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Angeline Bauer - Nur immer dem Lauf der Achen folgen 1150 (Vater, Mutter, Tochter kommen von Südtirol her, kämpfen sich durchs wilde Grazzowe-Tal bis nach Grassau) Angeline Bauer - Sahras Flucht 1250 (Schicksal einer jungen Magd) Melanie Sondershaus - Der Verurteilte 1350 (Verurteilter wird in einem Kahn im tiefen Winter auf dem Chiemsee ausgesetzt) Helge Streit - Gerichtstag 1494 (Auf einem Gerichtstag geht es hoch her) Helge Streit - Von Hellebarden und Kometen 1504 (die Schlacht am Klaushäusl am 27. Oktober 1504) Sandra Altmann – Kreuztage 1634 (Pest in Grassau) Helge Streit - Mondnacht 1650 (Ein Brunnwart der Pumpstation Klaushäusl liebt die schönen Künste) Michael Lichtwarck - Mattis Strick 1693 (Weberin kauft sich von der Pflicht frei, Handschuhe und Strick für den Henker anfertigen zu müssen) Melanie Sondershaus – Kirchturmbrand 1727 (Blitzeinschlag mit tragischen Folgen) Angeline Bauer - Krieg und Liebe 1741 (Im österreichischen Erbfolgekrieg lernen sich zwei aus feindlichen Lagern lieben) Angeline Bauer - Die Bärin 1823 (Eine Bärin kämpft mit einem Wilderer um ihre Beute) Corinna Huber - Und der Kuckuck hat gerufen 1860 (Ein Bub sucht den Tod) Melanie Sondershaus – 1978 (Eine junge Arbeiterin bei Körting schreibt Tagebuch) Heidi Lackner - Seilschaft am Zwölferturm 2025 (Kletterer geraten an der Gedererwand in Not)
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Seitenzahl: 228
Veröffentlichungsjahr: 2025
Von Krieg und Liebe und einem Gerichtstag in Grassau
Geschichten zur Geschichte Grassaus – ein Streifzug durch neun Jahrhunderte
Anthologie
Herausgegeben von Angeline Bauer
Copyright © 2023 by arp
Herausgeberin Angeline Bauer / Verlag by arp
Ledererstraße 12, 83224 Grassau, Deutschland
www.by-arp.de
Ausgabe April 2025
Alle Rechte vorbehalten
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt und
darf auch auszugsweise nur mit Genehmigung
des Herausgebers wiedergegeben werden
Cover: Wandmalerei in der Kirche von Grassau
Gestaltung Angeline Bauer / by arp
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Vorwort von Bürgermeister Stefan Kattari
Zur Arbeit an diesem Buch und Danksagung
Nur immer dem Lauf der Achen folgen
Sahras Flucht
Der Verurteilte
Gerichtstag
Von Hellebarden und Kometen
Kreuztage
Mondnacht
Mattis Strick
Kirchturmbrand
Krieg und Liebe
Die Bärin
Und der Kuckuck hat gerufen
Tagebuch einer jungen Arbeiterin bei Körting
Seilschaft am Zwölferturm
Literaturnachweis
Die Autoren
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Liebe Leserinnen und Leser,
2025 jähren sich zum 900. Mal die ersten urkundlichen Erwähnungen von Grassau und Rottau - soweit uns das bekannt ist. Dabei sind die Dörfer mit großer Sicherheit älter, wahrscheinlich sogar um mehrere Jahrhunderte. Ein guter Grund zum Feiern sind diese 900 Jahre aber allemal, und weitere, sehr viel greifbarere Jubiläen gruppieren sich drum herum. So wurde Grassau vor 60 Jahren zum Markt erhoben. Die Grassauer Bauernbühne wird heuer 60 Jahre, die Musikschule Grassau 50 Jahre alt, die Grassauer Blechbläser feiern ihren 45. Geburtstag, die Partnerschaft mit der Gemeinde Raschau im Erzgebirge 30 Jahre und das Museum im Klaushäusl bringt es heuer ebenfalls auf 30 Jahre. Auf die vielfältigen kulturellen Angebote in Grassau dürfen wir zu Recht stolz sein! Und auf die vielen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die unsere Kultur mitgestalten.
