Von Frauen und Kindern - Anton Tschechow - E-Book

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Anton Tschechow

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Beschreibung

Der Band „Von Frauen und Kindern“ vereint einige von Tschechows schönsten Novellen und Erzählungen in einem Buch. Mit seinem charakteristischen, tiefsinnigen Humor entwickelt der Autor eine tragikomische Sicht auf die Banalität des Provinzlebens und die Vergänglichkeit der gesellschaftlichen Ordnung zur Zeit der Jahrhundertwende. Zum besseren Verständnis wurde das Buch mit zahlreichen erklärenden Fußnoten versehen.

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Inhaltsverzeichnis

Die Jungens

Eine Bagatelle

Die Kinder

Zinotschka

Die letzte Mohikanerin

Zu Hause

Die Hexe

Ein Verhängnis

Ein Ereignis

Die Leichtbeschwingte

Wolodja der Große und Wolodja der Kleine

Ein Fall aus der Praxis

Übersetzt von Alexander Eliasberg1, außer:

Die Kinder, Zinotschka, Ein Verhängnis: Wladimir Czumikow2

Die Hexe: Korfiz Holm3

Alexander Eliasberg (1878-1924): Der jüdisch-russische Übersetzer und Herausgeber lebte ab 1906 in Deutschland und übertrug neben russischen Klassikern auch polnisch- und jiddischsprachige Werke ins Deutsche.↩

Wladimir Czumikow (1871-1943): Der nach Deutschland emigrierte russische Schriftsteller übersetzte etliche Werke Tschechows ins Deutsche, darunter neben den hier wiedergegebenen Erzählungen etwa auch „Die Möwe“ und „Onkel Wanja“.↩

Korfiz Holm (1872-1942): Der deutschbaltische Autor und Verleger war ab 1909 bis zu seinem Tod in leitender Position im Verlag Albert Langen (später Langen-Müller-Verlag) tätig. Er übersetzte französische, dänische und russische Literatur ins Deutsche. Aus dem Russischen sind außer einigen Erzählungen Tschechows auch Werke von Tolstoi, Dostojewski, Gorki und Gogol zu erwähnen.↩

Die Jungens

„Wolodja1 ist gekommen!“ rief jemand auf dem Hofe.

„Woloditschka2 ist gekommen!“ schrie Natalja, ins Eßzimmer hereinlaufend.

Die ganze Familie Koroljow, die ihren Wolodja von Stunde zu Stunde erwartete, stürzte zu den Fenstern. Vor der Haustüre hielt ein breiter Schlitten, und vom weißen Dreigespann stieg dichter Nebel auf. Der Schlitten war leer, weil Wolodja schon im Flur stand und mit seinen roten, erfrorenen Fingern den Baschlyk3 aufband. Sein Gymnasiastenmantel4, die Mütze, die Galoschen5 und die Haare auf seinen Schläfen waren mit Reif bedeckt, und er selbst duftete vom Kopf bis zu den Füßen so appetitlich nach Kälte, daß man, wenn man ihn ansah, den Wunsch hatte, einmal durchzufrieren und „brr!“ zu rufen. Die Mutter und die Tante fielen über ihn her und fingen an, ihn zu küssen. Natalja kniete vor ihm nieder und zog ihm die Filzstiefel von den Füßen, die Schwestern kreischten, die Türen knarrten und klopften, und Wolodjas Vater lief in Hemdsärmeln, eine Schere in der Hand, in den Flur und rief erschrocken:

„Wir hatten dich aber schon gestern erwartet! Bist du gut angekommen? Wohlbehalten? Du lieber Gott, laßt ihn doch den Vater begrüßen! Oder bin ich nicht sein Vater?“

„Wau! Wau!“ brüllte im Baß Mylord, ein riesengroßer schwarzer Hund, mit dem Schwanz an die Wände und Möbel klopfend.

Alles vermischte sich zu einem einzigen freudigen Laut, der an die zwei Minuten anhielt. Als der erste Freudenausbruch vorbei war, merkten die Koroljows, daß sich im Flur außer Wolodja noch ein anderer in Tücher, Schals und Baschlyks eingewickelter, mit Reif bedeckter kleiner Mann befand. Er stand unbeweglich in einer Ecke, im Schatten, den ein großer Fuchspelz warf.

