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Ein Pferd? Groß – gefährlich? Unberechenbar? Aber nein! Nur dann, wenn man es nicht zu verstehen weiß. In der Tat ist ein Pferd kein Kuscheltier. Es ist ein intelligentes Lebewesen mit Gefühlen, Emotionen, viel Neugier und Mut – sowie dem Wunsch, seinem Besitzer, dem es Vertrauen schenkt, zu folgen und ihn zu respektieren. Dieses Buch wendet sich an kleine und große pferdebegeisterte Menschen, die den Reitsport durch korrekten Umgang mit "ihrem" Tier erlernen wollen. Der "Goldene Kreis", als Rahmen der klassischen Ausbildungsskala, beschreibt die auf Respekt und Vertrauen beruhende Partnerschaft in Harmonie zwischen Mensch und Pferd. Es ist ein Handbuch für Reiter, Trainer und solche, die es werden wollen.
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Seitenzahl: 441
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2025 novum publishing gmbh
Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt
ISBN Printausgabe: 978-3-99130-703-7
ISBN e-book: 978-3-99130-704-4
Lektorat: Dr. Annette Debold
Umschlagabbildung: Andrea Güllmann
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
Innenabbildungen: Andrea Güllmann, Bild 27: Lilly Köhler
Autorenfoto: Johannes Pickardt
www.novumverlag.com
Widmung
Für Brigitte
Vorwort
Es handelt sich bei dieser Erzählung um eine Art Lehrbuch, in dem die Meilensteine einer Pferdeschule und einer Reitlehre beschrieben werden. Der Roman ist in der Form eines Tagebuches geschrieben. Es ist der erste Teil einer wahren Geschichte, der den Zeitraum eines halben Jahres beschreibt.
Die Entwicklung der Story, als roter Faden, erfolgt anhand eines eher schwierigen jungen Pferdes, einer zum Zeitpunkt des Kaufs 5-jährigen kaum angerittenen Trakehnerstute und eines zu Beginn der Geschichte 10-jährigen Mädchens, welches an eine erfolgreiche Partnerschaft mit diesem Pferd herangeführt werden soll.
Die Erzählung erfolgt in chronologischer Reihenfolge, in der situationsbedingt auch Rückblicke auf in der Vergangenheit gesammelte Erfahrungen beschrieben werden. Die Geschichte von Lisa und Amy, dem Mädchen und der Trakehnerstute, bildet den roten Faden dieses Romans. Das Pferd sowie das Mädchen sind somit die Protagonisten.
Im Fokus steht einerseits die Sicherheit des Menschen im Umgang mit dem Fluchttier Pferd und andererseits der Anspruch, dass der pferdebegeisterte Mensch viel Freude an seinem Partner Pferd und umgekehrt das Reitpferd an seinem Menschen haben soll.
Der Roman beruht auf einer fast 60-jährigen Erfahrung der Autorin im Umgang mit Pferden und pferdebegeisterten Menschen. Er enthält viele hilfreiche und nützliche Tipps, Tricks und Weisheiten, die anhand von tatsächlich erlebten Situationen, zum Teil etwas bissig und lustig anekdotenhaft erzählt, weitergegeben werden.
Im Mittelpunkt steht der von der Autorin so genannte „Goldene Kreis“, der als Rahmen der klassischen Ausbildungsskala die auf gegenseitigem Respekt, Vertrauen und Achtung beruhende erfolgreiche Partnerschaft in Harmonie zwischen Mensch und Pferd beschreibt. Das Anliegen der Autorin ist es, sowohl Reitern als auch „Nicht-Reitern“ das Vertrauen in die verschiedenen Sportarten mit Pferden nahezubringen und auch zurückzugeben.
Es gilt zu beweisen, dass der faire und korrekte Umgang im Training dieser Tiere eine Bereicherung für sportbegeisterte Menschen, für die Pferde und auch für die Zuschauer des Pferd-Reiter-Teams in Wettkämpfen sein kann.
Ein Handbuch für pferdebegeisterte junge und alte Menschen und solche, die es werden wollen.
Von Pferden, die aus Pfützen trinken
Samstag, der 1. Juli
Familienausflug
Es geht nach Osnabrück. Mit der ganzen Familie – doch halt: nicht mit der ganzen Familie – Julie, Enkelin Lisa, Opa Jonny und ich sind dabei – nur vier können in meinem Auto mitfahren – hinten dran: der Pferdeanhänger.
Der Pferdeanhänger, den ich mir 1997 gekauft habe, wurde vor einem halben Jahr das letzte Mal benutzt, um meinen alten Hannoveraner Fuchswallach „Bonni“ zum Schmied zu fahren. Seitdem steht er auf unserem Anhängerparkplatz und dient als zusätzliche „Aufbewahrungsbox“ für selten benötigte Pferdeutensilien. Vor der Fahrt habe ich den Pferdeanhänger leer geräumt und für den Transport meiner Neuanschaffung vorbereitet. Das Heunetz ist befüllt, Holzspäne sind auf dem Hängerboden der linken Seite als Einstreu verteilt.
Das Pferd, für das ich mich entschieden habe, ist eine 5-jährige schwarzbraune Schönheit mit Stockmaß 162 cm. Ihr Name ist Amalia, Kurzform Amy (wie der Familienrat bereits entschieden hat). Sie wurde in der Nähe von Berlin geboren, ihr Vater ist der Trakehner-Hengst Abendtanz, ihre Mutter stammt von dem Trakehner-Hengst Donauklang ab.
Amy ist also eine Trakehnerstute.
Wie kam es zu meiner Kaufentscheidung?
Es war wohl eher ein Zufall. Ich bin zwar durchaus Trakehner-Fan, aber letztendlich kommt es auf die Gesundheit, Qualität und Eignung eines Pferdes an, unabhängig vom Brandzeichen, das es trägt. Ich suchte schon seit einiger Zeit nach einem jungen Nachwuchspferd, hatte aber bisher nichts Passendes gefunden.
Im November letzten Jahres hatte ich Kontakt zum Trakehner-Verband aufgenommen, da ich mich für eine andere 5-jährige Trakehnerstute interessierte, die im Dezember in Neumünster auf dem Trakehner-Hengstmarkt versteigert werden sollte.
Ich ritt sie Probe in einem Vielseitigkeitsstall bei Osnabrück, und sie gefiel mir sehr gut. Insbesondere sprach mich die Art und Weise an, wie die jungen Pferde in diesem Stall behutsam angeritten und ausgebildet werden. Die Stute war vertrauensselig und hatte bisher offensichtlich keinerlei schlechte Erfahrungen mit der Spezies Mensch gemacht.
Ich wollte sie gern kaufen, nachdem ich das Okay von meinem Tierarzt erhalten hatte, der die Röntgenbilder gecheckt und für in Ordnung befunden hatte. Ich bot auf der Auktion in Neumünster mit, bekam aber letztendlich nicht den Zuschlag, da amerikanische Interessenten sich in diese Stute verguckt hatten. So wurde sie in die USA verkauft. Ich war zunächst ziemlich frustriert und unterbrach erst einmal meine Suche nach einem neuen Pferd. Da ich mich beim Verband hatte registrieren lassen, bekam ich aber weiterhin regelmäßige Informationen per E-Mail zugeschickt.
So erreichte mich im Mai des Folgejahres die Information zum Trakehner Youngster Breeder’s Market, der im Juni stattfinden sollte. Interessehalber schaute ich mir die dort zum Verkauf angebotene Junge-Pferde-Kollektion im Internet an und konnte sehen, dass drei in dem besagten Stall bei Osnabrück zur Vorbereitung und Ausbildung standen.
Eine schwarzbraune Stute gefiel mir gut, sie hatte aber nur ein Stockmaß von 162 cm. Das ist für mich eigentlich etwas zu klein. Andererseits überlegte ich mir, dass ich mit meinen 66 Jahren auch nicht mehr die Jüngste bin und bereits jetzt Probleme habe, ein größeres Pferd vom Boden aus ohne Mäuerchen oder Aufstieghilfe zu erklimmen.
Des Weiteren hatte ich mir inzwischen überlegt, dass es keine schlechte Idee wäre, unsere damals 10-jährige Enkelin Lisa auf dieses Pferd einzuschwören. Lisa reitet seit 4 Jahren regelmäßig auf Schulpferden und zusätzlich auf einem Ponyhof und macht ihre Sache dort gut. Ob sie beim Reitsport bleiben wird, kann man heute noch nicht sagen. Jedenfalls scheint sie das Reiter-Gen von ihrer Urgroßmutter, meiner Schwiegermutter, geerbt zu haben.
