Von Männern und Bärten - Christopher Oldstone-Moore - E-Book

Von Männern und Bärten E-Book

Christopher Oldstone-Moore

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Beschreibung

Geschichte geht nur selten glatt, da hilft auch keine Rasur. Das gegenwärtige Comeback des Barts führt ein jahrhundertealtes Muster fort: Gesichtsmoden verändern sich als Reaktion auf historische Umbrüche, widerborstige Massenbewegungen weichen immer wieder vom rasierten Standardmann ab. Es gab eben nicht nur bartlose Feldherren wie Alexander, den Großen oder Napoleon, sondern auch zauselige Visionäre wie Jesus Christus oder Abraham Lincoln. Kurzweilig und mit unterhaltsamen Anekdoten erzählt Christopher Oldstone-Moore die verschlungene Geschichte Von Männern und Bärten.


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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

Einführung: DIE GESCHICHTE HAT EINEN BART

Kapitel 1 WARUM TRAGEN MÄNNER BÄRTE?

Kapitel 2 AM ANFANG

Kapitel 3 DIE KLASSISCHE RASUR

Kapitel 4 WIE JESUS ZU SEINEM BART KAM

Kapitel 5 DER INNERE BART

Kapitel 6 DIE RENAISSANCE DES BARTS

Kapitel 7 DIE RASUR DER VERNUNFT

Kapitel 8 DER BART IN DER ROMANTISCHEN VORSTELLUNG

Kapitel 9 PATRIARCHEN DES INDUSTRIELLEN ZEITALTERS

Kapitel 10 MUSKELN UND MOUSTACHES

Kapitel 11 ANGESTELLTE DES ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERTS

Kapitel 12 DAS HAAR DER LINKEN

Kapitel 13 DIE MÄNNER DER POSTMODERNE

Fazit

Danksagung

ANMERKUNGEN

BILDNACHWEIS

REGISTER

Über das Buch

Geschichte geht nur selten glatt, da hilft auch keine Rasur. Das gegenwärtige Comeback des Barts führt ein jahrhundertealtes Muster fort: Gesichtsmoden verändern sich als Reaktion auf historische Umbrüche, widerborstige Massenbewegungen weichen immer wieder vom rasierten Standardmann ab. Es gab eben nicht nur bartlose Feldherren wie Alexander, den Großen oder Napoleon, sondern auch zauselige Visionäre wie Jesus Christus oder Abraham Lincoln. Kurzweilig und mit unterhaltsamen Anekdoten erzählt Christopher Oldstone-Moore die verschlungene Geschichte von Männern und Bärten.

Über den Autor

Christopher Oldstone-Moore lehrt an der Wright State University in Dayton, Ohio.

CHRISTOPHEROLDSTONE-MOORE

Eine Geschichte der Gesichtsmode

Übersetzung aus dem amerikanischen Englischvon Viola Krauß

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Of Beards and Men. The Revealing History of Facial Hair«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2017 by Christopher Oldstone-Moore

Licensed by The University of Chicago Press, Chicago, Illinois, U.S.A.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Matthias Auer, Bod.-Ludwigshafen

Umschlaggestaltung: Massimo Peter unter Verwendung eines Motivs von © shutterstock: RomanYa

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-4072-3

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für JennifersowieCaroline, Aileen und Marilee,

Einführung:DIE GESCHICHTE HAT EINEN BART

Die heutige Welt hat einen stetig wachsenden Trend zu verzeichnen: Bärte. Der Konsumgüter-Riese Procter & Gamble berichtete 2014, dass eben jener Haarwuchs die Nachfrage nach Gillette-Rasierern und Rasierzubehör reduziert habe. Ein bei der Zeitschrift Atlantic mitwirkender Wissenschaftler erklärte das Jahr 2013 zum »Meilenstein für die Gesichtsbehaarung«1. Die bauernschlauen Langbärte der Reality-TV-Sendung Duck Dynasty und die schnauzbärtigen Baseballspieler der Boston Red Sox machten ebenso Schlagzeilen wie der Bartklau in einer Amischen-Gemeinde in Ohio, der Wirbel um die Gesichtsfusseln eines BBC-Nachrichtensprechers, die Kampagne der Sikhs gegen das Bartverbot in der US Army sowie das Wiederaufkommen des Schnauzbarts in Frankreich bzw. der Türkei, ganz zu schweigen vom wachsenden öffentlichen Interesse am »Movember« (»Moustache November«), dem jährlichen Fundraising-Event in Australien, während dem sich die Männer demonstrativ einen Bart wachsen lassen.

Ist dies der Beginn einer neuen Ära oder nur eine kleine Unwucht in der Kulturgeschichte? Es bleibt abzuwarten. Eines aber ist sicher: Veränderungen bei der Gesichtsbehaarung sind niemals nur eine Frage der Mode. Bärte und Schnurrbärte besitzen eine solche Macht, dass sie selbst im Land der unbegrenzten Möglichkeiten der Kontrolle von Verwaltung und Unternehmen unterliegen. US-Bürger besitzen keinen Rechtsanspruch auf das Tragen eines Barts oder Schnurrbarts, dies bestätigte eine Entscheidung des Obersten Gerichtshof im Fall Kelley gegen Johnson im Jahr 1976, welches die Befugnis des Arbeitgebers bekräftigte, über das äußere Erscheinungsbild seiner Angestellten zu bestimmen. Solcherlei Freiheitsbeschränkungen deuten stark darauf hin, dass es hier um mehr als einen modischen Stil geht. Tatsächlich weist die Geschichte des Barts keinerlei Modezyklen auf, sondern langsamere richtungsweisende Veränderungen, bedingt durch tiefer liegende gesellschaftliche Kräfte, welche unsere Vorstellung von Männlichkeit formen und wieder umformen. Bei jeder Neudefinition von Männlichkeit verändert sich der Stil der Gesichtsbehaarung entsprechend.

Judith Butler, die Koryphäe der Gender Studies, behauptet, dass unsere Worte, Handlungen und Körper nicht einfach Ausdruck unserer Persönlichkeit sind; mit ihnen setzten wir unser männliches oder weibliches Ich zusammen. Oder anders gesagt: Unsere Identität formt sich ständig neu anhand dessen, was wir tun und sagen.2 So gesehen ist das Rasieren oder Modellieren unserer Gesichtsbehaarung seit jeher nicht nur wichtig gewesen, um Männlichkeit auszudrücken, sondern um Mann sein zu können. Die Gesellschaft wiederum setzt akzeptierte Männlichkeitstypen durch, indem sie die Gesichtsbehaarung reguliert. Womit wir beim ersten Grundsatz der Bartgeschichte angekommen wären: Am Gesicht lassen sich die Spielarten dessen, was männlich ist, ablesen. Religionen, Nationen und politische Bewegungen stellen eigene Normen und Werte auf und setzen die menschliche Haartracht und andere Symbole ein, um diese Wertvorstellungen in der Welt zu propagieren. Sollte es Streitigkeiten wegen gegensätzlicher Leitbilder von Männlichkeit geben, kann der unterschiedliche Umgang mit Gesichtsbehaarung auf den eigenen Standpunkt hindeuten.

Die Vorstellung, unsere Gesichtsbehaarung sei eine rein persönliche Angelegenheit, hält sich indes hartnäckig, trotz zahlreicher Belege für das Gegenteil. In den heutigen USA zum Beispiel kann man wegen des Tragens eines Barts mit Schimpf und Schande aus dem Militär gejagt, von seinem Arbeitgeber gefeuert, in einem Boxkampf disqualifiziert werden, einen politischen Wettkampf verlieren oder sogar als Terrorist abgestempelt werden. Diese Realität hängt auch mit dem zweiten Grundsatz der Bartgeschichte zusammen: Gesichtsbehaarung ist politisch. Da das Bild von echter Männlichkeit eng mit gesellschaftlicher und politischer Autorität verknüpft ist, hat jedes Symbol von Männlichkeit eine gewisse politische und moralische Bedeutung. Was wiederum erklärt, weshalb Gesichtsbehaarung große Empörung hervorrufen kann und der sozialen Kontrolle unterliegt.

Ein weiterer Irrtum besteht darin, dass es eine Frage der Bequemlichkeit sei, ob man sich rasiere oder nicht, und dass die Vorherrschaft der glatten Wange den Fortschritten der Rasiertechnologie zu verdanken sei. Die Wahrheit liegt woanders. Das Rasieren ist so alt wie die menschliche Zivilisation selbst, und fehlende moderne Annehmlichkeiten haben die Gesellschaft nie davon abgehalten, sich der symbolischen Kraft der Haarentfernung zu bedienen. Womit wir beim dritten Grundsatz der Bartgeschichte angelangt wären: Die Sprache der Gesichtsbehaarung beruht auf dem Gegensatz zwischen rasiert und unrasiert. Auf dieser grundlegenden Unterscheidung und ihren zahlreichen Spielarten beruhend, haben die westlichen Gesellschaften ein visuelles Vokabular für Persönlichkeit und soziales Zugehörigkeitsgefühl geschaffen.

Die Geschichte lehrt uns, dass wir den derzeitigen Trend zum Bart nicht vorschnell als Beginn einer neuen Ära deklarieren sollten. Ungeachtet einiger Sportstars und Hollywood-Sternchen stellt ein glattes Gesicht noch immer die Norm dar. Das beweist die Beliebtheit von Bart-Klubs, denn ihr Erfolg beruht auf der Annahme, dass das Tragen eines Barts oder Schnurrbarts ein gewagtes Unterfangen sei. Tief greifende Veränderungen der Normen für Gesichtsbehaarung stellen sich äußerst selten ein, und wenn sie es tun, dann deuten sie auf einen echten Wandel der Geschichte hin. Deshalb gilt als vierter Grundsatz der Bartgeschichte: Die das männliche Gesicht prägenden Kräfte bedürfen einer langfristigen Betrachtung. Historiker, die sich auf einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeitspanne konzentrieren, laufen Gefahr, das große Ganze aus den Augen zu verlieren, das erst im Laufe der Jahrhunderte zum Vorschein kommt. Mit der Bartgeschichte verhält es sich nämlich wie mit einem Mosaik: Je weiter weg man sich befindet, desto schärfer erscheint einem das Bild.

