Von Papa vergessen! - Simone Aigner - E-Book

Von Papa vergessen! E-Book

Simone Aigner

0,0

Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Lina hatte die Tür zu Papas Büro nur einen schmalen Spalt geöffnet, gerade so, dass sie zwischen Tür und Rahmen passte. Der Vater saß mit dem Rücken zu ihr, sah konzentriert auf den Bildschirm von seinem Arbeits-Computer und in der Hand hielt er das kleine Gerät, das er ›Maus‹ nannte. »Papa?«, wisperte sie leise. Er wollte nicht gestört werden. Das hatte er ihr heute Nachmittag schon ganz oft gesagt. Sie musste ihn aber trotzdem was fragen. Ihr Vater reagierte nicht. Seine Hand mit der komischen Maus, die überhaupt nicht aussah, wie eine Maus, fuhr hin und her. »Papa?«, wisperte sie noch einmal und strengte sich an, ein bisschen lauter zu flüstern. »Hm?«, machte ihr Vater und wandte sie zu ihr um. »Papa, mir ist ganz doll langweilig. Wie lange musst du denn noch arbeiten?«, fragte sie, mutig geworden, weil er sie jetzt ansah. »Linchen, zum dritten Mal für heute. Je öfter du mich störst, umso länger brauche ich«, ermahnte er sie. »Aber ich hab dich noch gar nicht gestört«

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 146

Veröffentlichungsjahr: 2024

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sophienlust - Die nächste Generation – 119 –Von Papa vergessen!

Unveröffentlichter Roman

Simone Aigner

Lina hatte die Tür zu Papas Büro nur einen schmalen Spalt geöffnet, gerade so, dass sie zwischen Tür und Rahmen passte.

Der Vater saß mit dem Rücken zu ihr, sah konzentriert auf den Bildschirm von seinem Arbeits-Computer und in der Hand hielt er das kleine Gerät, das er ›Maus‹ nannte.

»Papa?«, wisperte sie leise. Er wollte nicht gestört werden. Das hatte er ihr heute Nachmittag schon ganz oft gesagt. Sie musste ihn aber trotzdem was fragen.

Ihr Vater reagierte nicht. Seine Hand mit der komischen Maus, die überhaupt nicht aussah, wie eine Maus, fuhr hin und her.

»Papa?«, wisperte sie noch einmal und strengte sich an, ein bisschen lauter zu flüstern.

»Hm?«, machte ihr Vater und wandte sie zu ihr um.

»Papa, mir ist ganz doll langweilig. Wie lange musst du denn noch arbeiten?«, fragte sie, mutig geworden, weil er sie jetzt ansah.

»Linchen, zum dritten Mal für heute. Je öfter du mich störst, umso länger brauche ich«, ermahnte er sie.

»Aber ich hab dich noch gar nicht gestört«, protestierte sie, hopste in den Raum und schwenkte dabei die Arme vor und zurück. »Ich hab nur vorhin Durst gehabt und mein Lichterbuch nicht gefunden.«

Sie blieb neben ihrem Vater stehen, legte die Hände auf die Kante des Schreibtisches und betrachtete den Bildschirm, auf dem lauter komische bunte Striche zu sehen waren.

»Nachdem ich genau weiß, dass du dir längst selbst was zu trinken nehmen kannst und dein Lichterbuch im Regal stand, wo es hingehört, bin ich ziemlich sicher, dass dir vorhin schon langweilig war«, sagte der Vater. »Und dann fallen solche Fragen unter ›stören‹.«

Lina knickte den linken Fuß um. Sie wusste, dass er recht hatte.

»Kann Oma Gerda rüberkommen? Vielleicht liest sie mir aus dem Lichterbuch vor«, fragte sie. Eigentlich war sie zu alt für das Buch. In ihm wurde gezeigt, was alles leuchten konnte. Glühbirnen, Sterne am Himmel, Ampeln am Straßenrand und so weiter. Auf jeder Seite konnte man auf einen winzigen Knopf drücken und dann leuchtete der jeweils abgebildete Gegenstand auf.