Musikalisch hat Grassau ja einen im wahrsten Sinne des Wortes klingenden Namen und ist weit über die Region hinaus bekannt. Die bildende Kunst hat ihren Niederschlag in zahlreichen Skulpturen jüngeren Datums im öffentlichen Raum – und ebenso in den Zeugnissen der Steinmetzkunst früherer Jahrhunderte. Malerei hat immer wieder eine bedeutende Rolle gespielt. Die ältesten Zeugnisse finden sich in der Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt, aber auch Maler wie Theodor von Hötzendorff, Denes Csanky oder Hermann Schöllhorn haben ihre Spuren hinterlassen. Seit vielen Jahren gibt es zudem wieder einen sehr aktiven Kunstkreis. Das örtliche Geschichtsbewusstsein spiegelt sich im Erhalt von Baudenkmälern, darunter die letzte verbliebene vollständige Pumpstation der Soleleitung, der ersten Pipeline der Welt. Und auch literarisch hat die Gemeinde vieles zu bieten: Seit mehreren Jahren wird ein Literaturpreis für Kurzgeschichten ausgelobt: der Grassauer Deichelbohrer. In einem aufwändigen Projekt wurde zwischen 2005 und 2020 die Geschichte von Grassau und Rottau in zwölf umfangreichen Chronikbänden dokumentiert - überwiegend von örtlichen Autorinnen und Autoren. Hier möge nachschlagen, wer Genaueres zur Gründung unserer Dörfer vor mehr als 900 Jahren erfahren möchte. Schließlich nimmt die Gemeindebücherei einen wichtigen Platz im Gemeindeleben ein. In einem Satz: Wir können Kultur!
900 Jahre fassbar machen, das hat sich das vorliegende Buch auf die Fahnen geschrieben. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen! ...und natürlich: auf die nächsten 900 Jahre!
Ihr Stefan Kattari
An allererster Stelle möchte ich allen Autoren dieses Projekts, auch denen, die sich auf dem Weg durch die Jahrhunderte der Marktgemeinde Grassau überfordert gefühlt haben und ausgestiegen sind, meinen herzlichen Dank aussprechen! Historische Geschichten schreiben ist nicht einfach, denn man muss sich in eine Zeit zurückversetzen, die man nicht kennt, und die man sich zusätzlich zum eigentlichen Text teils hart erarbeiten muss. Wenn man nur einmal an das 20. Jahrhundert denkt – was hat sich da alles verändert und ereignet! Fuhr man zu Beginn noch mit der Kutsche, konnte man schon Mitte des Jahrhunderts zum Mond fliegen. Es gab unglaubliche Erfindungen, Kriege, Krankheiten und so vieles mehr. Und das alles nur in einem Jahrhundert. Geht man weiter zurück in der Zeit, haben sich nicht nur die Natur und die Ansiedlungen grundlegend verändert. Menschen wurden geknechtet, man hatte anderes Werkzeug, es gab Kleiderordnungen, man aß anders, hatte sich anders zu benehmen und so weiter.
Ich hoffe sehr, dass wir Autoren den Lesern dieser Anthologie einen Eindruck vermitteln können, wie ihre Vorfahren einst gelebt und gewirkt haben. Doch auch wenn sich die Geschichten teils an wahren Begebenheiten orientieren und gut recherchiert sind, bleiben es doch fiktive Geschichten, die zur Unterhaltung geschrieben wurden und nicht den Anspruch erheben, in jeder Hinsicht historisch korrekt zu sein. Doch um den Fakten gerecht zu werden, habe ich jeder Geschichte einen historische Abriss angefügt.
Danken möchte ich auch unseren Helfern im Hintergrund. Gerhard Waschin, der Kirchen- und Ortsführungen anbietet, wusste viel Interessantes über damals zu erzählen. Wolfgang Obermeier, der Leiter der Grassauer Bergwacht, gab Einblick in die Arbeit seines Teams. Olaf Gruß und Peter Enzmann halfen mit Hinweisen. Ulrike Vogt unterstützte Sandra Altmann mit ihrem fachlichen Wissen zum Thema Pest – ihr widmet die Autorin ihre Geschichte ‘Kreuztage‘. Pfarrer Andreas Horn aus Grassau gab Auskunft über den Kirchturmbrand. In Hans Grabmüllers ‘Die Geschichte der Gemeinde Grassau - die historische Entwicklung Teil 1‘ konnte man vieles nachlesen, was in diese Anthologie mit einfloss. Ihnen allen besten Dank für ihre freundliche Mithilfe.