Die Idee wuchs also in meinem Kopf, dass wir hier die Chance haben könnten, für mich ein talentiertes Nachwuchspferd und für Lisa ein potenzielles zukünftiges Turnierpferd zum „Reinwachsen“ zu erstehen. Ob Enkelin und Pferd zusammenfinden würden? Wer konnte das zu diesem Zeitpunkt vorhersehen?
Die Frage, die sich stellt, wenn man ein neues Pferd kaufen will, ist: Welche Disziplin möchte ich beim Reiten schwerpunktmäßig ausüben?
Ich bin eher eine Dressurreiterin, obwohl ich in jüngeren Jahren, im Zuge meiner eigenen Reitausbildung und auch im Rahmen der Reiter-Abzeichen, auf Reitturnieren und als Trainerin viel gesprungen bin und entsprechenden Unterricht gegeben habe.
Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass zu einer fundierten Reitausbildung ebenso der Springunterricht gehört. Auch glaube ich, dass das Reiter-Abzeichen eine Kombination aus Dressurprüfung, Parcours und Theorie bleiben sollte.
Für Lisa sollte es also ein Allrounder sein, mit guten Bewegungen in allen drei Grundgangarten. Die kleine Stute war entfernt über den Trakehner-Hengst „Arogno“ mit meinem Hannoveraner Fuchswallach Bonni verwandt. „Na, wenn das kein gutes Omen ist“, dachte ich.
Die Reihenfolge zur Entscheidungsfindung war also wie folgt:
ProbereitenRöntgenaufnahmen und sonstige Unterlagen zur tierärztlichen Untersuchung an den Tierarzt meines Vertrauens schickenVideos und sonstige Unterlagen an meinen langjährigen Trainer und guten Freund in der Lüneburger Heide schickenEntscheidenMein Mann „Opa Jonny“ und ich fahren also am Montag, dem 15. Mai nach Osnabrück zum Probereiten der jungen Stute. Mein erster Eindruck: hübsches Pferd, aber etwas zu klein für mich. Sie steht in der Stallgasse auf ihren filigranen Beinchen, hat große schwarze Augen, die mich neugierig mustern, und ein unglaublich hübsches Gesicht. Ich gehe von vorn auf sie zu und nehme ihren Kopf in die Hände, um zu checken, wie sie auf diese frontale erste Annäherung und Berührung reagiert. Es passiert etwas, was mir noch bei keinem fremden Pferd bisher passiert ist. Sie schiebt ihre Nüstern nah an mein Gesicht und scheint meinen Geruch und meinen Atem zu inhalieren – dabei lässt sie zu, dass ich sie mit beiden Händen zwischen Maulspalte und Jochbein kraule. Sie scheint diese Berührung zu genießen, als wolle sie sagen: „Du gefällst mir. Du kannst mich gleich mitnehmen.“ So weit, so gut also. Zunächst reitet die Ausbilderin Christine sie in der Reithalle vor – Schritt, Trab und Galopp. Jonny filmt. Dann will ich aufsteigen. Als ich mich nähere, schnüffelt Amalia wie närrisch an meinen Reithandschuhen, die ich noch in der rechten Hand trage – es sind die Handschuhe, die ich tags zuvor beim Reiten von Bonni getragen habe, und die Stute wittert dies ganz offensichtlich. Ich ziehe die Handschuhe über und steige auf die kleine Trittleiter, die als Aufstieghilfe dient. Schon biegt Amalia ihren Hals schlangenartig um 180° nach links zu mir her und schnüffelt an meinen Stiefeletten und meinen Reitchaps – Unglaublich, wie sensorisch dieses Pferd gepolt ist.
Sie ist leichtrittig und reagiert fein auf meine vorsichtigen Hilfen. Obwohl ihre Ausbildung erst vor Kurzem begonnen hat, reagiert sie korrekt und willig auf meine Reiterhilfen. Es macht Spaß, sie zu reiten, denn sie ist feinfühlig und reaktionsfreudig. Jonny filmt uns. Als wir sie zurück in ihre Box führen, ist es schon nach ein Uhr, und ihr Mittagessen befindet sich in ihrem Trog. Sie kann es kaum erwarten und stürzt sich sofort auf das Müsli. „Etwas hektisch“, denke ich bei mir.
Ich bin ein wenig unsicher. Das muss erst einmal sacken. Wir verabschieden uns von Christine, und ich verspreche, mich kurzfristig zu melden. Wir übernachten an diesem Abend in Dötlingen. Der Trakehner-Verband fragt noch am selben Abend nach, wie es geklappt hat. Ich vertröste ihn, spreche davon, dass mir Amalia eigentlich etwas zu klein ist, und auch, dass der Familienrat zunächst einmal tagen müsse. Währenddessen schickt mir Christine einige Videos von Amalia von einem Vielseitigkeitstraining. Das war im Winter und ist somit noch nicht lange her. Amalia macht dort einen fantastischen Eindruck. Ich gerate ins Schwanken. Jonny sieht, wie ich leide und sagt kurz entschlossen: „Sag ab, wenn du dir nicht sicher bist.“ Ich will noch nicht absagen. Das Video, das er von Amalia unter Christine und mir gemacht hat, schaue ich mir in Endlosschleife an. Wäre sie doch nur ein bisschen größer!
Probehalber schicke ich den Link vom Video an Mama Julie, Jonnys Tochter. Das hätte ich mir sparen können. Mama Julie ist hin und weg! Familienrat kann ich also vergessen. Auch die Springvideos vom Vielseitigkeitstraining lassen nichts anderes als Begeisterung zu.
Wir machen noch einen langen Spaziergang in Dötlingen – ein sehr schöner Ort! Aber die Stute will mir nicht aus dem Kopf, und ich kann den Nachmittag nicht wirklich genießen!
Abends essen wir herrlichen Spargel im Hotel und lassen den Rest des Tages beschaulich ausklingen. Für den nächsten Morgen haben wir uns vorgenommen, ins Auswandererhaus nach Bremerhaven zu fahren. Ein großartiges Erlebnis. Wenn man in dieses Museum geht, erhält man die Identität einer Person, die nach Amerika ausgewandert ist und folgt ihren Pfaden. Es ist fantastisch gemacht. Eine Empfehlung für jedermann. Das Verrückte ist, dass mir eine weibliche Person zugeteilt wird, die offensichtlich in die USA auswanderte, um dort als Kindermädchen zu arbeiten, und man erwartete, dass dieses Mädchen einen Cowboy heiraten und somit auch ein eigenes Pferd haben würde. Der Vater schickt also seiner Tochter eine Kardätsche mit den Worten: „Nimm du sie – ich werde mir nie ein eigenes Pferd leisten können.“ Das ist für mich, die ich einigermaßen abergläubisch bin, wie eine Vorsehung.
Von Bremerhaven fahren wir weiter nach Hamburg. Wir treffen dort meine gute alte Freundin Anja, die hier eine eigene Apotheke hat. Wir verbringen ein paar unbeschwerte herrliche Tage in der Hansestadt, besuchen die Elbphilharmonie und schauen uns außerdem „Harry Potter und das verwunschene Kind“ an.
Amalia geht mir nicht aus dem Sinn. Der Pächter vom Stall ruft mich an und fragt, ob ich die Box haben möchte, die ab Juni frei wird. Ich zögere und sage zunächst ab. Kein Druck bitte. Meine Freundin Anja, die früher selbst geritten ist, sieht sich das Video an und beurteilt es wie folgt: „Ihr passt gut zueinander, und so klein ist sie doch gar nicht – aber du musst das natürlich selbst entscheiden.“ Da hat sie recht! Im Anschluss an Hamburg fahren wir noch nach Travemünde, um meine alte Freundin Brigitte, die einen schweren Schlaganfall erlitten hatte, im Seniorenwohnheim zu besuchen. Kurze Stippvisite von einer knappen Stunde, und anschließend geht es zurück in Richtung Rheinland. Brigitte, die eine adäquate Reitausbildung wie ich genossen hat und mich in- und auswendig kennt, ist von den Videos, die ich ihr zeige, begeistert. Inzwischen hat Amalia schon den Spitznamen Amy geerbt. Brigitte bestätigt Anjas Meinung, dass ich doch gar kein so großes Pferd brauche und wir gut zueinanderpassen. Sie sagt: „Das ist doch genau dein Typ!“ Brigitte kennt mich aus der Landesreit- und Fahrschule Rheinland, damals noch in Wülfrath! Sie selbst hat, so wie ich, ein Jahr als Volontärin dort gearbeitet und ihre Reitkünste verfeinert. Bedingt durch den schweren Schlaganfall, der eine irreversible rechtsseitige Lähmung zur Folge hatte, wird sie nie wieder reiten können. Als ich ihr schildere, wie Amalia sich bezüglich ihrer sensorischen Affinität mir gegenüber verhalten hat, sagt sie: „Also das ist doch ein Zeichen.“ Ich schwanke immer noch.