»Nein, Lina. Oma Gerda hat die Woche schon ein paar Mal auf dich aufgepasst. Ich kann sie nicht ständig bitten«, hielt ihr Vater dagegen.

»Kannst du nicht ein bisschen was mit mir spielen? Nur ganz kurz?«, bat sie und sah zu ihm auf.

»Jetzt nicht. Vielleicht heute Abend«, antwortete er.

»Aber das dauert noch so lange«, quengelte sie.

»Du kannst was malen, mit den Legosteinen etwas bauen oder mit deiner Toniebox …«

»Das mag ich aber alles nicht.« Lina stampfte mit dem Fuß auf.

»Dann räum dein Zimmer auf.« Sie hörte der Stimme des Vaters an, dass er allmählich ärgerlich wurde. »Das hat es nötig.«

»Das mag ich auch nicht. Ich will, dass du mit mir spielst«, bockte sie.

»Lina, Schluss jetzt. Ich muss arbeiten!«

In ihrem Bauch grummelte es ganz doll. Immer diese doofe Arbeit. Linas Hand schnellte vor. Sie schnappte sich die Computer-Maus, drehte sich auf dem Absatz um und rannte zur Zimmertür. Nun konnte der Papa gar nicht mehr arbeiten.

»Lina!« Sie hörte am Quietschen seines Bürostuhls, dass er aufgestanden war. Ihr Herz klopfte ganz schnell. Schon war sie aus dem Zimmer und wollte noch die Tür zuschlagen. Wenn sie sich ganz doll dagegen lehnte, kam der Papa so schnell nicht aus dem Büro. Sie wandte sich um, sah, wie ihr Vater auf das kleine rote Spielzeugauto trat, dass sie heute Morgen bei ihm hatte liegenlassen, ausrutschte und hinfiel. Mit dem Kopf knallte er auf den Rand des Beistelltisches.

Lina umklammerte die Maus. Der Papa lag am Boden und rührte sich nicht mehr. Seine Augen waren zu und aus einer Wunde auf seiner Stirn lief Blut. Das sah richtig schlimm aus.

»Papa?«, flüsterte sie und merkte, dass sie ganz arg Angst bekam. Er antwortete nicht.

»Papa?«, fragte sie noch einmal und ihre Stimme war ganz wackelig. Ob er eingeschlafen war? Aber so schnell konnte man doch gar nicht einschlafen. Schon überhaupt nicht, wenn man hingefallen war und sich ziemlich weh getan hatte. Bestimmt tat dem Papa jetzt der blutende Kopf sehr weh. Sie hätte ihm gerne ein Pflaster geholt, aber an die kam sie nun wirklich nicht ran. Die lagen im Küchenschrank, ganz oben.

Noch immer rührte sich ihr Vater nicht und Linas Angst wurde immer größer. Reglos verharrte sie unter der Tür. Sie traute sich nicht, zu ihm zu gehen.

Plötzlich blinzelte er. Ängstlich beobachtete sie ihn. Wachte er jetzt wieder auf? Tatsächlich öffnete der Vater die Augen, sah sie aber nicht an.

»Papa?«, wisperte sie. Der Vater stemmte sich in sitzende Position und blickte zu ihr.

»Tut es doll weh?«, fragte sie und wagte noch immer nicht, zu ihm zu gehen. Bestimmt war er ganz arg böse auf sie. Sie hatte ihm die Computer-Maus weggenommen und er war auf ihr Auto getreten, dass sie wieder einmal nicht aufgeräumt hatte. Sie war schuld, dass er hingefallen war und sich schlimm gestoßen hatte.

Ihr Vater betrachtete sie. Er lächelte nicht, er schimpfte auch nicht und er schien auch nichts sagen zu wollen.

»Papa?« Er gab keine Antwort und plötzlich dachte Lina, dass er vielleicht nie wieder mit ihr sprechen wollte, weil sie so unartig gewesen war. Ihr stiegen Tränen in die Augen.