Angeline Bauer
Herausgeberin
Angeline Bauer
Grazzowe-Tal - 12. Jahrhundert
Hier kamen sie nicht weiter, denn Geröll hatte den Steig verschüttet. Hinauf konnten sie nicht, weil sich über ihnen ein Fels erhob, also rutschten sie zwischen Bäumen und Gesträuch den Abhang hinunter.
Der Fluss war nun ganz nah. Keuchend rappelten sie sich wieder auf und blickten sich um.
„Dort drüben!“ Urban deutete auf einen Trampelpfad. „Dort versuchen wir es!“
Weil Zita dem Pfad am nächsten stand, ging sie voraus. Und da passierte es dann: Sie trat mit dem Fuß in eine Schnappfalle. Die Zinken aus Eisen schlugen sich durch ihren Schuh in ihr Fleisch und zertrümmerten den Knochen. Markerschütternde Schreie hallten daraufhin durch den Wald, gellende Schreie, die als Echo von den nahen Felswänden zurückgeworfen wurden.
Urban befreit sein Weib aus der Falle. Wimmernd und zitternd vor Schmerzen lag sie vor ihm, sah ihn aus ihren dunklen, weitaufgerissenen Augen um Hilfe flehend an.
Er suchte nach der Paste aus Kräutern und Mohnsaat, die sie bei sich hatten, und strich ihr etwas davon aufs Zahnfleisch. Das würde ihre Schmerzen ein wenig lindern. Derweilen hatte seine Tochter eines ihrer Unterkleider in Streifen gerissen. Sie klemmten Zita einen Stock zwischen die Zähne, beträufelten einen der Lappen mit Branntwein aus der Zinnflasche, die Urban am Gürtel trug, säuberten und verbanden ihren Fuß, um die Blutung zu stillen.
Und jetzt? Gehen konnte Zita nicht mehr, aber hier konnten sie nicht bleiben. Zu morastig der Boden so nahe am Fluss, um ein Lager aufzuschlagen.
Urban lud sich Zita auf die Schultern, ging mit ihr voran. Später, als ihn die Kraft verließ, nahmen er und Afra sie zwischen sich, legten ihre Arme um Zitas Mitte und die von Zita um ihre Hälse. So schleppten sie sich weiter. Jeder Schritt war eine Qual für sie alle, und Zita war vor Schmerzen der Ohnmacht nahe.
Als sie stehen blieben, um Atem zu schöpfen, hob Urban den Kopf und lauschte in die Stille. Er fühlte, dass etwas anders war. Etwas verfolgte sie plötzlich. Kein Mensch. Ein Mensch wäre lauter. Man würde das Knacken von Ästen unter den Stiefeln hören und das Keuchen von der Anstrengung. Es musste ein Tier sein, das durch Zitas Schmerzensschreie auf sie aufmerksam geworden war oder das Blut aus ihrer Wunde witterte.
Sie ließen Zita sich setzen und lehnten sie gegen einen Baum. Urban sah nach oben. Sie hatten sehr viel Zeit verloren. Inzwischen war es fast dunkel geworden, zu dunkel für sie, die das Tal nicht kannten und sich verlaufen hatten. Die Wipfel der Bäume, darüber der aufgehende Mond. Wolkenfetzen schoben sich davor, immer dichter wurden sie. Und kein Licht einer menschlichen Behausung weit und breit. Dafür dieses Wesen irgendwo zwischen den Bäumen, das sie verfolgte und wie ein Schatten an ihnen klebte.
Er griff nach dem Messer in seiner Tasche. Immerhin, ein Messer besaß er. Doch was würde es ihm und den beiden Frauen schon nützen, wenn ein Bär oder ein Rudel Wölfe über sie herfiele.
Er hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als er ihn auch schon wieder verwarf: Nein, es waren keine Wölfe. Kein Rudel, auch kein Streuner und sicher kein Bär. Was immer es sein mochte, es war gefährlicher als ein Tier. Vielleicht doch ein Mensch - oder der Teufel.
Am Morgen, als sie von der ärmlichen Hütte eines Waldmannes aufgebrochen waren, in der sie für die Nacht Schutz gefunden hatten, hatte der ihnen gesagt, dass sie nur immer dem Lauf der Achen folgen müssten. Vielleicht fünf oder sechs Stunden, bis sie vom Steig aus eine Kirche mit ein paar wenigen Hofstellen sehen würden. Grazzowe hieße der Ort, der auf der anderen Seite des Flusses lag, er sei nach dem Tal benannt. Dort könnten sie sich für ihren weiteren Weg mit dem Nötigsten versorgen. Und wenn sie von Grazzowe nach Osten weitergingen, dann kämen sie nach Salzburg, und wenn sie nach Westen gingen in einen Ort namens Bernau.