Zu Hause angekommen, zeige ich die Videos der Tochter des Pächters. Sie ist Springreiterin und von Amy begeistert. Das Video, auf dem ich sie reite, findet sie okay: „Sie ist nicht zu klein für dich – grad an der Grenze“, urteilt sie fachmännisch. Als ich das Video anschließend Carla zeige, die ein großrahmiges Dressurpferd bei uns im Stall stehen hat, kommt die Aussage: „Die ist aber doch etwas zu klein für dich.“ Na großartig! Verunsicherung pur – Punkt 1 meiner Entscheidungsfindung, das „Probereiten“, ist also noch „pending“.
Es folgt Punkt 2.
Die Röntgenaufnahmen und die Videos schicke ich meinem Tierarzt. Er kennt mich und meine Pferde seit über dreißig Jahren und ist selbst ein erfahrener Reiter. Er ruft mich an. „Damit kann ich leben“, sagt er. Ich schmunzle am Telefon. „Typisch“, denke ich, aber mehr kann ich nicht erwarten – er ist immer megavorsichtig mit seinen Aussagen, doch das ist seine Art, zum Ausdruck zu bringen, dass er ein Pferd echt gut findet! Und er sagt: „Ihr passt bestens zueinander, was willst du denn mit einem so großen Pferd, alles Blödsinn – ich würde sagen: kaufen!“
Es folgt Punkt 3.
Das Video des Trakehner-Verbandes schicke ich meinem Trainer in der Lüneburger Heide. Sein Feedback kommt zeitnah und kritisch, so wie ich es erwartet habe: „Ich hab mir dein Video von der Abendtanz-Stute angeguckt, und das ist ja ein ganz nettes Pferd, finde ich, und bestimmt auch vielseitig veranlagt. Im Hinterbein finde ich sie ein bisschen lang, aber das sind die Trakehner ja gerne mal. Ich hab immer so ein wenig Probleme, Videos zu beurteilen, weil sie ja doch alle gemacht und geschönt sind. Da wird 10-, 20- bis 30-mal hoch- und runtergefilmt, das Beste wird herausgeschnitten und dann zu einem optimalen Video zusammengestellt. Also so ein Pferd muss man ausprobieren. Zur Abstammung kann ich sagen, dass Abendtanz, der Vater der Stute, ein eher schwieriges Pferd war, etwas speziell. Donauklang, der Vater der Mutter, hat immer gute Stutenlinien gebracht, was ja auch stets ein sehr wichtiger Ansatzpunkt ist. Vom Ablauf her finde ich das ganze Pferd etwas flach und nicht so sehr nach oben konstruiert. Man wird mit einem solchen Pferd wahrscheinlich eher ein bisschen Probleme haben, dass es sich nicht so abstößt und dadurch immer etwas die Stütze in der Hand sucht. Das muss bei ihr aber nicht der Fall sein, doch auf dem Video zeigt sie wenig Bergauf-Tendenz. Das kommt einem bei einem jungen Pferd nicht so entgegen.“
Das sind wichtige und sehr ehrliche Einschätzungen, und ich bin für dieses offene Feedback meines Trainers sehr dankbar. Insbesondere der Hinweis zu der Art, Verkaufsvideos zu erstellen, ist völlig korrekt und mir nicht unbekannt. Aber dafür habe ich sie ja ausprobiert. Seine Bedenken zum Bergauf-Pferd sind ebenfalls völlig richtig – Ich denke und hoffe aber, dass man durch korrektes Reiten hier noch einiges verbessern kann. Etwas kritischer sehe ich die Bedenken bezüglich der Abstammung väterlicherseits. Der Vater selbst war, beziehungsweise ist, sicher kein Anfängerpferd und erfordert einiges reiterliches Können und Fingerspitzengefühl. Christine hatte mir schon bei unserem ersten Telefonat gesagt, dass man Amalia nicht allein in der Stallgasse stehen lassen könne. Ich war darüber hinweggegangen und hatte nur erwidert, dass man ja kein Pferd allein in der Stallgasse stehen lassen sollte. Nun, nach dem Hinweis meines Trainers, dass Vater Abendtanz nicht so ganz einfach sei, werde ich etwas hellhörig und erinnere mich an diesen Hinweis. Auch sagte Christine auf meine Frage, wie Amalia denn im Gelände sei, nach leichtem Zögern: „Eigentlich muss man sie nur gucken lassen.“ Mit anderen Worten: Sie ist eher wachsam und erschreckt sich auch schon einmal, man kann sie dann aber nicht zwingen, weiterzugehen, sondern man sollte abwarten und sie erst mal schauen lassen. Mein Trainer in der Lüneburger Heide kennt beide Hengste, da sie aus seiner Gegend stammen, somit kennt er auch all ihre Stärken und Schwächen und auch viele ihrer Nachkommen. Andererseits halte ich persönlich nichts davon, wenn man die Charaktereigenschaften eines Pferdes nur auf die Abstammung zurückführt, obwohl mir klar ist, dass manche Eigenschaften durchaus vererbt werden können.
Ich finde den Gedanken, ein sensibles Pferd durch viel Geduld und Ruhe als Freund fürs Leben zu gewinnen, sehr reizvoll. Trotzdem habe ich nun doch ein paar Bedenken, insbesondere weil es ja auch um unsere Enkelin geht, die mit Amalia zurechtkommen soll.
Was also tun? Während unseres alljährlichen Pfingstturniers fällt die Entscheidung. Christine ruft mich an und fragt nach. Es gibt wohl eine weitere Interessentin aus Nürnberg, die vorbeikommen möchte, um Amalia auszuprobieren. Christine hat sie zunächst vertröstet, muss aber von mir wissen, ob ich noch Interesse habe. Ich druckse herum. Sie sagt: „Sie sollten sich mit der Züchterin unterhalten! Darf ich Ihnen ihren Kontakt weiterleiten?“ Ich stimme zu. Das bringt den Ausschlag. Am Pfingstsonntag telefonieren wir. Sie schwärmt mir von Amalias Mutter und deren Großvater, dem Vollblutaraberhengst Sultan vor. Sie erzählt mir so einiges und schickt mir am Ende noch ein Video von der Stutenschau, als Amalia 2-jährig ins Hauptstutbuch eingetragen wurde. Nicht schlecht. Mutter Alruna wird wohl hauptsächlich von Kindern geritten, und die Züchterin schwärmt mir vor, dass Alruna auf die kleinsten Hilfen reagiert, ja quasi die Gedanken und Absichten der Mädchen liest und super leichtrittig ist. Das sagt natürlich nichts über den Einfluss durch Amalias Vater aus, wie mir durchaus klar ist.
Trotzdem gibt dieses lange Telefonat den Ausschlag. Ich sage: „Wenn die Ankaufsuntersuchung gut ist, kaufe ich Amalia.“ Ich möchte aber eine Kehlkopfspiegelung gemacht haben, denn sie hatte im Galopp auffällig laute Atemgeräusche, die man auf dem Video, das Jonny gemacht hat, deutlich hören kann. „Wird gemacht!“, verspricht mir Christine.
Die Ankaufsuntersuchung verläuft problemlos! Bei der Kehlkopfspiegelung wird ein Follikel-Katarrh festgestellt. Das erklärt das Atemgeräusch, das ich im Galopp gehört habe. Da ich nicht persönlich bei der Untersuchung dabei sein kann, telefoniere ich im Anschluss mit dem Tierarzt. Er erklärt die Situation: „Junge Pferde, meist bis zum Alter von etwa fünf Jahren, leiden oft an einem Follikel-Katarrh. Man muss sich das wie bei Kindern vorstellen, die durch viele Krankheiten, die sie im Kindes- und Jugendalter durchmachen, ihr Immunsystem stärken. Das verschwindet von selbst und stellt auch kein Risiko für eine spätere Kehlkopferkrankung dar.“ Es handelt sich, wie er mir erklärt, um kleine Bläschen, die sich im Kehlkopf und in Teilen der Luftwege befinden und dadurch dieses hörbare Geräusch verursachen. Ein nachfolgendes Telefonat mit meinem eigenen Tierarzt bestätigt diese Einschätzung. Er sagt noch, als ich ihn frage, ob man dagegen etwas tun kann: „Man kann inhalieren oder mit homöopathischen Mitteln etwas machen, das ist aber grundsätzlich nicht erforderlich.“ Das beruhigt mich, und ich bin froh, dass ich die Situation abgeklärt habe.