»Ich hab nicht gewollt, dass du hinfällst«, sagte sie und fing an zu schluchzen. Noch immer sprach er nicht mit ihr. Aber er sah sie ganz komisch an.

»Ich mag die doofe Maus auch gar nicht mehr haben«, fuhr sie weinend fort und streckte den Arm aus, um sie ihm zurückzugeben.

»Wer bist du?«, fragte ihr Vater plötzlich. Lina erschrak so, dass sie nicht mehr weinen konnte. Nun war sie es, die nichts mehr sagte.

»Was machst du hier?« Das Blut lief ihm jetzt über die Wange wie ein roter Strich und noch immer sah er sie ganz seltsam an. Lina bekam solche Angst, dass sie nicht mehr reden konnte. Das Allerschlimmste aber war, dass sie sogar vor ihrem Papa Angst hatte. Sie ließ die Maus fallen, wandte sich ab und rannte zur Haustür. Die war nicht abgeschlossen. Es war trotzdem ziemlich schwer, sie zu öffnen, aber sie schaffte es.

Lina rannte los. Weg, nur weg, von dem ganzen Schlimmen, was passiert war.

*

Im Radio rauschte und knackte es. Doro Gebhardt drehte am Sendersuch-Rad, für besseren Empfang und behielt dabei, so gut es möglich war, die Straße im Auge. Das kleine Mädchen, das von rechts kam und ohne sich umzusehen auf die Fahrbahn rannte, bemerkte sie erst in letzter Sekunde. Doro trat hart auf die Bremse, die Reifen quietschten und der Wagen hielt wohl kaum einen Meter vor dem Kind. Es blieb stehen, sah sie voller Entsetzen an und rannte weiter, noch ehe Doro sich von ihrem eigenen Schock erholt hatte.

Ihr Herz raste, ihr Puls jagte und sie war wie gelähmt vor Bestürzung. Beinahe hätte sie das Kind überfahren. Lieber Himmel. Alles, weil sie am Radio herumgespielt hatte. Ihre Hände umklammerten das Steuer. Von der Kleinen war nichts mehr zu sehen.

Doro fuhr an den Straßenrand und schaltete den Motor aus. Ehe sie sich in der Lage sah weiterzufahren, musste sie sich erst wieder beruhigen. Sie massierte sich den Nacken. Es war wirklich knapp gewesen. Die Kleine hatte einen Schutzengel gehabt und sie selbst ein Riesenglück.

Nun, im Nachhinein, glaubte sie sich zu erinnern, dass das Kind verweint und todunglücklich ausgesehen hatte. Wahrscheinlich hatte es zu Hause Ärger gehabt und es war weggelaufen.

Doro ließ den Blick über die Häuserzeile zur rechten Seite gleiten. Sie hatte keine Ahnung, ob das Mädchen von einem der Grundstücke gekommen war oder über den Gehweg.

Ganz langsam beruhigten sich ihre flatternden Nerven. Irgendetwas hielt sie jedoch davon ab, jetzt einfach weiterzufahren.

Sie sah auf die Uhr an ihrem Radio. In zehn Minuten war sie mit ihrer Freundin Regine Nielsen verabredet. Sie wollten sich in einem Café in der Innenstadt von Maibach treffen. Regine war bestimmt schon da. Sie musste ihr Bescheid sagen, dass sie es nicht pünktlich schaffte. Nicht nur, weil sie wieder einmal zu spät losgefahren war, sondern auch wegen des Zwischenfalls gerade eben.

Wo war die Kleine? Schlimmstenfalls rannte sie vor das nächste Auto.

Sollte sie auf gut Glück an einigen der hier stehenden Häusern läuten und davon berichten, dass sie ein kleines Mädchen hatte davonlaufen sehen? Aber was sollte das bringen? Die Verfassung, in der das Kind gewesen war, deutete daraufhin, dass es sich mit irgendjemandem gestritten hatte. Demjenigen mochte wohl kaum verborgen geblieben sein, dass es weggelaufen war.