Doch dann hatte er den Kopf geschüttelt und gemeint, dass sie so weit gar nicht kommen würden. Oder sie mussten mit dem Teufel einen Pakt geschlossen haben. Denn dessen Hilfe bräuchte man, wenn man um diese Jahreszeit durch das Grazzowe Tal wollte. Der Weg sei nach starken Regengüssen überflutet und versumpft und von umgefallenen Bäumen und Geröll verschüttet. Und kurz vor Grazzowe müssten sie auch noch an einer Burg vorbei - dabei hatte er sich bekreuzigt und gen Himmel geblickt – die von ein paar üblen Haudegen bewacht wurde.
Aber was blieb Urban, Zita und ihrer Tochter Afra anderes übrig, als es zu wagen? Beim Waldmann in der Hütte konnten sie so wenig bleiben, wie sie dort hatten bleiben können, wo sie hergekommen waren. Man hatte ihnen das Haus in Brand gesteckt und den Brunnen vergiftet. Man hatte sie in Schimpf und Schande davongejagt, weil man Zita unterstellte, an der Todgeburt eines Säuglings schuld zu sein. Und dass sie froh sein konnten, dass man ihnen nur den Laufpass gab, statt ihnen den Garaus zu machen, hatte man ihnen mit schwingenden Fäusten noch nachgeschrien.
Also waren sie gen Norden gezogen. Hatten sich Viehhirten und Händlern angeschlossen und waren über die Alpen in diese gottverlassene Gegend gelangt. Vier Monde hatte es gedauert, sie hatten Kälte, Krankheit und Hunger getrotzt – und das nur um jetzt und hier zu scheitern?
Aber nein, so leicht würden sie nicht aufgeben!
Afra beugte sich über Zita, die leise wimmerte. Sie wischte ihr mit dem Rock den Schweiß von der Stirn, sah ihren Vater an. „Und wenn wir Mutter mehr von der Paste geben?“
Er schüttelte den Kopf. „Zuviel davon, und sie verliert das Bewusstsein.“
Sie dachten darüber nach, eine Bahre zu bauen und Zita zu tragen. Doch Afra war erst vierzehn Jahre alt, und wenn sie ihre Mutter an Länge auch um eine halbe Handbreite überragte, so war sie doch nicht kräftig genug, das über eine weite Strecke hinweg zu schaffen.
„Sei’s wie’s wolle, wir müssen einen Platz suchen, wo wir die Nacht verbringen können.“ Damit packte sich Urban sein Weib wieder auf die Schultern und ging weiter.
Sie befanden sich in einer Schlucht. Zuvor hatten sie den Fluss nur von oben gesehen, jetzt war er neben ihnen. Der Mond spiegelte sich auf seiner Oberfläche. Zwischen Fluss und Fels war kaum Platz genug, dass drei nebeneinander gehen konnten, und der Boden war morastig.
Plötzlich machte der Fluss eine Kehre. Urban starrte auf die schwarze Wand, die sich am anderen Ufer vor ihnen aufgetan hatte und fluchte leise. Fluss, Felsen, dichtes Unterholz im Wald - sie saßen in der Falle.
Urban blieb stehen. Er ließ Zita von der Schulter gleiten. Mit dem unverletzten Fuß fing sie sich ab. Afra griff ihr unter die Arme und hielt sie fest, half ihr dann sich zu setzen.
Noch einmal sah Urban nach oben. Die Wolkendecke riss wieder auf. Der Mond war fast voll, der Fluss spiegelte sein blasses Licht wider. Da konnte er die Bestie, die sie verfolgt hatte, plötzlich erkennen. Kein Wolf, kein Mensch, es war ein Hund. Er stand nur ein paar Schritte von ihnen entfernt, war größer als ein Wolf und hatte Pranken wie ein junger Bär. Er zog die Lefzen hoch, ein Knurren war zu hören.
Urban zog sein Messer aus der Scheide, und für den Bruchteil einer Sekunde blitzte das blanke Metall im Mondlicht auf.
Sofort duckte sich der Hund, dann winselte er plötzlich - kauerte da und winselte. So starrten sie sich an. Drei Menschen und ein Hund so groß wie ein junges Kalb.