Anhand des Beispiels von Alexander dem Großen lassen sich sämtliche dieser Dimensionen auffächern. Dieser Mann hat den Lauf der westlichen Zivilisation geändert und das Gesicht männlicher Ehrbarkeit genauso. Durch die Eroberung Ägyptens und Persiens machte er sich selbst und seine griechischsprachigen Kollegen zu den Herrschern der bis dato bekannten Welt. Und doch wählte er für sich ein Aussehen – Porträts, Statuen und Münzen zeigen ihn mit jugendlichem und sauber rasiertem Gesicht –, das in der Tradition Griechenlands weithin als unmännlich verschrien war. Wieso hat er das getan? Wichtiger noch, wieso ahmten ihn achtbare griechische und römische Männer die nächsten vierhundert Jahre lang nach? Die Antwort darauf lautet, dass er sich als Halbgott begriff und auch danach aussehen wollte. Da die mythischen Helden wie Achilles und Herakles von den damaligen Künstlern als ewig jung und bartlos dargestellt wurden, rasierte Alexander der Große sich und ermunterte seine Gefolgsleute dazu, es ihm gleichzutun. Er besaß große Überzeugungskraft. In der Antike imitierten die Männer der Elite – beziehungsweise Männer von geringerem Rang, die nach Höherem strebten – seine Aufmachung, um das Heroische auch in sich selbst anzudeuten. Dabei handelte es sich keineswegs um eine Marotte oder eine Modeerscheinung, sondern um machtvolle Symbolik. Erst nach vielen fetten Jahren für die Herrenfrisöre der Antike wandelte sich die Philosophie dessen, was männliche Ehre ausmacht, und zerstörte schließlich die Macht des rasierten Ideals.

Jedes Kapitel des vorliegenden Buchs behandelt eine bestimmte Ära der Bartgeschichte, vom Ursprung der großen Städte Mesopotamiens und Ägyptens bis zum Aufstieg des glatthäutigen »Metrosexuellen« in unserer Zeit.

In den dreiundzwanzig Jahrhunderten, nachdem Alexander der Große Schule gemacht hatte, war das Rasieren der Standardmodus männlicher Aufmachung gewesen und wurde von vier großen Bartbewegungen unterbrochen. Die erste dauerte etwa ein Jahrhundert und wurde durch den römischen Kaiser Hadrian im zweiten Jahrhundert angestoßen. Während der zweiten Phase, die im Hochmittelalter stattfand, ergänzten Könige, Adlige und Ritter ihre prunkvollen Rüstungen durch Vollbärte. Diese Strömung war jedoch nicht allumfassend. Männer der Kirche rasierten sich, insbesondere nach dem elften Jahrhundert, als ihnen dies vom Kirchenrecht regelrecht vorgeschrieben wurde. Das Rasieren war Teil der wohlüberlegten Bemühungen um eine ganz eigene Sorte von Männlichkeit, die wiederum ihren ganz eigenen Anspruch auf spirituelle und politische Autorität geltend machte. Dieser »Haar-Dualismus« hatte sich jedoch bis zum späten vierzehnten Jahrhundert aufgelöst, als die Laien den glatt rasierten Look der Geistlichen übernahmen. Die Renaissance brachte dann eine dritte Bartbewegung hervor, die größtenteils vom Widerstand gegen die kirchlichen Werte und Aufmachungen des Mittelalters inspiriert war. Der vierte und letzte Auswuchs von Bärten war vergleichsweise kurz und umfasste lediglich die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. In dieser schwatzhaften und ziemlich verklemmten Ära hielten die Männer nicht hinterm Berg mit ihrem Bestreben, eine neue Männlichkeit für die moderne Welt kreieren zu wollen.

Um die Trends der Gegenwart abschätzen zu können, müssen wir sie vor diesem Hintergrund betrachten, unter Einbeziehung der gesellschaftlichen Kräfte, die das Gestalten des Körpers beeinflussen und umgekehrt. Wer die Konferenztische der Großunternehmen, die Räume des Kapitols und die Speisesäle des Militärs absucht, wird keine Bartbewegung ausmachen können. Erst wenn Gesichtsbehaarung wünschenswert oder überhaupt zulässig ist für Soldaten, wirtschaftliche Führungskräfte und Abgeordnete, können wir sicher sein, dass ein neues Kapitel in der Geschichte der Männlichkeit begonnen hat.

Aufgrund der beschränkten räumlichen und quellentechnischen Möglichkeiten konzentriert sich diese erste Untersuchung der Bartgeschichte primär auf die männliche Elite von Westeuropa und Nordamerika, welche über genügend Zeit und Geld verfügte, um ihren Körper nach ihrem Geschmack zu gestalten, und deren Lebensführung die soziale Norm bestimmte. Die Männer außerhalb jener Machtzentren konnten den von der Elite etablierten Stil nicht einfach missachten, sondern mussten sich ihm entweder so gut es ging anpassen oder sich trotzig abseitsstellen. Dennoch bleibt es eine wichtige Aufgabe zukünftiger Autoren, die Geschichte der männlichen Haarpracht in anderen Teilen der Welt und die von Minderheiten und nicht der Elite zugehörigen Gruppen niederzuschreiben.

Unsere Zeitreise beginnt in der Urgeschichte, in der weit entfernten evolutionären Vergangenheit. Manche mögen behaupten, die Bedeutung des Barts sei von jeher von der natürlichen Auslese bestimmt gewesen. Im Sinne dieser Vorstellung waren Evolutionsbiologen und Psychologen eifrig bemüht, jenes Rätsel der Natur, den menschlichen Bart, zu entwirren.

Kapitel 1WARUM TRAGEN MÄNNER BÄRTE?

Die menschliche Zivilisation befindet sich im ständigen Kampf mit der Natur. Das ist mindestens in Bezug auf die Gesichtsbehaarung richtig. Im Eifer dieses Jahrhunderte währenden Kampfs, für den jedes Jahr Milliarden Dollar ausgegeben werden, haben nur wenige einen Augenblick lang innegehalten und sich Gedanken darüber gemacht, wie dieser Kampf überhaupt begann. Wieso hat die Natur den Männern – sowie manchen Frauen – einen Bart geschenkt? Wie ist ein Streifen Haar auf ihren Wangen und ihrem Kinn gelandet, den sie gemäß gesellschaftlicher Regeln jeden Morgen abschaben sollen? Wer die Bedeutung von Bärten verstehen möchte, der sollte mit diesen grundlegenden Fragen beginnen. Und hierfür müssen sich die Nebel unserer evolutionären Vergangenheit lichten.

Es ist ein verführerischer Gedanke, dass Bärte ein Überbleibsel unserer sehr viel haarigeren Vorfahren sind, dass dieses Merkmal sich aus irgendeinem Grund gehalten hat, während wir uns gewissermaßen in den nackten Affen verwandelt haben. Der Bonobo allerdings, im Tierreich unser nächster Verwandter, hat keine Haare um den Mund herum – genau dort also, wo dem Menschen der Bart wächst. Wenn, dann haben die Menschen ihrem Gesicht also Haar hinzugefügt, so scheint es, obwohl es ihnen in den meisten anderen Regionen abhandengekommen ist. Und selbst wenn unsere Affen-Vorfahren Gesichtshaare besessen hätten, eine Frage bliebe offen: Wieso ist Frauen dieses Haar abhandengekommen und Männern nicht? Wie es aussieht, besitzt lediglich die männliche Spezies Mensch Haare an Kinn und Oberlippe.

1.1 Männlicher Bonobo

Neben Glatzköpfigkeit stellt der Bart außerdem eines der letzten Geschlechtsmerkmale in der Entwicklung des Mannes dar. Biologen haben herausgefunden, dass sowohl Bartwuchs als auch Haarausfall durch Androgene wie Testosteron hervorgerufen werden und die Wachstumsgeschwindigkeit ganz gewöhnlichen Hormonzyklen unterworfen ist. Die Fachzeitschrift Nature berichtete 1970 von den Untersuchungen eines Wissenschaftlers, der vermehrten Bartwuchs (durch das Wiegen des Verschnitts nach der Rasur) immer dann festgestellt hat, wenn er zu seiner weit entfernt wohnenden Geliebten gefahren ist.3 Er schloss daraus, dass sein Androgenspiegel in froher Erwartung der sexuellen Aktivität in die Höhe geschossen sei, was wiederum den Bartwuchs beschleunigt habe. In späteren Studien hat man herausgefunden, dass die Androgenproduktion sowohl einen Fünf- oder Sechs-Tage-Rhythmus als auch einen Tageszyklus aufweist, wobei die Gesichtsbehaarung entsprechend unterschiedlich wächst. Ein kalifornischer Wissenschaftler berichtete 1986, dass Krankheiten und Jetlags die Geschwindigkeit seines Bartwuchses beeinflussten und somit die Hormonzyklen durchbrächen.4 Kürzlich haben Biologen einige der Hormonwege aufgezeichnet, die Androgene mit den Haarfollikeln in Gesichts- und Kopfhaut verbinden. Männliche Hormone sind also beteiligt an den Mechanismen von Bartwuchs und Haarverlust, so viel steht fest. Das erklärt jedoch noch lange nicht, wieso die betreffenden Androgene diese Funktion erworben haben.

DIE EVOLUTION DES BARTS

Schon Charles Darwin höchstpersönlich hat als Evolutionstheoretiker über die Ursprünge des Barts gegrübelt. In Die Abstammung des Menschen (1871) beschreibt er einen Vorgang der sexuellen Selektion, die zusammen mit der natürlichen Selektion den Verlauf der menschlichen Entwicklung forme. Die natürliche Selektion verändert eine Spezies dadurch, dass sie Individuen mit solchen Merkmalen bevorzugt, die ihre Überlebens- und Fortpflanzungschancen vergrößern. Wobei es in Sachen Fortpflanzung noch eine weitere Ebene der Selektion gibt: Individuen derselben Spezies befinden sich in Konkurrenz um die Gunst von Paarungspartnern. Darwin meinte, um dieser Konkurrenz willen entwickelten die Tiere viele sekundäre Geschlechtsmerkmale, welche entweder als Waffen gegen gleichgeschlechtliche Rivalen (wie etwa Hörner oder Stoßzähne) oder als Ornament zum Anlocken potenzieller Partner (wie etwa farbiges Haar oder Gefieder) eingesetzt würden. Diejenigen Individuen mit dem verlockenderen Ornament oder den stärkeren Waffen könnten sich erfolgreich fortpflanzen und ihre spezifischen Merkmale weitergeben. Darwin ordnete den männlichen Bart der Kategorie Ornament zu und vermutete, er besitze eine anziehende Wirkung auf Frauen.5 Im Lauf der Jahrtausende, so die Theorie, konnten sich bärtige Männer erfolgreicher fortpflanzen als ihre glatten Rivalen, und so kam der menschliche Bart zu seiner derzeitigen Form. Kurz gesagt: Die Männer heutzutage trügen Bärte, weil sie unseren prähistorischen weiblichen Vorfahren gefallen hätten.

