Von unten betrachtet geht es nur nach oben - Jens Sembdner - E-Book

Von unten betrachtet geht es nur nach oben E-Book

Jens Sembdner

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Beschreibung

Auf der Suche nach Sinn im Leben

»Die Wege des HERRN sind unergründlich«. Genau das hat Jens Sembdner durch einen herben Schicksalsschlag erfahren: den Freitod seiner Frau vor 14 Jahren. Gott ist schuld, er hat gepennt, sich in der Opferwahl total vergriffen.

Jens Sembdner erzählt hier von seinem Umgang mit dem Schmerz, der die ganze Palette von Anklage, Nervenzusammenbruch bis hin zur Selbstaufgabe beinhaltet. Um dann, nach Erklärungen suchend, die scheinbar geordnete Welt zu hinterfragen und sie auf den Kopf zu stellen.

Der Autor nimmt uns mit auf eine Reise durch sein bisheriges Leben, in eine Welt unerklärlicher Phänomene: die Entdeckung der Nichtigkeit zu vieler Sorgen und Ängste, die Erfahrungen neuer Wertigkeiten, um »Die Wege des HERRN …« vielleicht doch für sich zu ergründen.

  • - Ein Gründungsmitglied der Popgruppe DIE PRINZEN kehrt sein Innerstes nach außen
  • - Warum auch das Negative im Leben eine Bereicherung sein kann
  • - Wie man heute von seinem Ringen mit Gott erzählen kann
  • - Nur Mut: Wie man tiefste Lebenskrisen überwinden kann

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Seitenzahl: 250

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JENS SEMBDNER

VON UNTEN

BETRACHTET

GEHT ES NUR

NACH OBEN

Mein Weg zurück

ins Leben

Gütersloher Verlagshaus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2016 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlagmotiv: © Dan Brownsword / Corbis

ISBN 978-3-641-19200-6V001

www.gtvh.de

INHALT

Vorwort

Warum es gut ist, dass ich mit diesem Buch so lang gewartet habe

Gedanken im Mai 2002

Hurra, es ist ein Sängerknabe!

Der feine Herr Star auf Heimatbesuch

Die Stasi war immer dabei

Hauptsache 100 Prozent Zustimmung

Man kann es ihr aber auch einfach nicht recht machen!

Na endlich! Wie die Frauen irgendwann doch noch in mein Leben traten

Silva - erste Freundin und die Frau fürs Leben

Kurz vor der Wende noch zur nationalen Volksarmee

Silva und der ErfolG

Hochzeit in Kanada

18.11.2001 - Der Tag, der alles verändert hat

Warum?

Plötzlich in eine Parallelwelt katapultiert

Der Nikolaus bringt auch mir Aspirin

Alle Menschen werden farben

12 Wochen auf Bewährung

Wie hältst du’s mit der Religion?

Volle Fahrt voraus auf Zickzack-Kurs

Dem Schicksal ist es egal, was ich will

Wo bin ich, wenn ich schlafe

Die Suche nach einer Antwort: Auf der Couch, zwischen Buchdeckeln und schweigend im Kreise von Mönchen

Ein Mann, ein Sohn

Fotos wurden Gefährlich

Der Wald steht schwarz und schweiget

Basteln, kochen, scheitern

Ich habe ihn überfordert

Seine Wurzeln interessieren ihn nicht

Und immer wieder der Glaube

Ich tauge nicht zum Prediger

Auf dem Sinai zur Ruhe kommen

Unglaublich, wozu der Mensch fähig ist

Von unten betrachtet

Am Ende betrachtet

VORWORT

Lieber Leser, lieber Kaufinteressent, lieber Beschenkter, der Sie vielleicht noch nicht so genau wissen, was Sie von diesem Präsent halten sollen. Ich möchte mich zunächst kurz vorstellen, schließlich verbringen wir vielleicht die nächsten 223 Seiten miteinander. Unter diesen Umständen sollten Sie von Anfang an wissen, mit wem Sie es zu tun haben. Mein Name ist Jens Sembdner, ich bin seit mehr als 25 Jahren Mitglied einer recht erfolgreichen deutschen Popgruppe. Ich singe dort die Bass-Stimme und spiele Keyboard. Zwei Funktionen, an denen Sie meine Position auf der Bühne leicht ablesen können. Man findet mich eher in Reihe zwei, und das in der Regel erst dann, wenn sich der Kunstnebel verzogen hat.