Urban dachte nach. Obwohl bereits 46 Jahre alt, war er noch stark genug, einen Mann niederzuringen, aber mit diesem Hund wollte er es freiwillig nicht aufnehmen. Würde auch er noch verletzt, wären sie endgültig in dieser verdammten Höllenschlucht verloren.
„Wir kommen heute nicht mehr weiter“, sagte er. „Wir müssen Feuer machen und die Morgendämmerung abwarten.“
Aber auch wenn es ihnen gelang, Feuer zu entfachen, würden sie in ihren klammen Kleidern vielleicht erfrieren. Das sagte er jedoch nicht, er dachte es nur. Sie hatten nicht viel mehr bei sich, als sie am Leibe trugen, und ihre Schätze, die in kleinen Taschen in Zitas und Afras Unterröcken verborgen waren. Genug, um irgendwo ein neues Leben zu beginnen, aber nicht genug, um ihre Haut in dieser Wildnis zu retten.
Trotzdem, sie hatten keine Wahl.
Holz lag genug herum. Urban zog vorsichtig einen der Äste zu sich heran. Der Hund hob die Lefzen, knurrte leise. Urban ging zwei Schritte, fasste einen anderen Ast, schob ihn zu den Frauen hin. Noch einen Ast und noch einen. Sie brachen die Zweige. Es knackte. In der Dunkelheit hörte es sich an, als würden junge Bäume bersten.
Was sie brauchten, um Feuer zu machen, hatten sie bei sich. Urban zwirbelte ein Stück der Kordel auf, Feuerschläger und Stein schlugen leise klickend aneinander. Feuchtes Holz zu entzünden, war für ihn eine leichte Übung - das Biest dort drüben hingegen bereitete ihm Sorgen.
Als das Feuer knisterte, atmeten sie alle auf. Sogar der Hund. Er robbte ein Stück näher.
Urban nahm einen brennenden Ast und hielt ihn über Zitas Fuß, damit seine Tochter Licht hatte, um den Verband zu lösen. Dabei nistete in Afras Augen Angst. Angst um die Mutter. Angst um den Vater. Angst um ihr eigenes Leben.
An einem anderen Ort hätte ihr Vater die Verletzte mit Hilfe der Paste in einen tiefen Schlaf versetzt. Er hätte die Wunde gereinigt, Maden in die Wunde gesetzt, den Fuß geschient und Zita Stunde um Stunde einen Sud von heilenden Kräutern eingeflößt. Aber in dieser Wildnis war auch er machtlos.
Ihre Eltern waren Heilkundige. Die Mutter, die aus Venetien stammte, war Hebamme, der Vater hatte in seiner fernen orientalischen Heimat als Arzt gewirkt. Nachdem sie sich in Venedig begegnet waren und bald darauf ein Paar wurden, waren sie gen Norden gewandert, hatten sich schließlich in einem Tiroler Ort niedergelassen. Hatten die fremde Sprache gelernt, hatten Kräuter getrocknet und verabreicht, Wunden behandelt, wenn nötig auch in Fleisch geschnitten und Säuglingen auf die Welt geholfen. Dafür hatten sie Mehl bekommen, Gemüse, Fleisch, Tiegel oder Stoff und was man sonst noch brauchte. Man lebte, man gab was man hatte, und wer nichts hatte gab seine Arbeitskraft. Alles war gut bis zu jenem verhängnisvollen Tag, an dem der Säugling des Ortsvorstehers tot zur Welt kam und bald darauf auch seine Frau starb.
Urban und Afra hielten ihre Köpfe noch immer über die Wunde an Zitas Fuß. Als Urban einen frischen, mit Branntwein getränkten Lappen auf das malträtierte Fleisch legte, stieß sein Weib einen Schmerzensschrei aus. Mit flehendem Blick sah sie ihn an. „So hilf mir doch, Mann!“
Urban nickte seiner Tochter zu. Jetzt, wo sie beschlossen hatten, die Nacht hier zu verbringen, konnte er Zita mehr von der Paste geben. Dann würde sie in ein Delirium versinken, und der Schmerz würde Flügel bekommen.
Afra hob den Rock ihrer Mutter an, suchte in den verborgenen Taschen des Unterkleides nach der Medizin. Als sie wieder aufsah, bemerkte sie, dass der Hund nähergerobbt war. Im Schein des Feuers sah man seinen Atem dampfen. Als das Mädchen mit dem Finger über die Paste strich und dann in Zitas Mund fuhr, um die Paste auf dem Zahnfleisch zu verreiben, zitterte ihre Hand aus Angst vor dem Tier. Nie zuvor hatte sie einen so großen Hund gesehen. Schwarz das Fell, ein Gebiss wie ein Wolf, in seinen Augen spiegelte sich der Wiederschein des Feuers. Er sah aus, als wäre er der Hölle entkommen.