1.2 Charles Darwin

Darwin hatte allerdings ein Problem: Einige Anthropologen berichteten seinerzeit, dass sich die menschlichen Populationen in der Fülle des Barts stark unterschieden. So ging man beispielsweise davon aus, dass die Ureinwohner Amerikas quasi nicht imstande wären, sich einen Bart wachsen zu lassen. Darwin mutmaßte, dass einige weibliche Vorfahren an einigen Orten keine Bärte gemocht hätten und deshalb eine fortwährende entgegengesetzte Selektion stattgefunden habe. Das hieße, der Bart erfüllt nur dort die Funktion eines Ornaments, wo er tatsächlich auch als Ornament angesehen wird. Um die schwierige Frage zu beantworten, ob dem wirklich so ist, führte Darwin noch einen weiteren evolutionären Prozess ins Feld: die Vererbung erworbener Merkmale. Vor Darwin hat bereits Jean Baptiste Lamarck behauptet, dass sich Spezies im Lauf der Zeit veränderten, indem sie neu erworbene Merkmale an ihren Nachwuchs weitergäben. Streckte eine Giraffe etwa ihr ganzes Leben lang ihren Hals, um an die Nahrung in den Baumgipfeln zu gelangen, so würden ihre Nachkommen mit längeren Hälsen zur Welt kommen. Der eine oder andere Lehrer oder Professor mag die Vererbung erworbener Merkmale als nichtdarwinistisch abtun – Darwin jedoch hat dieses Prinzip in Die Abstammung der Arten wiederholt ins Feld geführt. So auch beim Thema Bärte. In Kenntnis der anthropologischen Beobachtungen von Völkern, die ohne Unterlass ihre ungewollten Haare im Gesicht auszupften, sowie von (äußerst zweifelhaften) Tierversuchen, die angeblich zeigten, dass operative Abänderungen an die nächste Generation vererbt werden könnten, schlussfolgerte er: »Es ist auch möglich, dass der lange fortgesetzte Gebrauch, das Haar auszureißen, eine vererbte Wirkung hervorgebracht hat.«6 Mit anderen Worten: Männer, die ihre Haare abschneiden oder auszupfen, zeugen Jungs, denen in der Pubertät weniger Haare wachsen. Die Vererbung erworbener Merkmale vervollständigt demzufolge einen Prozess, der mit der sexuellen Selektion einsetzte und manche Männergruppen mit großen dichten Bärten, andere hingegen mit praktisch gar keinen zurücklässt. Diese Analyse schrieb Frauen einen ganz schön großen Einfluss auf die Evolution des Barts zu: Je nach Geschmack suchten sie sich mehr oder weniger bärtige Männer aus, und Männer zupften sich die Haare aus, um diesem Geschmack zu entsprechen, was wiederum bleibende körperliche Veränderungen nach sich zog.

Indem er die Evolution des Barts zu einer Frage des Geschmacks und nicht etwa des Überlebens machte, lieferte Darwin keine wahrhaft darwinistische Erklärung, das heißt, einen auf dem Prozess der natürlichen Selektion fußenden Ansatz. Genau genommen warf seine Meinung mehr Fragen auf, als sie beantwortete. Was machte den Bart zum so verführerischen Ornament für manche Damen und zu einer Abscheulichkeit für andere? Wenn es dabei nur um eine Frage des Geschmacks gegangen wäre, wieso schlugen die Gefühle diesbezüglich dann solche Wellen, dass einige prähistorische Frauen potenzielle Partner verstießen? Ging es dabei nur um Eitelkeiten? In Anbetracht solcher Fragen lag die Arbeit für die Evolutionsbiologen nach Darwin bereits auf der Hand.

Nach neuestem Stand der Dinge schlagen die Theoretiker drei grundlegende Lösungen für das Bart-Rätsel vor. Die einfachste davon, die Darwin selbst in Betracht gezogen und verworfen hat: Bärte dienen gar keinem Zweck. Unfälle passieren immer und überall, so auch in der Evolution. Angenommen, ein Gen wird in der natürlichen Selektion bevorzugt, weil es die Haut widerstandsfähig macht. Dieses Gen könnte zusätzlich die sekundäre, an sich nicht wichtige Eigenschaft aufweisen, eben jener Haut eine gewisse Farbe zu verleihen. Da es schwierig ist, der Gesichtsbehaarung einen offensichtlichen Überlebenswert zuzuschreiben, könnte es sich bei ihr also um ein Beispiel für eben genanntes Phänomen handeln. Der Großteil der Wissenschaftler hat sich jedoch dagegen gesträubt, es dabei zu belassen. Zum einen ist Bedeutungslosigkeit eine Hypothese, die sich nicht beweisen lässt. Man kann nicht mit Gewissheit sagen, dass Bärte einfach aus Lust an der Freude existieren, wenigstens nicht, ehe nicht die Funktionen sämtlicher menschlicher Genome entschlüsselt worden sind. Wissenschaftler wollen den Dingen schließlich auf den Grund gehen, und die Annahme, dass Bärte einem Zweck dienen, ist eben weit interessanter, so nebulös dieser Zweck auch sein mag.

Der zweite Lösungsansatz fußt auf der Vorstellung Darwins, dass es sich bei Bärten um Ornamente handle, welche die prähistorische Damenwelt verzückt hätten – und vermutlich auch die heutige Damenwelt verzücken können. Die Anhänger dieser Gedankenfolge haben sich darangemacht, Darwins Vertrauen auf den unklaren Begriff von Geschmack durch konkretere psychologische und biologische Erklärungen für die Vorlieben von Frauen zu ersetzen.

Die dritte Theorie wiederum hat einen genau entgegengesetzten Ansatz, indem sie behauptet, dass Haar eine Drohwirkung besitze und dazu diene, männliche Rivalen abzuschrecken und Überlegenheit zu demonstrieren. Frauen wären demzufolge nicht vom Bart als solchem angezogen worden, sondern von der sozialen Überlegenheit, die beeindruckend bärtige Männer gegenüber anderen Männern genießen.

Die Herausforderung für Wissenschaftler besteht darin, diese miteinander konkurrierenden Theorien zu überprüfen. Wie lässt es sich mit Sicherheit sagen, ob Bärte in der evolutionären Vergangenheit eher als Lockmittel für Frauen oder als Drohmittel gegenüber Männern dienten? Eine Methode wäre das Beobachten der Rolle von analogen geschlechtsspezifischen Verzierungen von Tieren – Gefieder, Krausen, Geweihe und so weiter. Eine andere das Testen männlicher und weiblicher Reaktionen auf bärtige Gesichter, um herauszufinden, ob die urwüchsigen Triebe unserer Vorfahren vor Tausenden von Jahren heute noch nachklingen.

ORNAMENTE

Darwins Bart-als-Ornament-Theorie hat im Lauf der Jahre beachtliche wissenschaftliche Bestätigung erfahren. Eine ihrer Anhängerinnen ist die Evolutionspsychologin Nancy Etcoff. Sie argumentiert, dass das Streben nach einem gut aussehenden Partner »Teil der universellen menschlichen Erfahrung« sei und »Vergnügen bereitet, die Aufmerksamkeit fesselt und die Menschen zu Taten antreibt, die das Überleben unserer Gene sicherstellen«.7 Etcoff und andere, die sich mit dem Phänomen der körperlichen Anziehungskraft befasst haben, konnten zahlreiche Belege dafür finden, dass Männer sich von bestimmten körperlichen Attributen bei Frauen angezogen fühlen. Das männliche Faible für Blondinen beispielsweise wurde im Rahmen von psychologischen Versuchen wieder und wieder erwiesen. Genau wie die Vorliebe für ein hohes Taille-Hüft-Verhältnis sowie hohe Wangenknochen und große Augen. Frauen hingegen scheinen ihr Urteil weniger aufgrund von körperlichen Qualitäten zu fällen, und sie stimmen weniger darin überein, wie ein Mann im Idealfall auszusehen hat – außer dass er groß (aber nicht zu groß) sein sollte. Evolutionstheoretiker erklären die weniger oberflächliche Herangehensweise der Frauen bei der Partnerwahl, indem sie auf die evolutionäre Logik der weiblichen Fortpflanzungsmechanismen verweisen. Da die Gebärfähigkeit der Frau ihre Grenzen hat, der Aufwand der Kindererziehung hingegen ziemlich groß ist, entpuppt sich ein hilfsbereiter, zuverlässiger Mann für sie als eher von Nutzen als ein einfach nur hübscher Mann. Wobei das nicht bedeutet, dass Äußerlichkeiten keine Rolle spielen. Zahlreiche Studien belegen, dass Frauen das Aussehen sehr wohl berücksichtigen, und manchen ist die körperliche Attraktivität sogar sehr wichtig. Des Weiteren deuten Untersuchungen darauf hin, dass Frauen sich hauptsächlich auf das Gesicht konzentrieren, wenn das äußere Erscheinungsbild eine Rolle für sie spielt. All das weist auf Gründe hin, warum Frauen den Wert eines Barts zu schätzen wissen könnten.