Nun überzeugt, teile ich allen Beteiligten meine Kaufentscheidung mit! Die Familie ist begeistert! Christine freut sich, der Trakehner-Verband ist zufrieden – was will man mehr; nun fehlt nur noch die Bestätigung, dass wir alles richtig gemacht haben, aber das wird sich erst im Laufe der Zeit zeigen, wie ich aus eigener Erfahrung sehr genau weiß.
Und so war das! Das Abenteuer beginnt!
Elektrik-Trick
Ich habe also alles vorbereitet – den Pferdeanhänger parat gemacht, das Heunetz befüllt, Holzspäne auf dem Boden des Hängers verteilt, den Hänger ans Auto angehängt, Kabel mit Auto verbunden und nach vorne auf den Parkplatz gefahren. Dort erwarte ich den Rest der Familie, den Jonny abholt.
Die Familie fährt auf den Hof, wir steigen alle in mein Auto, und los geht’s. Kaum sind wir um drei Biegungen gefahren, in denen ich bremsen und blinken muss, trifft mich der Schlag. Mein Auto meckert. Es zeigt an: Bremslicht Hänger defekt. Blinker links Hänger defekt. Blinker rechts Hänger defekt. Da alles beim letzten Schmied-Besuch einwandfrei funktioniert hat, atme ich tief durch und denke: „Ruhe bewahren.“ Ich informiere meine Mitfahrer, und alle halten den Atem an. Es ist nicht so, dass die Bremsen an sich nicht funktionieren, aber hinter mir fahrende Autos können nicht erkennen, wenn ich bremse, und das ist mega gefährlich, insbesondere dann, wenn man ein Pferd geladen hat. Gleiches gilt für nicht funktionierende Blinker am Pferdeanhänger.
Also nichts wie anhalten und checken. Der nächste Parkplatz wird angefahren. Ich springe aus dem Wagen, Jonny auch. Ich drehe den Stecker aus der Steckdose an der Anhängerkupplung heraus und puste hinein. Außerdem rüttle ich an den diversen anderen Kabeln. Ich reibe mit meinen Fingern über die Kontakte des Steckers und puste auch in die Steckdose, hole tief Luft und drehe den Stecker vorsichtig und ohne zu verkanten bis zum Anschlag wieder hinein. Anschließend schließe ich meine Augen, hole noch einmal tief Luft und stehe auf. Jonny hat sich inzwischen ohne ein weiteres Wort hinter den Hänger gestellt.
Die Familie sitzt auf dem Rücksitz mit entsetzten Gesichtern. Alle halten den Atem an. Ich setze mich hinters Steuer und starte den Wagen. In meinem Kopf läuft parallel das Szenario ab, was ich tun kann, wenn die Elektrik immer noch nicht funktioniert. Langsam macht sich Panik breit. Ich muss mir dann kurzfristig einen anderen Hänger leihen – aber wie und von wem? Das wird schwierig! Der Motor läuft. Ich betätige den linken Blinker. Spannung – dann Erlösung! Jonny ruft: „Funktioniert!“ Ich schließe die Augen und atme aus. Blinker rechts: „Funktioniert!“ Ein Lächeln breitet sich vorsichtig auf meinem Gesicht aus. Warnblinkanlage. „Funktioniert!“ Das Lächeln wird stärker! Jetzt die Bremsen. „Funktioniert!“, ruft Jonny – je öfter er das sagt, desto erleichterter klingt seine Stimme! Mit Recht! Glück gehabt!
Der Rest der Fahrt verläuft unspektakulär und ohne Stau. Das Wetter ist leider nicht sehr schön, stark bewölkt, und es regnet ab und zu. Die Autobahn besteht fast nur aus Baustellen. Das ist immer unangenehm, wenn man mit Hänger fährt, aber na ja – ist nicht so schlimm, Hauptsache, die Elektrik funktioniert. Mich kann nichts mehr erschüttern!
Als wir ankommen, ist alles vorbereitet. Christine freut sich, und die blitzblank gestriegelte Amy schaut uns aus ihren großen schwarzen perlengleichen Augen neugierig und erwartungsvoll an. Das Halfter, das ich noch am Tag zuvor gekauft habe, ist viel zu groß, obwohl es Vollblut-Größe hat. Christine spendiert ein lilafarbenes, ganz einfaches neues Halfter, das Amy besser passt. Die Transportgamaschen, die ich mitgebracht habe, sind ebenfalls etwas zu groß, lassen sich aber zumindest vorne gut mit den Klettverschlüssen befestigen. Wir machen Neopren-Sprungglocken zusätzlich als Stopper über die Hufe, sodass die Transportgamaschen auf gar keinen Fall nach unten rutschen können. Ich will auch um die Hinterbeine Transportgamaschen machen, doch Christine hat Bedenken und rät davon ab. Sie meint, wenn unterwegs etwas passiert, komme man an die Hinterbeine schlecht ran, und das sei dann gefährlich. Wir belassen es dabei.
Christine besteht auf einem Abschiedsfoto – sie drückt mir einen kleinen bunten Blumenstrauß in die Hand, gratuliert noch einmal zu der Neuerwerbung und wünscht viel Spaß, Freude und Gesundheit für die Zukunft. Auf dem Foto nehmen wir Amy zwischen uns vier in die Mitte. Ich drücke den Blumenstrauß Jonny in die Hand, denn Amy ist äußerst interessiert an diesem sehr schmackhaft anmutenden Grünzeug und versucht permanent, etwas davon zu erhaschen. Ich stehe also links von Amy und halte sie am Strick, Jonny steht links von mir mit dem Blumenstrauß, den er hoch und nach außen hält, damit Amy nicht drankommt, rechts von Amy stehen Mama Julie und die kleine Lisa, die ganz stolz Amys Pferdepass halten darf.
Es fängt an zu regnen, als Christine unsere Amy in den Hänger führt. Wie ein routiniertes Turnierpferd stiefelt sie hinter Christine her und fängt sofort an, das Heu anzuknabbern. Die Klappe hoch und die Plane vorsichtshalber herunter, damit Amy während der Fahrt keine Angst vor dicht auffahrenden Lkws bekommen kann. Noch ein schneller Abschiedsgruß, und los geht die Fahrt.
Die Toilette haben wir alle schnell noch vor dem Verladen aufgesucht, denn ich möchte unterwegs keinen Stopp machen.
Die Rückfahrt verläuft ebenfalls problemlos – nur einmal, ganz am Anfang, verfahren wir uns leider in einen kleinen Ort, der voller Baustellen ist. Jonny studiert sein Navi und meint: „Da können wir durchfahren und kommen dann auch auf die Bundesstraße, die zur Autobahn führt.“ Als die Baustellenabtrennungen aber immer enger werden, streike ich. Glücklicherweise ist rechts von uns eine breite, etwas zurückgesetzte Hofeinfahrt. Hinter mir befinden sich inzwischen zwei Pkws. Ich bedeute ihnen mit Handzeichen und indem ich den Blinker setze und den Rückwärtsgang einlege, dass ich vorhabe, zu wenden. Umgehend fahren beide Wagen rückwärts, und einer der Fahrer steigt sogar aus, um mich einzuweisen. Ich setze den Hänger rückwärts in die Einfahrt und lenke das Gespann anschließend nach links wieder auf die Straße. Ich winke dem freundlichen Helfer zu und bedanke mich. Dieser winkt zurück und lächelt; alle winken uns freundlich zu und zeigen mit dem Daumen nach oben – man merkt, dass man sich in einem Pferdeland befindet! Großartig, wie hilfsbereit die Menschen hier sind. Amy steht die ganze Zeit wie eine Eins auf ihrem Hänger, was sehr beruhigend ist.
