“. Daniel nickte. „ Gut, wir brauchen nämlich jeden Mann, ähm Frau“ sagte er mit einem Seitenblick auf Gülsen.

„Manfred, Yannik, seid ihr bitte so nett und bringt die Kollegen mal auf den aktuellen Stand?“ nickte er den beiden Ermittlern zu. Manfred Schiller, ein ruhiger und besonnener Mensch, konnte selbst komplizierteste Vorgänge kurz und prägnant schildern und war für seine präzisen Berichte bekannt. „Am Sonntagnachmittag wurden wir um kurz vor siebzehn Uhr zu einem Einbruch in die Marienstraße 12 in Rath, erster Stock, rechts, gerufen. Wir waren dabei, den Tatort wie üblich zu sichern, als wir an der Wohnungstür gegenüber, erster Stock links, ebenfalls Einbruchsspuren entdeckten. Vor der Tür berichtete uns eine besorgte ältere Dame, dass sie ihre Tochter seit dem Mittag telefonisch nicht erreichen kann und diese die Wohnungstüre auch nicht öffnen würde, man sei aber verabredet. Als wir uns wenig später in die Wohnung Eintritt verschafft hatten, fanden hier ebenfalls deutliche Hinweise auf einen Einbruch vor. Auf dem Fußboden im Wohnbereich entdeckten wir die Leiche der Eigentümerin, Melanie Hartmann, vierunddreißig Jahre alt. Todesursache vermutlich ein heftiger Schlag auf den Hinterkopf. Unsere Befragung in der Nachbarschaft hat bislang leider noch nicht allzu viel ergeben. Wir vermuten aber, dass die Einbrüche in der Nacht vom Samstag auf Sonntag zwischen zwei und drei Uhr stattgefunden haben. Ein Zeuge, der gestern befragt wurde, berichtete von einem Fahrzeug hinter dem Garten des Hauses, das ihm zur genannten Uhrzeit aufgefallen war. Er konnte uns sogar eine Beschreibung des Wagens geben und Teile des Kennzeichens nennen. Wir prüfen das gerade“. „Der Zeuge ist allerdings leider alles andere als zuverlässig“, meldete sich Yannik Neugebauer, sein junger Kollege jetzt zu Wort. „Es handelt sich um einen Obdachlosen, der gestern, im Zuge der Ermittlungen in der Schrebergartenkolonie hinter dem Wohnhaus in dem die Verbrechen stattfanden, angetroffen wurde.“„An dem Fahrzeug sind wir dran“, kam es jetzt von einem der Zwillinge, Bert Kamper. Natürlich waren Kamper und sein langjähriger Kollege Giovanni Bianchi keine Zwillinge. Der eine war lang und dürr wie eine Bohnenstange und der andere klein und dick wie ein Fässchen. Aber im Laufe der vielen Jahre, die die beiden nun schon zusammen arbeiteten, hatten sich so viele Ähnlichkeiten in Gestik und Mimik, sogar in ihrer Art zu sprechen eingeschlichen, dass sie eher wie ein altes Ehepaar wirkten. Und wo der eine war, tauchte der andere mit Sicherheit auch auf. Irgendwann hatte jemand ihnen dann den Spitznamen „die Zwillinge“ verpasst und dieser Name war hängengeblieben. Auch jetzt nickte Bianchi bestätigend zur Aussage des Kollegen.

„Okay jetzt muss natürlich das komplette „MoTo“ Team ran“, stellte Daniel nüchtern fest. ‘MoTo’ stand für Mord und Todschlag, die allgemeine Abkürzung ihrer Abteilung. „Nein“, ließ sich jetzt Gerd Kramers sonorer Bass vernehmen.“Vorhin hat mich Frau Dr. Pauli-Siebenthaler persönlich angerufen. „Melanie Hartmann ist offensichtlich nicht einem Raubmord zum Opfer gefallen. Zum Zeitpunkt des Einbruchs war Sie nämlich bereits seit vielen Stunden tot. Vergiftet, nach Angaben von Frau Dr. Pauli. Näheres erfahren wir, sobald die noch ausstehenden Testergebnisse vorliegen. In Anbetracht der Tatsachen haben diese forensischen Tests natürlich höchste Priorität, wie mir versichert wurde.“