Wenn sie das Gesicht eines Mannes betrachten, beurteilen Frauen womöglich unbewusst die genetische Güte eines potenziellen Partners. Das legen Verhaltensstudien von Tieren nahe. Einige Vogelarten wie etwa Pfauen bilden übermäßige Färbungen oder Schweife heraus, weil diese von Geschlechtspartnern gemocht werden. Die Pfauen mit dem längsten Schweif haben den größten Fortpflanzungserfolg, und im Laufe der Generationen wird der Schweif länger und länger. Warum interessieren sich die Weibchen aber so sehr für Größe und Farbe? Wird diesen Balzmerkmalen irgendeine Bedeutung beigemessen, oder ziehen die Männchen nur eine Show ab, um die weiblichen Vogelhirne zu beeindrucken? Der Evolutionsbiologe Amotz Zahavi behauptete 1975, dass es sich bei Balzmerkmalen wie langen Federn nicht einfach nur um eine schöne Lüge, sondern um die »ehrliche« Anpreisung besserer Gene handle. Gemäß Zahavis »Handicap-Prinzip« bringen Balzmerkmale wie übergroße Federn oder das breite Geweih eines Bocks erhebliche körperliche Kosten in Sachen Energie und Ernährung für den Eigentümer mit sich. Tiere, die eine beeindruckende Show hinlegen können, stellen den Geschlechtspartnern damit ihre Gesundheit ergo ihre Begehrtheit unter Beweis.8 In den 1980ern schlugen einige Forscher noch einen weiteren Zweck der Balzmerkmale vor: das Signalisieren der eigenen Widerstandskraft gegenüber Krankheiten. Da Krankheiten die Qualität und Größe von Federn, Krausen, Geweihen etc. für gewöhnlich mindern, deute ein gutes Balzmerkmal darauf hin, dass das Männchen gesund sei. Ein prahlerisches Männchen preise also sein hervorragendes Immunsystem sowie seinen Erfolg bei der Nahrungssuche an. Das Gleiche könnte für Bärte gelten. Prähistorische Frauen vermochten demnach einen gesunden Mann am Gesicht zu erkennen.

Dieser Gedanke von »guten Genen« wurde von der Hormonforschung in den 1990ern bekräftigt, als Biologen die Theorie der »Immunkompetenz« entwickelten. Demnach verweisen beeindruckende körperliche Merkmale nicht nur auf eine gute Gesundheit, sondern sind ein direkter Beweis für die Immunität gegen Krankheiten. Der hohe Androgenspiegel, der für diese Balzmerkmale erforderlich ist, erhöht nämlich das Krankheitsrisiko, indem er das Immunsystem schwächt. Testosteron schwächt das Immunsystem, um die Lebensfähigkeit der Spermien (welche als körperfremde Zellen behandelt werden) sicherzustellen; ein gesundes Männchen mit großen sekundären Geschlechtsmerkmalen (und demzufolge hohem Testosteronspiegel) schindet also genetisch einen noch größeren Eindruck, indem es ungeachtet seines geschwächten Immunsystems Krankheiten zu trotzen vermag.9 Im Tierreich sagen gesunde Männchen mit großem Schweif, Horn oder Ähnlichem den Weibchen also: »Schaut her, was ich in immunologischer Hinsicht alles hinkriege, obwohl mir die eine Hand quasi auf den Rücken gefesselt ist!« Und womöglich verhält es sich mit dem Bart wie mit dem Schwanzgefieder oder dem Geweih. Auch der Bart ist ein von Testosteron beeinflusstes männliches Merkmal – eine Reklametafel für genetische Kompetenz. Fällt Frauen das auf? Versetzt es sie in Verzückung? Das haben viele Psychologen herauszufinden versucht.

In den vergangenen fünf Jahrzehnten haben Dutzende von Versuchen die Eindrücke und Reaktionen auf verschiedene Arten männlicher Gesichter erfasst, um die Stereotypen und Vorurteile einschätzen zu können, die bei der Wahl von Geschlechtspartnern, Ehepartnern, Angestellten oder Politikern involviert sind. Sie alle haben Licht ins Dunkel der Bart-als-Ornament-Theorie gebracht. Es herrscht beinahe komplette Einstimmigkeit darüber, dass der Bart für die Frau eine ausschlaggebende Rolle beim ersten Eindruck eines Mannes spielt. Ein Bart ließ die Männer beinahe immer älter und maskuliner wirken. Aber macht sie das auch attraktiver? Bei letzterer Frage sind die Forscher zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen, je nach untersuchtem Thema und Art und Weise der Fragestellung. Manchmal hielt man den Bart für sehr attraktiv, manchmal überhaupt nicht.

Eine im Jahr 1969 veröffentlichte Untersuchung der University of Chicago ergab, dass sowohl Männer als auch Frauen bärtige Männer attraktiver als rasierte Männer fanden.10 Einige Tage später stuften Studenten zweier weiterer Universitäten des Mittleren Westens bärtige Männer (auf Fotos) jedoch als weniger freundlich, lieb und hübsch als bartlose Männer ein.11 Kurz darauf bestätigten Studenten in Tennessee und Kalifornien die ursprünglichen Ergebnisse aus Chicago, indem sie bärtigen Männern bessere Noten in Sachen Reife, Aufrichtigkeit, Großzügigkeit und gutem Aussehen erteilten.12 Solch widersprüchliche Ergebnisse inspirierten Forscher der University of Wyoming zu einer Umfrage, in der die Studentinnen einfach geradeaus gefragt wurden, ob sie Männer mit Gesichtsbehaarung bevorzugten. Von den 482 Frauen, die den Fragebogen ausfüllten, bevorzugten lediglich 17 Prozent einen Bart, wohingegen viele von ihnen eine Abneigung gegenüber Bärten kundtaten; etwa 42 Prozent mochten Schnurrbärte.13

Bis in die späten 1970er sprachen zwei Studien für und drei Studien gegen die Attraktivität des Barts. Dieses Hin und Her sollte auch noch die beiden darauffolgenden Jahrzehnte andauern – mit ein paar geteilten Forschungsergebnissen obendrein. Eine Untersuchung kanadischer Studenten ergab 1978, dass bärtige Gesichter selbstbewusster, intelligenter und glücklicher, jedoch nicht als beliebter eingeschätzt wurden.14 1984 berichteten Forscher allerdings wieder, dass junge Männer und Frauen bärtige Gesichter als sympathischer und attraktiver einstuften.15 Bei einer Studie aus dem Jahr 1990, in der 228 Personalverantwortliche im Durchschnittsalter von 31 Jahren gebeten wurden, die Fotos von sechs Bewerbern mit gleichen beruflichen Qualifikationen zu beurteilen, wurden die Männer mit Bart als attraktiver, gelassener und kompetenter empfunden.16 Ein späterer Versuch im Jahr 2003 widerlegte dieses Ergebnis allerdings. Hier wurden Studenten gebeten, mögliche Job-Bewerber anhand von Lebensläufen und Fotos einzuschätzen. Diesmal gab es Vorurteile gegenüber den Bartträgern, obwohl die bärtigen Bewerber nur als geringfügig weniger attraktiv eingestuft wurden.17 Eine 1996 veröffentlichte Studie zum Thema weibliche Wahrnehmung, die an einer Universität in Kentucky durchgeführt wurde, ergab eine sogar noch negativere Wahrnehmung von Bärten. Gesichter mit Bart wurden als älter, aggressiver, sozial unreifer sowie weniger attraktiv eingeschätzt.18 Bis ins erste Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts hinein hatte sich der Bart in acht Studien als attraktiv und in acht Studien als unattraktiv herausgestellt. In zwei weiteren Studien waren die Ergebnisse geteilt. Man kann also mit Sicherheit sagen, dass jeder, der auf entscheidende Beweise für die Bart-als-Ornament-Theorie gehofft hatte, gefrustet war. Uneinheitliche Ergebnisse mögen das Produkt unterschiedlicher Methodik und Bedingungen sein, doch sie können auch den Triumph der Umwelt über die Anlagen widerspiegeln, was so viel heißt wie: Unsere kulturellen Vorlieben haben die verbliebenen primitiven Instinkte besiegt, welche die Evolution des Barts vorangetrieben hatten. Andererseits könnte die Ornament-Theorie auch ganz einfach falsch sein, und der Bart hat sich stattdessen als gesellschaftliche Waffe herausgebildet.

WAFFEN

Der Mangel an Beweiskraft für die Bart-als-Ornament-Theorie bildet einen guten Auftakt für die konkurrierende Theorie: der Bart als Waffe. Doch wie können Bärte den Männern beim Kämpfen behilflich sein? Der Soziobiologe R. Dale Guthrie lieferte darauf eine Antwort: Einschüchterung. Im Tierreich ist die Häufigkeit männlicher Konkurrenz um sexuelle Vorherrschaft offensichtlich, wobei männliche Balzmerkmale allgegenwärtig sind in »Flecken, Farbklecksen, Streifen, Mähnen, Krausen, Halslappen, kunstvollen Schweifen, Schöpfen, Schmuckfedern, knalligen Farbmustern, Kehllappen, aufblasbaren Hautsäcken, Kämmen, Kehlflecken, Büscheln, Bärten und vielen anderen Ornamenten«.19 Das eindrucksvolle Merkmal des Pfaus, seine leuchtenden Federn, dient Guthrie zufolge weniger dem Anlocken von Weibchen als dem Einschüchtern von männlichen Konkurrenten; seine Botschaft lautet nicht: »Wähle mich!«, sondern vielmehr: »Verschwinde, ich bin taffer!« Bei den Affen spielen Zähnefletschen und andere Gesten mit dem Mund eine wichtige Rolle als soziale Signale. Kiefer und Zähne stellen im Großteil des Tierreichs die wichtigsten Waffen dar, und viele der Ornamente männlicher Primaten scheinen mit Mund und Kiefer in Verbindung zu stehen, darunter Kontrastfarben im unteren Gesichtsbereich sowie die Kinnlinie betonende Haarkrausen. Ähnliches könnte bei unseren männlichen Vorfahren der Fall sein. Urmenschliche Fieslinge haben ihre Zeitgenossen durch Zähnefletschen und bedrohliches Knurren eingeschüchtert. Das Vorschieben des Kinns könnte diesen Effekt noch verstärkt haben. Guthrie macht darauf aufmerksam, dass ein quadratischer und angespannter Kiefer üblicherweise als Zeichen für Stärke oder Aggression gilt. Ein fliehendes Kinn hingegen steht für Schwäche, und manche Menschen kann man dabei beobachten, wie sie ihren Kiefer zurückziehen als Zeichen von Entsetzen oder Rückzug. Ein haariges Kinn dient dem gleichen Ziel. Mund und Gesicht wirken dadurch größer und deshalb bedrohlicher.

