Von Monstern und Königinnen - Madeleine Hold - E-Book

Von Monstern und Königinnen E-Book

Madeleine Hold

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Beschreibung

Eine entlaufene Braut, für die es kein Zurück mehr gibt. Ein Prinz, der alles riskiert, um sie zu schützen. Ein Verlassener, den das Dunkel innerlich zerreißt. Eine Schuldige, deren Buße den Tod verspricht. Und eine Königin mit einem gefährlichen Geheimnis. Prinz Alesander sinnt auf Rache. Auf der Flucht vor ihm findet Elayne mit Darian und Tazriel Zuflucht in ihrer Heimat Balezan. Doch ihre Anwesenheit macht das kleine Königreich zur Zielscheibe. Die Flüchtigen brauchen umgehend einen Plan, wie sie Alesanders Mordversuch beweisen und so ihre Sicherheit garantieren können. Ohne Mentorin kann Elayne dabei jedoch nicht auf ihre Gabe vertrauen. Sie weiß weder, ihre Fähigkeiten zu kontrollieren, noch wie weit diese wirklich reichen. Obendrein sind sie und Darian gezwungen, ihre Gefühle füreinander zu verbergen, um nicht selbst als Verräter dazustehen. Im Reich Kree braut sich derweil ein Sturm zusammen. Umgeben von Feinden, werden die Bedienstete Milly und Tazriels Schwester Keira unverhofft zu Verbündeten. Aber können sich zwei so ungleiche Frauen gegen den mächtigen Prinzen behaupten, der seiner dunklen Seite verfallen ist? Und wie viel dieser Dunkelheit vergiftet das Herz der Königin von Kree?

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Seitenzahl: 475

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Triggerwarnung:

Dieses Buch konfrontiert Leser*innen mit folgenden Themen: Blut, Tod, (tödliche)

Verbrennung, Gewalt, Sexismus, Panikattacken.

WREADERS TASCHENBUCH

Band 264

Dieser Titel ist auch als E-Book erschienen

Copyright © 2025 by Wreaders Verlag, Sassenberg

Verlagsleitung: Lena Weinert

Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf

Umschlaggestaltung: Miriam Schwardt

Lektorat: Kristina Butz

Korrektorat: Vanessa Janke

Satz: Ryvie Fux

www.wreaders.de

Für all diejenigen, die etwas bereuen.

Die Zukunft ist noch ungeschrieben.

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Hunderte Schaulustige hatten sich auf dem Platz hinter dem Palast versammelt. Unter der eben erst aufgegangenen Sonne, die einen weiteren heißen Sommertag im Königreich Kree ankündigte, drängten sich adelige Männer und Frauen um das Geschehen. Jeder wollte

eine gute Sicht auf den Holzpfahl bekommen, der zwischen übereinander-gestapelten Strohballen emporragte. Auf die Person, die daran festgebunden war.

Für den gerade neun Jahre alt gewordenen Prinzen Alesander war es ein Leichtes, sich zwischen den ungeduldig Wartenden hindurchzuschlängeln. Sein großer Bruder Darian tat sich damit deutlich schwerer. Bei dem Versuch, mit Alesander mitzuhalten, stieß er hier mit jemandes Bein zusammen und trat dort versehentlich auf jemandes Rock. Natürlich wagte es niemand, sich zu beschweren oder auch nur zu hinterfragen, was zwei Kinder bei einer öffentlichen Hinrichtung zu suchen hatten. Als Enkel König Torrands von Kree konnten sie tun und lassen, was immer sie wollten. Zumindest solange sie weder ihre Eltern noch das Kindermädchen dabei erwischten.

Doch ohnehin hatte hier kaum jemand Augen für die Jungen. Der Platz, auf dem sonst flaniert, unter Sonnenschirmen gegessen und höfliche Konversa-tion betrieben wurde, hatte sich vollkommen verwandelt. Hitzige Gespräche übertönten jedes andere Geräusch, Schweißgeruch und Unsicherheit lagen in der Luft. Ein solcher Nervenkitzel, und das ausgerechnet in ihrem Zuhause, war den Prinzen ganz und gar fremd.

Hinter Alesander zwängte sich Darian gerade zwischen zwei Damen hindurch, als er selbst endlich die erste Reihe erreichte und erschrocken keuchte.

»Darian, schau! Sie ist es!« Der Husten, der den jüngeren Prinzen immer

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nach dem Rennen überkam, mischte sich in seine ungläubige Stimme. »Es … ist Gwynn.«

Da stand sie, das grauschwarze Haar offen und ungekämmt, nichts als ein Leinenhemd am Körper. Ihre Hände waren hinter ihrem Rücken an den Holzpfahl gefesselt, und auch um ihren mager gewordenen Bauch schlang sich ein Seil. Beides kam Alesander unnötig vor, denn Gwynn rührte sich nicht. Mit leerem Blick und still wie eine Puppe erwartete sie ihr Ende.

Darian, der jetzt neben ihm auftauchte, schwieg. Ihr vertrautes Gesicht so starr und ausdruckslos zu sehen, musste ihm die Sprache verschlagen haben.

Auf Alesander wirkte all das ebenso unwirklich. Wie ein Schauspiel oder ein schauriger Traum. Was sollte die ältere Adelige, die eine Freundin seiner Mutter und dadurch schon immer ein fester Bestandteil seines Lebens war, schon verbrochen haben? Sosehr sein Verstand auch versuchte, das Bild zusammenzusetzen, er konnte sich nicht vorstellen, womit ein guter Mensch wie Gwynn den Tod verdient hatte.

Der Richter – ein großer, bärtiger Mann – trat vor, und die Menge verstummte schlagartig, drängte enger zusammen. Dabei rempelte jemand Alesander von hinten an, und er geriet ins Straucheln. Doch sein Bruder schnappte rechtzeitig nach seiner Hand und zog ihn näher zu sich heran. So dicht an Darians Seite wusste der junge Prinz nicht mehr, wessen Herzschlag es war, der ihm laut in den Ohren pulsierte.

»Im Namen unseres Königs, der Stimme des Volkes von Kree, und im Namen der Götter, die über die Unschuldigen wachen und sie vor allem Unheil bewahren«, erhob der Richter seine Stimme, sodass er bis in die letzten Reihen zu hören sein musste, »führe ich heute dieses Monster seiner gerechten Strafe zu.«

Bei dem Wort Monster wandte er sich voller Abscheu Gwynn zu, die noch immer keinerlei Regung zeigte. Als wäre sie bereits tot.

Gebrochen. So würde sich Alesander Jahre später an sie zurückerinnern.

Nun jedoch beschäftigte ihn der Schmerz einer anderen Person. Wie von selbst wanderte sein Blick zu dem Balkon, von dem aus der Rest seiner Familie das Spektakel verfolgte. Neben seinen Großeltern und seinem Vater, die alle-samt starre Mienen aufgesetzt hatten, stand seine Mutter. Oder eine Frau, die wie seine Mutter aussah. Denn weder ihre in sich zusammengesunkene Körperhaltung noch der Horror in ihrem Gesicht passten zu ihr. Niemals

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zuvor hatte er sie so gesehen. So unendlich hilflos.

Er fürchtete nicht, dass sie ihn in der Menschenmasse ausmachen könnte, denn ihre Aufmerksamkeit galt allein dem Scheiterhaufen.

»Hexerei ist nicht nur ein Verbrechen!«, rief der Richter nun, und Alesander konzentrierte sich wieder auf das Geschehen vor ihm. »Sie ist widernatürlich und somit eine Verhöhnung unserer gelobten Götter.«

Der Prinz fragte sich, wie etwas, das in der Welt existierte, widernatürlich sein konnte. Dass Hexen bösartig waren, bezweifelte er jedoch nicht. Noch nie hatte er Geschichten über gute Hexen gehört. Genau deshalb wollte dieser Moment für Alesander auch keinen Sinn ergeben. Warum bezichtigte sein Großvater ausgerechnet Gwynn der Hexerei? Er hatte immer geglaubt, die beiden stünden sich nahe. Weshalb schaute seine Mutter bloß zu, statt die Hinrichtung ihrer Freundin zu verhindern? Das musste bedeuten, dass sie den Anschuldigungen glaubte. Doch wieso kam ihm dann all das so furchtbar falsch vor? Wollte denn niemand eingreifen, und wo war überhaupt –?

»Möge der heutige Tag all den anderen Ungeheuern da draußen eine unmissverständliche Warnung sein«, fuhr der Richter inbrünstig fort. »Wir durchschauen die finsteren Machenschaften der Sündigen und wissen, uns gegen sie zu verteidigen.«

Im nächsten Augenblick teilte sich die Menge, um jemanden durchzulassen, der dem Mann eine lodernde Fackel überreichte. Ein schwacher Wind ließ die Flamme bedrohlich auf und ab tanzen. Als der Richter sie an das Stroh senkte, hielt Alesander den Atem an. Es ging so schnell. An der Stelle, an der das Feuer auf den Scheiterhaufen übersprang, breitete sich ein Glühen aus. Wenig später schossen dort Flammen in die Höhe. Rauchend und knisternd fraßen sie sich in alle Richtungen durch die Strohballen, bis Gwynn inmitten weißer Rauchschwaden stand.