Nach dieser Eröffnung war es ein paar Sekunden totenstill im Raum. Bis die Zwillinge gleichzeitig geräuschvoll ausatmeten, Yannik leise durch die Zähne pfiff und von Manfred Schiller einen leises „Verdammt!“ zu hören war. Dann redeten alle durcheinander. „Guter Gott“, sagte Daniel, „soll das heißen, die Typen haben eiskalt an der Leiche vorbei die Bude ausgeräumt?“. „Meine Güte“, auch Gülsen war einen Moment schockiert über so viel Skrupellosigkeit. „Wie bitter ist das denn.“ Gerd Kramer klopfte mit seinem Stift ein paar Mal auf den Tisch. So langsam beruhigten sich alle wieder. „Die Frage ist, wie gehen wir nun vor? Irgendwelche Vorschläge von Euch?“ Eine gute Stunde später hatten sich Gülsen und Daniel durch die ersten Berichte gearbeitet und waren auf dem Weg zur Wohnung des Opfers. Sie waren überein gekommen, dass es am besten sei, wenn die beiden einen Blick auf den Tatort werfen würden und nun, unter den völlig anderen Umständen wie bisher angenommen ein „frischer Blick“ wie Kramer es formulierte, nicht schaden könnte. Außerdem sollten Sie alle sich in der Wohnung befindlichen Unterlagen, eventuelle Briefe, Rechnungen und ähnliches mit zurück aufs Revier bringen.

Die Zwillinge sollten sich mit dem Team von Kadir Toprak kurzschließen und waren bis auf weiteres mit den Einbrüchen und der Suche nach dem Diebesgut beschäftigt und wie bereits begonnen, mit der Suche nach dem Fahrzeug. Eine vorläufige Liste der gestohlenen Gegenstände sollte an Pfandhäuser gehen und einschlägig bekannte Hehler sollten dazu befragt werde. Bei Mord zeigten sich die Herrschaften in der Regel etwas kooperativer. Gülsen und Daniel wollten der Mutter der Ermordeten einen Besuch abstatten und versuchen, eine genaue Beschreibung des Schmucks zu bekommen, laut Mutter Hartmann vererbter Familienschmuck, der bei der ersten Tatortsicherung in der Wohnung nicht sichergestellt werden konnte.

Außerdem musste der Obdachlose noch einmal vernommen werden. Manfred und Yannik waren einzig dem nun als separaten Mord eingestuften Fall zugeteilt, würden so wie Daniel und Gülsen das Umfeld der Toten „abklopfen“ und waren für die Koordination der beiden Fälle zuständig. Heute wollten sie sich mit der „Schlüsselfrage“ beschäftigen und dem Hausmeisterservice einen Besuch abstatten. Sie beschlossen sich, wie immer, möglichst mehrmals täglich kurz gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen, falls es doch eine Verbindung zwischen den Einbrüchen und dem Mord geben sollte, was man zum derzeitigen Zeitpunkt nicht komplett ausschließen konnte und wollte.

„Verdammt“, sagte Daniel auf dem Weg zur Marienstraße. „Samstag ist das passiert und heute ist schon Dienstag. Viel Zeit ins Land gegangen.“ Gülsen wusste, was er meinte und nickte. „Schauen wir uns erst einmal die Bude an und reden dann mit der Mutter?“ Daniel schaute fragend zu ihr hinüber. „Ja, ich denke, das wäre schon mal ein Anfang“ stimmte sie zu. „Dein erster Mord, oder?“ fragte Daniel jetzt.“Klar, davon haben wir zum Glück nicht so viele, wie man als Krimi-Fan meinen könnte. Ich glaube er waren gerade mal neun oder zehn im vergangenen Jahr. Okay, und die knapp dreißig Fälle, in denen der Versuch gescheitert ist. Aber wir haben alles aufgeklärt, also Kopf hoch, wir packen das!“ „Aber das hier ist doch schon ein bisschen schrill, oder?“ meinte Gülsen. „Ich meine, da brechen die in eine Wohnung ein und da liegt schon eine Leiche. Mensch, da wäre ich doch schneller verschwunden als der Schall“.