Guthrie mag recht damit haben, dass es sich beim Bart um ein Drohsignal handelt, dennoch lässt sich im Tierreich keine exakte Übereinstimmung für den menschlichen Bart finden. Wenn Affen ihre Zähne fletschen, so sind es die Zähne und nicht das weniger beeindruckende Kinnhaar, das die Botschaft vermittelt. Außerdem können Bärte sogar den gegenteiligen Effekt haben, nämlich Mund und Zähne kleiner wirken lassen statt größer. Der Waffen-Theorie könnte also genau wie der Ornament-Theorie eine unabhängige Verifizierung guttun. Wenn Bärte dem Einschüchtern von Männern statt dem Beeindrucken von Frauen dienen sollten, dann müsste man in psychologischen Experimenten bei den Frauen doch Gleichgültigkeit und bei den Männern Angst beobachten können. Verfechter der Bart-als-Waffe-Theorie werden durch die Tatsache bestärkt, dass die Probanden in den psychologischen Versuchen bärtige Männer tatsächlich als »maskuliner« und »dominanter« eingestuft haben. In der Chicagoer Studie von 1969, in der Bärte als attraktiv beurteilt wurden, wiesen die Forscher nach, dass der Bart eher Männer als Frauen beeindruckte.20 Einer Gruppe Studenten zeigte man die Zeichnung eines älteren Mannes mit Schnurrbart und eines jüngeren glatt rasierten Mannes und bat sie, deren Beziehung zu beschreiben. Die meisten männlichen Studenten – jedoch nicht die weiblichen – sprachen von der höheren Position und Autorität des Älteren. Als man einer weiteren Gruppe männlicher und weiblicher Studenten ein ähnliches Bild zeigte – dieses Mal war der Jüngere nicht glatt rasiert, sondern bärtig –, war die weibliche Rückmeldung unverändert, doch die männlichen Studenten tendierten dazu, die beiden Männer als Gleichrangige in einer Besprechung zu bezeichnen. In den Augen der männlichen Betrachter hatte der Bart den sozialen Rang des Jüngeren erhöht. Es könnte sein, dass der Bart ihn älter und nicht bedrohlicher hat wirken lassen. Trotzdem hat eine Reihe von Studien in den darauffolgenden Jahrzehnten bestätigt, dass sowohl Frauen als auch Männern ein bärtiger Mann potenter, wilder und aggressiver vorkommt.21 Die Studenten aus Kentucky, die bärtige Männer weniger attraktiv fanden, klassifizierten sie ebenfalls als älter und aggressiver. Bemerkenswerterweise stuften die männlichen Teilnehmer der Studie bärtige Gesichter als aggressiver ein als weibliche Teilnehmer.22

Der Gedanke, dass es sich beim Bart um eine Art Drohsignal handelt, erfuhr erst 2012 weitere Bestätigung, als die Reaktion von Neuseeländern und samoanischen Ureinwohnern auf Männerbilder getestet wurde. Trugen sie Bärte, so wurden dieselben Männer als älter, aggressiver und mit Blick auf den Status als höherrangig eingestuft, wenngleich auch als weniger attraktiv, und das seitens der Männer und der Frauen. Die Forscher zeigten auch Bilder derselben Männer mit wütenden Grimassen, und die bärtige Version erschien den Vertretern beider Kulturkreise besonders bedrohlich. Beweis dafür, so schlussfolgerten die Verfasser, dass der Bart tatsächlich zur Drohung eingesetzt werde und männliche Rivalen abschrecken solle.23

Obwohl diese Ergebnisse die Waffen-Theorie stützen, ist nicht ganz klar, wieso die Probanden die bärtigen Männer für aggressiver erachteten. In einigen Experimenten könnte die Assoziation mit Aggression und antisozialem Verhalten mit den kulturellen Implikationen des Barts zusammenhängen und nicht mit seiner kiefervergrößernden Wirkung. Schließlich standen Bärte in den vergangenen Jahrzehnten eher für politischen Nonkonformismus und antisoziale Aktivitäten statt für Angreifen und Beißen. Das Angsteinflößende daran könnte eher die Drogenkultur oder ein politisch radikales Umfeld sein als körperliche Überlegenheit als solche. Die Vertreter der Waffen-Theorie können also bestenfalls annehmen, dass die mit Bärten assoziierte Aggressivität tatsächlich mit ursprünglichen Drohsignalen korreliert und nicht mit kulturellen Stereotypen.

Jüngere Studien haben aber auch der Ornament-Theorie neuen Aufwind beschert. Im Besonderen hat man herausgefunden, dass Frauen Stoppeln mögen. 1990 wurde dies erstmals als Zufallsbefund von einem Team von Psychologen unter Michael Cunningham vermeldet, welche die genauen Gesichtszüge untersuchten, die ein attraktives Männergesicht ausmachen. Das Team ermittelte 26 Parameter, einschließlich 18 Dimensionsmessungen wie etwa Höhe und Breite von Auge, Nase, Mund, mitsamt veränderten Haaren und Kleidern. Frauen an den Universitäten Georgia, Illinois und Kentucky bewerteten anschließend die Attraktivität zahlreicher Männergesichter.24 Als wichtigster Indikator für ein attraktives Gesicht stellten sich große Augen heraus, genauso wie bei den männlichen Beurteilungen von Frauengesichtern. Bei Männergesichtern standen außerdem ein ausgeprägtes Kinn und ausgeprägte Wangenknochen in enger Verbindung mit gutem Aussehen. Die Verfasser der Studie sahen dies als Beweis für ihre Hypothese der »multiplen Fitness«, welche besagt, dass Frauen sowohl von »Neugeborenen«-Gesichtszügen wie großen Augen als auch von »reifen« maskulinen Gesichtszügen wie einem kräftigen Kinn angezogen werden. Schnurrbärte und Bärte schienen allerdings nicht Teil der »multiplen Fitness« zu sein, denn sie bekamen in puncto Attraktivität erneut schlechtere Noten. Die Forscher vermuteten, dass Bärte zu sehr von den bei Frauen populären »Neugeborenen«-Eigenschaften ablenkten.

Dass Frauen Bärte nicht besonders attraktiv finden, war nichts Neues, doch in einem ihrer Versuche stolperten die Wissenschaftler über eine positive Korrelation zwischen Attraktivität und schlampiger Rasur. Die Studie schloss Gesichter mit Schnurrbärten und Bärten absichtlich von den Versuchsbeispielen aus, doch einige der fotografierten Gesichter sahen glatter aus als andere. Die Rückmeldung der Frauen wies eine überraschende Vorliebe für einen in Ansätzen sichtbaren Bartwuchs auf (zum Beispiel durch Schattierung), obwohl der entsprechende Mann rasiert war. Den Forschern zufolge bedeutete dies, dass die Fähigkeit, sich einen Bart wachsen zu lassen, ein positives Merkmal von »Reife« darstelle, wohingegen ein tatsächlicher Bart die begehrenswerten Neugeborenen-Eigenschaften des Gesichts verdecke. Kurz gesagt handelt es sich bei Stoppeln um die von Frauen gewünschte Balance: maskulin, aber nicht zu maskulin. Zu diesem Ergebnis war man mit mehr Glück als Verstand gekommen. Stoppeln stellten einen Faktor dar, der sich durchsetzte, obwohl ihm niemand Beachtung geschenkt hatte.

Die Forscher machten sich darüber zunächst kaum Gedanken. Zurückblickend scheint er jedoch ans Licht zu bringen, was aus weiblicher Sicht richtig und was falsch ist in Bezug auf Bärte. Die Vorliebe für das Potenzial und nicht den eigentlichen Bart könnte die überregional unterschiedlichen Ergebnisse der Studien zur Gesichtsbehaarung erklären. Frauen wollen doppelt gewinnen. Unterschiedliche weibliche Probanden unter verschiedenen Lebensumständen beurteilen die Balance zwischen maskulin/nicht zu maskulin ebenso unterschiedlich und stufen den Bart entsprechend besser oder schlechter ein. Dieses Ergebnis bestärkt auch die Argumentation der Evolutionspsychologin Nancy Etcoff, die männliche Attraktivität als heiklen Balanceakt beschreibt. Frauen fühlten sich von einem starken und dominanten Look angezogen, so behauptet sie, darunter eine von einem Bart betonte kräftige Kinn- und Kieferpartie, doch diese Anziehung werde aufgewogen durch den Wunsch nach anderen Qualitäten eines Partners, wie etwa Verlässlichkeit und die Bereitschaft, Ressourcen in Kinder zu investieren.25 Folglich würden übermäßig maskuline Gesichter von Frauen als weniger attraktiv bewertet, weil es ihnen an ausreichend Güte und Soziabilität ermangle.

Umfragen unter deutschen Männern im Jahr 2003 sowie unter englischen Frauen im Jahr 2008 bestätigten den Stoppel-Effekt.26 Bei den Probanden letzterer Studie handelte es sich um Studentinnen der Northumbria University, die männliche Gesichter bewerteten, welche mittels Computer-Software so abgeändert wurden, dass sie ohne Gesichtsbehaarung, mit leichten Stoppeln, starken Stoppeln, leichtem Bart oder vollem Bart zu sehen waren. Die Frauen beurteilten die Variante mit leichten Stoppeln als am attraktivsten, gefolgt von stark stoppelig, leicht bärtig, glatt rasiert, vollbärtig. Es lag auf der Hand, dass eine gute Balance zwischen minimalen und maximalen maskulinen Eigenschaften die wünschenswerteste war, wobei ein glatt rasiertes Gesicht dem vollbärtigen vorgezogen wurde. Es scheint, als ob Frauen es vorzögen, sich lieber nicht zwischen Bart oder nicht Bart in einem Männergesicht entscheiden zu müssen. Dieses Ergebnis erfuhr erneute Bestätigung durch eine Studie im Jahr 2013, in der australische Frauen Fotos von Männern mit starken Stoppeln (etwa elf Tage nach der Rasur) attraktiver fanden als die sowohl vollbärtige als auch glatt rasierte Variante derselben Gesichter.27 Könnte dies das Happy End der Achterbahnfahrt uneinheitlicher Ergebnisse der Bartforschung sein? Diese Hoffnung ist sehr verlockend. Doch die Stoppel-Theorie entkommt nicht ganz den Schwierigkeiten früherer Studien, das heißt der Belastung durch kulturelle Vorurteile. Denn wie es der Zufall will, galten Stoppeln anfangs des einundzwanzigsten Jahrhunderts als stylish, es könnten also auch Modetrends und nicht die Evolution gewesen sein, die Studentinnen die Fragebögen haben entsprechend ausfüllen lassen.