„Woloditschka, wer ist denn das?“ fragte die Mutter im Flüsterton.

„Ach!“ erinnerte sich plötzlich Wolodja. „Ich habe die Ehre vorzustellen, es ist mein Freund Tschetschewizyn6, Schüler der zweiten Klasse… Ich habe ihn als Gast mitgebracht.“

„Sehr angenehm, ich heiße Sie willkommen!“ sagte der Vater erfreut. „Entschuldigen Sie, ich bin nicht angezogen, ohne Rock7. Treten Sie doch näher! Natalja, hilf dem Herrn Tschetschewizyn aus dem Mantel! Mein Gott, jagt doch diesen Hund hinaus! Er ist eine Strafe Gottes!“

Eine Weile später saßen Wolodja und sein Freund Tschetschewizyn, durch den stürmischen Empfang betäubt und noch immer rosig vor Kälte, am Tisch und tranken Tee. Die Wintersonne schien durch den Schnee und die Eisblumen an den Fenstern herein, zitterte auf dem Samowar8 und badete ihre reinen Strahlen im Spülnapf9. Im Zimmer war es warm, und die Jungen fühlten, wie in ihren durchfrorenen Körpern, ohne einander nachzugeben, sich kitzelnd die Wärme und die Kälte regten.

„Nun, bald haben wir Weihnachten!“ sagte in singendem Tonfalle der Vater, sich aus dunkelgelbem Tabak eine Zigarette drehend. „Und ist es lange her, daß wir Sommer hatten und die Mutter beim Abschied von dir weinte? Und jetzt bist du wieder da… Schnell vergeht die Zeit, mein Bester. Eh’ du dich versiehst, ist schon das Alter da. Herr Tschibissow, greifen Sie doch bitte zu, seien Sie ganz ungeniert! Bei uns geht es einfach zu.“

Die drei Schwestern Wolodjas, Katja10, Sonja11 und Mascha12, – die älteste von ihnen war erst elf – saßen am Tisch und blickten unverwandt den neuen Bekannten an. Tschetschewizyn war ebenso alt und groß wie Wolodja, doch weniger voll und weiß; er war sehr schmächtig und hatte ein dunkles, sommersprossenbedecktes Gesicht. Seine Haare waren struppig, die Augen enggeschlitzt, die Lippen dick; er war überhaupt nicht schön, und wenn er nicht die Gymnasiastenuniform anhätte, könnte man ihn für den Sohn einer Köchin halten. Er blickte finster drein, schwieg die ganze Zeit und lächelte kein einziges Mal. Die Mädchen sagten sich gleich auf den ersten Blick, daß er ein sehr kluger und gelehrter Mann sein müsse. Er dachte die ganze Zeit über etwas nach und war so in seine Gedanken vertieft, daß er, wenn man an ihn irgendeine Frage richtete, zusammenfuhr, den Kopf schüttelte und um Wiederholung der Frage ersuchte.

Die Mädchen merkten, daß auch Wolodja, der sonst immer so lustig und gesprächig gewesen war, diesmal sehr wenig sprach, gar nicht lächelte und gar nicht froh darüber zu sein schien, daß er nach Hause zurückgekehrt war. Während des Teetrinkens wandte er sich an die Schwestern nur ein einziges Mal, und zwar mit sehr seltsamen Worten. Er zeigte mit dem Finger auf den Samowar und sagte:

„In Kalifornien trinkt man aber statt Tee – Gin.“

Auch er schien mit irgendwelchen Gedanken beschäftigt, und nach den Blicken, die er zuweilen mit seinem Freunde Tschetschewizyn wechselte, zu schließen, hatten beide Jungen die gleichen Gedanken.