Ich bin also keiner der beiden Vorturner, wie wir unsere Frontmänner intern liebevoll nennen. Und ob Sie es glauben oder nicht: In dieser Bezeichnung schwingt nicht einmal ein winziges Körnchen Neid mit. Alle Beteiligten sind jetzt schon seit zweieinhalb Jahrzehnten ausgesprochen glücklich über diese Arbeitsteilung und nicht nur die beiden gesichtsprominenten Spitzenkräfte würden sie nie infrage stellen, sondern auch wir anderen nicht. Wirklich wahr. Gerade weil ich nicht den Drang nach ganz vorne verspüre, waren Freunde und Bekannte umso erstaunter über mein Vorhaben, dieses Buch zu schreiben und damit freiwillig mein Leben und mich in den Mittelpunkt zu rücken. »Warum legst Du Dein Innerstes blank, warum willst Du Deine Vergangenheit und Deine Gegenwart nicht schützen?« Die wenigen Menschen, denen ich davon erzählt habe, haben mir genau diese Fragen gestellt. Für mich gibt’s nur eine Antwort: weil die Zeit jetzt reif dafür ist. Es ist nun bald 15 Jahre her, dass sich meine Frau das Leben genommen hat. Dieser Schritt kam völlig unerwartet, ohne jede Vorwarnung, ein schwerer Schlag, den ich wirklich nicht kommen sehen konnte und der mich viele Jahre taumeln ließ. Silva hat das Schicksal herausgefordert, am Ende leider verloren und damit auch mein Leben für immer verändert.

Der Schmerz und die bohrende Frage nach dem »Warum« werden niemals ganz verschwinden. Inzwischen ist es mir aber gelungen, meine Trauer und meine Schuldgefühle so weit in den Griff zu bekommen, dass sie nicht mehr die Oberhand über mich gewinnen.

Bis zu diesem Punkt, an dem ich mich nun befinde, war es allerdings ein langer und kraftraubender Weg. Ich habe zehn Jahre gebraucht, um endlich dorthin zu gelangen. Es waren verschlungene Pfade, und ja, ich muss es wohl auch schon an dieser Stelle zugeben: Auch ich habe versucht, Abkürzungen zu nehmen, um diese Welt zu verlassen und dann hoffentlich schnell mit meiner Silva anderswo – wo immer das sein mag – wieder vereint zu sein.

Aber irgendjemand wollte mir das offenbar nicht gestatten. Ich musste lernen, dass meine Zeit noch nicht gekommen ist. Dazu später mehr.

So paradox es auch im ersten Moment klingen muss: Wahrscheinlich bin ich nach diesem traumatischen Verlust und am Ende dieser quälenden Jahre ein zufriedenerer Mensch als zuvor. Ich habe eine innere Kraft gefunden, auf die ich mich in der Regel verlassen kann.

Vor ein paar Monaten habe ich im Interview mit einem Magazin der evangelischen Kirche von meinen Erfahrungen nach dem Tod meiner Frau erzählt und von der Entwicklung, die dieser dramatische Einschnitt bei mir in Gang gesetzt hat. Kurz darauf hat mich ein Pfarrer angesprochen: »In meiner Gemeinde hat vor Kurzem eine Familie ihr Kind verloren. Die Eltern kamen zu mir, sie waren verzweifelt und hatten so viele Fragen. Ich war aber selbst viel zu erschüttert und wusste nicht, was ich sagen soll. Dann habe ich ihnen einfach erzählt, was Sie in diesem Interview gesagt haben. Und das hat sie erst mal ein bisschen beruhigt.«

Für mich war das der entscheidende Anstoß, um jetzt ein bisschen ausführlicher zu werden. Vielleicht kann ich dazu beitragen, dass andere Menschen für ihren Weg zurück ins Leben nicht wie ich mehr als zehn Jahre brauchen.