Zita lehnte sich mit einem Aufseufzen zurück. Unter den Kopf schoben sie ihr das Bündel, in dem sie ein paar wenige Gegenstände mit sich führten. Ihr Körper wurde bald schwerer, die Klagelaute gingen in ein Säuseln über.
Afra schloss den Tiegel und schob ihn in die Tasche zurück. Als sie sich umdrehte, bemerkte sie, dass der Hund noch ein Stück näher gerückt war. Ihr Vater hielt das Messer in der einen Hand, den brennenden Ast in der anderen, bereit, den Ast nach dem Köter werfen. Vielleicht würde ihn das Feuer in die Flucht schlagen. Aber Afra war dem Hund am nächsten, und wenn das Tier sich in blinder Wut auf sie stürzte, wäre sie verloren.
Während Urban noch darüber nachdachte, ob er Afra mit einem Angriff auf den Hund in Gefahr brachte, stand seine Tochter plötzlich auf. Sie bot sich dem Tier an. Sollte es sie töten. Vielleicht würde es ihrem Vater gelingen, der Bestie noch im Sprung das Messer ins Herz zu rammen. Sie hoffte darauf. Und wenn nicht, dann wäre es wenigstens ein schnelles Ende.
Sie stand da wie ein Baum. Sie war bereit.
Der Hund sprang nicht. Er duckte sich. Er winselte. Er robbte noch ein Stück näher und leckte Afra die Füße.
Ganz langsam sank sie in sich zusammen und fiel auf die Knie, streckte dem Hund zitternd die Hand entgegen, legte ihre Finger auf seine Schnauze, und dann lachte sie. Ihr Lachen klang blechern und ein wenig irre, ging bald in Weinen über.
Urban zog das Messer langsam zurück. Er starrte den Hund an. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Dass das Vieh einem Menschen gehört haben musste. Dass es nun offensichtlich herrenlos war und herumirrte. Dass es sich ihnen anschließen wollte, und dass es sie beschützen konnte. Dass sie Fleisch hätten, wenn es ihm gelänge, den Hund zu töten, ja, auch daran dachte er. Aber der wesentliche Gedanke kam ihm erst im Traum, als er erschöpft, mit dem Rücken gegen einen Baum gelehnt, für einen Moment eingeschlafen war: Ein Hund, so groß wie ein Kalb! Ein Hund, so stark wie ein Bär! So ein Hund konnte eine Bahre ziehen!
In den frühen Morgenstunden füllte Urban Wasser aus dem Fluss in ihre Flaschen und besorgte neues Feuerholz. In der Nähe lag nichts mehr, er musste ein Stück den Hang hinauf. Als er aufstand, hob der Hund die Lefzen und knurrte, doch nachdem Afra eine Hand auf seinen Kopf gelegt hatte und leise auf ihn einredete, ließ er Urban gehen.
Bald kam Urban mit Ästen und Zweigen zurück, brach sie und warf sie ins Feuer. Die Flammen zischten, weil das Holz feucht war, doch nach einer Weile loderten sie auf. Dann erzählte er seiner Tochter, wovon er geträumt und was er sich ausgedacht hatte, um ihre Mutter aus der Schlucht zu schaffen. Und dass er ein Stück weiter oben einen Pfand entdeckt hatte, der sie vielleicht aus dieser Schlucht hinausbrachte.
Urban machte sich auf, nach Ästen und Zweigen zu suchen, die sich zu einer Bahre zusammenfügen ließen. Afra zerfetzte den Rest des Unterkleides, riss ihn in schmale und breitere Streifen. Damit schnürten sie die Äste zusammen. Am Ende lag eine Bahre mit einer Gabeldeichsel vor ihnen. Aus dem Riemen von Urbans Jagdtasche und Zitas Gürtel bauten sie ein Geschirr für den Hund, das sie an der Deichsel befestigten.