„Naja, bei der Masse an Einbruchsdelikten in unserer schönen Stadt, wer weiß. Wenn die das nicht zum ersten Mal gemacht haben, wovon ich im Übrigen ausgehe, werden die sich wahrscheinlich gedacht haben: ‘Prima, freie Bahn, die kann uns nicht stören’“. „Also bitte, wie zynisch“, Gülsen schüttelte angewidert den Kopf. „Wie auch immer, wenn die sich auskennen, werden die wissen, dass unsere Aufklärungsrate eher bescheiden ist und sie daher gute Chancen haben, ungeschoren davon zu kommen.“ „Unsern täglich Frust gib uns heute“, murmelte Gülsen das Gebet der Einbruchsdezernate. „Du sagst es“. Daniel bog jetzt in die ruhige Straße am Ortsrand ein und fuhr langsam um die großen Poller, die der Verkehrsberuhigung dienen sollte. „Schöne Wohnlage“, kommentierte er beim Einparken vor der gesuchten Hausnummer. „Auf ins Gefecht“ sagte er aufmunternd zu Gülsen und war schon ausgestiegen. In letzter Sekunde konnte er sich noch bremsen, Gülsen die Autotür aufzuhalten. Himmel, was trieb er denn da? Sie waren hier schließlich bei der Arbeit und nicht auf einem Ball. Er fand es zunehmend anstrengender, mit ihr den ganzen Tag auf engstem Raum zu arbeiten. Immer öfter ertappte er sich dabei, dass er mit seinen Gedanken völlig woanders war. Und heute hatte sie wieder dieses leicht blumig-frische Parfum aufgelegt und bei jeder ihrer Bewegungen hatte er diesen Duft in der Nase. Das machte ihn schon den ganzen Morgen verrückt. Dabei sah sie irgendwie ein wenig verunsichert aus, was wahrscheinlich am Fall lag. Vorhin hätte er ihr beim Fahren doch beinahe beruhigend das Knie getätschelt… Ohne Frage, er wollte sie berühren. Ständig. Und verdammt nochmal nicht nur am Knie. ‘Reiß dich zusammen’ ermahnte er sich an der Haustür energisch. ‘Du hast schließlich einen Mord aufzuklären’.

Gülsen blickte aus der Terrassentür hinaus in den kleinen Gemeinschaftsgarten des Hauses, der von einer sauber gestutzten, ca. 1,50 Meter hohen Hecke umgrenzt war. Hinter der Hecke konnte man von hier oben die Dächer einiger Gartenhütten sehen. Die Schrebergartenkolonie, in der sie den obdachlosen Zeugen gefunden hatten. ‘Ob die wohl einen Gärtner haben’ schoss es hier beim Anblick des gepflegten Rasens durch den Kopf. ‘Obwohl, viele Blumen gibt es ja nicht, nur zwei, drei wenig pflegeintensive Büsche und zwei Bäume, die aussahen wie Kirschbäume, da wird sich wohl ein Hausmeister kümmern’. Sie würden das natürlich überprüfen müssen, denn es musste in jedem Fall geklärt werden, wie viele Haustürschlüssel es eigentlich gab. Seufzend drehte sie sich wieder um und betrachtete das Wohnzimmer. Es war ein großzügiger, gut geschnittener Raum von beinahe 50 qm. Im hinteren Bereich wurde die offene Küchenzeile von einer halbhohen Theke abgeteilt vor der zwei Rattan-Barhocker standen, was dem Bereich eine leichte, fast spielerische Note gab. Die Küche war hochwertig und, wie sie bereits bei einem ersten kurzen Blick in die Schränke festgestellt hatte, hervorragend bestückt. Ein neuwertiger Herd mit Induktionsfeld, Granitplatten als Arbeits- und Thekenfläche, ein teurer Kaffeeautomat. Das hatte einiges gekostet. Melanie hatte wunderschönes Porzellan im Design-Stil besessen und die vielen Kochbücher und der Inhalt des Kühlschranks und der Schränke ließen darauf schließen, dass die Eigentümerin gern gekocht hatte. Für einen Lebensgefährten, für gute Freunde? Nirgends, weder im Bad noch im Schlafzimmer gab es Indizien dafür, dass die Tote einen Freund oder eine Freundin gehabt hatte. Zwischen Küchen- und Wohnbereich stand eine Essgruppe, bestehend aus einem großen, gebeiztem Tisch und vier wunderschönen, Rattan-Stühlen mit hohen Lehnen und mit dicken Polsterauflagen. Der Tisch hatte Verzierungen an den Beinen und umlaufend um die schwere Tischplatte, was antik und teuer aussah. Gülsen kannte sich nicht besonders gut aus, vermutete aber, dass dieser Tisch wahrscheinlich so viel gekostet hatte, wie ihre eigene komplette Wohnzimmereinrichtung eines familienfreundlichen schwedischen Möbelherstellers. Der Wohnbereich war ordentlich und eher „übersichtlich“ möbliert. Er bestand lediglich aus einer großen, behaglichen Sofaecke aus schwarzem Leder, dekoriert mit ein paar bunten Seidenkissen, einer Glasvitrine und einem schwarzen Regal mit Büchern und Nippes, sowie einer kleinen Anrichte auf der wohl der gestohlene Flachbildschirm-Fernseher gestanden hatte. Im rechten Teil der Anrichte hatte sich wahrscheinlich die HI-FI-Anlage befunden, die drei Schubladen auf der linken Seite standen halboffen. Eine lila Wolldecke war halb vom Sofa auf den Boden gerutscht.