Endlich regte sie sich. Nur ganz leicht, weshalb es hinter den Jungen wahr-scheinlich kaum jemand bemerkte. Sie hob das Kinn, sodass sie zum Balkon aufsehen konnte. Durch den Rauch war der Ausdruck in ihren Augen nicht zu erkennen, doch ihr Blick galt eindeutig jemandem dort oben.

Alesander folgte ihm und stellte fest, dass sich sein Großvater abgewandt hatte. Seine Großmutter und auch sein Vater ließen sich noch immer keine Gefühle anmerken. Was seine Mutter betraf: Ihr Gesichtsausdruck hatte sich verändert, wirkte entschlossener als eben noch. Sie erwiderte Gwynns Blick

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und … nickte. Ein Nicken, dessen Bedeutung wohl nur diejenige kannte, für die es bestimmt war. Eine Weile würde Alesander noch daran zurückdenken, bevor die Erinnerung mit der Zeit verblasste. Aber hier und jetzt bereitete ihm das, was er beobachtete, eine Gänsehaut.

Gwynn, die Vertraute seiner Familie, die Hexe, lächelte. Gleich darauf erreichten die Flammen ihre Füße, und ihr Mund verzog sich zu dem schreck-lichsten Laut, den er jemals gehört hatte. Schrill und unmenschlich. Klang so ein sterbendes Monster? Der Schrei bohrte sich in seinen Schädel, lähmte ihn. Selbst wenn er versucht hätte, wegzusehen, wäre es ihm unmöglich gewesen. Darum ertrug er jede entsetzliche Sekunde.

Das Feuer drängte von unten empor und machte keinen Halt, als es die Hexe erreichte. Es verschluckte sie einfach wie ein Kaminfeuer einen einzelnen Zweig. Nur dass sie nicht sofort starb. Ihr Körper, schwarz wie ein Schatten hinter dem Flammenwall, wand sich unkontrolliert, stieß weiterhin Schreie aus. Bis das Geräusch plötzlich erstickte und mit ihm das Feuer. Zurück blieben nur Rauch, der irritierend nach gebratenem Fleisch roch, und Gwynns verkohlte Überreste, die nichts mehr mit der sanften Frau gemein hatten.

Alesander starrte sie an. Sein Verstand arbeitete, doch konnte nicht mit den Bildern mithalten, die sich ihm boten. Ringsherum setzten Stimmen ein, dann Jubel. Jemand würgte laut.

Er schaute sich um und stellte fest, dass es Darian war. Sein Bruder stand gekrümmt und mit dem Rücken zum Scheiterhaufen neben ihm und übergab sich.

So ein Schwächling, dachte Alesander überlegen und unterdrückte den Husten, der ihm durch den Rauch in der Lunge kitzelte.

Der Tod gehörte zum Leben dazu. Das hatte selbst der zwei Jahre jüngere Prinz schon begriffen. Nun verstand er außerdem, dass es gefährlich sein konnte, jemandem zu vertrauen. Hinter jedem freundlichen Lächeln konnte sich in Wahrheit etwas Böses verbergen. Wie es aussah, zählte Verrat also ebenfalls zu den Unvermeidbarkeiten in einer ungerechten Welt.

Die Kerze war vollständig heruntergebrannt und hatte Alesander der Dunkel-heit überlassen. Er musste beim Lesen eingeschlafen sein. Noch benommen von der alten Erinnerung, die ihn im Traum heimgesucht hatte, blinzelte er

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gegen das Dunkel an. Vor das kaputte Fenster war ein Tuch gespannt, aber durch das zweite daneben fiel genug Mondlicht, um ihm die Schemen seiner Umgebung zu offenbaren: das breite Himmelbett, den Schrank und den Spiegel, diverse Truhen und mehrere kleine Tische – an einem davon saß er, vor ihm ein aufgeschlagenes Buch.

Richtig. Ich kam her.

Nicht zum ersten Mal seit ihrem Verschwinden hatte er ihre Räume aufgesucht. Hier, wo ihre Kleider und Habseligkeiten ordentlich bereitlagen und wo noch überall ihr Duft in der Luft hing, schien es, als käme sie jeden Augenblick zur Tür herein. Inzwischen hatte er verinnerlicht, dass sie nie die echte Prinzessin Ophenia aus Balezan gewesen war, und er fand sogar, dass ihr wahrer Name besser zu ihr passte. Dennoch fiel es ihm schwer, auch nur an ihn zu denken. Es tat weh, denn mit ihrem Namen erinnerte er sich auch ihrer letzten hasserfüllten Worte, ihres Entsetzens darüber, wozu er fähig war.

Monster hatte sie ihn genannt.

»Elayne«, flüsterte er nun in die Nacht hinein.

Sein Blick wanderte hinunter auf den handgeschriebenen Text. Das Buch hatte auf dem Nachttisch gelegen, darum nahm er an, dass sie es gelesen hatte. Darin zu blättern und dieselben Zeilen zu lesen, gab ihm das Gefühl, ihr näher zu sein. Außerdem erkannte er an dem schlichten grünen Lederein-band, dass es sich um das Buch handelte, das er ihr in der Markthalle gekauft hatte. An dem Tag war er noch voller Hoffnung gewesen, dass sie bereits mehr verband als nur die Politik.

In dieser Hinsicht war er bitter enttäuscht worden. Trotzdem hatte alles, was seitdem geschehen war, etwas Gutes mit sich gebracht. Alesander war jetzt stärker. Er wusste, was es bedeutete, für sich selbst einzustehen und sein Leben in die eigene Hand zu nehmen. Für Ophenia war er der unsichere, zurückhaltende zweite Prinz gewesen. Doch Elayne würde bald die bessere Version seiner selbst kennenlernen. Den stolzen, legitimen Königssohn, der er schon immer zu sein bestimmt gewesen war.

Im Dunkeln konnte er die Textstelle nicht wiederfinden, bei der ihn die Müdigkeit eingeholt hatte. Aber ohnehin tat ihm nach dem kurzen und unbequemen Schlaf zu sehr der Nacken weh, um weiterzulesen. Lautlos erhob er sich von dem Stuhl und streckte sich. Dann klappte er das Buch zu und klemmte es sich unter den Arm.

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Draußen vor Elaynes Tür erwarteten ihn noch mehr Stille und Dunkelheit. Der Gang lag verlassen da, und so bemerkte niemand, wie er sich aus den Gemächern seiner entflohenen Verlobten stahl. Ihm war es lieber so. Die Menschen zerrissen sich schon genug das Maul über den größten königlichen Skandal seit … Wahrscheinlich hatte es nie einen größeren gegeben. Die Prinzessin hatte trotz militärischer Notlage Balezans ihr Treueversprechen gebrochen, den Kronprinzen Krees verführt und ihn dazu gebracht, mit ihr durchzubrennen. Wenigstens war es das, was die Gerüchte behaupteten. Viel wichtiger war jedoch: Es war das, was der König glaubte.

Phelius tobte. Noch wusste Alesander nicht, wie er ihn davon überzeugen sollte, Balezan zu vergeben und die Verlobung bestehen zu lassen. Aber für den Moment genügte es ihm, zu sehen, wie viel der Wut seines Vaters sich auf Darian konzentrierte. Alle Verantwortung fallen zu lassen und gemeinsam mit der Versprochenen des eigenen Bruders unterzutauchen, schickte sich nicht sonderlich für einen Thronfolger.

Müde lächelte Alesander in sich hinein. Die Dinge verliefen alles andere als perfekt für ihn, doch seltsamerweise fühlte er sich in dem Chaos weniger verloren als zuvor.

Er bog gerade um eine Ecke, als er ein Licht im Gang erspähte. Es fiel durch einen schmalen Spalt, den die Tür zu den Gemächern der Königin offen ließ. Seine Mutter war also ebenfalls noch wach.

Soweit Alesander zurückdenken konnte, waren immer Wachen vor ihrer Tür postiert gewesen. Seit Kurzem ließ sie diese jedoch unbewacht. Den Grund dafür kannte er nicht, und er hatte auch nicht vor, sie danach zu fragen.

Eigentlich stand ihm überhaupt nicht der Sinn danach, mit ihr zu sprechen. Schon gar nicht zu so später Stunde. Kurz überlegte er, einfach umzudrehen und einen anderen Weg zu nehmen. Doch bevor er sich dazu entschließen konnte, vergrößerte sich der Lichtkegel auf dem Steinboden, und ein Schatten schlüpfte durch den Türspalt hinaus.

Veron, Mutters Wachhund.

Der in Schwarz gekleidete Mann stand einen Moment lang still, schien in Alesanders Richtung zu sehen. Dann verschwand er so leise, als wäre er tatsächlich bloß ein Schatten.

Seit er Darian für mich beseitigen sollte, weicht er mir aus. Steht er noch unter Schock?

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Die Wunde, die Veron in jener Nacht davongetragen hatte, sah der Prinz noch allzu genau vor sich. Klaffende Zahnabdrücke einer Bestie, groß genug, dass sie die gesamte Brust des Mannes einnahmen. Schon nach wenigen Tagen war diesem allerdings nichts mehr von der tödlichen Verletzung anzu-merken gewesen.