Nach guten fünf Stunden Fahrt kommen wir sicher im neuen Stall an. Die Box ist vorbereitet – leider noch eine recht kleine Box, da ich die größere abgesagt hatte. Die nächste größere Box, die frei wird, ist aber schon vorreserviert, und da Amy ja nicht so groß ist, ist das vorübergehend voll okay.
Mama Julies Mann Konrad kommt mit den Zwillingen zum Stall, und wir machen noch ein schönes „Familienfoto“ nun mit allen plus Amy, die ja jetzt auch zur Familie gehört. Amy zeigt ihrem Nachbarn, einem grantigen Andalusier, erst einmal, wer hier das Sagen hat, und giftet ihn durch die Gitterstäbe an, sodass der neugierige Wallach sich beleidigt zurückzieht.
So sind wir nun erst einmal gut angekommen – der Rest muss sich zeigen.
Sonntag, der 2. Juli
40 Jahre Qualität
Nun geht es an die passende Ausrüstung für Amy. Zunächst einmal benötige ich für sie eine passende Trense. Ich habe noch, aus alten Zeiten, eine sehr schöne, rundgenähte schwarze Trense. Sie ist inzwischen 40 Jahre alt. Damals kaufte ich sie als Turniertrense für meine Hannoveranerstute, mein allererstes eigenes Pferd. Ich hatte sie als Fohlen gekauft. Wie Amy hatte auch sie einen kleinen Kopf. Die schöne schwarze Trense, gefertigt aus exzellentem weichem und qualitativ hochwertigem Leder, wurde damals von mir nur für die Turniere benutzt. Sie wurde immer sehr gut gepflegt und mit Lederöl geschmeidig gehalten.
Nun war sie zwar seit etlichen Jahren bei uns im Keller, da meine nachfolgenden Pferde allesamt größere Köpfe hatten, jedoch ist sie super gereinigt, gefettet und geölt, und sie wurde auch keinen großen Witterungsschwankungen ausgesetzt. Allerdings besteht das Genickstück aus drei Teilen: Einmal die Schnalle mit den zwei Backenstücken, die an die Trensenringe geschnallt werden, dann der Kehlriemen und dann noch das Reithalfter (Englisch mit Sperrriemen).
Es gibt an dieser Trense keinerlei Schnickschnack zu extra weicher Polsterung, Aussparungen für die Ohren des Pferdes oder sonstige anatomische Besonderheiten, die heutzutage dazu führen sollen, dass das Pferd zufriedener kaut und sich leichter durchs Genick stellen lässt. Da diese Trense wenig benutzt wurde und in einem sehr guten gepflegten Zustand ist, nehme ich sie also am Morgen des nächsten Tages mit zum Stall.
Ein neues Gebissstück, eine doppelt gebrochene, anatomisch geformte Wassertrense hatte ich mir schon vorher gekauft – die Größe hatte mir Christine bereits zu Anfang mitgeteilt. Ich schnalle also das neue Gebiss an die Trense. Zügel habe ich ebenfalls aus Altbeständen. Sie sind zwar nicht rundgenäht, aber elegant und schmal, sodass sie sehr gut zur Trense passen.
Putzzeug habe ich neu gekauft. Das macht Sinn, denn das sind echte Verschleißgüter, und jedes Pferd sollte aus hygienischen Gründen eigenes Putzzeug haben. Longier-Utensilien wie Schabracke, Lammfell, Dreieckszügel zum Ausbinden und Longiergurt sind bereits vorhanden. Allerdings brauche ich für Amy einen kürzeren Bauchgurt als für Bonni. Aus ebenfalls Altbeständen im Keller habe ich noch einen Neopren-Kurzgurt, der wunderbar passt. Die Dreieckszügel sind etwas lang, das macht aber nichts. Ich muss nur mit meiner Lochzange zusätzliche Löcher ins Leder knipsen, damit ich Amy korrekt beim Longieren ausbinden kann.
Heute lasse ich sie aber zunächst in der Longierhalle am Halfter um mich herumtraben und galoppieren, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie gut sie an der Longe ausgebildet ist und reagiert. Sie macht das hervorragend. Sie konzentriert sich 100%ig auf mich und reagiert auf Stimme und Longierpeitsche respektvoll und ohne Angst.
Nach etwa einer halben Stunde hake ich die Longe aus, sodass sie sich nun frei bewegen kann. Da sie mehrfach geäppelt hat, will ich von draußen den Mistboy holen, um abzuäppeln. Ich gehe also in Richtung Ausgang. Amy weicht mir nicht von der Seite. Ich gehe durch das Metallgatter nach draußen und verschließe das Gatter wieder. Amy steht mit der Brust am Gatter und starrt mir hinterher. Ich muss kurz um die Ecke gehen, da der Mistcontainer und der Mistboy sich dort befinden. Dabei gerate ich ganz kurz aus dem Blickfeld der Stute. Ein lautes Wiehern ist die Quittung – ich bin sofort zurück und sehe, dass Amy nach rechts gegangen ist, wohl um mich nicht aus den Augen zu verlieren, immer noch mit der Brust an der Querstange steht und hektisch zu mir herblickt. Das ist ja interessant! Offensichtlich bin ich nun hier ihre einzige Bezugsperson, und sie hat schon jetzt Verlassensängste. Ich gehe mit dem Mistboy in der Hand wieder zurück in die Halle und äpple ab. Amy folgt mir auf Schritt und Tritt. Als ich den Mistboy mit den Pferdeäpfeln zum Mistcontainer trage, recke ich den Arm, um ihn zu leeren, und beeile mich, damit Amy mich schnell wieder in Gänze sehen kann. Sie steht still am Gatter und beobachtet mich.
Ich gehe mit ihr noch ein bisschen auf dem Hofgelände spazieren, damit sie so nach und nach ihre neue Heimat kennenlernt. Sie ist wachsam, springt ein paarmal zur Seite, wenn ein ungewohntes Geräusch oder eine ungewohnte Bewegung sie irritiert, verhält sich aber ansonsten eher neugierig und interessiert.
Ich hatte Christine gefragt, was bei Amy bezüglich Schreckhaftigkeit zu beachten sei. Sie hatte kurz überlegt und dann geantwortet: „Eigentlich muss man sie nur gucken lassen. Ja, das ist alles, was man beachten muss.“ Und es stimmt. Amy ist immer wachsam und behält alles im Blick. Sie stoppt plötzlich und steht, gespannt wie ein Flitzebogen, um eine Situation zu erfassen. Sie reagiert nicht panisch, sondern versucht, die Lage einzuschätzen.
Ich denke: „Um sie zu einem zuverlässigen Turnierpferd auszubilden, muss sie so viel Vertrauen zum Reiter fassen, dass sie, ohne angstvoll ins Stocken zu geraten, jederzeit den Reiterhilfen folgt.“ Das ist ein langer Weg, aber er lohnt sich. Und zwar muss das natürlich in jeder Situation, nicht nur auf Turnieren, funktionieren. So nähern wir uns am ersten gemeinsamen Tag etwas an, lernen uns kennen und beginnen, Vertrauen zueinander zu fassen.
Die schöne, weiche, alte, rundgenähte Trense passt prima, und Amy fühlt sich wohl darin. Ich beschließe allerdings trotzdem, ihr noch eine neue „anatomisch“ optimierte Trense zu gönnen. Mal sehen, ob sie damit tatsächlich besser läuft.
Der sogenannte „Mistboy“
Kurz möchte ich an dieser Stelle auf den sogenannten Mistboy eingehen. Es handelt sich um eine wirklich tolle Erfindung! In meiner Jugendzeit als Reiterin, und ich möchte mal behaupten bis in die 80er Jahre, gab es dieses Gerät gar nicht. Zum Einsammeln des Mists der Pferde wurden damals Schubkarren, Besen und breite Schaufeln benutzt, die relativ leicht und gut zu händeln waren, da die Schaufel an sich aus Aluminium bestand. Allerdings machte man das Abäppeln am besten zu zweit, und einmal ganz unter uns: Die Sandplätze und Hallen wurden gar nicht abgeäppelt.
Vielleicht vertue ich mich auch, aber ich meine mich zu erinnern, dass mir ein solches Gerät erst Anfang der 90er Jahre das erste Mal begegnete. Ich habe mal versucht, im Internet herauszufinden, seit wann es einen Mistboy gibt und ob er patentiert wurde. Das Einzige, was ich gefunden habe, und es entspricht meiner Erinnerung, ist, dass eine renommierte Firma, die heute noch existiert, den Mistboy seit Anfang der 1990er Jahre herstellt und den Namen „Mistboy“ auch als Marke schützen hat lassen. Ob das stimmt, weiß ich nicht, denn auch das Internet verbreitet ja leider sehr viele Fake News. Aber es passt 100%ig zu meiner Erinnerung, und ich kann nur sagen: Daumen hoch für den Mistboy!