Fünfzig Jahre psychologischer Untersuchungen haben also nach vielen Drehungen und Wendungen ein unbestimmtes Fazit ziehen lassen: Bärte sind attraktiv und auch wieder nicht. In gewissem Maße wirken sie einschüchternd, wenngleich nicht feststeht, warum dem so ist. Das größte Hindernis bei dieser Suche nach dem Ursprung des Barts ist die Unmöglichkeit, die Umstände des menschlichen Lebens vor Tausenden von Jahren nachzustellen und die Vorlieben der prähistorischen Frauen und Männer zu verstehen. Die gründliche Erschließung der menschlichen Genome könnte irgendwann neue Geheimnisse ans Tageslicht bringen, doch bis dahin werden wir uns mit den Grenzen der Biowissenschaften versöhnen müssen, was die Erklärung der Bedeutung des Barts anbelangt. Was allerdings kein Grund zur Verzweiflung ist. Bei einer abschließenden Betrachtung könnte die Biologie den am wenigsten wichtigen Faktor darstellen, wenn es darum geht, wieso Männer ihre Bärte wachsen lassen, kürzen oder abschneiden. Wir Menschen haben eine Art, die Grenzen der Natur zu umgehen, dem Körper neue Ziele und Lesarten einzuschreiben, die von der Evolution niemals beabsichtigt worden war. Unsere Körper unterliegen der Kultur genauso wie der Biologie, und das gilt insbesondere für das Haar, das sich relativ leicht manipulieren lässt.

Wenn nun also doch die Zivilisation und nicht die Evolution letzten Endes die Bedeutung des Haars bestimmt, so sollte man eine soziologische Theorie des Barts formulieren können. Viele haben sich bereits daran versucht. Einige mit freudianischem Denkansatz, wobei Haarmoden und Haarrituale ihre Kraft aus dem Ausdrücken oder Unterdrücken der Libido beziehen. Andere Forscher haben Theorien um die Verwendung von Haar und Bärten zur Etablierung von Gesellschafts- und Geschlechterabgrenzungen gesponnen; diese Gedanken konnten viele, wenngleich nicht alle Verwendungen des Haars in der sozialen Kommunikation erklären. Kürzlich räumte der französische Anthropologe Christian Bromberger ein Versagen der Geisteswissenschaftler bezüglich der Bedeutungsklärung des Haars ein.28 Als Experte in nahöstlicher Anthropologie war Bromberger fasziniert davon, wie sich Muslime und Christen seit dem zehnten Jahrhundert durch die Gesichtsbehaarung voneinander abgehoben haben, genau wie römische von griechisch-orthodoxen Christen. Bromberger wusste allerdings, dass noch mehr dahintersteckte. Mithilfe des Haars konnte man das Männliche vom Weiblichen abgrenzen, Angepasste von Andersdenkenden unterscheiden sowie den Kontrast zwischen verfeinerter Zivilisation und primitivem Naturalismus hervorheben. In jener großen Komplexität sah er jede Menge unerledigte Geschäfte. Er rief zum Studium der »Haarologie« auf, welche kontrastierende Haarmoden-Merkmale – künstlich/natürlich, lang/kurz, behaart/haarlos, hell/dunkel, glatt/fusselig – und die gesellschaftlichen Gegensätze, für die sie angeblich stehen, definieren würde. Ein solches (in gewissem Sinne) »Haar-Wörterbuch« sollte quasi dazu dienen, eine breite Auswahl expliziter und implizierter gesellschaftlicher Botschaften zu übersetzen.

Der Traum einer haarologischen Theorie mag schön sein, aber er wird nicht so einfach Wirklichkeit werden können. Selbst wenn die genauen Muster aus Affinität und Ablehnung für eine bestimmte Gesellschaft ausgearbeitet worden sind, so würden sie bestenfalls eine Momentaufnahme sozialer Normen darstellen. Sie würden nur einen Moment in der Ebbe und Flut der Geschichte des Menschen darstellen, doch niemals Ebbe und Flut an sich. Genau genommen ist die Bedeutung der Gesichtsbehaarung am ehesten sichtbar, wenn sie im Begriff ist, sich zu wandeln, und nicht, wenn sie stillsteht. Nur wenn man den Filmstreifen von Anfang bis Ende schaut, verstehen wir den Plot, der die Ereignisse steuert. Dasselbe gilt auch für die Geschichte der Gesichtsbehaarung. Das Nachverfolgen der Drehungen und Wendungen der Geschichte des Barts, der Rasur und der Männlichkeit lässt Vergangenheit und Gegenwart in neuem Licht erscheinen und uns die bewussten und unbewussten Botschaften entziffern, die wir über unser Haar aussenden.

Kapitel 2AM ANFANG

Die Rasur ist so alt wie die Zivilisation. Die Sumerer und Ägypter, Begründer der westlichen Zivilisation, verwendeten Rasiermesser aus Kupfer und Bronze, um ihr Gesichtshaar zu bändigen. Die Männer der Antike rasierten sich aus einer Vielzahl von Gründen, einer der wichtigsten jedoch war die Unterscheidung zwischen zweierlei Arten von Männern: die der bärtigen Herrscher und die der glatt rasierten Priester.29 Beide stellten ganz unterschiedliche Ansprüche an Autorität und Macht. Die patriarchalischen Herrscher eroberten und regierten das Land, während die Priester die Gunst der Götter sicherstellten. Die Patriarchen waren stolz auf ihre natürliche Haarpracht als Zeichen männlicher Potenz, während die Priester sich gewissermaßen sorgfältig die Unreinheit und Arroganz des Haars wegschoren, damit die göttliche Kraft in sie einfließen möge. Sumerische und ägyptische Herrscher konnten nicht darauf hoffen, ohne Zugang zu diesen beiden Formen männlicher Macht zu herrschen. Das konnte man ihnen am Gesicht ablesen.

KÖNIG SCHULGI STELLT DIEGÖTTER ZUFRIEDEN

Die Geschichte der westlichen Zivilisation begann in Sumer, dem südlichen Teil Mesopotamiens, dem Land zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris und drumherum, im heutigen Irak. Dort schufen die Sumerer großartige Städte, errichteten gewaltige Tempel, hoben Bewässerungskanäle aus und bauten Straßen. Sie begründeten eine professionelle Priesterschaft, erfanden die Schrift, entwickelten Gesetzbücher und organisierten Armeen und Regierungen. Bis heute essen wir die Pflanzen und Tiere, die sie kultivieren und hüten lernten – Weizen, Hafer, Rinder, Schafe, Ziegen und Hühner –, und wir messen Zeit und Raum, wie sie es uns lehrten, indem wir 24-Stunden-Tage, Sieben-Tage-Wochen und Zwölf-Monats-Jahre abstecken. Einer der größten sumerischen Könige war Schulgi (ca. 2094–2047 v. Chr.). Bereits zu Lebzeiten war er eine Legende und Inbegriff mesopotamischer Männlichkeit. Kennen wir seine Geschichte und die Art, wie er sich seinen Untertanen präsentierte, so kennen wir die Bedeutung der Gesichtsbehaarung in den Anfängen unserer Zivilisation.

2.1 (Links) Statuette König Schulgis: Weihegeschenk, 21. Jh. v. Chr. (Rechts) König Schulgi: Zeichnung einer Steinritzung in Darband-i-Gawr, Irak, 21. Jh. v. Chr.

Die beiden Darstellungen der Abbildung 2.1 zeigen König Schulgi.30 Im Kontext der ersten sieht man ihn rasiert und mit nacktem Oberkörper, wie er im Rahmen der Tempelweihe feierlich einen Korb mit Aushub von der Baustelle trägt. In der zweiten ist er auf einer Steinritzung als siegreicher Krieger zu erkennen und zermalmt seine Feinde mit den Füßen. Er trägt einen langen Bart sowie Axt und Bogen, Symbole der Stärke und Befehlsgewalt also. Welches aber war das wahre Aussehen des großen Königs? Die Antwort lautet: sowohl als auch. Die Abbildungen stellen verschiedene Aspekte königlicher Macht dar. Die gegensätzliche Gesichtsbehaarung war das wichtigste Distinktionsmerkmal Schulgis mit Blick auf seine Rolle als oberster Geistlicher einerseits sowie in seiner Funktion als Eroberer und Gesetzgeber andererseits. Als Herrscher und Beschützer seines Volks musste ein sumerischer König über beide dieser wichtigsten Formen männlicher Macht verfügen.

Dutzenden Hymnen zufolge, die ihm zu Ehren gesungen wurden – einschließlich einer, die er selbst geschrieben hat –, war Schulgi in einfach allem der Beste. Er war ein von Göttern gezeugter Gott, der sämtliche Sterbliche an Geist und Körper übertraf. Er war ein Krieger, schnell zu Fuß und geschickt im Umgang mit Waffen. Er war zudem ein Schriftgelehrter und Weissager, dessen Geschicklichkeit im Umgang mit Worten, Zahlen und im Zusammenhang mit göttlichen Zeichen die aller anderen übertraf.31 In echter sumerischer Manier nutzte er diese fantastischen Gaben, um die hohen Götter zu ehren, denn dies war die Grundlage seiner königlichen Autorität. In anderen Worten: Um der größte der Könige sein zu können, musste er der größte Gottesanbeter sein, und in seiner selbst geschriebenen Hymne prahlte er mit einer besonders erstaunlichen Glanzleistung der Gottesverehrung, die er in seinem siebten Jahr auf dem Thron vollbrachte.

Nach seinen eigenen Angaben befand Schulgi sich am heiligen Tag des Eshesh in Nippur. Nippur war Heimat der Tempel der obersten Götter Enlil und An, Gott des Sturms bzw. Gott des Himmels. Von dieser heiligen Stadt aus lief er ganz alleine hundertsechzig Kilometer in seine Hauptstadt Ur und brauchte dafür lediglich zwei Stunden. Nach einem Bad und einer kurzen Pause brachte er dem Gott des Mondes, Nanna, Opfer dar in dem großen Stufentempel, den Schulgi erst kurz zuvor für ihn fertiggestellt hatte. Nachdem er seine Feiertagszeremonien in Ur hinter sich gebracht hatte, machte sich der nimmermüde König erneut auf den Weg und rannte die hundertsechzig Kilometer zurück nach Nippur, um dort die Opferzeremonien und Feierlichkeiten für Enlil und An zu wiederholen. Somit konnte er am selben Tag auf wundersame Weise die Zeremonien seiner beiden Hauptstädte leiten. Und als ob das noch nicht ausgereicht hätte, rühmte sich Schulgi damit, dass er den Rückweg in einem Hagelsturm absolviert habe. »Mein Herz voll Freude, jagte ich die Piste entlang, rannte wie ein Eselfohlen und reiste ganz allein …«32 Ohne jeden Zweifel war er der Langstrecken-Meister der Frömmigkeit.