Erneut sah sie zu den Häusern. Alles war ruhig, die kleinen Vorgärten wirkten verlassen, an diesem trüben Samstagvormittag. Es war völlig verantwortungslos, dass niemand dem Kind nachkam.

Und dass sie noch immer hier saß, ohne nach der Kleinen zu suchen, fand sie auch nicht richtig. Andererseits, wo sollte sie suchen? Das Mädchen hatte die Straße überquert und war zwischen den Häusern auf der anderen Seite davongelaufen. Sie mochte inzwischen wer weiß wo sein.

Doro resignierte. Sie hatte zu lange im Auto gesessen, ohne etwas zu tun. Sie hätte der Kleinen sofort hinterherlaufen sollen. Jetzt war es zu spät.

Sie kramte in ihrer Handtasche, die auf dem Beifahrersitz stand, nach ihrem Handy und rief Regine an.

Die Freundin meldete sich sofort.

»Hey, Doro. Lass mich raten, du kommst zu spät«, sagte sie freundlich und schickte ein leises Lachen hinterher. Doro seufzte.

»Hey, Regine. Ja, du hast recht. Aber außer, dass ich natürlich wieder zu spät aus dem Haus bin, ist noch etwas passiert.«

Sie berichtete, was vorgefallen war. Beim Reden merkte sie, dass ihr der Schrecken noch immer in sämtlichen Gliedern saß.

»Du liebe Güte«, sagte Regine betroffen. »Das hätte wirklich schiefgehen können. Mach dir bitte trotzdem keine Vorwürfe. Es ist ja gut ausgegangen.«

»Ja, wir hatten beide unglaubliches Glück. Aber es beschäftigt mich total, dass die Kleine offenbar von zu Hause weggelaufen ist. Ich hätte ihr hinterher gehen sollen, aber ich war so geschockt, ich habe nicht schnell genug reagiert.«

»Das verstehe bestens«, sagte Regine verständnisvoll. »Aber wir kennen die Hintergründe nicht. Wahrscheinlich wohnt die Kleine in einem der Häuser, vor denen der Zwischenfall passiert ist. Vielleicht ist sie zu Freunden in der Nähe gelaufen oder ihre Großeltern wohnen auch in der Gegend und sie ist jetzt bei ihnen.«

»Das könnte sein«, stimmte Doro zu und fühlte ein wenig Erleichterung. »Sie hat ein rosa Kleidchen getragen«, informierte sie Regine. Es war ihr plötzlich wieder eingefallen. Suchend sah sie erneut die Gegend ab, als erwartete sie, die Farbe irgendwo aufleuchten zu sehen.

»Vielleicht war sie auch bei jemandem zu Besuch«, spann die Freundin die Überlegungen weiter, ohne etwas zur Garderobe des Kindes zu sagen. »Und sie war spät dran und ist rasch nach Hause gelaufen.«

»Möglich.« Doro blickte die Straße entlang und hielt erneut Ausschau nach dem rosa Kleidchen. Ein älterer Mann schlurfte über den Gehweg. Ein paar Schritte hinter ihm trottete behäbig ein Dackel, der ein graues Schnäuzchen hatte und an ein wenig Übergewicht schleppte.

»Doro, lass uns unser Treffen verschieben«, bat Regine unvermittelt. »Du weißt doch, ich habe noch um 12 Uhr einen Zahnarzt-Termin zur Kontrolle. Bis du jetzt in der Stadt bist, und einen Parkplatz brauchst du ja auch noch, das wird zu spät.«

»Du hast recht. Es tut mir echt leid, Regine. Ich gelobe Besserung und verlasse das nächste Mal pünktlich das Haus«, versprach Doro. Nun hatte sie auch noch wegen der Freundin ein schlechtes Gewissen. Der Tag wurde dadurch nicht besser.