Als sie mit allem fertig waren, hoben sie Zita auf die Bahre, und Urban fasste die Deichsel, an der das Geschirr für den Hund baumelte. Er zog, Afra schob an, der Hund ging neben Afra her. Ein paarmal mussten sie die Bahre mit Zita über ein Hindernis heben, bevor es weitergehen konnte. Dann hörte man wieder das schleifende Geräusch der Bahre, das angestrengte Keuchen von Urban und Afra und Zitas Stöhnen. Auch ihren Hunger hörte man im Gedärm. Aber sonst war es still, als ob es nur sie in diesem Wald gäbe.
Nach einer Weile zog Afra die Bahre. Der Hund beobachtete jede ihrer Regungen. Doch lange hielt sie nicht durch. Vielleicht acht- oder neunhundert Schritte, dann fiel sie keuchend auf die Knie.
„Ich kann nicht mehr.“
Der Hund winselte und leckte Afras Hand.
Sie stand auf, redete auf ihn ein. „Guter Hund. Du bist stark. Du musst einfach nur ziehen.“ Langsam und behutsam schob sie das Geschirr über seinen Kopf, so dass es fest auf seiner breiten Brust lag. Er ließ es geschehen.
Urban hielt dabei das Messer in der Hand, bereit das Tier zu töten, falls es seiner Tochter etwas antun würde. Doch als Afra sein besorgtes Gesicht sah, lachte sie. „Er wird mir nichts tun. Niemals! Ganz sicher nicht.“
Sie ging los. Der Hund wollte ihr folgen. Als er von dem Gewicht, das ihm unvermutet gegen die Brust schlug, zurückgerissen wurde, jaulte er auf. Er sah Afra nach. Er bellte. Sie kümmerte sich nicht um ihn, ging einfach weiter.
Wieder versuchte der Hund ihr zu folgen, wieder wurde er zurückgerissen. Doch dann stemmte er sich mit aller Macht und ganzer Wut gegen das, was ihn am Weitergehen hinderte. Seine Pfoten sanken tiefer in den feuchten Grund, er jaulte und kläffte. Als Urban von hinten anschob, gab das Gewicht endlich nach. Der Hund zog, er zerrte, und so folgte er Afra.
Sie lachte. „Dich hat uns der Himmel geschickt!“
Die Sonne stand bereits hoch, als sie auf einen Weg mit Wagenfurchen stießen. Sie waren tief in den Boden gegraben. Erleichterung stand auf ihren Gesichtern. Wagenfurchen! Das bedeutete, dass Menschen in der Nähe wohnten. Sie folgten der Spur aus dem Wald. Als der sich lichtete, sahen sie nicht weit vor sich eine Burg. Sie thronte auf einem Fels, der sich über dem Fluss erhob. Unter ihr duckten sich ein paar wenige Häuser.
Afra dachte an den Waldmann und daran, dass er sich bekreuzigt hatte, als er ihnen von einer Burg erzählte, an der sie vorbeimussten. „Und jetzt?“, fragte sie.
„Wir müssen es wagen“, entgegnete Urban. „Nimm den Hund aus dem Geschirr, lass ihn an deiner Seite gehen.“
Er selbst legte sich den Riemen um und zog Zita auf der Bahre weiter. Afra folgte ihm mit dem Hund.
Kaum kamen sie den Häusern näher, preschten auch schon zwei Kerle hinter einer Mauer hervor. Sie steckten in grünen Beinkleidern, trugen einen braunen Kittel darüber und in der Hand einen Speer. Untergebene des Burgherren, wie es schien, Bauern waren sie jedenfalls nicht.
Der Ältere starrte zuerst den Hund an, der die Zähne fletschte, dann Zita. „Wer seid ihr und wohin des Weges?“, schnauzte er sie an. „Und was ist mit dem Weib?“
Ein paar Augenblicke waren nur das Knurren des Hundes und Zitas Wimmern zu hören, bis Urban endlich antwortete: „Wohin wissen wir nicht, wir haben kein Ziel. Aber als wir die Burg sahen und die Häuser, da hofften wir, hier Hilfe zu finden. Denn mein Weib … sie bekam plötzlich Fieber und Krämpfe und rote Flecken auf Armen und Brust. Wollt ihr sehen?“ Urban tat, als würde er Zitas Ärmel hochschieben.
Doch dazu kam er nicht, denn schon schrie der Ältere: „Seid ihr von Sinnen! Ihr schleppt uns hier noch das Fleckfieber an! Verschwindet, macht euch davon und lasst euch ja nicht wieder blicken!“
Das musste man ihnen nicht zweimal sagen.