Nach dem Tee gingen alle ins Kinderzimmer. Der Vater und die Mädchen setzten sich an den Tisch und machten sich wieder an die Arbeit, die durch die Ankunft der Jungen unterbrochen worden war. Sie fertigten aus Buntpapier Blumen und Fransen für den Christbaum an. Die Arbeit war interessant, und es ging dabei recht laut zu. Die Mädchen begrüßten jede neu angefertigte Blume mit begeisterten Schreien, selbst mit Rufen des Entsetzens, als wäre die Blume vom Himmel gefallen; auch der Herr Papa geriet oft in Begeisterung und warf mitunter seine Schere zu Boden aus Ärger, daß sie stumpf sei. Die Mama stürzte ab und zu mit besorgtem Gesicht ins Kinderzimmer und fragte:

„Wer hat meine Schere genommen? Iwan Nikolajitsch, hast du wieder meine Schere genommen?“

„Du lieber Gott, selbst die Schere gönnt man einem nicht!“ antwortete Iwan Nikolajitsch mit weinerlicher Stimme. Er warf sich in die Stuhllehne zurück und nahm die Pose eines schwer gekränkten Menschen an; aber nach einer Minute war er schon wieder in heller Begeisterung.

Bei seinen früheren Besuchen pflegte sich Wolodja an allen diesen Vorbereitungen zu beteiligen oder in den Hof zu laufen, um zuzusehen, wie der Kutscher und der Hirt den Schneeberg zum Rodeln machten; jetzt aber schenkte er, ebenso wie Tschetschewizyn dem Buntpapier nicht die geringste Beachtung; sie gingen sogar kein einziges Mal in den Pferdestall, sondern setzten sich gleich ans Fenster und begannen zu tuscheln. Dann schlugen sie einen Geographieatlas auf und vertieften sich in die Betrachtung einer Karte.

„Zuerst nach Perm…“ sagte leise Tschetschewizyn: „Von dort nach Tjumen… dann nach Tomsk… dann… dann… nach Kamtschatka… Von dort bringen uns die Samojeden13 mit Booten über die Beringstraße… Und dann sind wir gleich in Amerika. Dort gibt es viel Pelztiere.“

„Und Kalifornien?“ fragte Wolodja.

„Kalifornien ist weiter unten… Wenn wir einmal in Amerika sind, so ist’s auch nach Kalifornien nicht mehr weit. Und den Unterhalt erwerben wir uns durch Jagd und Raub.“

Tschetschewizyn ging den Mädchen den ganzen Tag aus dem Wege und blickte sie unfreundlich an. Nach dem Abendtee blieb er aber zufällig an die fünf Minuten mit ihnen allein. Da er sich schämte, noch länger zu schweigen, hüstelte er streng, rieb sich mit der rechten Hand den linken Arm, blickte Katja finster an und fragte: „Haben Sie den Mayne-Reid14 gelesen?“

„Nein… Hören Sie, können Sie Schlittschuh laufen?“

Tschetschewizyn war aber schon wieder in seine Gedanken vertieft und gab keine Antwort. Er blähte nur die Backen auf und gab einen solchen Laut von sich, als ob er es sehr heiß hätte. Er blickte Katja noch einmal an und sagte:

„Wenn die Büffelherde durch die Pampas rennt, so zittert die Erde, und die erschrockenen Mustangs schlagen aus und wiehern.“

Tschetschewizyn lächelte wehmütig und fügte hinzu:

„Und die Indianer überfallen die Züge. Am schlimmsten sind aber die Moskitos und die Termiten.“

„Was ist denn das?“

„Eine Art Ameisen, doch mit Flügeln. Die beißen furchtbar. Wissen Sie, wer ich bin?“

„Herr Tschetschewizyn.“

„Nein. Montigomo, die Habichtkralle15, der Häuptling der Unbesiegbaren.“

Mascha, die Jüngste, sah ihn erst an, blickte dann auf das Fenster, hinter dem es schon dunkelte, und sagte nachdenklich:

„Und wir haben gestern Linsen gehabt.“

Die absolut unverständlichen Worte Tschetschewizyns, und daß er immer mit Wolodja tuschelte, und daß Wolodja nicht mehr spielte, sondern über etwas nachdachte, – all das war rätselhaft und seltsam. Die beiden älteren Mädchen, Katja und Sonja, fingen nun an, die Jungen aufmerksam zu beobachten. Wenn die Jungen abends zu Bett gingen, schlichen die beiden Mädchen zur Tür und horchten. Ach, was sie da hören mußten! Die Jungen wollten irgendwohin nach Amerika, um Gold zu graben und hatten schon alles für die Reise fertig: eine Pistole, zwei Messer, Zwieback, ein Vergrößerungsglas, um Feuer zu machen, einen Kompaß und vier Rubel bar. Sie erfuhren, daß die Jungen einige tausend Werst16 zu Fuß zu gehen hatten; unterwegs mußten sie mit Tigern und mit Wilden kämpfen, dann Gold graben, Elfenbein erbeuten, Feinde töten, Seeräuber sein, Gin trinken und schließlich schöne Frauen heiraten und Pflanzungen bearbeiten. Wolodja und Tschetschewizyn unterbrachen einander immer vor lauter Begeisterung. Tschetschewizyn nannte sich dabei „Montigomo, die Habichtskralle“ und seinen Freund Wolodja – „Bruder Blaßgesicht“17.