»Wir machen demnächst etwas Neues aus«, sagte Regine, ohne auf ihren guten Vorsatz einzugehen.

»Ja, bis bald«, verabschiedete Doro sich. Niedergeschlagen ließ sie das Handy sinken. Der alte Mann mit seinem Dackel betrat jetzt eines der Grundstücke und schloss sorgfältig das hölzerne Gartentor hinter sich.

Ein letztes Mal blickte Doro die Häuserzeile entlang. Sämtliche Gartentüren waren geschlossen und in keinem der Vorgärten gab es in Form von Spielzeug einen Hinweis auf ein Kind.

Sie konnte nur hoffen, dass die Kleine längst irgendwo in Sicherheit war.

*

Magda Enzinger verließ den Discounter. Sie packte ihre Einkäufe in ihre Tasche und schob den Einkaufswagen zu dem vorgesehenen Unterstellplatz, ehe sie sich auf den Weg zur Bushalte-Stelle machte, die nur wenige Minuten zu Fuß entfernt lag. Sie musste nur ein Stück die Königsstraße entlang, die direkt vor dem Geschäft verlief und dann nach rechts abbiegen, in die Schillerstraße.

Ihre Tasche wog schwer, sie hatte wieder ein bisschen mehr eingekauft, als sie vorgehabt hatte. Magda wechselte ihre Last von einer Hand in die andere. Gleich würde sie an der Haltestelle sein, wo sie die Tasche kurz abstellen konnte, und in wenigen Minuten kam der Bus, der sie zurück ins Kinderheim Sophienlust brachte.

Magda bog in die Schillerstraße ein. Neben der Bushaltestelle stand ein kleines Mädchen, das bitterlich weinte. Weit und breit war niemand zu sehen, der zu dem Kind gehörte. Magda ging ein wenig schneller.

»Hallo, Kleines«, sprach sie das Kind an. Sie war ein wenig außer Atem. »Was ist denn passiert? Hast du deine Mama verloren?«, fragte sie.

Die Kleine schluchzte völlig verzweifelt, gab jedoch keine Antwort.

Magda stellte ihre Einkaufstasche auf den Boden und ging in die Knie, um mit dem Mädchen auf Augenhöhe zu kommen. Ihre Knie würden ihr das übel nehmen, das wusste sie jetzt schon.

»Ich bin Magda«, sagte sie zu dem Kind. »Sagst du mir, wie du heißt?«

Aufmerksam sah sie die Kleine an. Das Mädchen hörte auf zu weinen.

»Lina«, sagte es mit heiserem Stimmchen.

»Lina. Sehr schön, der Name gefällt mir. Wo ist denn deine Mama? Ward ihr vielleicht einkaufen?«

Lina schüttelte den Kopf.

»Hast du dich verlaufen? Wohnst du in der Nähe?« Magda ahnte, dass ihr das Kind wohl keine hilfreichen Auskünfte geben konnte. Es war vermutlich drei oder vier Jahre alt und einfach noch zu klein, um zumindest die letzte Frage zu beantworten.

»Mit wem bist du denn hier?«, versuchte sie es mit einer möglichst einfachen Frage. Lina gab keine Antwort.

»Mit deiner Mama?«, fuhr Magda fort. Sie hörte ein Motorengeräusch, das sich näherte und sah hoch. Ihr Bus kam. Den konnte sie vergessen. Sie konnte schließlich das unglückliche Kind nicht einfach hier stehen lassen.

»Wollen wir sie suchen?«, wandte sie sich wieder an die Kleine. Ganz langsam schüttelte das Mädchen den Kopf.

»Aber Kindchen, was machen wir denn jetzt mit dir?« Magda war ratlos. Der Bus hielt, die Türen vorne und hinten gingen auf. Der Busfahrer sah Magda abwartend an. Sie schüttelte nur den Kopf. Er schloss sie wieder, setzte den Blinker und fuhr weiter. Der nächste Bus kam erst in einer halben Stunde. Gut, dass sie für das Mittagessen im Kinderheim Sophienlust schon alles vorbereitet hatte.