Für Schulgi war das Dienen der Götter Job Nummer eins, und Statuen von ihm als geschorener Priester verkörpern diesen Teil seiner königlichen Strahlkraft. Doch er hatte auch andere Verantwortlichkeiten. So war er Gesetzgeber, oberster Richter und oberster Kriegsherr. In diesen Funktionen wies er ein beeindruckend bärtiges Gesicht auf. Schulgi war also kein Lügner, wenn er quasi ein doppeltes Gesicht hatte – er wollte seine Untertanen mit dem ganzen Spektrum seiner königlichen Herrlichkeit beeindrucken. Gut möglich, dass er sich anlässlich wichtiger religiöser Rituale wie etwa Tempelweihen rasierte und ansonsten seine Haare wachsen ließ. Andererseits sieht Schulgis Bart auf der Steinritzung – wie der auf vielen anderen Darstellungen mesopotamischer Könige – so bombastisch und unnatürlich aus, dass es sich dabei um ein Theaterrequisit gehandelt haben könnte. Fest steht jedoch, dass Schulgi je nach Anlass rasiert oder unrasiert auftreten wollte.

Wenn er als Priester auftrat, wusste Schulgi sich in eins mit uralten Traditionen. Bereits vor Beginn der Geschichtsschreibung entfernten sumerische Priester das Haar auf Kopf und Gesicht und legten oftmals auch ihre Kleider ab, wenn sie den Göttern gegenübertraten. Es gibt zahlreiche Textbelege dafür, dass sich Priester, Weissager, Schriftgelehrte sowie Mediziner in der Geschichte des Nahen Ostens seit Tausenden von Jahren als Zeichen ihrer Berufung fortlaufend rasierten.33 Schriftzeugnisse der Zeit nach Schulgi berichten davon, wie Weissager (Baru) nach langer Ausbildung mit der Formel: »Der Barbier hat sein Werk an ihm verrichtet«34 geweiht wurden. Auch die Israeliten der Antike pflegten diese Tradition.35 Im Buch Numeri etwa erteilt der hebräische Gott Aaron die folgenden Instruktionen bezüglich der Leviten, der Priesterschaft Israels.

Sondere die Israeliten von den Leviten ab und reinige sie! So sollst du ihre Reinigung vollziehen: Spreng über sie das Weihwasser! Sie selbst sollen sich an ihrem ganzen Körper mit einem Schermesser die Haare schneiden, ihre Kleider waschen und sich reinigen.36

Die Leviten blieben unter normalen Umständen nicht rasiert; vielmehr macht diese Praxis deutlich, dass die Rasur im antiken Nahen Osten ein essenzieller Baustein der rituellen Vorbereitungen für den Gottesdienst darstellte.

Dafür gab es unterschiedliche Gründe. Für die Menschen der Antike, genau wie für viele Kulturkreise auch heute noch, war das Haar wesentlicher Bestandteil des Körpers, und demnach drückte das Abschneiden Entsagung, Demütigung oder Aufopferung aus. Das am meisten verbreitete Haarschneide-Ritual der antiken Welt fand während der Totentrauer statt, wobei ein Abschneiden oder Ausreißen der Haare oder des Barts, zusammen mit dem Zerreißen der Kleider oder dem Aufschlitzen der Haut, von Schmerz und Verlust zeugte. Ägyptische Grabzeichnungen sämtlicher Zeitabschnitte weisen sowohl Männer als auch Frauen auf, wie sie sich die Haare ausreißen und die Kleider zerreißen, um ihrem Kummer Ausdruck zu verleihen.37 Auch ägyptische Götter des Jenseits sind dort zu sehen, wie sie geschwungene Haarsträhnen in typischer Trauergeste halten.38 Leser der hebräischen Bibel sind mit dem Zerstören des Haars während der Trauer vertraut. Ein anschauliches Beispiel dafür ist Jeremias’ Beschreibung der sich Jerusalem nähernden Trauernden, die im Tempel Opfer darbieten möchten: Sie kamen »mit geschorenen Bärten, zerrissenen Kleidern und eingeritzten Wunden«39.

Für die Priester bestand der Hauptzweck des Rasierens jedoch nicht im Aufzeigen der Trauer oder des Leids, sondern in der Reinigung. Das für die niedrige Menschheit stehende Haar wurde weggekratzt und weggewaschen und befreite somit den Bittsteller von Arroganz, Verdorbenheit und Verunreinigung. Es ging um eine Art Anstand, der von den Göttern anerkannt wurde, und so ist es wenig überraschend, dass sich Könige und Adlige wenigstens in manchen sumerischen Städten schon sehr früh der standardmäßigen Rasur annahmen. Tatsächlich waren die frühesten Herrscher sumerischer Städte die obersten Priester, doch innerhalb weniger Jahrhunderte mussten sie diese Rolle mit der des Heerführers vereinigen. Eine Zeit lang waren die Tempel das Zuhause des Königs, und die Priesterschaft diente als Verwaltung des Stadtstaats. Mit der Größe des Staats wuchs jedoch auch die Bedeutung von Krieg und Verteidigung für die Angelegenheiten der Stadt, und so errichteten die Könige Paläste und stockten die priesterliche Verwaltung mit politischen und militärischen Funktionären auf. Dennoch gründete sich die Legitimation der Regierung weiterhin hauptsächlich auf dem Dienen der Götter und dem Sicherstellen ihrer Gunst.40 Dass das rasierte Gesicht letzten Endes die Norm darstellte, veranschaulicht die sogenannte Standarte von Ur ganz deutlich. Dabei handelt es sich um einen verzierten Holzkasten aus der Zeit sechshundert Jahre vor Schulgi, der die sumerischen Könige, Adligen und Soldaten als komplett glatzköpfig und bartlos darstellt. Die erste bekannte Statue eines rasierten Königs, der einen geweihten Korb mit Aushub von einer Tempel-Baustelle auf dem Kopf trägt, stammt aus ungefähr derselben Zeit wie die Standarte von Ur, was den zeremoniellen Ursprung der Rasur zusätzlich untermauert.

Die Standarte von Ur bildet den König zu Kriegs- wie auch zu Friedenszeiten ab. Die frühen Könige waren zwangsläufig Krieger, doch die sumerischen Herrscher wollten trotzdem gern ihre religiöse Legitimation hervorheben, durch das Errichten von Tempeln und kultische Opferungen beispielsweise.41 Etwas mehr als zwei Jahrhunderte vor Schulgi erschien jedoch eine neue Art von Herrscher auf der Bildoberfläche, nämlich der furchterregende Sargon von Akkad, bei dessen Grabinschriften es nur um Krieg und Eroberung geht. Er unterwarf die sumerischen Städte mit seiner grausamen Armee und gliederte sie in sein erstes Imperium ein, welches sich nun über das gesamte Mesopotamien erstreckte. Sargon war kein Sumerer, sondern ein fremder Eroberer, der sich nicht darum scherte, als Priester-König zu fungieren. Stattdessen gab er sich als charismatischer, bärtiger Held, dem die Weltherrschaft vom obersten Gott Enlil zugetragen worden war.42 Sein Enkelsohn Naram-Sin übertraf dieses heroische Modell der Königsherrschaft später, indem er sich zum Gott erklärte, der als Juniorpartner und nicht als Diener der großen Götter regierte. Erwartungsgemäß verliehen die Propagandisten Sargons und Naram-Sins ihnen eine herrliche Pracht, was der Bronzekopf von höchstwahrscheinlich Naram-Sin, den man in Ninive gefunden hat, sehr schön veranschaulicht.43 Der einschüchternde Bart des Kriegers hatte in Mesopotamien ein spektakuläres Comeback hingelegt.

2.2 Zeichnung des Bronzekopfs aus Ninive, der Sargon oder Naram-Sin darstellt

Als Naram-Sin genau wie die ägyptischen Pharaonen behauptete, ein Gott zu sein, waren die Traditionalisten empört.44 In den Jahren nach seinem Tod verbreiteten sie die Geschichte, dass er die heilige Stadt Nippur geplündert und dabei den Tempel des obersten Gottes Enlil entweiht habe, was Enlil wiederum dazu veranlasst habe, fremde Armeen auf sein Imperium loszulassen und es auszulöschen. Jener Mythos scheint weniger die historischen Geschehnisse als vielmehr die Wut derer widerzuspiegeln, die sich der entsetzlichen Hybris der Eroberer entgegenstellten. Ab diesem Zeitpunkt tauchten immer wieder Spannungen zwischen haarigen Königen und gereinigten Priestern auf. Ein priesterliches Schriftstück aus dem Babylon des achten Jahrhunderts vor Christus, lange nach Naram-Sins Zeit, prangert den König Nabu-Shuma-Ishkun an, die Tempel und ihre heiligen Riten entweiht zu haben. Unter anderem beschwerten sich die Priester darüber, dass der König den unverzeihlichen Frevel begangen habe, das innere Heiligtum unrasiert und mit verbotenen Gegenständen in Händen zu betreten.45 Bei der auf den Sturz der Akkadier folgenden Wiederherstellung des sumerischen Reichs achteten Herrscher wie Schulgi deshalb auf eine angemessene Verwendung des Rasiermessers, um ihren Respekt den Tempeln, der Priesterschaft und den alten Bräuchen gegenüber zu signalisieren. Auf der anderen Seite wollten die neo-sumerischen Könige aber auch nicht ganz auf die Großartigkeit von Sargons und Naram-Sins bärtiger Majestät verzichten, welche sich als effektiv bei der Aufwertung der königlichen Macht erwiesen hatte. Daher trachteten die darauffolgenden sumerischen Könige wie Schulgi einfach danach, alles auf einmal zu haben.

2.3 Druck einer Siegelwalze, der den thronenden König Ibbi-Sin zeigt, 21. Jh. v. Chr.

Zur Hälfte seiner Regierungszeit wurde Schulgis Reich von militärischen Angriffen bedroht. Etwa zur selben Zeit erklärte er sich zum Gott, als erster König nach Naram-Sin. Es war an der Zeit, den Kriegsgott zu spielen und nicht den Priester-König. Offizielle Hymnen preisten Schulgi nun für seine Waffenstärke, für seine fantastische Statur und seine Ähnlichkeit mit einem kräftigen Baum oder einem edlen Löwen. Man sagte, sein lapislazulifarbener Bart, der seine heilige Brust überlagere, sei ein unvergesslicher Anblick.46 Diese Beschreibung klang eher wie die einer lange verschollenen Statue, und das war sie wahrscheinlich auch. Lapislazuli ist ein kostbarer blauer Stein, der traditionellerweise die Bilder von Göttern verzierte. Schulgi trug einen gottähnlichen Bart, der seinem neuen Status als göttlicher Herrscher von Mesopotamien entsprach.