Als sie das Dorf hinter sich gelassen hatten, ging es wieder ein Stück hinauf in den Wald und auf einem Steig weiter Richtung Norden. Ein paartausend Schritte, bis sie unter sich auf der anderen Seite des Flusses einen Kirchturm und auf den Dächern der Hütten und Hofstellen rauchende Schlote sahen.
Vater und Tochter lachten und fielen sich in die Arme. „Das muss Grazzowe sein!“, sagte Urban. Er beugte sich zu Zita hinunter. „Wir haben es geschafft, Weib.“ Er strich ihr übers Haar. „Dies ist ein Ort, wo wir erst einmal bleiben können – und wer weiß, vielleicht auch für immer.“
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Die Geschichte von Zita, Afra und Urban spielt gegen Ende des 12. Jahrhunderts, als das Achental noch Grazzowe Tal hieß. Es war eine dünnbesiedelte Auenlandschaft, die von ausgedehnten Moorgebieten begrenzt und regelmäßig von Hochwassern überflutet wurde. Am Alpenrand zog sich ein breiter Waldgürtel hin, die Flussufer waren feucht und morastig, die Burg Marquartstein wurde Anfang des Jahrhunderts erst errichtet, und der Ort Grazzowe (Grassau) war nicht viel mehr als eine Kirche mit ein paar wenigen Hofstellen. Trotzdem war Grazzowe bedeutsam, denn hier kreuzten sich zwei Handelsrouten. Die eine, die nach Salzburg führte, und die andere, über die man Aschau oder München erreichte.
Der Ort war nach dem Tal benannt, nicht das Tal nach dem Ort. Auch bedeutet der Name Grassau nicht Gras-Aue, sondern bezieht sich auf den mittelhochdeutsche Begriff ‘graz‘. Damit sind die obersten Spitzen der Äste am Nadelholz gemeint, die im Mittelalter zu Viehfutter und Einstreu zerhackt wurden. Daraus wird geschlossen, dass es in der Grazzowe (im heutigen Achen Tal) reichlich Nadelgehölz wie Fichten, Tannen und Krüppelkiefern gab.
Noch etwas ist anders, als man meinen möchte. Es entstand nicht zuerst der Ort, dem später eine Kirche hinzugefügt wurde, sondern die Kirche wurde als Mutterkirche der Bewohner des Tals in der Mitte dreier Siedlungen aufs freie Feld gebaut – das waren Grafing, Hindling und Reifing. Erst später bildete sich der Ort um die Kirche herum.
Das alles und vieles mehr kann man in: Die Geschichte der Gemeinde Grassau - die historische Entwicklung Teil 1 / Autor Hans Grabmüller / Grassau 2010 nachlesen.
Angeline Bauer
Am Fuß des Schnappenberg - 13. Jahrhundert
Sahra kroch aus dem Dickicht ans Ufer der Achen. Dort blieb sie bäuchlings liegen und lauschte, ob jemand ihr gefolgt war. Doch alles was sie hören konnte, war das angstvolle Pochen ihres Herzens.
Sie drehte sich auf den Rücken, starrte auf den mächtigen, dichtbewaldeten Berg, der sich vor ihr erhob. Darüber der volle Mond und die Sterne.
Nach einer Weile setzte sie sich auf und untersuchte die Wunden an ihrem Bein; sie hatte sich an Dornen gerissen.
Plötzlich hörte sie ein Knacken hinter sich. Sie griff nach einem dicken Ast, um sich zu bewaffnen und starrte mit vor Angst weitaufgerissenen Augen in die Dunkelheit. War ihre Flucht so schnell schon entdeckt worden? Waren sie ihr jetzt bereits auf den Fersen?
Die Frau, die aus dem Dickicht trat, schrie auf, als Sahra plötzlich hochsprang und ihr mit dem Prügel drohte.
„Wer bist du!“, fauchte Sahra sie an.
Erschrocken fasste sich die andere ans Herz. „Bigela heiße ich und sammle Kräuter.“
„Jetzt, mitten in der Nacht?“
Bigela setzte den Korb ab und sah das Mädchen mit dem Prügel in der Hand forschend an. „Von Kräutern scheinst du nichts zu verstehen. Manche sammelt man nachts bei Vollmond, andere in der Dämmerung oder an Neumond, und wieder andere nur an bestimmten Tagen im Jahr.“ Sie deutete auf Sahras Bein. „Du hast dich verletzt? Zeig mir die Wunde.“
„Ach, nur ein Kratzer.“