Lina senkte den Kopf.

»Kannst du mir deinen Nachnamen sagen oder wo du wohnst?«, machte Magda einen letzten Versuch, etwas zu erfahren, obgleich sie ahnte, dass sie keine hilfreiche Antwort bekommen würde.

Lina schüttelte wieder den Kopf und sah weiterhin zu Boden.

»Hast du dich mit jemandem gestritten oder war jemand böse zu dir?«, forschte Magda.

Lina gab keine Antwort.

»Gut, Lina. Irgendwas ist passiert und das war wohl recht schlimm für dich. Ich kann dich nicht einfach hier stehen lassen. Ich kann dich aber auch nicht einfach mitnehmen. Ich rufe jetzt jemanden an und frage, was wir machen sollen«, beschloss Magda.

Auch jetzt sagte Lina nichts. Magda biss die Zähne zusammen und richtete sich mühsam wieder auf. Ihre Knie waren nachsichtig mit ihr, im Rücken zwickte es jedoch. Sie ignorierte ihre Befindlichkeiten und nahm ihr Mobiltelefon aus ihrer Jackentasche. Die Telefonnummer von Nick, dem Eigentümer des Kinderheims Sophienlust, in dem sie als Köchin arbeitete, hatte sie eingespeichert. Nick musste ihr helfen.

*

Gerda Söllmann schlüpfte in ihre graue Strickjacke und in ihre Gartenpantoffeln und verließ das Haus. Der Postbote war eben vorbeigefahren. Sie hatte vom Küchenfenster aus gesehen, dass er etwas in ihren Briefkasten gesteckt hatte, der am Gartenzaun hing. Er war heute wirklich spät dran, doch das nahm sie ihm nicht übel. Seit zwei Wochen musste er zusätzlich zu seiner eigenen Tour, die eines erkrankten Kollegen übernehmen.

Gerda sperrte vor, zog ihren Schlüssel aus dem Schloss der Haustür, lehnte selbige an und machte sich auf den Weg. Bis zum Briefkasten waren es etwa zehn Meter. Sie schnupperte die milde Luft des Frühsommertages und sah hoffnungsvoll zum Himmel. Leider war der seit Tagen schon voller Wolken. Kein Sonnenstrahl wollte sich blicken lassen. Betrübt senkte sie ihren Blick.

Im Briefkasten lag ein Schreiben von den Stadtwerken, Werbung ihres Optikers und eine Postkarte ihrer Schulfreundin Hiltrud. Sie hatte kürzlich ihren 72. Geburtstag gefeiert und sich anlässlich dessen einen Kurztrip nach Österreich geschenkt.

Gerda las die Karte noch am Briefkasten. Hiltrud schrieb von traumhaftem Wetter, jeder Menge regionaler Köstlichkeiten, die ihr auf die Figur schlugen und einem sehr netten Herrn, den sie an der Bar des Hotels kennengelernt hatte. Gerda schmunzelte. Sie war sicher, Hiltrud würde ihr von ihrer kleinen Reise noch persönlich und in allen Details erzählen, sowie sie wieder hier war.

Sie machte sich auf den Rückweg ins Haus und sah dabei zu ihrem Nachbarn, Robert Küspert. Dessen Rasen musste auch mal wieder gemäht werden. Vielleicht konnte sich ihr Neffe Stefan gegen ein Taschengeld darum kümmern. Der arme Herr Küspert hatte ohnehin genug zu tun, so alleine mit seiner Tochter, Haus und Garten, und arbeiten musste er ja auch noch. Gerda stutzte. Die Haustür von Küspert stand offen.

Langsam ging sie zu ihrer eigenen Tür. Küspert kam weder aus dem Haus, noch schloss er die Tür. Auch von Lina war nichts zu sehen. Eigenartig.

Gerda betrat ihr Haus, legte die Post auf den Schuhschrank im Flur und beschloss, noch den Müll rauszubringen.