Als wäre das nicht eigenartig genug, hielt er sich seitdem bedeckt. Vielleicht hing es mit Alesanders Wut darüber zusammen, dass er Elayne für eine Hexe hielt. Oder Jamalie hatte es ihrem getreuen Diener schlichtweg verboten, weitere folgenschwere Befehle ihres Sohnes entgegenzunehmen. Nicht unwahrscheinlich, dass seine Mutter auch hierbei die Fäden zog. Schließlich hatte sie ihm nach dem misslungenen Attentat deutlich zu verstehen gegeben, dass sie keine weiteren Alleingänge dulden würde. Von nun an sollte jeder Schritt sorgfältig geplant sein, um Darians Rückkehr zu verhindern.

Aber falls es einen Plan gab, hielt sie ihn ebenso sorgfältig geheim. Durchaus möglich, dass er es sich nur einbildete, doch zwischen ihnen hatte sich etwas verändert. Sein Leben lang war ihm Jamalie nicht nur eine liebevolle Mutter, sondern die engste Vertraute gewesen. Seine einzige Familie, bedachte er das zerrüttete Verhältnis zu Vater und Bruder. Seit der verhängnisvollen Nacht vor einigen Tagen mischte sich jedoch ein neues Gefühl in ihren Blick und in ihre Stimme, wann immer sie sich ihm zuwandte: Misstrauen.

Sie betrachtete ihr eigenes Kind, als würde sie es nicht wiedererkennen. Womöglich tat sie das wirklich nicht. Auch sie musste sein befreites Ich erst kennenlernen.

Dennoch – ob nun vorübergehend oder nicht – sorgte ihre Zurückhaltung ihm gegenüber dafür, dass er ihre Unterhaltungen als anstrengend empfand. Er wollte nicht um ihr Vertrauen kämpfen müssen, und sie wollte ihn offenbar nicht verstehen. Für sie zählte einzig und allein, ihm zu seinem Geburtsrecht zu verhelfen. Dass er dabei weiterhin an seiner Verlobung festhielt, ergab in ihren Augen keinen Sinn. Auch wenn sie eingewilligt hatte, ihn bei diesem Vorhaben zu unterstützen.

Um unbemerkt an ihren Gemächern vorbeizukommen, bewegte er sich auf leisen Sohlen vorwärts. Er bezweifelte, dass sie ihn von drinnen hören konnte. Doch ihre harte Stimme drang zu ihm, noch ehe er sich auf Höhe der offenen Tür befand.

»Du schläfst nicht?«

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Alesander hielt auf der Stelle inne. Widerwillig und erst nach kurzem Zögern trat er in das erleuchtete Zimmer. »Wodurch habe ich mich verraten?«

Jamalie, gekleidet in einen dünnen weißen Seidenmantel mit roten Orna-menten, der sie wie einen blutbesudelten Geist aussehen ließ, thronte mit ausgestreckten Beinen auf dem dunklen Sofa. Das lange schwarze Haar umrahmte unfrisiert ihr von Müdigkeit gezeichnetes Gesicht.

Während er die Tür hinter sich schloss, konnte er ihren Blick auf sich spüren, genau wie das erwartete Misstrauen darin.

»Du bist mein Sohn«, antwortete sie auf seine Frage, und damit war wohl alles gesagt. Dann senkte sie den Kopf und wiederholte wie zu sich selbst: »Du bist mein Sohn.« Als sie wieder aufschaute, legte sich ihr Augenmerk auf das, was Alesander bei sich trug. Schlagartig versteifte sich ihr Körper. »Was hast du da?«

»Dieses Buch hier?« Verwundert zog er es unter seiner Armbeuge hervor. Für gewöhnlich zeigte seine Mutter kein Interesse an den Büchern, mit denen er seine Zeit verbrachte. »Es gehört Ophenia. Ich habe es i–«

»Gib es mir.«

»Wie bitte?«

In einer fließenden Bewegung glitt sie vom Sofa und überwand den Abstand zwischen ihnen. Ohne ihn anzusehen, nahm sie ihm das grüne Buch aus der Hand und begutachtete es von allen Seiten. In ihrem Gesicht ließ sich nicht ablesen, was dabei in ihr vorging.

Alesanders Hände schwitzten, während er darauf wartete, dass sie ihm seinen Schatz zurückgab. Mein Geschenk an Elayne. Elaynes Andenken für mich.

»Es ist spät«, sagte Jamalie jedoch, nachdem sie den Einband hinreichend untersucht hatte. »Du solltest längst nicht mehr im Palast umherstreifen. Schon gar nicht dort, wo nur bedrückende Gedanken auf dich warten. Ich werde das behalten.« Sie schob das Buch unter ihren Arm, bevor sie eine Hand nach ihm ausstreckte, als wollte sie ihn berühren. Die Augen verengt, musterte sie ihn einen Moment lang, ließ dann die Hand wieder sinken. »Gute Nacht.«

Der Prinz widersprach nicht. Erstens war er zu müde für Widerworte, und zweitens wusste er, dass es keinen Zweck gehabt hätte. Auf seinen Fund aus

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Elaynes Zimmer zu bestehen, wäre Jamalie nur wieder ein Anlass gewesen, seine Zuneigung als Abhängigkeit zu interpretieren.

Und drittens – dafür schämte er sich noch auf dem Weg zu seinen Räumen – fiel es ihm noch immer schwer, sich gegen seine Eltern aufzulehnen. Sein neues Ich war wohl doch nicht so frei, wie er geglaubt hatte.

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2

Die Sonne war gerade untergegangen, als sie die Tore der kleinen Stadt passierten. Zuvor waren sie bereits an etlichen Dörfern vorbeigeritten. Doch um unerkannt zu bleiben, brauchten sie einen Ort, an dem drei zerrüttete Reisende keine Aufmerksamkeit erregten.

Die vergangenen Tage hatten einen hohen Tribut gefordert. Ihre müden Gesichter sprachen Bände über den Hunger, die zunehmende Kälte und die Rastlosigkeit, die ihre Reise zeichneten. Selbst die Bärte, die den beiden jungen Männern gewachsen waren, konnten ihre eingefallenen Wangen darunter nicht verstecken. Das wenige Geld, das Tazriel bei sich getragen hatte, war gerade genug für unauffällige Kleidung und ein paar schnell aufgebrauchte Vorräte gewesen. Die dürftigen Kleider hielten kaum dem immer wieder über sie hereinbrechenden Regen stand, und an Schlaf war nicht einmal dann zu denken, wenn sie tatsächlich eine geeignete Stelle zur Rast fanden. Auf ihrem bisherigen Weg hatten sie es vermieden, darüber zu sprechen, doch das war auch gar nicht nötig. Elayne brauchte ihre Begleiter nicht anzusehen, um zu wissen, dass ihre Gedanken immerzu um dasselbe Grauen kreisten wie ihre eigenen: Alesander kannte Elaynes wahre Identität, und niemand konnte sagen, was er nun tun würde. Wozu er imstande war. Schließlich hatte er versucht, seinen eigenen Bruder zu ermorden.

»Ist alles in Ordnung?« Darian beugte sich in seinem Sattel zu ihr herüber, als er ihr die Frage zuraunte. Obwohl es ihm offensichtlich selbst nicht gut ging, klang er ehrlich besorgt. »Wenn du dich unter Menschen unwohl fühlst, können wir uns einen Platz außerhalb der Stadt zum Schlafen suchen. Es ist unsere letzte Nacht, bevor wir morgen die Hauptstadt und das Schloss erreichen. Die können wir ebenso gut noch einmal im Wald –«

»Nein, das ist es nicht.«

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Finster ließ sie ihren Blick entlang der Häuserfassaden wandern, hinter deren Fenstern mit dem Beginn der Abenddämmerung die ersten Lichter aufflackerten. An diesem Ort war nichts aus Sandstein erbaut. Von dunklen Holzbalken gestützte Lehmhäuser reihten sich zu beiden Seiten der Pflaster-straße, die sie durch das Stadttor geführt hatte, aneinander. Wie fast alle Städte in Balezan zählte auch diese nur wenige Einwohnende, verglich man sie mit anderen Ansiedlungen Hydeas. Und genau wie die meisten Städte in Balezan schillerte sie in den unterschiedlichsten Farben. Bunte Girlanden spannten zwischen den Dächern, tanzten im Abendwind über den Köpfen der drei Flüchtigen auf und ab, während diese bedächtig die Straße entlangritten. An den Wänden ringsherum erzählten Malereien, deren Farbenpracht mit dem Tageslicht verschwand, die Geschichte des Landes. Die wenigen Leute, die sich zu dieser späten Stunde noch draußen aufhielten, trugen einfache, aber gefärbte Kleidung – oftmals Tücher um den Hals oder die Schultern gegen den frischer werdenden Wind. Elayne war noch nie hier gewesen, doch alles um sie herum weckte Erinnerungen.

Zuhause, dachte sie, aber das Wort wollte nicht recht hierher passen. »Ich bin bloß erschöpft.«

Darian sah sie einen Moment lang an, bevor er sich abwandte und verständ-nisvoll nickte. »Heute schlafen wir in einem richtigen Bett.«

Sie wussten beide, dass es kein Bett war, um das sie sich sorgten. Aber schaden würde es auch nicht.