Mistboy und Harke
Klassische Aluminium-Schaufel
Die nächsten Tage
Die nächsten Tage beginnen wir mit Auftrensen und Longenarbeit. Auch die Passform des Sattels, den ich für Bonni benutze, checke ich. Soweit ich das beurteilen kann, passt er einigermaßen, ich brauche jedoch einen Sattler, der das fachmännisch überprüft und, falls erforderlich, Anpassungen vornimmt. Zunächst lege ich ein Gel-Pad unter. Das funktioniert gut. Da sich jedoch der Körperbau von Amy von dem Bonnis unterscheidet, muss auch das überprüft werden.
Es stellt sich heraus, dass Amy beim Putzen etwas kitzelig ist. Auch kann sie angebunden auf der Stallgasse nicht stillstehen. Das nervt ein bisschen. Sie ist am ganzen Körper megaempfindlich. Ich kann jetzt die Aussage von Christine, dass man sie nicht allein in der Stallgasse stehen lassen kann, nachvollziehen. Zum Putzen mache ich den Strick deshalb zunächst nicht an einem Gitterstab der Box fest. Ich halte ihn in einer Hand, nachdem ich ihn einmal um einen Gitterstab ihrer Box gezogen habe. Mit der anderen Hand striegle ich sie. Das ist sicherer, da Amy während des Putzens vor und zurückläuft und hin und her zappelt. Ich behalte bewusst Ruhe und putze sie einfach konsequent weiter. Ich habe das Gefühl, dass ich bei Amy nur mit sehr viel Geduld weiterkomme.Dadurch, dass ich sie während des Putzens am leicht gespannten Strick flexibel halte, gewöhnt sie sich nach und nach daran, dass das Zappeln nichts bringt.
In den nächsten Wochen ertappe ich mich einige Male dabei, dass ich zweifle, ob die Entscheidung, sie zu kaufen, die richtige war. Sie ist noch längst nicht bei mir angekommen. Positiv zu bemerken ist, dass sie schon sehr anhänglich geworden ist und beginnt, immer mehr Vertrauen zu mir zu fassen. Bisher habe ich also immerhin einiges richtig und zumindest nicht alles falsch gemacht.
Mittwoch, 5. Juli
Die Prinzessin auf der Erbse
Da Amy unsere Reithalle noch nicht kennt, führe ich sie am Mittwoch, dem 5. Juli nach dem Longieren in diese hinein, damit sie sie zunächst einmal gesehen hat, bevor ich dann am nächsten Tag das erste Mal aufsteigen will. Gabi sitzt auf der Tribüne und gibt einem Mädel auf einer Stute Unterricht. Als sie Amy sieht, ruft sie mir zu: „Die schwarze Prinzessin, was für eine Schönheit!“ Ich lächle und erkläre, dass ich Amy nur die Reithalle zeigen möchte, fühle mich aber geschmeichelt. „Ja, eine kleine Prinzessin ist sie wohl – eine ‚Prinzessin auf der Erbse‘“, denke ich. Auch Amy würde eine Erbse unter 20 Matratzen und 20 Eiderdaunendecken spüren und sie als störend empfinden.
Donnerstag, 6. Juli
Die Aufstieghilfe
Heute reite ich Amy das erste Mal hier bei uns im für sie neuen Stall. Zunächst longiere ich sie in der Longierhalle ein paar Minuten unausgebunden ab. Die Mittagszeit, kurz nach dem Mittagessen, scheint mir eine gute Zeit dafür zu sein, da dann nur wenige Reiter unterwegs sind. Ich habe Glück, denn wir haben die Reithalle für uns allein. Ich führe Amy also nach dem Ablongieren in die Halle und schließe die Bandentür. Ich möchte verhindern, dass plötzlich andere Reiter hereingeritten kommen und Amy sich möglicherweise erschrecken könnte. Außerdem weiß man nie, wie sie sich in dieser für sie völlig neuen Umgebung benehmen wird. Sollte ich im Worst Case von ihr hinunterfallen, kann sie zumindest nicht aus der Reithalle hinauslaufen. Wie nun aufsteigen? Ich denke bei mir: „Da Amy ja mit ihrem Stockmaß von 162 cm recht handlich ist, stelle ich sie einfach mit dem Kopf in die Ecke und steige nach alter Manier vom Boden aus auf.“ Weit gefehlt. Sie ist zappelig und immer dann, wenn ich den linken Fuß im linken Steigbügel habe und mich vom Boden abstoßen will, um aufzusteigen, will sie losgehen. Nach dem dritten Versuch gebe ich auf. Ich denke: „Entweder das Aufsteigen funktioniert auf Anhieb mit der Aufstieghilfe, oder ich lasse es heute und hole mir beim nächsten Mal jemanden zu Hilfe.“ Unsere Aufstieghilfe in der Reithalle ist ein Klappbrett in der Bande, neben dem Eingang zur Halle. Man muss das Pferd sehr genau auf den Hufschlag vor das Klappbrett positionieren, steigt dann auf das Klappbrett und kann danach schnell, ohne den Sattel seitlich stark zu belasten, aufsteigen.
Ich führe Amy also zum Klappbrett und positioniere sie davor. Sie steht wie eine Eins. Zügig klappe ich das Brett herunter, steige darauf und ohne weiteres Zögern vom Brett aus auf Amy. Amy steht völlig verdutzt weiter bewegungslos da und rührt sich beim Aufsteigen nicht vom Fleck. Das hätte ich nicht erwartet. Manchmal läuft es viel einfacher, als man denkt. Hierfür hätte sie im „Aufsteigen“ die Schulnote „1“, also „sehr gut“, erhalten. Ich nehme die Zügel auf und reite im Schritt an. Heute machen wir nur Basics. Das heißt Schritt, Trab und Galopp, auf beiden Händen Zirkel und Ganze Bahn. Abgesehen davon, dass die Anlehnung, also die Verbindung zwischen Reiterhand und Pferdemaul, noch nicht optimal ist, funktioniert das prima! Ich bin begeistert. Ich lobe sie sehr viel, um ihr jedes Mal zu verstehen zu geben, wenn sie etwas richtig gemacht hat.
Das war schon mal ganz gut für den Anfang!
Der Zaubergurt
Die nächsten Tage reite ich sie mal mit und mal ohne das Gel-Pad. Als Gurt benutze ich einen älteren Neopren-Kurzgurt. Amy ist etwas unwillig beim Satteln, und ich möchte ihre Reitausrüstung optimieren. Sie soll auf keinen Fall durch einen drückenden Sattel oder Sattelgurt irritiert werden. Christine hatte mir einen französischen elastischen Kurzgurt, ähnlich einem Stollengurt, wärmstens empfohlen, den ich mir umgehend bestelle. Er ist tatsächlich Gold wert, da der Druck optimal verteilt wird. Sowohl das Brustbein als auch die Brustmuskulatur werden bestmöglich entlastet. Das führt zu einer verbesserten Bewegungsfreiheit und Atmung des Pferdes. Dies ist tatsächlich spürbar, als ich den neuen Gurt das erste Mal benutze. Amy ist beim Satteln und Gurten deutlich zufriedener. Die Prinzessin auf der Erbse braucht optimale Ausrüstung für ihre empfindliche Haut und ihre sensiblen Nerven und Muskeln. Da kommt der Zaubergurt gerade recht.
Am 13. Juli kommt meine Freundin Tina vorbei, und sie macht ein erstes Video von uns. Tina ist Pferde-Profi, hat vom Beruf her Pferdezucht und -haltung gelernt und kümmert sich immer um meine Pferde, wenn ich im Urlaub bin oder aus anderen Gründen keine Zeit habe.
Am 14. Juli reite ich das erste Mal nach meiner Trainingseinheit mit Amy aus der Halle hinaus und ganz allein eine Runde am langen Zügel um die Wiesen. Sie ist aufmerksam und wachsam. Sobald sie stockt, weil sie etwas Unerwartetes betrachten will, lehne ich mich leicht nach vorn, streichle sie am Hals und spreche leise und ruhig mit ihr. Sie entspannt sich und geht weiter. Auf den Wiesen, an denen wir vorbeireiten, stehen grasende Pferde. Es ist schön, die Seele baumeln lassen zu können.