An der Vorderkante des etwas zu wuchtigen Glastisches vor der Sofaecke waren Spuren von Blut zu erkennen. Eine eingetrocknete Blutlache auf dem wunderschönen, leicht grün-pastellfarbenen Wollteppich zeigte, wo das Opfer gelegen hatte. „Viel gelesen hat die Dame anscheinend nicht“, Daniel stand vor dem Regal, in dem, neben wenigen Büchern und Nippes auch einige Fotos in bunten Bilderrahmen standen und betrachtete die Fotos. Das war Gülsen auch sofort aufgefallen, wahrscheinlich weil ihr eigenes Wohnzimmer von den vollgepackten Bücherregalen Marke IVAR förmlich dominiert wurde. Sie las für ihr Leben gern und speziell in den vergangenen zwei Jahren waren gefühlte einhundert Bücher hinzugekommen, die sie preiswert auf dem sonntäglichen Flohmarkt im Sommer erstanden hatte. „Aber alles hier ist sehr geschmackvoll, oder?“ meinte Gülsen mit einem Blick in die Runde, der einige gut platzierte Zimmerpflanzen in Übertöpfen aus Wasserhyazinthe ebenso einbezog, wie die schön gerahmten Drucke an den Wänden , die farblich perfekt zu dem pastellfarbenen Teppich im Wohnbereich und der hellgrün gestrichenen Wand hinter dem Sofa passten. Daniel folgte ihrem Blick. „Was meinst Du, hat sie die Bilder an den Wänden wegen der Motive ausgesucht oder wegen der Farben, die zur Einrichtung passen?“ wollte er jetzt stirnrunzelnd wissen. „Da kann man wohl nur noch spekulieren, aber ich denke Letzeres“, sagte Gülsen. „So eine Einrichtung übersteigt mein Budget jedenfalls um ein Vielfaches, da muss ich wohl irgendwas verkehrt gemacht haben“. Daniel nickte zustimmend. „Ja, mit der Finanzlage müssen wir uns ohnehin noch eingehend beschäftigen. Und nicht nur das. Er wusste, dass sie bei einer Morduntersuchung das Oberste zum Unterstes kehren mussten und dabei so manchem Geheimnis auf die Spur kamen, dass der Tote zu Lebzeiten unbedingt vor den Mitmenschen und oft genug auch vor den Liebsten hatte verbergen wollen.

Die Einbauschränke im Flur waren ebenso durchsucht worden, wie der große Schwebetüren-Schrank im Schlafzimmer. Hier waren die Schubladen sogar teilweise herausgerissen worden und ein Teil des Inhaltes des Schlafzimmerschranks lag, wahllos verstreut, auf dem hellen flauschigen Teppich. Gülsen schaute beinahe fassungslos auf die, wie ihr schien, unzähligen Paar Schuhe und Schals in allen Farben und Formen und betrachtete die schönen Klamotten auf den Bügeln und in den Schrankfächern. Wahnsinn, sie kam sich beinahe vor wie in einer Boutique. „Hatte sie eigentlich keinen Computer?“ rief sie, als ihr auffiel, dass ihr dieser für die heutige Zeit typischen „Einrichtungsgegenstand“ bislang nirgends aufgefallen war. Sie erschrak, als die Antwort dicht an ihrem Ohr kam. Sie hatte nicht bemerkt, dass Daniel ihr ins Schlafzimmer gefolgt war und jetzt, am Türrahmen lehnend, ebenfalls einen prüfenden Blick in den Raum und auf den Inhalt der Kleiderschränke warf. „Sie hatte einen Laptop“ sagte er jetzt mit einem breiten Grinsen beim Blick auf die Schuhauswahl vor ihm, wobei viele Paare offensichtlich in der