„Paß auf, erzähl’ nichts der Mama,“ sagte Katja zu Sonja vor dem Zubettgehen. „Wolodja bringt uns aus Amerika Gold und Elfenbein mit; wenn du es aber der Mama sagst, läßt man ihn nicht gehen.“

Einen Tag vor dem Christabend studierte Tschetschewizyn den ganzen Tag die Karte von Asien und schrieb sich etwas auf; Wolodja aber ging matt und mit aufgeschwollenem Gesicht, wie von einer Biene gestochen, von Zimmer zu Zimmer, blickte finster drein und wollte nichts essen. Einmal blieb er im Kinderzimmer vor dem Heiligenbilde stehen, bekreuzigte sich und sagte:

„Herr, vergib mir die Sünde! Herr, beschütze meine arme, unglückliche Mama!“

Gegen Abend fing er zu weinen an. Vor dem Schlafengehen umarmte er den Vater, die Mutter und die Schwestern ungewöhnlich lange. Katja und Sonja wußten gut, warum er so war, aber die Jüngste, Mascha, verstand gar nichts, absolut nichts; nur als sie den Tschetschewizyn ansah, wurde sie nachdenklich und sagte aufseufzend:

„An Fasttagen, sagt die Kinderfrau, muß man Erbsen und Linsen essen.“

Am nächsten Morgen standen Katja und Sonja früh auf und schlichen leise zur Tür, um zu sehen, wie die Jungen nach Amerika durchbrennen.

„Du fährst also nicht mit?“ fragte Tschetschewizyn böse: „Sag: du fährst nicht mit?“

„Mein Gott!“ wimmerte Wolodja leise. „Wie soll ich fahren? Die Mama tut mir leid.“

„Bruder Blaßgesicht, ich bitte dich, komm mit! Du hast doch selbst beteuert, daß du hingehst, hast mich überredet, und jetzt, wo man aufbrechen muß, hast du plötzlich Angst bekommen.“

„Ich… ich hab’ keine Angst… mir tut nur die Mama leid.“

„Sag: kommst du mit oder nicht?“

„Ja, ich komm schon mit… aber nicht gleich. Ich will noch ein wenig zu Hause bleiben.“

„In diesem Falle fahre ich allein!“ sagte Tschetschewizyn entschieden. „Werde auch ohne dich auskommen. Und du wolltest noch Tiger jagen und kämpfen! Gib mir meine Zündblättchen zurück!“

Wolodja weinte so laut, daß seine Schwestern sich nicht länger beherrschen konnten und gleichfalls in Tränen ausbrachen. Dann wurde alles still.

„Du kommst also nicht mit?“ fragte Tschetschewizyn wieder.

„Ich… ich komme mit.“

„Dann zieh dich an!“

Um Wolodja endgültig zu überreden, lobte Tschetschewizyn Amerika, brüllte wie ein Tiger, mimte ein Dampfschiff, fluchte und versprach Wolodja das ganze Elfenbein und alle Tiger- und Löwenfelle.

Dieser schmächtige Junge mit dem dunklen Gesicht, mit den struppigen Haaren und Sommersprossen erschien den Mädchen als ein ungewöhnlicher, hervorragender Mensch. Er war ein Held, ein entschlossener, furchtloser Mann und verstand so zu brüllen, daß man, hinter der Tür stehend, wirklich glauben konnte, es sei ein Löwe oder ein Tiger.