Ich bin weder Psychologe, noch Theologe, noch Therapeut. Alles, was ich zu bieten habe, sind mein eigenes Leben und meine Erlebnisse. Ich habe in dieser Zeit viele Menschen getroffen, die ähnliche Schicksalsschläge wegstecken mussten. Fast immer haben mir diese Gespräche mehr Kraft und Trost gespendet als all die Tipps von professionellen Therapeuten, die zwar in der Theorie wissen, was in meiner Situation zu tun wäre, die aber nur den Blick von außen haben und niemals zu 100 Prozent nachempfinden können, was in einem Betroffenen vorgeht. Es spricht vielleicht nicht für uns, aber wir Menschen sind mitunter ein wenig einfach gestrickt. Oft hilft es, wenn man jemandem begegnet, den es noch viel härter getroffen hat als einen selbst, um für einen kurzen Moment mit dem eigenen Leben wieder Frieden schließen zu können.

Es ist mit Sicherheit kein sonderlich sympathischer Wesenszug, aber wenn Sie sich ganz unten wähnen, sich dann umdrehen und sehen, dass es auch noch tiefer geht, fühlt sich Ihre eigene Position augenblicklich ein wenig komfortabler an.

Ich kann jeden verstehen, der findet, dass Privates auch privat zu bleiben hat, aber ich sehe keinen Grund mehr, meine Erfahrungen für mich zu behalten. Vielleicht erkennen Sie ja Gedanken und Situationen aus Ihrem eigenen Leben wieder. Vielleicht erinnern Sie sich an ähnliche Phasen, die Sie durchlitten haben, oder bekommen eine Ahnung, was Sie womöglich noch erwartet. Falls Sie zu den Glücklichen gehören, die noch nie einen Herzensmenschen verloren haben, möchte ich trotzdem wetten, dass der eine oder andere Denkanstoß für Sie dabei sein könnte. In der Regel verliere ich meine Wetten zwar, aber das hat mich noch nie davon abgehalten, mich auf neue einzulassen. Wenn auch nur ein Leser hinterher sagt, dass ich ihm helfen konnte, hat sich die Mühe schon gelohnt.

Nun also herzlich willkommen in meinem Leben, schauen Sie sich um, seien Sie neugierig. Ab sofort bin ich dann wohl ein gläserner Mensch und ins Schaufenster hänge ich das Schild: »Alles muss raus.«

WARUM ES GUT IST, DASS ICH MIT DIESEM BUCH SO LANG GEWARTET HABE

Ich war genau vier Wochen und 30 Stunden Witwer, als ich zum ersten Mal versucht habe, meine Gedanken niederzuschreiben. Ich befand mich zu diesem Zeitpunkt am Lagerfeuer, in Decken eingewickelt auf der Terrasse meines Hauses im Leipziger Umland. Wenige Tage zuvor war ich nach einem Aufenthalt auf der Intensivstation des Krankenhauses in Grimma auch aus der Psychiatrischen Klinik des Universitätsklinikums Leipzig entlassen worden, denn ich hatte meinerseits versucht, meinem Leben ein Ende zu setzen. Diese Notizen habe ich nun aus den Tiefen meiner Schreibtischschublade hervorgekramt, wo sie zwischen alten Steuerbescheiden und inzwischen auch nicht mehr ganz taufrischen Angeboten meiner Auto-Versicherung in Vergessenheit geraten sind. Es sind Zeilen voller Verzweiflung, in denen ich Gott und die Welt anklage – und jetzt, da ich sie wieder ans Licht gezerrt habe, möchte ich sie diesem Buch voranstellen. Denn diese Gedanken sind der Ausgangspunkt all dessen, was in den letzten fünfzehn Jahren mit mir passiert ist.

18. Dezember 2001

»Ich möchte schon wieder sterben, obwohl man mich gerade aus dem Reich der Davonziehenden zurückgeholt hat.

Es war einmal ... und dieses ›es war einmal‹ ist für mich unfassbar und mit keinem Gedanken zu akzeptieren und schon gar nicht zu begreifen. Es ist jetzt genau vier Wochen und 30 Stunden her, dass für mich meine Welt zusammengebrochen ist, mit aller Gewalt und allen Kräften, die man nur erahnen kann, mit der Energie aus allen Sternensystemen. Ich hatte sogar das Gefühl, dass derjenige, der bei einigen Gott, bei anderen Allah oder Buddha heißt, selbst erschrocken war über diesen Fehlgriff.