Tazriel, der sich bis eben hinter ihnen gehalten hatte, schloss zu ihr auf. »Ist das ein Gasthaus da vorn?«

Elayne und Darian folgten seinem Blick. Nicht weit entfernt von ihnen standen mehrere angebundene Pferde vor einem überdachten Trog. Über ihnen baumelte ein Schild von der Hauswand. Erst beim Näherkommen ließ sich der geschwungene Schriftzug darauf entziffern: Herberge.

»Den Göttern sei Dank«, seufzte Tazriel erleichtert. »Mein Rücken hätte mir eine weitere Nacht auf dem Waldboden nicht verziehen.«

»Noch wissen wir nicht, ob sie freie Betten haben«, erinnerte Darian ihn, aber auch er wirkte auf einen Schlag lebendiger als eben noch.

Wenig später ließen sie ihre Pferde bei den anderen und traten in die Wärme. Drinnen erwartete sie ein verwinkelter Raum mit verblassten Landschafts-malereien an den Wänden, die von den Kerzen auf den Tischen nur zu Teilen

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erleuchtet wurden. Im Raum verstreut saßen Gäste, leise Unterhaltungen erfüllten die Atmosphäre, ebenso wie der Duft der warmen Mahlzeiten vor ihnen. Sofort machte sich Elaynes leerer Magen schmerzhaft bemerkbar. Ja, hier wollte sie heute Nacht um jeden Preis bleiben.

Leider fehlte ihnen dafür etwas Entscheidendes.

»Habt Ihr noch ein freies Zimmer für die Nacht?«, fragte Taz dennoch und trat an den hölzernen Tresen gegenüber des Eingangs heran. »Wir haben zwar kein Geld, aber falls es Arbeit zu erledigen gibt, bieten wir herzlich gern unsere Hilfe an. Ich verspreche, wir sind fleißig und benötigen nicht viel Platz.«

Die kräftige Frau, die gerade mit zwei leer gegessenen Tellern ihrer Gäste hinter den Tresen zurückkehrte, musterte die drei Neuankömmlinge mitleidig. Elayne hatte schon länger in keinen Spiegel mehr gesehen, doch wenn sie ein ähnliches Bild abgab wie die beiden Männer an ihrer Seite, ergab das Mitleid Sinn.

»Arbeit hab ich keine für euch. Zimmer dafür genug. Setzt euch, Liebchen, dann gibt’s noch volle Bäuche dazu.«

Darüber mussten sie nicht nachdenken. Wie selbstverständlich riss Tazriel die obersten Knöpfe von seiner Jacke ab und legte sie wie Münzen vor sich auf den Tresen. Als Bezahlung wären sie wohl kaum infrage gekommen, doch sie mussten teuer gewesen sein und ließen sich bestimmt zu Geld machen. »Für die Gastfreundschaft. Zwei Zimmer wären wunderbar.«

»Setzt euch erst mal.« Sichtlich überrascht nahm die Frau die Knöpfe an sich und verschwand in einem Nebenzimmer, wahrscheinlich der Küche.

Sitzen und essen klang zu schön, um wahr zu sein. Darum taten sie, wie ihnen geheißen, und schleppten sich zu einem der versteckteren Tische. Das Holz der Möbel wirkte alt und abgenutzt, die Stühle knarzten unter ihnen, als sie Platz nahmen. Doch flackernder Kerzenschein sorgte für Gemütlichkeit.

»Zwei Zimmer?«, wollte Darian wissen.

Tazriel sank mit einem ergebenen Seufzer gegen die Stuhllehne. »Klar doch. Ich brauche meine Ruhe und etwas Schönheitsschlaf, bevor wir morgen im Schloss aufschlagen. Der erste Eindruck ist der wichtigste, und ich habe schließlich den guten Ruf meiner Familie zu wahren.«

Dass die Aussicht auf ein üppiges Abendessen für gute Stimmung sorgte, freute Elayne. So ganz abschütteln ließ sich ihre Beklemmung jedoch nicht.

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»Vielleicht ist es keine gute Idee, uns aufzuteilen, bevor wir das Schloss erreichen. Kree liegt zwar hinter uns, aber wir wissen nicht, ob uns jemand verfolgt.«

»Darian schnarcht.«

»Das ist doch …!« Hilfe suchend blickte sie zum Prinzen hinüber.

Aber der lachte nur leise. Für einen kurzen Moment sog sie diesen Anblick auf. Das Zucken seiner Schultern. Das Grübchen auf seiner linken Wange, das sich dort schon viel zu lange nicht mehr gezeigt hatte. Als sein Lachen verebbte und er zu ihr herüberschaute, fühlte sie sich zwar ertappt, konnte sich aber noch nicht losreißen. Darian lebte.

»Dann …«, begann sie, ohne den Blickkontakt abzubrechen.

»… teilen wir beide uns heute ein Zimmer«, beendete er ihren Satz mit bedächtig gesenkter Stimme.

Oh. Ein Kribbeln fuhr durch Elaynes Körper und zwang sie schließlich, doch wegzusehen.

»Und genau das«, Tazriel hatte beide Augenbrauen hochgezogen und gestikulierte zwischen ihnen hin und her, »ist Grund Nummer zwei für mindestens eine Wand zwischen mir und euch.«

Erwidern konnte sie darauf nichts, denn die Frau von eben trat an ihren Tisch und platzierte drei großzügig gefüllte Teller vor ihnen. »Lasst es euch schmecken, ihr Armen, und kommt zu mir, wenn ihr Nachschlag oder auf eure Zimmer wollt.«

»Danke«, gaben die drei wie aus einem Mund zurück.

Im selben Augenblick stieg Elayne die deftig-warme Duftwolke des Abend-essens in die Nase. Wen kümmerte es schon, wer wo übernachtete?

Schweigend schlangen sie ihre Portionen hinunter, so gierig, dass ihre Mägen es ihnen straften. Sobald nur noch Krümel übrig waren, hielt sich Elayne den schmerzenden Bauch und lauschte dem übersättigten Stöhnen ihrer Begleiter. Kein Nachschlag für irgendjemanden von ihnen. Die Furcht vor dem, was hinter und noch vor ihnen lag, spielte jetzt und hier keine Rolle. Alles, was sie gerade wollte, war ein Bett, in dem sie sich ausstrecken konnte. Und sie wollte raus aus ihrem klammen, schmutzigen Kleid und dem muffigen Umhang.

Nachdem die Wirtin ihre Teller eingesammelt und ihnen nach einem weiteren mitleidigen Blick frische Kleidung, Seife und ein Rasiermesser

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zusammengesucht hatte, führte sie die erschöpfte Gruppe hinauf zu den Schlafräumen.

Die Treppe war schmal, und das Holz der Stufen knarzte bei jedem Schritt, als sie sich mit letzter Kraft hochschleppten.

Oben angekommen, verabschiedete sich Tazriel kurz und schmerzlos bis zum Morgen. Als kurz darauf auch die Frau gegangen war, blieben Elayne und Darian in einem beschaulichen Zimmer mit nichts weiter als einem Bett, einem Tisch mit Stuhl und zwei vollen Wassereimern zurück. Hier, hinter geschlossener Tür, waren sie allein miteinander. Zum ersten Mal seit dem Gewächshaus.

Schlagartig kehrte die Aufregung von vorhin zurück. Weder ihre Erschöp-fung noch das viele Essen konnten das Kribbeln unterbinden, das erneut in Elayne aufstieg. Es erinnerte sie an das Gefühl, das sie bei ihrer ersten Begeg-nung überkommen hatte. Als Darian für sie noch ein verletzter Fremder mit einem irritierenden Lächeln gewesen war. Der Moment schien eine Ewigkeit zurückzuliegen. Inzwischen war aus dem Fremden ein Mensch geworden, den zu verlieren sie nicht ertragen könnte. Jemand, dessen Nähe sie gleichermaßen beruhigte und ihr unter die Haut ging.

Die feinen Härchen auf ihren Armen und in ihrem Nacken stellten sich auf, als sie dabei zusah, wie er zuerst seinen Umhang ablegte und dann dazu überging, die Schleife am Kragen seines Hemdes aufzuziehen. Sie selbst war im Eingang stehen geblieben und rührte sich nicht.

»Es ist bescheiden, aber allemal besser als der feuchte Waldboden.« Darian hatte ihren Blick aufgefangen und glaubte wohl, sie sei enttäuscht.

Weit gefehlt. Sie schaute zu seinen Fingern, die nun an den Ärmeln seines in Mitleidenschaft gezogenen Hemdes herumnestelten, und von dort zu dem einzigen Bett im Raum. In ihrem Kopf prasselte der Regen auf das Dach des Gewächshauses. Es roch nach Erde, Salz und ihm. Nein, nur nach ihm.

»Du kannst das Bett natürlich für dich allein haben«, ließ Darian sie wissen. Da sie noch immer nichts gesagt hatte, versuchte er offenbar, ihre Gedanken zu erraten, und scheiterte kläglich.

Das brachte sie zum Lächeln. »Red keinen Unsinn. Es ist groß genug für uns beide. Mit Tazriel wäre es schwierig geworden. Ein Glück für uns, dass er auf Privatsphäre bestanden hat.«

»Dir ist bewusst, dass er uns nur Freiraum geben wollte, oder?«

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»Hm. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, ging es ihm eher um dein Schnarchen.«

»He, du weißt, ich schnarche nicht!«

»Schon ein kleines bisschen.« Herausfordernd grinste Elayne ihn an. Ohne es zu merken, war sie weiter in das Zimmer getreten. Näher an den Prinzen heran.