Als die Mädchen wieder in ihrem Zimmer waren und sich ankleideten, sagte Katja mit Tränen in den Augen:

„Ach, ich hab solche Angst!“

Bis zwei Uhr, als man sich zu Tisch setzte, war alles ruhig, doch da zeigte es sich, daß die Jungen verschwunden waren. Man schickte ins Dienstbotenzimmer, nach dem Pferdestall, zum Gutsverwalter – sie waren nirgends zu finden. Man schickte ins Dorf – auch dort waren sie nicht. Auch den Tee trank man ohne sie, und als man sich zum Abendessen setzte, war die Mama sehr unruhig und weinte. Nachts suchte man wieder im Dorfe und ging mit Laternen zum Fluß. Mein Gott, das war eine Unruhe!

Am andern Tag kam der Polizeiwachtmeister gefahren, und im Eßzimmer wurde irgendein Papier aufgesetzt. Die Mama weinte.

Da hielt aber schon vor der Haustür ein breiter Schlitten, und vom weißen Dreigespann stieg dichter Nebel auf.

„Wolodja ist gekommen!“ rief jemand auf dem Hofe.

„Woloditschka ist gekommen!“ schrie Natalja, ins Eßzimmer stürzend.

Auch Mylord brüllte „Wau! wau!“ Es stellte sich heraus, daß man die Jungen in der Stadt, im Kaufhause angehalten hatte (sie gingen von Laden zu Laden und fragten überall, wo man Schießpulver kaufen könne). Als Wolodja in den Flur trat, fiel er der Mutter um den Hals und brach in Tränen aus. Die Mädchen zitterten und dachten mit Schrecken, was jetzt wohl kommen würde. Sie hörten, wie der Papa sich mit Wolodja und Tschetschewizyn auf sein Zimmer zurückzog und mit ihnen lange sprach; auch die Mama redete und weinte.

„Darf man denn das?“ ermahnte der Papa. „Wenn man es, Gott behüte, im Gymnasium erfährt, relegiert18 man euch beide. Sie sollten sich schämen, Herr Tschetschewizyn! Es ist nicht schön! Sie sind der Rädelsführer, und ich hoffe, daß Ihre Eltern Sie bestrafen werden. Darf man denn das? Wo habt ihr übernachtet?“

„Auf dem Bahnhofe!“ erwiderte Tschetschewizyn stolz.

Wolodja mußte liegen und bekam Essigkompressen um den Kopf. Man telegraphierte irgendwohin, und am nächsten Tag erschien eine Dame, die Mutter Tschetschewizyns, und holte ihren Sohn ab.

Tschetschewizyn zeigte vor der Abreise eine strenge, hochmütige Miene und sagte beim Abschied zu den Mädchen kein Wort; er ließ sich nur von Katja ihr Heft geben und schrieb ihr zum Andenken hinein:

„Montigomo die Habichtskralle.“

Wolodja: Kurzform des russischen Namens „Wladimir“.↩

Woloditschka: Der aus der Kurzform abgeleitete Diminutiv drückt herzliche Verbundenheit und Zärtlichkeit aus.↩

Baschlyk: Eine an den Mantel angenähte Wollkapuze mit zwei langen Zipfeln, die wie ein Schal um den Hals geschlungen oder gebunden werden können. Das Kleidungsstück wurde ursprünglich am Kaukasus sowie von berittenen Steppenvölkern verwendet.↩

Gymnasiastenmantel: Ein nicht gefütterter ärmelloser Mantel mit einem kleinen Kragen aus grauem, grobem Wollzeug, der typischerweise von Gymnasiasten getragen wurde.↩

Galoschen: Überschuhe, um das eigentliche Schuhwerk vor Schmutz und Verschleiß zu schützen.↩

Tschetschewizyn (Чечевицын): Ein vom russischen Wort „Tschetschewiza“ (чечевица) für das Nahrungsmittel Linse(n) abgeleiteter Familienname, der in weiterer Folge mit dem Familiennamen Tschibissow (vom russischen Wort чибис für den Vogel Kiebitz) verwechselt wird.↩

Rock: langes Herrenjackett↩

Samowar: Ein russischer Wasserkocher (russ.: самовар, wörtlich „Selbstkocher“) zur Teezubereitung, der als Tischgerät kunstvoll verziert ist. Auf dem Samowar befindet sich eine kleine Kanne mit dem Teekonzentrat (zumeist Schwarztee), das in einer Tasse mit dem kochenden Wasser aus dem Samowar zum trinkfertigen Tee vermischt wird.↩