Erschüttert von der eingeschliffenen Routine bei der Auswahl seiner irdischen Opfer hat er womöglich den Sinn seines Auswahlprinzips infrage gestellt, wenn es überhaupt eines gibt. Ein unbegreiflicher überirdischer Schwachsinn, der uns hier auf Erden mit den Worten ›Die Wege des Herrn sind unergründlich‹ erklärt wird. Was für ein dummes Zeug, solche gravierenden Fehler mit unergründlichen Wegen zu erklären und dann auch noch zu erwarten, dass wir daraus Trost ziehen.

Meine Frau hat versucht, sich das Leben zu nehmen, und dieser Versuch ging tödlich aus. Ich schreibe diesen Satz bewusst so, angesichts der unglücklichen Umstände, die zu diesem unbegreiflichen Schicksalsschlag geführt haben, der mir immer noch nicht in meinen Kopf gehen will. Die Art, wie sie ihr Leben gelebt und ganz selbstverständlich die Liebe in den Mittelpunkt gerückt hat, hat alle, die sie kannten, fasziniert. Umso größer ist der Schock über den sinnlosen Tod meiner Ehefrau Silva Sembdner, mit der ich in meinem Herzen für immer vereint bleiben werde.

Gäbe es einen Gott, ich würde ihn fragen, ob er all das, was er so treibt, durchdenkt, oder ob er einfach mal in seinen Spieleschrank greift und sich immer wieder das Spiel ›Ich tu’ mal wieder jemandem weh‹ herausholt. Wenn ausgerechnet meine Frau mit ihrer reinen Seele sterben muss, meine Silva, die so vielen Menschen Liebe, Wärme und Kraft gegeben hat, die also all die Eigenschaften verkörperte, die uns doch eigentlich helfen sollen, die Aggressivität und den Egoismus unserer menschlichen Welt zu überwinden, dann stellt sich doch die Frage, was der Herrgott, oder wie auch immer er heißen mag, wirklich will.

Kann es sein, dass eine Göttlichkeit ein übermenschlicher Sadist ist, der Gefallen an der Selbstzerfleischung der Menschheit findet? Denn wenn es um die Rettung der Welt geht, scheint der da oben ein wenig indisponiert zu sein. Oder er hat ein für einen Gott eigentlich eher unübliches Stadium der Verkalkung erreicht. Wenn das der Fall sein sollte, dann gute Nacht, dann kann man nur hoffen, dass ein Nachfolger mit klarem Verstand in Sicht ist. Bewerbungen richten Sie bitte an folgende Anschrift:

An

Den-der-alles-weiß

Zur Selbstverarschung 1

42000 Höhenflughausen.

Und wenn jemand meint, die Existenz des gütigen Gottes beweisen zu können, dann werde ich ihm den Hintern versohlen, denn er kann es genauso wenig wissen wie ich und wie jeder andere Mensch auf dieser undurchsichtigen Welt. Aber tolerant scheint der Herr ja zu sein, wenn er das alles hier zulässt. Oder ist er eben doch einfach nur senil? Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluss: Er ist wie ein Horoskop, man muss die Sätze nur allgemein genug formulieren, dann treffen sie immer und auf jede Situation zu. Ich sage nur: ›Die Wege des Herrn sind unergründlich.‹«

So weit meine Anklage gegen den da oben. Und das war nur eine kurze, schriftliche Fassung, ich habe ihn im Gebet noch viel heftiger beschimpft und beleidigt und war dabei oft so deutlich und unflätig, dass sogar mancher unserer heutigen Gangsterrapper den mühsam antrainierten Killerblick verlieren würde, um sich ungläubig die Augen zu reiben. Inzwischen hat sich mein Verhältnis zu Gott deutlich verbessert. Ein langer Prozess, in dem ich noch eine ganze Weile in meinem Anklagemodus geblieben bin. Auch ein halbes Jahr nach Silvas Tod war es mir immer noch unmöglich, den Ansatz einer Erklärung oder auch nur ein bisschen Frieden mit der neuen Situation zu finden. Ich habe das ganze Thema aber bereits aus unterschiedlichen Richtungen beleuchtet und unglaublich viel gelesen. Das zeigen mir auch die letzten Zeilen, die ich damals niedergeschrieben habe. Danach stoppen meine ersten Buchnotizen. Für mich sind sie heute vor allem deshalb interessant, weil die ersten Wochen und Monate ohne Silva wie unter einem Schleier liegen und ich kaum noch weiß, wie ich zu welchem Zeitpunkt wirklich empfunden habe.