Dieser erwiderte ihr Lächeln so lange, bis es einem betretenen Ausdruck wich. Sie konnte deutlich spüren, wie er sich innerlich vor ihr zurückzog.

Warum?

»Wasch du dich ruhig zuerst«, wechselte er das Thema und wies auf die Eimer voll Wasser. »Hier gibt es keinen Spiegel, darum muss ich Taz noch einmal auf die Nerven gehen und fragen, ob er mir beim Rasieren hilft. Nur weil er Gefallen an seinem neuen Bart findet, gilt das nicht für mich. Aber dass wir morgen einen guten Eindruck hinterlassen möchten, haben wir gemeinsam, also …«

Bevor er nach dem Rasiermesser greifen konnte, hatte Elayne es genommen. »Ich kann das für dich machen.«

Wieder dieser Ausdruck in seinem Gesicht. Als wäre ihm schon der Gedanke, von ihr berührt zu werden, unangenehm. Sie wollte ihn fragen, was in ihm vorging, aber traute sich nicht. Zu stark war ihre Angst davor, die Antwort bereits zu kennen. Schließlich war eine Menge passiert, seitdem sie zuletzt allein gewesen waren. Bisher hatten sie keine Gelegenheit gehabt, darüber zu sprechen, was in jener Nacht geschehen war. Oder darüber, was Darian gesehen hatte. Der wilde Hund aus Energie musste für ihn unsichtbar geblieben sein. Doch was, glaubte er, hatte Veron von ihm heruntergerissen? Was, glaubte er, war die Ursache für dessen qualvolles Geschrei gewesen? Was, wenn nicht … Elayne? Die einzige Person, die nah genug an dem Attentäter dran gewesen war, wenn auch nicht nah genug, um ihn anzurühren.

Sie ist als Hexe verbrannt worden, nachdem sie sich der falschen Person anver-traut hatte.

Fenellas Erzählung über ihre Großmutter kam ihr in den Sinn.

Menschen fürchten, was sie nicht verstehen. Deshalb solltest du dir gut über-legen, mit wem du über deine Gabe sprichst.

Das Herz zog sich in ihrer Brust zusammen. Allein die Vorstellung, dass sich Darian vor ihr fürchtete … Sie wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen,

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sondern ihm mit demselben Vertrauen begegnen, das er ihr ein ums andere Mal bewiesen hatte. Aber die Art, wie er sie gerade ansah, machte es ihr schwer, ihr flaues Bauchgefühl zu ignorieren.

Dennoch nahm er ihr Angebot dankend an und blieb. Zuerst wuschen sie sich und schlüpften in die frischen Kleider – schlichte, robuste Gewänder in ausgewaschenen Farben, die andere Reisende hier zurückgelassen hatten. Dann ließen sie sich gemeinsam auf der Fensterbank nieder, wo der herein-scheinende Vollmond eine zusätzliche Lichtquelle bot.

Den Eimer mit dem restlichen sauberen Wasser hatte Elayne neben ihnen abgestellt. Nun machte sie sich daran, Darians untere Gesichtshälfte mit Seifenschaum zu bedecken und behutsam mit dem Messer wieder davon zu befreien. Mit geschlossenen Augen saß er vor ihr und ergab sich ihren Berüh-rungen, genau wie damals, als sie ihn verwundet im Schutz des Gewächs-hauses angetroffen hatte. Entgegen ihrer Erwartung spürte sie, wie sehr er die Zuwendung genoss. Doch da war noch mehr: ein innerer Widerstand. Er wollte nicht genießen.

»Elayne …« Mit einem Mal öffnete er die Augen und sah sie direkt an. Unsicherheit schwang in seiner Stimme mit und ließ sie hellhörig werden. »Du vertraust mir doch?«

Was für eine Frage. »Natürlich.«

»Solange wir zu dritt waren, wollte ich es nicht ansprechen. Taz scheint es zwar ebenfalls aufgefallen zu sein, aber ich dachte, es wäre besser, wenn ich dich zuerst allein … Es gibt etwas, das mich nicht loslässt. Schon seit wir aus Kree fort sind. Wie konntest du Veron …« Er machte eine Pause, und sie spannte sich an. Weil sie daran zurückdachte, was um Haaresbreite passiert wäre, und weil sie wusste, was er im Begriff war, zu fragen. »Warum hat er von mir abgelassen? Mir geht nicht aus dem Kopf, wie er geschrien hat … Als hätte er starke Schmerzen gehabt. Aber da war nichts. Nur du.« Sie erwiderte seinen durchdringenden Blick. Gleich würde er es aussprechen. »Was hast du getan?«

Eine Frage, hinter der vieles steckte: Woher kamen Verons Schmerzen? Wie war es ausgerechnet dir möglich, sie ihm zuzufügen? Was bist du?

Unbewusst hatte Elayne aufgehört zu atmen. Darum musste sie einen tiefen Atemzug nehmen, bevor sie sich zu einer Antwort durchringen konnte. Um noch mehr Zeit zu schinden und sich die richtigen Worte zurechtzu-

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legen, räumte sie den Eimer und das Messer beiseite, während sich Darian die frisch rasierte Haut trocknete. Wie erklärte sie jemandem ihre Gabe, die sie selbst gerade erst zu verstehen begonnen hatte? Und wer garantierte ihr, dass Darian sie nicht für wahnsinnig halten und sich von ihr abwenden würde? Dass er nicht in Angst vor ihr zurückweichen würde?

Als sie sich wieder zu ihm setzte, ruhte sein Blick aufmerksam auf ihr. Das inzwischen vertraute Grün seiner Augen glänzte im Mondschein.

Na gut.

Sie musste es versuchen. Weil er es war. Darum nahm sie ihren Mut zusammen und gab ihm die Wahrheit.

Stumm lauschte Darian ihrer Geschichte, in der sie nichts ausließ. Elayne begann mit der Biene, die auf Alesanders Brief an Nia gelandet war, und ihrer Vorahnung, kurz bevor das Fieber ihre Freundin geholt hatte. Mehr und mehr versank sie dabei in ihren eigenen Erinnerungen. Sie berichtete von ihren Begegnungen mit dem Energiegeist Rabe und der Warnung, die das für andere unsichtbare Wesen an Gondrick überbracht hatte, um ihn in Balezan vor nachrückenden Söldnern zu warnen. Auch von Wissen aus dem alten Land, dem Buch, das Alesander ihr in der Markthalle in Krees Palaststadt gekauft hatte, und von ihrer wundersamen neuen Freundin aus dem Wald, die sie das Meditieren gelehrt hatte, erzählte sie.

Dann durchlebte sie noch einmal den fürchterlichen Moment nach ihrem gemeinsamen Strandausflug, in dem Alesander aufdringlich geworden war. Sie erinnerte sich an jedes Detail. Seine dunkle Ausstrahlung, die Tür in ihrem Rücken, seine Lippen an ihrem Hals. Ihre plötzliche Entschlossenheit, das Klirren des zersplitternden Fensters, die knurrende Hundegestalt aus wütender Energie. Bei diesem Teil fiel ihr das Reden besonders schwer, und sie war heilfroh, ihn hinter sich zu bringen.

Lieber beschrieb sie das unsichtbare Band, das in ihrer Brust gezogen und ihr im Augenblick größter Verzweiflung versichert hatte, dass Darian noch lebte. Ihre Verbindung, die sie seitdem immerzu spüren konnte. Gleich einem unaufhörlichen Energiestrom zwischen seinem und ihrem Herzen.

Ihre Geschichte endete damit, wie sie den Hund aus Energie erneut gerufen und diesmal auf Veron losgelassen hatte, um Darian vor der Messerspitze des Attentäters zu bewahren.

Sobald sie mit dem Erzählen fertig war, konnte sie selbst kaum glauben,

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was alles hinter ihr lag. Wäre sie nicht diejenige, die all das erlebt hatte, hätte sie diese Dinge wahrscheinlich für Märchen gehalten. Für Zufälle oder die Hirngespinste einer Verwirrten.

Abwartend suchte sie in Darians Gesichtszügen nach Anzeichen dafür, dass er sich wieder von ihr distanzierte. Doch das tat er nicht. Sein Ausdruck blieb unverändert.

»Diese … Deine Gabe hat dich also zu mir ins Gewächshaus geführt, wo wir uns zum ersten Mal begegneten«, war das Erste, was er sagte.

Bedeutete das, dass er ihr glaubte? Erleichtert über seine Reaktion lächelte sie. »Ja. Ich denke schon.«

Er nickte nachdenklich, bevor er in der Bewegung innehielt und die Brauen zusammenschob. »Und an dem Abend unseres Kusses, bevor du zu mir kamst, hat Sander …«

»Ich konnte mich wehren!«

»So weit hätte er gar nicht erst gehen dürfen. Dich gegen deinen Willen zu berühren, ist –«

»Er konnte den Hund nicht sehen«, unterbrach sie ihn ernst. Sie musste einfach loswerden, was ihr auf der Seele brannte. »Dass das Fenster durch meine Kraft zerschlagen wurde, konnte er nicht wissen. Trotzdem hatte er Angst. Solche Angst, dass er aus dem Zimmer gestürmt ist.« Voller Entsetzen hatte Alesander die Scherben angestarrt. Nichts gegen das, wozu Elayne in Darians Gegenwart fähig gewesen war. »Was … ist mit dir?«

»Mit mir?«

»Fürchtest du dich jetzt«, den letzten Teil ihrer Frage verschluckte sie fast, »vor mir?«

Schockiert riss er die Augen auf. »Wie könnte ich? Elayne, du hast mir das Leben gerettet. Zweimal.«

Er klang aufrichtig.