Spülnapf: Ein Gefäß zum Abspülen des schmutzigen Geschirrs.↩

Katja: Russische Koseform des weiblichen Vornamens „Jekaterina“ (Katharina).↩

Sonja: Russische Koseform des weiblichen Vornamens „Sophia“.↩

Mascha: Russische Koseform des weiblichen Vornamens „Maria“.↩

Samojeden: Angehörige von Völkern im nordöstlichen Europa und nördlichen Sibirien, die eine mit der finno-ugrischen Sprachgruppe verwandte Sprache sprechen.↩

Thomas Mayne Reid (1818-1883): Der irisch-amerikanische Schriftsteller verbrachte die Jahre 1839 bis 1849 als Abenteurer in Amerika und schrieb über die dort gemachten Erlebnisse eine Vielzahl an Romanen, die anderen Schriftstellern, darunter auch Karl May (1842-1912), als Quelle und Inspiration für eigene Werke dienten. Sein Buch „Die Skalpjäger“ (1851) gilt als einer der bedeutendsten Indianerromane des 19. Jahrhunderts.↩

Montigomo, die Habichtkralle: Tschechow bezieht sich hier auf den angeblichen Spitznamen (Монтигомо - Ястребиный Коготь) eines Unternehmers namens Alexandrow, der sich im Jahr 1883 mit einer Indianertruppe im Moskauer Tiergarten einquartiert haben soll um dort mit populären Aufführungen die indianische Lebensweise der russischen Bevölkerung näherzubringen. Der Autor beschrieb diese Begebenheit im Jahr 1885 (also zwei Jahre vor der Veröffentlichung von „Jungens“) in seinen humoristischen „Splittern des Moskauer Lebens“ (Осколки московской жизни).↩

Werst: Eine alte russische Längeneinheit im Ausmaß von 1,067 km.↩

Bruder Blaßgesicht: Bezeichnung der nordamerikanischen Indianer für die Weißen, oft auch als „Bleichgesichter“ bezeichnet.↩

relegieren: jemanden aus disziplinären Gründen von einer Schule verweisen↩

Eine Bagatelle

Nikolai Iljitsch Bjeljajew, ein Petersburger Hausbesitzer und Turfbesucher1, ein wohlgenährter, rosiger junger Mann von etwa zweiunddreißig Jahren kam eines Spätnachmittags zu Frau Olga Iwanowna Irnina, mit der er ein Verhältnis, oder, wie er es zu nennen pflegte, einen langen und langweiligen Roman hatte. Und in der Tat: die ersten interessanten und begeisterten Kapitel dieses Romans waren durchgelesen; und die Seiten, die nun folgten, zogen sich in die Länge, ohne etwas Neues oder Interessantes zu bieten.

Olga Iwanowna war nicht zu Hause, und unser Held legte sich in Erwartung aufs Sofa im Salon.

„Guten Abend, Nikolai Iljitsch!“ erklang eine Kinderstimme. „Die Mama kommt gleich. Sie ist mit der Sonja zur Schneiderin gegangen.“

Im gleichen Salon lag auf einem andern Sofa der Sohn Olga Iwanownas, Aljoscha2, ein etwa achtjähriger, schlanker, wohlgepflegter Junge, wie nach einem Modebilde mit einer Samtbluse und langen schwarzen Strümpfen bekleidet. Er lag auf einem Atlaskissen3 und reckte, offenbar einen Akrobaten, den er neulich im Zirkus gesehen hatte, nachahmend, bald den einen und bald den andern Fuß in die Höhe. Wenn seine schönen Beine ermüdeten, machte er dasselbe mit den Armen, oder sprang hastig auf, stellte sich auf alle Viere und versuchte, sich auf den Kopf zu stellen. Das alles machte er mit dem ernstesten Gesicht, keuchend vor Qual, als wäre er selbst nicht froh, daß der liebe Gott ihm einen so unruhigen Körper gegeben hatte.

„Ach, guten Abend, mein Freund!“ sagte Bjeljajew. „Bist du da? Ich hatte dich gar nicht bemerkt. Geht es der Mama gut?“

Aljoscha, der mit der rechten Hand die linke Fußspitze ergriffen und die unnatürlichste Pose angenommen hatte, drehte sich um, sprang auf und blickte hinter dem großen, üppigen Lampenschirm Bjeljajew an.