Nachdem ich nun also meinem angestauten Zorn freien Lauf gelassen hatte, sollten weitere fünf Monate ins Land ziehen, bis ich erneut den Drang verspürte, meine Gedanken niederzuschreiben.

GEDANKEN IM MAI 2002

»Am Tag kurz vor dem sechsten Monat nach dem Tod meiner geliebten Silva ist die Wut auf den, der alles weiß und alles kann, nach wie vor sehr groß. Und die Zeit, die ja bekanntlich alle Wunden heilt, scheint bei mir noch nicht vorbeigeschaut zu haben. Doch in den letzten sechs Monaten ist so viel in meinem Kopf und außerhalb passiert, dass ich immer noch damit beschäftigt bin, die einzelnen Momente voller Schmerz und Verzweiflung zu sortieren. Ich habe mich durch Religionen, Geisteswissenschaften, Berichte über Nah- und Nachtoderfahrungen gewühlt und muss mir den Vorwurf machen, dass ich meine grauen Zellen nicht schon eher angestrengt habe. Wir Menschen halten mit erstaunlicher Engstirnigkeit an unserem blinden Glauben an Materie fest. Was hat man auch schon für eine Wahl, wenn man seinen Geist nicht überstrapazieren will, dann bleibt man eben bei dem, was man sieht, und stellt nicht die Frage, wieso, weshalb und warum man ausgerechnet mit diesem Hintern und auf diesem Planeten herumsitzt. Und nun beschäftige ich mich wie wohl die meisten Menschen, die einen solchen Schicksalsschlag hinnehmen müssen, zum ersten Mal intensiver genau mit diesen Fragen.

Ich möchte gleich denjenigen wieder die Luft herauslassen, die jetzt schon wieder genau wissen, dass der Herrgott es eben genauso gewollt hat, dass ich mich jetzt diesen Gedanken stelle. Denn dann frage ich mich trotzdem, warum für einen simplen Denkanstoß ein so wertvoller Mensch wie meine Silva auf den ach so unergründlichen Weg des Herrn geschickt werden musste?

Doch zunächst soll der Leser, der schon so weit gekommen ist, erfahren, wie es zu diesem für mich völlig unverständlichen Ereignis kommen konnte. Wahrscheinlich handelt es sich nur noch um Atheisten, die anderen sitzen vermutlich gerade bei einer kleinen Bücherverbrennung und loben den Herrn.«

Nun könnte leicht der Eindruck entstehen, dass ich es mir zu leicht gemacht habe, dass ich Gott an allem die Schuld gegeben habe, um nur ja nicht bei mir selbst suchen zu müssen. Glauben Sie mir, der Eindruck täuscht, wenn Selbstzerfleischung olympisch wäre, dann hätte ich in den vergangenen Jahren Aussichten auf die eine oder andere Medaille gehabt. Meine eigenen Schuldgefühle waren und sind treue Begleiter.

Aber hätte ich das Buch damals tatsächlich beendet und veröffentlicht, so wäre es eine einzige Anklageschrift geworden, die mir geholfen hätte, Dampf abzulassen. Doch letzten Endes wäre sie genauso verpufft wie ein lautstarker Wutanfall.

Die Umstehenden verstummen bestürzt, in der eigenen Brust macht sich kurz Erleichterung breit, aber schon Sekunden später stellt sich die Frage: »Und jetzt?«

Ich hatte damals noch nicht die leiseste Ahnung, wie lange ich für eine halbwegs vernünftige Antwort auf dieses »Und jetzt?« tatsächlich benötigen würde.