Tränen der Erleichterung stiegen in ihr auf, und sie gab sich keine Mühe, sie zurückzuhalten.

»Dreimal«, berichtigte sie halb schmunzelnd, halb schniefend und dachte daran, wie sie nicht nur Rabe zur Warnung gesandt und später den Hund gelenkt, sondern zuallererst einen fremden Prinzen mit Schneekraut verarztet hatte.

Da beugte er sich vor und zog sie an sich. Überrascht ließ sie sich gegen

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seine Brust sinken, während er seine Arme um sie legte.

»Danke für jedes einzelne Mal«, raunte er dicht an ihrem Haar.

Seine Wärme und der angenehme Seifenduft hüllten sie ein. So geborgen würde sie ihr schlechtes Gefühl am liebsten der Erschöpfung zuschieben. Doch selbst jetzt war seine Anspannung spürbar. Als wollte er eigentlich lieber Abstand zwischen ihnen wahren.

Das halte ich nicht aus. Was verschweigt er mir?

Es kostete sie einiges an Überwindung, doch sie löste sich aus der Umar-mung, um ihn wieder ansehen zu können. »Dich beschäftigt noch mehr.«

Er zögerte. »Wenn Taz mir Fragen zu dem stellt, was er gesehen hat …«

»Dann erzählst du ihm alles«, beschloss sie aus einem weiteren Bauchgefühl heraus. »Du musst deinen Freund nicht für mich belügen.« Außerdem hatte Tazriel schon einmal ein großes Geheimnis von ihr bewahrt. »Das … ist aber nicht das, was du eigentlich gerade sagen wolltest.«

Darauf erwiderte er nichts, was einer Zustimmung gleichkam. Stattdessen atmete er geräuschvoll aus.

»Ich vertraue dir«, versicherte sie ihm nochmals. »Wenn du mir sagst, dass es keinen Grund zur Sorge gibt, höre ich auf dich. Aber bitte weich mir nicht aus.«

»Dir auszuweichen, ist nicht meine Absicht, glaub mir.« Sein trauriges Lächeln versetzte ihr einen Stich. »Ich versuche nur, die notwendige Distanz zwischen uns zu akzeptieren. Nicht besonders leicht, wenn ich ehrlich bin.«

Notwendige Distanz?

»Wie meinst du das?«

»Morgen werden wir Seremon um Asyl bitten. Nur wenn wir ihn über-zeugen, sich öffentlich auf unsere Seite und damit gegen meinen Bruder zu stellen, können wir in Balezan bleiben.«

Ihr einziger Lichtblick, seit sie aus Kree geflohen waren. Bisher hatte sich Elayne ganz und gar darauf gestützt, um nicht ohne Hoffnung ins Unge-wisse zu reiten. Erst jetzt verstand sie, was dafür nötig sein würde.

König Seremon würde ein großes Risiko für Balezan eingehen, sollte er tatsächlich einen der Söhne von Phelius dem Eroberer des versuchten Mordes bezichtigen. Wollten sie ihn und seine Berater von Alesanders Verrat überzeugen, konnten sie ihnen schlecht Hand in Hand gegenüber-treten. In ihren Augen wäre wohl Elayne die Verräterin.

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Mit bleierner Schwere legte sich diese Erkenntnis über sie. Nach allem, was wir durchgestanden haben, dürfen wir nicht einmal …

Das Lügen sollte also weitergehen. Vielleicht sah so ihr Schicksal aus. Sie wollte fragen, wie lange sie diese Farce aufrechterhalten mussten, aber dann brachte sie ihre Gedanken zu Ende: Selbst wenn alles zu ihrem Vorteil verlief und ihre Hoffnung aufging, bedeutete das letztendlich auch einen Abschied. Ihr Ziel war es schließlich, dass Darian sicher heimkehren und Elayne bleiben konnte, ohne den Zorn Krees auf sich zu ziehen. Sie wären in Sicherheit, jedoch getrennt. Was zwischen ihnen entstanden war, hatte von Anfang an keine Zukunft gehabt.

Was für eine Hoffnung soll das sein?, verzweifelte Elayne, doch kam sich gleich darauf undankbar vor.

Hierbei ging es nicht um ihre Gefühle, sondern um so viel mehr. Um Darians Leben. Um die Leben der Menschen in Balezan.

Geschlagen musterte sie ihn – sein lieb gewonnenes Gesicht, die zerzausten Bronzelocken, das schlichte Leinenhemd über seinen breiten Schultern. Diesen Anblick wollte sie sich bewahren, denn weitere Momente wie diesen würde es wahrscheinlich nicht geben. »Dann sind wir also … Freunde?«

Für die Antwort ließ er sich Zeit. Sein Blick hing an ihren Lippen, als er sagte: »Ab morgen sind wir nicht mehr und nicht weniger als das.«

Ab morgen.

Schon reichte es nicht mehr aus, nur hinzusehen. Sie grub ihre Hände in die Haare in seinem Nacken und zog ihn näher an sich, küsste ihn, vergaß alles andere. Darian erwiderte den Kuss, umfasste ihre Hüfte und zog sie auf seinen Schoß, sodass sie einander noch näher waren. Elaynes Atem wurde schwerer, ihre Müdigkeit schwand dahin, während sie ihre Finger tiefer wandern ließ, um ihm das gerade erst angezogene Hemd wieder abzustreifen. An morgen wollte sie jetzt nicht denken.

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Das ummauerte Herz

Es waren drei Brüder in der ganzen Stadt bekannt: der Älteste hilfsbereit und von sanfter Natur, der Zweitälteste klug und unermüdlich in seinem Streben nach Wissen und der Jüngste gefühlvoll und mit einem Lachen, ansteckender als das eines jeden anderen.

Einige Jahre verbrachten sie glücklich miteinander. Jedoch kam der Tag, an dem der älteste Bruder bei dem Versuch, ein fortgetriebenes Vogelnest voller Jungtiere aus einem Fluss zu retten, sein Leben ließ.

Den zweitältesten Bruder traf der Verlust schmerzlich. Um sich von seinem Leid abzulenken, auf dass die Zeit seine Wunden heilen möge, stürzte er sich in das Studium und erforschte voller Hingabe die Gegebenheiten unserer Welt.

Nur der jüngste Bruder fand keinen Weg, den Kummer zu ertragen. Das gebrochene Herz quälte ihn so fürchterlich, dass er an nichts anderes zu denken vermochte. Die Fähigkeit, Freude zu empfinden oder gar zu lachen, versagte ihm gänzlich, denn wann immer er etwas fühlte, war es Schmerz.

Bis es ihm schließlich gelang, seiner Gefühle Herr zu werden. Indem er sein Herz versteinern ließ, es vor jeder Empfindung verschloss, befreite er sich von seinem Leid – so glaubte er. Wenn doch in Wahrheit sein Herz nicht verstei-nert, sondern lediglich ummauert war.

Der Schmerz war noch immer darin zu finden und, nachdem dieser mit den Jahren verblasste, auch neue Freude. Hoffnung. Liebe sogar.

Aber der Träger des ummauerten Herzens wusste nichts davon, denn er hielt all das in sich gefangen.

Erst kurz vor seinem eigenen Tod, als Greis im Sterbebett, riss er die Mauer ein, um ein letztes Mal zu fühlen.

Um zum ersten Mal seit langer Zeit zu leben, wie er in jenem Moment verstand.

– Aus Wissen aus dem alten Land

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Nur wenige von uns sehen wirklich. Nur wenige hören der Geschichte zu. Nur wenige verstehen Hydeas Lied. Regen prasselte gegen das Schlafzimmerfenster der Königin von Kree, jedoch drang das Geräusch nur gedämpft zu ihr durch. Denn während sie auf ihrem Sofa saß, ein unangerührtes Tablett mit Frühstück neben sich, beschäftigte sie nur eines.

Ungläubig starrte sie auf den handgeschriebenen Text, las ihn wieder und wieder, als könnte sie die Worte dadurch verändern. Das hier konnte nicht dasselbe Buch wie damals sein. Es war unmöglich, dass es nach all der Zeit zu ihr zurückgefunden hatte, obwohl sie doch sichergegangen war, dass es aus ihrem Leben verschwand. Dieses Buch sollte weit weg sein, wo es weder alte Wunden aufreißen noch neue verursachen konnte.

Dennoch lag Wissen aus dem alten Land jetzt in ihrem Schoß und verhöhnte sie für den Versuch, es loszuwerden. Die Tinte war ein wenig blasser geworden, der grüne Ledereinband abgenutzter, doch mehr hatte sich in zehn Jahren nicht verändert.

Mit zitternden Fingern blätterte Jamalie durch die Seiten. Sie glaubte nicht an Zufälle. Dafür war sie zu klug. Dass Alesander diesen Fund ausgerechnet in den Räumen der Prinzessin gemacht hatte, genügte als Beweis für Verons Anschuldigung. Kein wildes Tier, sondern Ophenia von Balezan hatte ihn so übel zugerichtet.