„Was soll ich Ihnen sagen?“ begann er achselzuckend. „Der Mama geht es eigentlich niemals gut. Sie ist eine Frau, und den Frauen tut doch immer etwas weh.“

Bjeljajew begann, um sich die Zeit zu vertreiben, Aljoschas Gesicht zu betrachten. Solange er bei Olga Iwanowna verkehrte, hatte er dem Jungen niemals Beachtung geschenkt und seine Existenz förmlich übersehen: da steht so ein Junge herum, doch wozu er da ist und welche Rolle er hier spielt, – daran wollte er nicht einmal denken.

Das in der Abenddämmerung ungewöhnlich bleiche Gesicht Aljoschas mit den schwarzen Augen, die niemals zu zwinkern schienen, erinnerte Bjeljajew an Olga Iwanowna, wie sie auf den ersten Seiten des Romans gewesen war. Und er fühlte das Verlangen, lieb zu dem Jungen zu sein.

„Komm mal her, Kleiner!“ sagte er ihm. „Ich will dich mal näher anschauen.“ Der Junge sprang vom Sofa und lief zu Bjeljajew heran.

„Nun?“ begann Nikolai Iljitsch, die Hand auf seine schmächtige Schulter legend. „Wie geht’s?“

„Was soll ich Ihnen sagen? Früher ging es viel besser.“

„Wieso?“

„Sehr einfach! Früher bekamen wir, ich und Sonja, nur Lesen und Klavierübungen auf, und jetzt müssen wir auch noch französische Gedichte auswendig lernen. Sie waren aber neulich beim Friseur!“

„Ja, dieser Tage.“

„Das sehe ich eben. Ihr Bärtchen ist etwas kürzer geworden. Darf ich es anrühren… Es tut doch nicht weh?“

„Nein, es tut nicht weh.“

„Warum tut es weh, wenn man an einem einzigen Härchen zupft, und wenn man an vielen Haaren zugleich zupft, – nicht? Ha – ha! Schade, daß Sie keinen Backenbart tragen. Hier müßte man ausrasieren, und an den Seiten… hier die Haare stehen lassen…“

Der Junge schmiegte sich an Bjeljajew und begann mit seiner Uhrkette zu spielen.

„Wenn ich aufs Gymnasium komme,“ sagte er, „wird mir Mama eine Uhr kaufen. Ich werde sie bitten, daß sie mir auch so eine Uhrkette schenkt… Was für ein Me – dail – lon! Papa hat auch so ein Medaillon, doch auf dem Ihrigen sind hier Streifen, und auf seinem – Buchstaben… Und innen hat er Mamas Bild. Papa hat jetzt eine andere Uhrkette, nicht aus Ringen, sondern wie ein Band…“

„Woher weißt du das? Kommst du denn mit dem Papa zusammen?“

„Ich? N – nein… Ich…“

Aljoscha errötete und begann, auf einer Lüge ertappt, vor lauter Verlegenheit das Medaillon mit dem Fingernagel zu kratzen. Bjeljajew sah ihn unverwandt an und fragte:

„Siehst du manchmal den Papa?“

„N – ein! …“

„Sprich die Wahrheit, sei aufrichtig… Ich sehe es doch deinem Gesicht an, daß du lügst. Wenn du dich schon einmal verschnappt hast, so mach keine Finten4. Sag: siehst du ihn manchmal? Ich frage dich wie ein Freund!“

Aljoscha wurde nachdenklich.

„Sie werden es doch nicht der Mama sagen?“ fragte er.

„Was dir nicht einfällt!“

„Ihr Ehrenwort?“

„Mein Ehrenwort.“

„Schwören Sie!“

„Du bist unerträglich! Für wen hältst du mich denn?“

„Um Gottes willen, sagen Sie es nur nicht der Mama… Erzählen Sie es überhaupt keinem Menschen, denn es ist ein Geheimnis. Wenn es, Gott behüte, die Mama erfährt, so werden wir alle – ich und Sonja und Pelageja5 was erleben… Hören Sie also. Den Papa sehen wir, ich und Sonja, jeden Dienstag und Freitag. Wenn wir am Vormittag mit der Pelageja spazieren gehen, führt sie uns in die Apfelsche Konditorei6, und der Papa erwartet uns schon da… Er sitzt immer in dem kleinen Extrazimmer, Sie wissen, mit dem Marmortisch und der Aschenschale in Form einer Gans ohne Rücken…“