Wie konnte es passieren, dass dieser 18. November 2001 mein Leben für immer auf so tragische Weise verändert hat? Lag es an unserem Zusammenleben mit all seinen Höhen und Tiefen? Wäre alles anders gekommen, wenn ich einen anderen Beruf hätte? Wenn ich mehr Zeit zu Hause verbracht hätte? Wieso bin ich heute eigentlich Musiker, obwohl das nie mein Ziel war? Jetzt muss ich wohl ein bisschen weiter ausholen. Keine Sorge, ich werde Ihnen die letzten 5 Jahrzehnte meines Lebens nicht in Echtzeit schildern, sondern sie auf das Wesentliche verdichten.

HURRA, ES IST EIN SÄNGERKNABE!

Aufgewachsen bin ich in Oschatz, zwischen Leipzig und Dresden, mein Hobby war schon seit der ersten Klasse der Fußball, vor der Schule, in der Pause, nach der Schule und selbstverständlich auch im Verein. Ich war Stürmer, ich wollte derjenige sein, der die Tore schießt, der gefeiert wird, der mit emporgestreckten Armen die Ovationen entgegennimmt. Im Laufe der Zeit hat sich dann auch zu mir herumgesprochen, dass es sich um eine Mannschaftssportart handelt und dass der Erfolg immer eine Teamleistung ist. Das Fundament jedes erfolgreichen Spiels ist die ganze Mannschaft. Die erste wichtige Lektion in meinem Leben, für die ich bis dato sehr dankbar bin. Vielleicht würde ich heute eine Bundesligamannschaft trainieren, vielleicht hätte ich aber auch meine kurze Karriere nach einer Verletzung in der Kreisklasse beendet. Diese Frage stellt sich nicht mehr, denn der Fußball wurde schon bald zur Nebensache. Meiner Musiklehrerin war meine Stimme positiv aufgefallen und deshalb hat sie meiner Mutter klargemacht, dass ich unbedingt in den Schulchor gehörte. Die Ohren meiner Mutter hätten nicht offener sein können, schließlich hat sie selbst ihr Leben lang von einer Musikkarriere geträumt. Sie stammt aus einer Bauernfamilie mit elf Kindern, sämtliche Brüder hatten etwas mit Musik zu tun, einer war Discjockey, der nächste spielte Schlagzeug in Tanzkapellen, ein anderer hatte es sogar zum Posaunisten der Staatskapelle in Halle gebracht. Nur für meine Mutter mit ihrer wirklich schönen Stimme war Musik nicht vorgesehen, als älteste Tochter musste sie sich um die Erziehung der jüngeren Geschwister kümmern. In der Landwirtschaft musste jeder, der alt genug war, auf dem Feld mit anpacken. An ihr blieb es hängen, sich zu Hause um die Kleinsten zu kümmern.

Auf den sanften Druck meiner Frau Mama hin besuchte ich von nun an einmal pro Woche die Musikschule Döbeln, Außenstelle Oschatz, und lernte dort Klavierspielen und Singen. Mit dem Fach Gesang kam ich ganz gut klar, nur die Klavierstunden schmeckten mir so gar nicht. Das lag vor allem an der Lehrerin, die mich optisch an die Zeichnungen der Witwe Bolte bei Wilhelm Busch erinnerte. Mit viel Strenge und völlig humorfrei quälte sie mich durch das Schuljahr. Wenn sie gedurft hätte, hätte sie wahrscheinlich genau wie das literarische Vorbild ihren Kochlöffel als Schlagwaffe eingesetzt. Der gefürchtete Höhepunkt ihres Schaffens war das Schuljahresabschlussvorspiel – schon allein dieser Name versprach wenig Spaß und dieses Versprechen wurde gehalten. Bei dieser Gelegenheit durften ihre Schüler vor Eltern und allerlei Fachkollegen ihr neu erworbenes Können beweisen.