Hexerei – derartiges existierte nicht wirklich, war nur ein Werkzeug mächtiger Männer, um lästige Frauen anzuklagen. Jedoch war die Kraft, die es einem Menschen ermöglichte, jemandem ohne die kleinste Berüh-rung solchen Schaden zuzufügen, durchaus real. Wenngleich Jamalie etwas Vergleichbares nie mit eigenen Augen gesehen hatte. Darum wäre sie ohne

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diesen Beweis nicht einmal versucht gewesen, Verons Geschichte zu glauben.

Nun aber hatte sich alles verändert. Ihre Vergangenheit war im Begriff, sie einzuholen, und die Königin fühlte sich so hilflos wie seit Jahren nicht mehr. Dabei hätten ihr die Vorahnungen eine Warnung sein sollen. Schon bevor ihr das Buch in die Hände gefallen war, hatten sie sich dunkel und schwer in ihrem Bauch breitgemacht; hatten sie gezwungen, sich zu erinnern. An Gwynn. An deren Tod. Daran, wer sie selbst einmal gewesen war – vor der Hinrichtung.

Ein Blick zum Fenster verriet ihr, dass der Regen aufgehört hatte. Tropfen benetzten das Glas und glitzerten im Licht der durch die Wolken brechenden Sonne.

Endlich. Nicht nur der Himmel klarte auf, sondern auch Jamalies Gedanken.

Hier zu sitzen und über altem Papier zu grübeln, würde sie nicht weiter-bringen. Sie wusste genau, wo sie jetzt sein sollte. Darum erhob sie sich vom Sofa und verließ mit dem alten Buch den Raum, ohne noch einmal zurück-zublicken.

Ihr Weg führte sie vorbei an den ehrfürchtigen oder gar verängstigten Gesichtern von Menschen, deren Namen sie sich nur selten merkte. Vorbei an Gängen, Türen und Kunstwerken, die ihr vertrauter waren, als sie es ertrug. Sobald sie den Garten erreichte, löste sich die Anspannung, die sie schon seit Anbruch des Tages umklammert hielt, ein wenig. Hier draußen war jedes Überbleibsel vergangener Ereignisse ausgelöscht worden. Dafür hatte sie gesorgt. Pavillons, Bänke, plätschernde Brunnen und Gewässer, Kübel mit großen und kleinen Pflanzen, ihre Schatten spendenden Ausläufer – all das überdeckte den Albtraum, der sich vor einem Jahrzehnt auf einem einst kargen Platz zugetragen hatte. In dem sandsteinernen Palast, von dem sie sich zügigen Schrittes entfernte, herrschte Phelius. Dies jedoch war ihr Reich.

Der Regenschauer hatte kühlen Wind mitgebracht, und eine Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus. Dass sie gefroren oder sonst eine unan-genehme Empfindung zugelassen hatte, lag lange zurück. Doch jetzt erlaubte sie sich, das kalte Prickeln auf ihrer Haut zu spüren, genoss es sogar. Auf eine euphorisierende Art war es ein Beweis dafür, dass sie bis hierhin überlebt hatte.

Jamalie wusste um ihre einschüchternde Wirkung auf andere. Zuweilen spielte sie damit. Nun setzte sie ihre unliebsamste Miene auf und trug sie wie

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eine Rüstung. So gelangte sie unbehelligt zu dem Spalt in der Mauer, der auf sie schon immer wie ein Tor in eine andere Welt gewirkt hatte. Auf der einen Seite das Gefängnis, auf der anderen die Freiheit.

Dass sich der Saum ihres roten Kleides mit Schlamm vollsog, kümmerte sie nicht, als sie zwischen den herausgebrochenen Steinen hindurchkletterte und sich unter hochgewachsenen Olivenbäumen wiederfand. Die Mädchen, die ihre Wäsche wuschen, wagten es nicht, Fragen zu stellen. Hin und wieder fanden sie Erde oder Blätter an ihren Kleidern, und da die Königin überall im Palast Augen und Ohren hatte, wusste sie, dass sie sich zu gern die Mäuler darüber zerrissen.

Angeblich pflegte sie eine Affäre. Heimliche Treffen zwischen Bäumen und Sträuchern mit einem Mann, der nicht der König war. Manche glaubten, dass sie eine Frau traf – das sollte wohl die lieblose Ehe mit Phelius erklären.

Eine Affäre. Wie lächerlich.

Keines der Klatschweiber behielt lange genug seine Stelle, um die Wahrheit herauszufinden. Diejenigen, die eine Frau hinter ihrer verdreckten Kleidung vermuteten, lagen nicht gänzlich falsch. Und eher würde sie alle neuen Bewerberinnen vor die Tür setzen, bevor sie erlaubte, dass eine von ihnen der Wahrheit noch näher kam.

Seit zehn Jahren war sie hier draußen. Zehn Jahre, in denen die Königin kein anderes Geheimnis so sorgsam gehütet hatte wie ihre Existenz. Für alle anderen innerhalb der Palastmauern mochte sie vergessen sein, doch Jamalie würde niemals vergessen. Weder die Verbrechen, die unter der kreeschen Sonne begangen worden waren, noch die Menschen, die bis zu diesem Tag mit den Folgen lebten. Menschen wie Fenella.

Sie hatte Fenella seit einer Weile nicht mehr besucht. Als diese noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie es kaum über sich gebracht, sie allein zu lassen. Ohne seine Großmutter, die einzige noch lebende Verwandte, hatte das Kind schließlich niemanden sonst gehabt. Deshalb war Jamalie in jedem unbeobachteten Moment bei ihm gewesen.

Doch aus dem Mädchen war eine eigenständige junge Frau geworden.

Als sich die Bäume lichteten und sich die Hütte zwischen ihnen abzeich-nete, sah sie vor ihrem inneren Auge, wie der Ort früher einmal ausgesehen hatte. Zuerst war da nur die Lichtung gewesen, ein idyllisches Fleckchen Erde von geradezu magischer Ruhe. Gwynn und sie waren bei einem Spaziergang

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durch den Wald darauf gestoßen. Veron, der sie schon seit jeher auf Schritt und Tritt begleitete, hatte kurze Zeit später mit dem Bau der Holzhütte begonnen. Die wild verstreuten Beete hatten sie ohne seine Hilfe angelegt. Da sogar die ältere Gwynn – Gwynn von allen Damen dieser Welt – mit ihren sanften Händen in der Erde gewühlt und dabei gestrahlt hatte, war auch sie selbst sich nicht zu schade dafür gewesen. Während sie daran zurückdachte, lebte in ihrer Erinnerung alles wieder auf: Vogelgezwitscher, raschelnder Wind und ihre ausgelassenen Gespräche, die von Wünschen handelten und voller Zuversicht steckten. Einen ganzen Frühling lang waren sie tagein, tagaus hierhergekommen und hatten sich ihr kleines geheimes Paradies geschaffen.

Nun auf die Hütte zuzugehen, entlang der Überbleibsel ihrer Arbeit, erfüllte sie jedoch nicht mit Stolz. Vielmehr erinnerte sie der Kloß in ihrem Hals daran, dass sie für immer verloren waren: die glücklichsten Tage ihres Lebens.

Die morsch anmutende Tür öffnete sich, noch während sie darauf zuschritt.

»Ich habe dich vermisst, Neema.« Fenella erschien im Türrahmen, die Filzzöpfe nach hinten geflochten, ein leichtes Tuch über die Schultern gelegt und den gewohnten Streifen roter Farbe auf ihr Kinn gemalt. Sie klang weder vorwurfsvoll noch traurig, sondern einfach nur froh über den Besuch. »Komm rein.«

Jamalie sagte nichts, aber strich über ihren Arm, als sie an ihr vorbei den einzigen Raum betrat, der sich unter dem Hüttendach befand. Drinnen empfingen sie die Wärme eines knisternden Feuers im Ofen und der Duft eines frisch zubereiteten Gemüseeintopfs. Vor dem ordentlich gemachten Bett auf einem Teppich schlummerte Halynn. Die großgewachsene Luchs-dame blinzelte zwar verschlafen, als die Königin eintrat, ließ sich jedoch nicht stören.

»Du hast mich erwartet?«, fragte Jamalie und deutete auf den gedeckten Holztisch am Fenster, vor dem bunte Glasscherben an einem Faden baumelten und das hereinfallende Licht brachen. Zwei dampfende randgefüllte Schalen standen dort.

»Ich habe von dir geträumt. Das tue ich immer, bevor du mich besuchst.« Fenella stellte zwei Tassen dazu und füllte sie mit heißem Tee. Dann setzte sie sich zum Essen. »Den Kohl darfst du dir nicht entgehen lassen. Dieses Jahr ist er besonders aromatisch.«

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Der Kohl aus dem Beet gleich rechts vor dem Hütteneingang. Den hatten sie beide schon immer am liebsten gemocht. Gwynn war er zu bitter gewesen, aber Jamalie zuliebe hatte sie zugestimmt, ihn anzubauen. Dass ihre Enkelin eines Tages auf ihn angewiesen sein würde, konnte sie nicht gewusst haben. Doch möglicherweise hatte sie etwas geahnt, als sie gemeinsam das Beet abgesteckt oder die erste Saat ausgesät hatten. Bei diesem unvergleichlichen Gespür – wie weit waren ihre Vorahnungen insgeheim gegangen? Hatte sie ihren eigenen Tod vorausgesehen oder die Abgeschiedenheit, in der ihre Enkelin aufwachsen würde? Wieder einmal fragte sich Jamalie, wie viele unausgesprochene Gedanken ihre ältere Freundin mit ins Grab genommen hatte.