„Was macht ihr denn da?“

„Gar nichts! Zuerst begrüßen wir uns, dann setzen wir uns alle an den Tisch, und Papa läßt uns Kaffee und Pastetchen bringen. Wissen Sie, die Sonja ißt Pastetchen mit Fleisch, und ich kann die mit Fleisch nicht ausstehen! Ich liebe die mit Kohl und Eiern. Wir essen uns so voll, daß wir uns später beim Mittagessen bemühen, damit es die Mama nicht merkt, möglichst viel zu essen.“

„Worüber sprecht ihr denn da?“

„Mit dem Papa? Über alles. Er küßt und umarmt uns und erzählt uns verschiedene komische Witze. Wissen Sie, er sagt, daß, wenn wir groß werden, er uns ganz zu sich nehmen wird. Sonja will nicht, aber ich bin einverstanden. Ohne die Mama wird es natürlich langweilig sein, aber ich werde ihr Briefe schreiben! Ich versteh’ es nicht: wir werden sie doch an Feiertagen besuchen können, nicht wahr? Dann hat Papa gesagt, daß er mir ein Pferd kaufen wird. Ein furchtbar guter Mensch! Ich weiß gar nicht, warum ihn die Mama nicht kommen läßt, damit er bei ihr wohnt, und warum sie es nicht haben will, daß wir mit ihm zusammenkommen. Er liebt doch die Mama sehr. Er fragt uns immer aus, wie es der Mama geht und was sie treibt. Als sie krank war, da griff er sich an den Kopf… so! … und lief immer auf und ab. Er bittet uns immer, daß wir ihr folgen und sie ehren. Hören Sie, ist es wahr, daß wir unglücklich sind?“

„Hm… Warum?“

„Der Papa sagt es. Ihr seid, sagt er, unglückliche Kinder. Es ist doch wirklich merkwürdig! Betet, sagt er, zu Gott für euch und für sie.“

Aljoscha heftete seinen Blick auf einen ausgestopften Vogel und wurde nachdenklich.

„So, so,“ brummte Bjeljajew. „So treibt ihr es. Haltet in Konditoreien Versammlungen ab. Und die Mama weiß nichts davon?“

„N – nein… Woher soll sie es wissen. Die Pelageja wird es ihr doch niemals sagen. Vorgestern brachte uns Papa Birnen mit. So süß wie Marmelade! Ich habe zwei Stück gegessen.“

„Hm… Hör einmal… Hat der Papa nichts über mich gesagt?“

„Über Sie? Was soll ich Ihnen sagen…“

Aljoscha blickte Bjeljajew prüfend an und zuckte die Achseln.

„Nein, er hat nichts Besonderes gesagt.“

„Was hat er zum Beispiel gesagt.“

„Werden Sie auch nicht böse sein?“

„Was dir nicht einfällt! Hat er denn auf mich geschimpft?“

„Geschimpft hat er nicht, aber… wissen Sie, er ist Ihnen böse. Er sagt, daß die Mama durch Sie unglücklich geworden ist und daß Sie Mama zugrunde gerichtet haben. Er ist doch so merkwürdig! Ich erkläre ihm, daß Sie gut sind und die Mama niemals anschreien, und er schüttelt nur den Kopf.“

„Hat er das gesagt: daß ich sie zugrunde gerichtet habe?“

„Ja. Seien Sie nur nicht böse, Nikolai Iljitsch!“

Bjeljajew erhob sich vom Sofa, stand eine Weile da und fing dann an, auf- und abzugehen.

„Es ist sonderbar und… lächerlich!“ brummte er, die Achseln zuckend und höhnisch lächelnd. „Er ist an allem schuld, und ich habe sie zugrunde gerichtet. Wie? Dieses Unschuldslamm! Hat er das wörtlich so gesagt, daß ich die Mama zugrunde gerichtet habe?“

„Ja, aber… Sie haben eben gesagt, daß Sie nicht böse sein werden.“

„Ich bin gar nicht böse und… es ist auch nicht deine Sache!

---ENDE DER LESEPROBE---