Kleine Longenkunde „zum Ersten“ (Das magische Dreieck – Der Schlaufentrick – Das Ben-Hur-Syndrom)
Mama Julie und Lisa sind bisher nur einmal vorbeigekommen, direkt in der ersten Woche, als ich Amy longiere. Interessiert stehen die beiden am Eingang der Longierhalle. Ich rufe Mama Julie herein und lasse sie neben mir stehend die Longe halten. Ich möchte, dass sie lernt, Amy zu longieren. Dann habe ich noch jemanden, der sich um sie kümmern kann, wenn Tina mal keine Zeit hat. Amy ist derartig angenehm zu longieren, dass ich glaube, Mama Julie wird es schnell lernen. Trotzdem ist es nicht ohne Gefahren, und man muss einige wichtige Basics beachten. Ein rund eingezäunter Longierzirkel wird heutzutage neudeutsch auch als Round-Pen bezeichnet. Das kommt aus dem Amerikanischen, wie man sich unschwer vorstellen kann. Wir bleiben mal bei Longierzirkel, ich bin halt altmodisch. Schon als Mama Julie nur die Longe hält, vertüdert sie sich. Die Schlaufen fallen auseinander und hinunter, und beim Aufheben hat Julie sofort, ganz ohne Absicht, eine Schlaufe um das Handgelenk gewickelt. Da das alles extrem gefährlich ist, nehme ich ihr die Longe zunächst einmal wieder lachend aus der Hand. Mama Julie ist sehr wissbegierig und etwas enttäuscht, dass nicht alles sofort klappt. Sie will es unbedingt richtig lernen. Lisa steht aufmerksam zuhörend draußen an dem Eingangstor. Nun fange ich an, zu erklären, worauf es ankommt. Ich überlege kurz, womit ich am besten starten soll. Ich entscheide mich, mit dem von mir hier mal so genannten „Magischen Dreieck“ zu beginnen.
Das magische Dreieck
Ich erkläre also wie folgt: „Zunächst einmal ist es ganz wichtig, dass du deine Augen und deine Konzentration stets zu 100 % auf dein Pferd richtest. Und zwar schaust du immer auf den Kopf, wobei der Rest des Pferdes und die Art, wie es sich bewegt, natürlich automatisch in deinem Blickfeld bleiben und auch mitbestimmen, was du machst. Da wir auf der linken Hand sind, hältst du die Longe in der linken Hand. Deine rechte Hand hält die Longierpeitsche. Die Longierpeitsche zeigt waagerecht auf das Hinterteil des Pferdes oder leicht dahinter. So rahmst du das Pferd mit Zügel und Longierpeitsche ein und bildest quasi zusammen mit dem Pferd ein gleichschenkliges Dreieck.“ Amy trabt locker vor sich hin, Mama Julie steht hinter mir und bleibt auch dort, während ich mich mehr oder weniger auf der Stelle im Mittelpunkt des Longierzirkels um die eigene Achse drehe, Amy immer im Blick. Ich fahre fort:
„Bei dem gleichschenkligen Dreieck, das wir hier beschreiben, ist das Pferd die Basis. Allerdings ist die Basis, also das Pferd, ganz leicht in Bewegungsrichtung gebogen, stellt folglich keine starre Gerade dar. Die Longe und die Longierpeitsche bilden die beiden gleichen Schenkel des Dreiecks. Somit zeigt die Peitsche immer auf die Hinterhand des Pferdes oder leicht dahinter. Nur wenn das Pferd versucht, nach innen zu kommen, richte ich die Peitsche auf des Pferdes Schulter und treibe mit einer Schwingbewegung der Peitsche das Pferd wieder nach außen. Und zwar bewege ich die Peitsche dann von unten nach schräg oben und vorwärts zur Schulter des Pferdes hin. Das sieht ein bisschen so aus wie beim Angeln mit einer Angelrute.“ Ich mache es vor, indem ich Amy mit der linken Hand ganz minimal nach innen ziehe und dann mit der Longierpeitsche an der Schulter nach außen treibe. Ich unterstütze dieses Hinaustreiben mit Stimme, indem ich laut mit tiefer Stimme und gedehnt „Raus!“ rufe. Sobald sie wieder auf dem Hufschlag ist, rufe ich ebenfalls mit tiefer gedehnter Stimme: „Guuut!“
Nun erkläre ich Mama Julie und Lisa noch folgende Grundregel:
„Wichtig ist, dass du dein Pferd beim Longieren permanent im Auge behältst und dich voll und ganz nur auf das Tier, seine Reaktionen und seine Bewegungen konzentrierst. Du musst davon ausgehen, dass auch das Pferd sich 100%ig auf dich konzentriert. Obwohl es dir vielleicht so vorkommt, als laufe alles wie von selbst, ist das nicht der Fall. Sobald du abgelenkt wirst, wird das Pferd dies bemerken. Entweder wird es einfach ausfallen, also in die nächstniedrigere Gangart gehen, oder es kann passieren, dass es durchpariert und sich zu dir herdreht, möglicherweise auch zu dir kommt, da es vermutet, dass die Trainingseinheit zu Ende ist. Das ist schlecht, denn du musst diesen Irrtum korrigieren und gibst dadurch deinem Pferd das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Hat es aber nicht! Genauso wie du vom gut longierten Pferd erwartest, dass es alle deine Befehle prompt und ohne Zögern ausführt, darf das Pferd von dir erwarten, dass du dich voll und ganz auf die Arbeit mit ihm konzentrierst und es in diesem Moment keine andere wichtigere Tätigkeit für dich gibt. Also hältst du deine Augen immer auf dein Pferd gerichtet.“
Während ich dies erkläre, lasse ich Amy keinen Augenblick aus den Augen. Ihre Ohren spielen und bewegen sich unablässig unabhängig voneinander in alle Richtungen. Sie hört die ganze Zeit über zu und registriert alle Geräusche und Bewegungen. Sie unterscheidet aber sehr wohl, wann sie gemeint ist, und das liegt daran, dass sie voll auf mich konzentriert ist.
Ich will diese Lehrstunde nicht zu sehr überlasten, damit auch etwas bei den zwei Schülerinnen hängen bleibt. Ich entscheide mich, nur noch zwei Dinge zu erklären, die meiner Meinung nach aus sicherheitstechnischen Gründen besonders wichtig beim Longieren sind.
Das sind zum einen „Der Schlaufentrick“ (beachtenswert) und zum anderen „Das Ben-Hur-Syndrom“ (unbedingt immer und bedingungslos zu beachten) – beides von mir selbst mal auf die Schnelle erfundene Bezeichnungen. Ich fange an mit dem von mir so genannten „Schlaufentrick“, den ich für beachtenswert halte.
Der Schlaufentrick
Ich lege los: „Wie du siehst, halte ich die Longe nicht an ihrer Schlaufe am Ende. Ich habe diese Schlaufe zwar fest in der linken Hand, jedoch halte ich noch eine weitere Schlaufe darin. Kannst du dir vorstellen, warum ich das so mache?“ Mama Julie weiß es nicht. Lisa steht am Eingang und lauscht ebenfalls gespannt. „Das ist eine Sicherheitsmaßnahme! Hier in der Longierhalle kann wenig passieren, wenn sich das Pferd zum Beispiel unerwartet erschrickt und nach vorne springt. Die Wand der Longierhalle begrenzt den Sprung und hält dein Pferd trotzdem auf der gebogenen Linie. Longierst du aber draußen oder in einer Halle ohne äußere Begrenzung, kann es passieren, dass dein Pferd, wenn es sich erschrickt, einfach nach vorne losstürmt. Dann wird der Sprung, den es macht, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf die gebogene Linie erfolgen, sondern gerade nach vorn. Hättest du die Longe in diesem Moment nur an der Schlaufe gepackt, würde dich das Pferd, bedingt durch seine Kraft und den Schwung, einfach mitreißen und umwerfen. Du liegst der Länge nach im Dreck, und das Pferd wird aller Wahrscheinlichkeit nach aufgrund dieses zweiten erschreckenden, unerwarteten Ereignisses, nämlich dich plötzlich hinter sich ausgestreckt auf dem Boden liegend zu sehen, kopflos weiterstürmen. Dann musst du die Longe loslassen, denn der Kraft des Pferdes hast du nichts entgegenzusetzen. Eine solche Aktion gefährdet nicht nur dein Pferd, denn die Longe hängt ja noch an seiner Trense und schlackert hinterher, sondern auch dich und nicht zu vergessen alle anderen Pferde und Reiter, die sich in Sicht- und Hörweite befinden. Ein Kollateralschaden ungeahnten Ausmaßes kann die Folge sein, und das wollen wir ja alle nicht erleben.“ Mama Julie und Lisa hören gespannt zu und nicken.