Da ja bekanntlich der Applaus das Brot des Künstlers ist, war mir schnell klar, dass ich bei diesem Vorspiel jämmerlich verhungern würde, sollte ich mich an die schwarzen Kullern auf den Notenzeilen halten. Oder anders gesagt: Ich hatte das mir zugedachte Stück wirklich überhaupt nicht drauf. Also entschied ich mich kurzerhand, die Flucht nach vorn anzutreten und dem Publikum einen etwas anderen Hörgenuss zu bescheren. Ich stellte meine Noten auf das Klavier, setzte mich auf den Klavierhocker, blickte in die erwartungsvollen Gesichter im Saal, unter denen auch die meiner stolzen Erzeuger waren, und begann voller Inbrunst willkürlich Tasten zu drücken. Ich bemühte mich, während dieses Freiflugs trotzdem den Anschein zu erwecken, dass ich auf das Notenblatt blickte. Meine Zuhörer sollten denken, dass alles so vorgesehen war, auch wenn manche Passagen sogar mir in den Ohren wehtaten und mir ein wenig mulmig wurde. Allmählich bekam ich Angst vor den möglichen Reaktionen, doch es war noch zu früh, um bereits zum Schlussakkord überzugehen, wie auch immer dieser aussehen möge, wenn es so weit war. Nach ein paar weiteren beherzten Fingerübungen hatte auch dieses Meisterwerk irgendwann ein Ende. Ich entschied mich, den Schlussakkord dann doch den gängigen Standards der Harmonielehre unterzuordnen, stand vom Klavierhocker auf, verbeugte mich und nahm den Applaus des Auditoriums entgegen. Ein einschneidender Augenblick meines Lebens, denn mir wurde klar: Show ist alles. Ich überlegte kurz, ob ich noch stolz auf die Förderin meines einzigartigen Klavierspieltalentes deuten sollte, aber entschied mich dann aus Sicherheitsgründen dagegen. Ihr Kopf hatte ohnehin schon einen extremen Rotton angenommen. Auch nach meinem kleinen Guerilla-Auftritt absolvierte ich brav meine Musikstunden, schließlich waren sie der Preis, den meine Mutter forderte, wenn ich weiterhin unbehelligt Fußball spielen wollte.

Allerdings hatte inzwischen ein gewisser Ehrgeiz von ihr Besitz ergriffen und sie stellte sich die Frage: »Warum eigentlich nur der Schulchor? Warum nicht gleich zu den Thomanern in Leipzig?« Dort sollte ich mich nun also bewerben.

Ich wurde tatsächlich zur Aufnahmeprüfung eingeladen und bin gescheitert, die Gründe hat mir niemand verraten. Meine Gesangslehrerin konnte es einfach nicht glauben und hat sofort den Blick nach vorn gerichtet: »Schwamm drüber, das kann eigentlich gar nicht sein, dann probieren wir es eben in Dresden beim Kreuzchor!« Erst vor wenigen Jahren habe ich erfahren, warum ich wirklich in Leipzig nicht angenommen worden bin. Ich hatte schlicht und einfach die falsche Jacke an. Dank eines der begehrten Westpakete, die uns meine Großeltern väterlicherseits alle paar Monate zukommen ließen, war ich stolzer Besitzer eines olivgrünen Parkas mit NATO-Aufnäher. Ohne weiter darüber nachzudenken, hatte ich genau diesen zum Vorsingen angezogen, es war die Jacke, die ich zu dieser Zeit immer trug. Mit den militärischen Insignien des Klassenfeindes auf dem Ärmel galt ich als ideologisch nicht gefestigt genug, als dass man mich gefahrlos mit einem der beiden Vorzeigechöre der Deutschen Demokratischen Republik zu Konzerten ins westliche Ausland hätte reisen lassen können. Denn die größte Angst der Verantwortlichen war selbstverständlich, dass sich die Zahl ihrer Schäfchen im Zuge von Westreisen dezimieren könnte. Den Hintergrund meines Scheiterns hat mir der damalige Kantor der Thomaner, Hans-Joachim Rotzsch, verraten, als er mich 2008 besucht hat, weil ein japanischer Fan ihn um ein Autogramm von mir gebeten hatte. Neugierig wie er war, hatte er sich zuvor schlaugemacht, warum ich in meiner Band der einzige ehemalige Kruzianer – also Ex-Mitglied des Kreuzchors – und nicht wie meine Sängerkollegen Thomaner bin.

Meine Bewerbung in Dresden verlief nämlich erfolgreich, vermutlich war das Wetter an jenem Tag so gut, dass ich mich ohne Jacke vorstellen konnte.