»Oder bleibst du nicht zum Essen?«, holte Fenella sie in die Gegenwart zurück. Diesmal schwang tatsächlich Enttäuschung in ihrer Stimme mit. »Bist du vielleicht nur hergekommen, um mir das zu geben?« Sie kostete von dem Eintopf, zeigte danach mit dem Löffel auf den Gegenstand, den Jamalie bei sich trug.

Diese wurde sich erst jetzt des Gewichts in ihrer Hand bewusst. Sowie sie auf dem freien Stuhl Platz genommen hatte, legte sie das Buch auf den Tisch und schob es der Neema, der Fühlenden, ihr gegenüber zu. »Du kennst es nicht. Aber deiner Großmutter war es gut bekannt. Veron sollte es für mich auf dem Markt zu Geld machen, nachdem sie gestorben war.«

Fenella betrachtete Wissen aus dem alten Land mit Ehrfurcht. Langsam atmend und mit einer Falte zwischen den Augenbrauen strich sie über den Einband – ganz vorsichtig, als könnte sie etwas kaputtmachen. Die Schale mit Eintopf schien vergessen.

»Großmutter hat es gelesen?«

»Ja. Einige Male.«

»Und Veron hat es verkauft?«

»Wie ich es wollte.«

Bedächtig schlug sie die erste Seite auf. Ihr Blick löste sich nicht einen Moment lang davon. »Wie ist es zu dir zurückgekommen?«

»Ophenia.«

Nun schaute Fenella auf. Über Alesanders Verlobung wusste sie Bescheid, darum war ihr der Name der balezanischen Prinzessin geläufig.

Jamalie schnaubte. »Alesander kaufte es ihr in der Stadt. Weshalb gerade

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dieses Buch? Das …« muss doch etwas bedeuten. Nur selten verschlug es ihr die Sprache, doch zurzeit geriet vieles aus den Fugen. »Besitztümer wie dieses können gefährlich sein. Wir sollten weder etwas damit zu tun haben noch damit in Verbindung gebracht werden. So dachte ich, als ich Veron damit zum Markt schickte.«

»Jetzt denkst du anders darüber. Woher der Sinneswandel?« Die Falte zwischen Fenellas Brauen glättete sich. Stattdessen wurde ihr Blick neugierig. »Hat Ophenia etwas über das Buch gesagt, das dich umstimmen konnte?«

»Das wäre wohl kaum möglich gewesen. Sie ist fort. Geflohen mit Phelius’ Lieblingssohn.«

Die Augen ihres Gegenübers weiteten sich. »Sie ist … geflohen? Wovor?«

Unzufrieden mit der Richtung, die das Gespräch nahm, rieb sich Jamalie über die Schläfe. Dieses Thema hatte sie umgehen wollen, doch einen Grund, das Geschehene zu verschweigen, gab es eigentlich nicht.

»Sie ließ sich mit Darian ein. Alesander hörte davon und …« Wie formulierte sie es am besten? »… ergriff Maßnahmen.«

Schock und Unverständnis spiegelten sich deutlich in Fenellas Gesicht.

»Er war am Boden zerstört, völlig außer sich. Ich bezweifle, dass er die Tragweite seines Handelns wirklich verstand«, fügte sie deshalb rasch hinzu. Als lähmte sie der Schock nicht ebenfalls bis ins Mark, sobald sie länger darüber nachdachte.

Ihr Sohn, ihr kleiner Junge, hatte den Befehl zum Mord gegeben. Mord an seinem eigenen Bruder. Dass er zu so etwas fähig sein würde, hätte sie niemals für möglich gehalten. Doch aus welchem Winkel sie die Ereignisse auch betrachtete, sie konnte nicht leugnen, welche Rolle sie selbst dabei gespielt hatte.

Wie könnte ausgerechnet sie über Alesander urteilen? Nach dem Vorfall mit der Haarnadel, nachdem sie ihrer Wut die Kontrolle überlassen hatte.

Darum hatte sie beschlossen, die Schuld auf sich zu nehmen, als Veron nach dem misslungenen Attentat bei ihr aufgetaucht war. Alesander sollte nicht daran zerbrechen.

Fenella aber erzählte sie die Wahrheit. Wenigstens einen Teil der Last, die in den vergangenen Tagen unerwartet schwer geworden war, konnte sie dadurch ablegen.

Die ruhige und verständnisvolle Art ihrer Zuhörerin führte ihr aufs Neue

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vor Augen, wie viel von ihrer Großmutter in Fenella steckte. Wie hatte sich das Mädchen ohne jemandes Zutun zu einer so sanftmütigen Frau entwickelt?

Jamalies Verdienst war es nicht.

»Der Kohl schmeckt wirklich fantastisch. Probier, solange er noch warm ist«, erinnerte ihre Gastgeberin sie und schlürfte genüsslich Brühe von ihrem Löffel. Ihre Schale war bereits zur Hälfte leer, während Jamalie die ihre bisher nicht angerührt hatte.

Ein gesunder Appetit. In dieser Hinsicht ist sie noch immer das Mädchen, das ich herbrachte.

Als sie einen Löffel nahm, breitete sich das Aroma der warmen Brühe auf ihrer Zunge aus. Weder damenhaft noch königlich gebarend, schob sie sofort ein Stück Kohl hinterher. Seine leichte Bitterkeit bildete den perfekten Kont-rast.

Fantastisch, in der Tat. Sie schloss die Augen und ließ sich von dem Geschmack um einige Jahre zurückversetzen.

»Gut, dass Ophenia bei alldem nichts zugestoßen ist. Ich hoffe, ich sehe sie wieder«, erwähnte Fenella und bereitete dem ein jähes Ende.

Zuerst glaubte Jamalie, sich verhört zu haben. » Wieder?«

»Nun, ich habe sie kennengelernt. Hier im Wald, nachdem ich ein paar Mal von ihr geträumt hatte. Wir meditierten zusammen, und ich versuchte mich sogar als Lehrerin. Sie ist unglaublich, hast du das bemerkt?« Dann, als seien die Worte aus ihrem Mund nicht das Unglaublichste hier, fuhr sie fort: »Ihre Gabe … Wusstest du, dass sie Energie nicht nur spüren, sondern auch sehen kann? Abgesehen davon, habe ich sie wirklich gern. Dass sie Alesander so sehr verletzt hat … Auf mich wirkte sie gewillt, ihm eine gute Braut zu sein.«

Gewillt, ihm eine gute Braut zu sein.

Jamalie ließ den Löffel in die Schale sinken.

Gewillt, ihm eine gute Braut zu sein.

Der Eintopf hatte sie mit Wärme erfüllt, doch auf einen Schlag sehnte sie sich nach der Kälte zurück. Sie versuchte, es zu ignorieren. Nicht darüber nachzudenken, weshalb sie die Prinzessin von Anfang an nicht am Hof hatte haben wollen.

Gewillt, ihm eine gute Braut zu sein.

Aber nun verstand sie, was unter ihrer Oberfläche gebrodelt hatte, seit ihr

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Blick das erste Mal auf einen der vielen Briefe an ihren Sohn gefallen war. Sie hasste Ophenia zutiefst. Seit dem Tag ihrer Ankunft wollte sie ihr das gutgläubige Lächeln aus dem Gesicht wischen und sie aus dem Palast jagen. Zurück in das Loch, aus dem sie gekrochen kam. Zurück in das Land, in dem sie liebevoll großgezogen worden war und das sie wahrscheinlich mit jeder Faser ihres Seins vermisste.

Sie hasste Ophenia, denn sie anzusehen, kam einer Folter gleich. Als würde sie in einen Spiegel blicken und die hoffnungsvolle, bedauernswert naive Verlobte eines kreeschen Prinzen sehen, die sie selbst einmal gewesen war.

Sie besitzt also die Gabe.

Veron hatte die Prinzessin nach dem versuchten Attentat auf Darian eine Hexe genannt, war vollkommen verstört gewesen. Aber Jamalie hatte seine Wunde für den Biss eines wilden Tieres gehalten. Wie weit reichten Ophe-nias Fähigkeiten?

Der Kiefer der Königin verhärtete sich, das Essen stieß ihr sauer auf. Jedoch nicht, weil ein solches Ausmaß der Gabe sie überwältigte. Vielmehr lag es an dem Wissen, dass sie selbst die Prinzessin als Hexe bezeichnet hatte.

Diesen Fehler würde sie nicht noch einmal begehen. Dennoch musste sie Fenella in einem Punkt widersprechen: Unter keinen Umständen wollte sie Ophenia jemals wiedersehen. Hoffentlich verkroch sie sich in Balezan, behielt Darian gleich bei sich und blieb ihr für alle Zeit aus den Augen.

Denn jetzt kannte Jamalie ihr Geheimnis und hasste sie sogar ein wenig mehr. Schließlich bedeutete es, dass sie noch etwas gemeinsam hatten.

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