„Hast du aber eine weitere Schlaufe noch zusätzlich in der Hand, wird das Pferd zwar einen Satz nach vorne und geradeaus machen, du wirst aber zunächst nur diese letzte Schlaufe aus der Hand verlieren, und das gibt dir die Zeit, nun mittels der sich noch in deiner Hand befindenden Longen-Endschlaufe den Kopf des Pferdes zu dir hinzuziehen und es in seinem fortwährenden Vorwärtsstürmen wieder auf den Longierzirkel zurückzuholen. Pferde lernen dann sehr schnell, dass sie nicht den Longierzirkel verlassen können, dass also die Longe selbst die Begrenzung darstellt. Also bitte immer eine Schlaufe zusätzlich halten. Eins muss euch stets klar sein: Ein jedes Pferd ist einem jeden Menschen in Stärke und Kraft jederzeit überlegen. Nur mit Vertrauen und auch kleinen Tricks kannst du das Pferd als zuverlässigen, sicheren Partner beim Longieren gewinnen! Und noch etwas: Das Pferd ist ein Fluchttier! Das müsst ihr immer im Hinterkopf behalten! Hektische und unüberlegte schnelle Bewegungen und Geräusche lösen beim Pferd den Fluchtinstinkt aus! Man kann durch stetes Üben ein Pferd an vieles gewöhnen, das braucht aber Zeit und Geduld!“
Die beiden verdauen das von mir Gesagte, und ich lasse sie ein bisschen darüber nachdenken. Nun folgt mein dritter Basic-Punkt, den ich den beiden Wissbegierigen heute zum Thema Longenkunde erklären möchte.
Das Ben-Hur-Syndrom
Wer kennt es nicht, das legendäre Wagenrennen aus dem 1959 erschienenen historischen Meilenstein der Filmgeschichte, dem Monumentalfilm „Ben Hur“? Ich frage also Mama Julie: „Kennst du den Filmklassiker ‚Ben Hur‘?“ Erstaunlicherweise schüttelt Mama Julie den Kopf. „Echt jetzt?“, frage ich erstaunt, „du kennst nicht diesen Wahnsinnsfilm mit dem legendären Wagenrennen?“ Mama Julie schüttelt den Kopf. „Okay“, lache ich. „Dann weiß ich ja schon, was ich dir zu Weihnachten schenke!“ Ich bin ziemlich sicher, dass der Film damals ab 12 Jahren freigegeben war, als er in meiner Jugend im Kino lief. Ich sehe allerdings, als ich zu Hause meine Blu-ray-Disc prüfe, dass darauf steht, dass er ab 16 Jahren freigegeben ist. Das erklärt zumindest, dass Lisa mit ihren 11 Jahren ihn nicht kennt, aber das liegt wahrscheinlich hauptsächlich daran, dass Mama Julie noch nie davon gehört hat.
Ich sage: „Das, was ich euch jetzt erkläre, ist in dem Film ‚Ben Hur‘ sehr anschaulich in dem Wagenrennen dargestellt. Deshalb komme ich darauf. Es geht um Folgendes, und das ist nicht etwas, was man vielleicht beachten kann, sondern etwas, was man immer und unter allen Umständen zu 100 % beachten muss! Also: Niemals dürft ihr die Longe um die Hand, das Handgelenk oder den Arm wickeln. Ihr habt sonst überhaupt gar keine Chance, die Longe loszulassen, wenn ihr in eine Gefahrensituation kommt. Viele Reiter und Pferdeliebhaber neigen dazu, die Kraft des Pferdes zu unterschätzen. Das kann fatale Folgen haben. Auch muss die Longe immer genau in gerader ungebrochener Linie zwischen dir und dem Pferd sein. Was für Folgen eine Nichtbeachtung dieser Grundregeln haben kann, ist im Wagenrennen bei ‚Ben Hur‘ zu sehen. Der ganze Film ist sehenswert, aber das Wagenrennen ist einfach spektakulär!“
Für heute belassen wir es bei dieser kleinen Longenkunde „zum Ersten“.
Das korrekte Aufwickeln der Longe und die weiteren Details möchte ich ein andermal erklären. Auch lasse ich Mama Julie heute noch nicht die Longe führen – sie soll erst einmal gut zuschauen!
Im Anschluss an die Longenarbeit gehen wir noch um die Wiesen, und Lisa darf Amy führen. Ich erkläre ihr, wie sie die Longe halten und worauf sie sonst noch achten soll. Ich erkläre also wie folgt: „Geführt wird immer auf der linken Seite des Pferdes. Die rechte Hand hält die Longe in etwa 30 cm Abstand zum Pferdemaul. Den Rest der aufgerollten Longe hältst du zusammen mit der Longierpeitsche in der linken Hand.“
Als wir zurück sind, wollen wir Amy das erste Mal ihre Beine am Außenschlauch abspritzen. Zuerst ist Amy etwas misstrauisch. Ich lasse sie gucken und motiviere sie durch Klopfen am Hals und gutes ruhiges Zureden, sich der Schlauchaufhängung zu nähern. Vertrauensvoll folgt sie mir, nachdem sie die Konstruktion genau in Augenschein genommen hat. Ab da ist das kein Problem mehr. Im Gegenteil. Amy genießt es, zunächst einmal aus dem Schlauch zu trinken. Dafür lasse ich das nur leicht aufgedrehte Wasser über meine linke Handfläche laufen. Amy schiebt ihre Zunge halbmondförmig nach vorne durch ihre Zähne und saugt das Wasser aus meiner Handfläche in ihr Maul. Sie genießt diese Art zu trinken sichtlich.
Später im Stall erkläre ich noch, wie die Longe korrekt aufgewickelt und aufgehängt wird: „Eine Longe wird derart in Schlaufen gelegt, dass die Schlaufen immer gleich groß sind und zwischen 40 cm und 50 cm messen. Das letzte Stück, an dem sich der Karabinerhaken befindet, wird dann im oberen Teil der Schlaufen um diese herumgewickelt, und der Karabinerhaken wird durch die so entstandene Öse gezogen. Anschließend kann man die Longe am Karabinerhaken gut überall aufhängen. Ich mache es vor, und lasse es Mama Julie einmal nachmachen. „Alles eine Frage der Übung“, lache ich, als sie sich erst einmal vertüdert.
Ich reiche Lisa die Trense und bitte sie, diese am Waschbecken auszuwaschen. Obwohl das Mädchen nun schon 4 Jahre in einem renommierten Schulstall und auf einem Ponyhof regelmäßig reitet und Unterricht bekommt, muss ich feststellen, dass ihr bisher niemand beigebracht hat, wie man ein Pferd sicher und korrekt an der Longe führt, wie man ein Trensengebiss ordnungsgemäß auswäscht, wie man das Leder anschließend kurz mit Sattelseife reinigt und wie man die Trense abschließend ordentlich aufhängt. Das üben wir nun. Ich sage: „Möglichst wenig Leder mit Wasser benetzen und das Gebiss mit der Hand unter dem Wasserstrahl von allen Verunreinigungen sorgfältig säubern. Anschließend nimmst du als Rechtshänderin das Genickstück der Trense in die linke Hand, das Stirnband zeigt zum Arm. Du legst nun die Zügel rechts und links gerade vom Gebiss nach oben über das Genickstück. So hängst du die Trense an den Haken im Spind.“ Das ist die einfache Variante. Während meiner Zeit an der Landesreit- und Fahrschule Rheinland in Wülfrath habe ich gelernt, wie die Trense aufgehängt wird, sodass sie komplett fest ineinander verschnallt ist. Natürlich gibt es auch hierbei verschiedene Philosophien, was die korrekte ordentliche Trensenaufhängung angeht. Ich habe hier einmal die Variante abgebildet, die ich gelernt habe. Dabei wird der Kehlriemen noch über Kreuz um die komplette Trense inklusive der Zügel geführt und an der Schnalle des Kehlriemens befestigt, und der Nasenriemen wird zweimal durch die Trensenringe geführt und ebenfalls an seiner Schnalle oder den Durchzügen befestigt.
Die hohe Schule des Aufhängens der Trense