Schulgis Nachfolger der nächsten fünf Jahrzehnte folgten seinem Beispiel, sie ehrten die Götter und die Priesterschaft und beanspruchten die Göttlichkeit gleichzeitig für sich selbst. Entsprechend ließen sie sich ebenfalls mit zweierlei Gesichtern darstellen, wie königliche Amtssiegel beweisen. Die Siegel aus Schulgis Dynastie folgten dem Standard und zeigen gemäß des Standards einen thronenden König, der einen Bittsteller empfängt.

In den meisten Fällen wurde der König mit einem riesigen hüftlangen Bart dargestellt wie der von Ur-Nammu, dem Vater Schulgis (Abbildung 2.3). Ibbi-Sin, ein Nachfolger von Ur-Nammu und Schulgi, besaß viele dieser Siegel, doch es wurden auch andere gefunden, die ihn in identischer Pose und ohne Bart abbilden (Abbildung 2.4). Ihre Ursprünge liefern die besten Hinweise auf die Unterschiede zwischen diesen Siegeln. Den geschorenen König hat man in Nippur ausgegraben, der heiligen Stadt Sumers. Die bärtigen Ibbi-Sin-Siegel stammen von überall her, für gewöhnlich aus der königlichen Hauptstadt Ur. Es scheint, der König nahm für seine priesterlichen Untertanen in Nippur eine eher traditionelle, »gereinigte« Gestalt an und pflegte einen eher gottähnlichen, gebieterischen Stil, wenn er sich in der Hauptstadt aufhielt. Ob Ibbi-Sin sich tatsächlich wortwörtlich rasierte, wenn er Nippur besuchte, spielt dabei keine Rolle. Sein glatt rasiertes Image war angemessen versöhnlich für diejenigen, die noch immer die Geschichten von Naram-Sins bärtiger Arroganz erzählten.

Ibbi-Sin war der letzte König der sumerischen Ära, und die lange Tradition der königlichen Rasur starb mit ihm. Die babylonischen und assyrischen Herrscher der darauffolgenden Jahrhunderte hielten stark an Sargons Modell des heroischen, bärtigen Königtums fest und scherten sich nicht um ein alternierendes Image von priesterlicher und schriftgelehrter Macht. Ein assyrischer König des achten Jahrhunderts vor Christus nannte sich Sargon II., während niemand auf die Idee kam, sich Schulgi II. zu nennen. Die mesopotamischen Herrscher der letzten beiden Jahrtausende vor Christus präsentierten sich stets mit majestätisch geflochtenem und bebändertem Haar am Kinn. Dies bedeutete allerdings keineswegs das Ende der Rasur im antiken Mittleren Osten. Bei den Hethitern, die zwischen dem 15. und 13. Jahrhundert vor Christus von ihrer Basis in Kleinasien aus ein großes Imperium errichteten, entwickelten sich Brauchtümer, die denen der längst vergangenen Sumerer sehr ähnelten. Die hethitischen Könige behaupteten nicht, Götter zu sein, doch ihre Nähe zu den Göttern manifestierte sich in ihren religiösen Anstrengungen. Obwohl sie große Krieger waren, zögerten sie nicht, einen Feldzug zu unterbrechen, um wichtige religiöse Zeremonien in ihrer Hauptstadt durchzuführen.47 Wie die Sumerer, so glaubten auch die Hethiter, dass Rasiertheit quasi gleichbedeutend mit Göttlichkeit war. Ihre Kunstwerke zeigten sogar die Götter mit glatt rasiertem Gesicht, mit Ausnahme des obersten Gottes, welcher einen gewaltigen Bart trug. In der Welt der Hethiter trug lediglich dieser einsame Patriarch an der Spitze der göttlichen Ordnung das ultimative Sinnbild für Autorität. Geteilt wurde diese Vorstellung auch von den Ägyptern, den Erbauern der wohlhabendsten und stabilsten Gesellschaft des antiken Nahen Ostens.

HATSCHEPSUT ERRINGT BÄRTIGE AUTORITÄT

Schulgis Göttlichkeitsanspruch war in Mesopotamien etwas ziemlich Neues und bei den Hethitern gänzlich unbekannt, in Ägypten allerdings ein alter Hut, denn dort wurden die Könige schon immer als Götter gefeiert. Der Pharao war ein absoluter Herrscher, der gleichzeitig als alleiniger Landbesitzer, oberster Feldherr, höchster Richter und oberster Priester fungierte. Wie in Sumer war es Aufgabe des Herrschers, die Götter gnädig zu stimmen, die Ordnung aufrechtzuerhalten und den Wohlstand in seinem Reich zu fördern. Hatschepsut (Regentschaft 1479–1458 v. Chr.) war in dieser Hinsicht einer der erfolgreichsten Pharaonen, denn er regierte mehr als zwanzig Jahre lang ein friedliches und wohlhabendes Ägypten.

Als Befehlshaber der Armeen war Hatschepsut ein erfolgreicher Eroberer. Die Grabinschrift eines Würdenträgers bekundet: »Ich sah, wie [Hatschepsut] die nubischen Nomaden niederwarf, und ihre Anführer wurden ihm als Gefangene dargeboten. Ich sah, wie er das Land Nubien zerstörte, während ich mich in Gefolgschaft seiner Majestät befand.«48 In dem majestätischen Tempel, der in Deir el-Bahari im Gedenken an Hatschepsut errichtet wurde, lobpreist man mutige Taten und großartige Erfolge in Wort und Bild. Eine Errungenschaft, der im Tempel gedacht wird, ist eine Expedition in das exotische Punt am Horn von Afrika und die Aneignung von fünf Schiffsladungen Tribute, darunter Säcke voll Gold und Rauchwerk, Ebenholz, Elfenbein und Felle. Die Inschrift prahlt außerdem mit einunddreißig Myrrhenbäumen, »niemals hat man etwas Gleiches gesehen, seit dem Beginn der Zeit«49.

Alles lief bestens in Ägypten, jedoch war nicht alles, wie es schien. Hatschepsut, auf die man in Aufzeichnungen mit »er« und »König« verweist, war in Wahrheit eine Frau, der erste weibliche König Ägyptens. Andere Frauen vor ihr hatten bereits als Regentinnen geherrscht oder als inoffizielle Macht im Hintergrund, Hatschepsut aber erlangte die volle Macht mit ihrem eigenen Namen, ebenso den Status als Gottheit, der ausschließlich dem Pharao vorbehalten war. Für eine derart traditionsbehaftete Gesellschaft war das äußerst erstaunlich. Hatschepsut erlangte diesen Status etappenweise. Sie kam als Tochter des Pharaos, also als Prinzessin, zur Welt und wurde Königin oder »die Gottesgemahlin«, als ihr Halbbruder und Ehemann den Thron bestieg. Als ihr Mann verstarb, regierte sie als Co-Regentin gemeinsam mit ihrem jungen Stiefsohn und wurde noch immer als Gottesgemahlin bejubelt. Innerhalb weniger Jahre hatte Hatschepsut allerdings treu ergebene Höflinge und Priester in der Hauptstadt Theben davon überzeugt, dass sie das politische Talent und die Zustimmung der Götter besitze, um eigenständig zu regieren, und ebnete sich so den Weg für ihre Krönung zur Königin.

Einige neuzeitliche Historiker hielten Hatschepsut für eine ehrgeizige und skrupellose Frau, die um des eigenen, selbstsüchtigen Ruhms willen die Macht ergriffen habe.50 In Wirklichkeit aber war sie eine begabte Herrscherin, und ihre Fähigkeiten wurden von der männlichen Elite anerkannt. Diese Billigung musste sie sich indes hart erkämpfen. Hatschepsut hatte ihrem Volk insbesondere zu versichern, dass sie einem traditionellen Pharao bis auf ihr Geschlecht in nichts nachstand. Sie pries sich deshalb nicht als Reformerin, sondern als Bewahrerin und Behüterin der Tradition. Für den Fall, dass jemand daran zweifeln sollte, hatte sie die Gemäuer ihres Gedenktempels mit großen Hieroglyphen geschmückt. »Nicht schlief ich in Vergesslichkeit«, verkündete sie in Stein, »ich habe befestigt, was verfallen war, und habe wieder zusammengeführt, was zerstückelt war vorher …«51 So beruhigend dies für ihre Untertanen auch gewesen sein mag, das knifflige Problem der eigenen Darstellung in Kunst und Öffentlichkeit jedoch blieb bestehen. Zu ihrem Glück pflegten die Ägypter eine stark stilisierte Erscheinung mit geschorenen bzw. mit Perücken und Kronen bestückten Köpfen sowie dekorativen künstlichen Bärten. Es war für einen weiblichen Pharao also relativ einfach, männliche Haarpracht und Kleidung anzulegen und exakt wie ein männlicher Pharao auszusehen. Im Grunde war sie also ein Mann.

Genau genommen war Hatschepsut der einzige Mensch in Ägypten, der einen langen Bart trug. Im Gegensatz zur üblichen mesopotamischen Praxis der damaligen Zeit schoren sich nämlich sowohl die ägyptischen Adligen als auch die Priester die Haare.52 Es ist also wenig überraschend, dass man kunstvoll gefertigte Rasiermesser aus Kupfer an ägyptischen Ausgrabungsstätten gefunden hat. Hochgeborene Ägypter genossen die Überlegenheit rasierter Reinheit und die angemessene Schicklichkeit ihrer wohlgeordneten Perücken. Dem König allein war die Distinktion durch einen Bart vorbehalten, der ihm den höchsten maskulinen Status sicherte.53 Dabei war das kein echter Bart und sollte es auch niemals sein. In der ägyptischen Kunst wurde regelmäßig das Band abgebildet, mit dem er am Kinn des Herrschers befestigt war. Der sorgfältig schmal und geschwungen geformte Bart war ein Symbol königlicher Autorität genau wie Krone und Zepter.