Tatsächlich hatte die Niederlage in Leipzig an mir genagt. Ich war zu sehr Sportsmann, um gern zu verlieren. Statt also zu sagen: »Ätsch, Mama, ich wusste doch, dass das nichts wird!«, habe ich mich umso mehr ins Zeug gelegt, um beim Kreuzchor zu bestehen. Wenn ich etwas anfange, dann will ich es auch zum Erfolg führen. Ich war nun also in der 3. Klasse und würde nächstes Jahr das Internat der Kruzianer in Dresden besuchen. An Vereinsfußball war damit nicht mehr zu denken. Mein Fußballtrainer hat uns tatsächlich zu Hause besucht, er hat meine Mutter angebettelt, er ist sogar buchstäblich vor ihr auf die Knie gefallen. Aber es half nichts, die Entscheidung war gefallen, weißes Hemd statt Fußballtrikot, Bach statt BFC Dynamo, Kantaten statt kicken.

Immerhin hatten wir nachmittags eine ganze Stunde zur freien Verfügung und meine Klasse war genauso fußballverrückt wie ich. Blieb nur ein klitzekleines Problem: zwei Fußballfelder für 130 Schüler. Da traf es sich gut, dass ich einer der Ratzer war, so bezeichnet man bis heute den Notenwart. Ich musste also dafür sorgen, dass für die Proben und später auch bei den Konzerten die Noten für jeden einzelnen Sänger in der richtigen Reihenfolge parat lagen. Kraft dieses Amtes hatte ich die Möglichkeit, den Probensaal auch schon ein paar Minuten vor dem Ende der Chorprobe zu verlassen. Davon machte ich also regelmäßig Gebrauch und reservierte für meine Klasse eines der Fußballfelder.

Von nun an waren meine Tage auf die Minute durchgetaktet. Weckruf um 6:30 Uhr durch das liebliche Heulen einer Sirene, um 7:00 Uhr Frühstück, 7:30 Uhr Unterrichtsbeginn, dann die 1. Chorprobe, Mittagessen, 2. Chorprobe, Freizeitstunde, betreute Hausaufgaben, Abendessen, 3. Chorprobe, Zimmer aufräumen, eine halbe Stunde zum Entspannen, anschließend Licht aus und morgen dasselbe von vorn.

Viel Zeit, um mal für sich zu sein und über sich und sein Leben nachzudenken, blieb da natürlich nicht. Ich war nun Kruzianer, und als solcher hatte ich natürlich vor allem ein Ziel: Ich wollte auf der Liste stehen. Im Schaukasten im Erdgeschoss wurde regelmäßig die Konzertbesetzung für die nächste Reise ausgehängt. Es gab kaum etwas Schlimmeres als die Enttäuschung, wenn der eigene Name noch nicht einmal unter den Ersatzleuten auftauchte. Dann waren alle Mühen umsonst und ich wollte doch oben mitschwimmen.

Obwohl ich keiner der begehrten Tenöre war, sondern nur einer von vielen, die zunächst als erster Sopran und später als zweiter Bass eingesetzt wurden, hatte ich als Notenwart immer einen leichten Startvorteil. Schließlich musste auch diese Aufgabe unterwegs erledigt werden. Ich erinnere mich noch genau an meine erste Westreise, ich war 10 oder 11 Jahre alt, und wir sind in Alicante in Spanien aufgetreten, zum ersten Mal in meinem Leben habe ich echte Palmen gesehen.

Ich habe geheult vor Glück, mehr Westen ging nicht, Palmen!

Als DDR-Bürger hätte man so etwas sonst maximal auf Kuba erleben können. Aber der Weg von Karl-Marx-Stadt in die Karibik war nicht nur geographisch weit. Nur ein paar wenige, besonders verdiente Söhne des Sozialismus, durften dort hinreisen.

Mal den utopischen Fall angenommen, man hätte das nötige Kleingeld tatsächlich gehabt, wäre es trotzdem nicht möglich gewesen, einfach ins Reisebüro zu gehen und zu sagen: »Ein Ticket nach Kuba bitte!«

Wir Sängerknaben sind also schon in sehr jungem Alter an Orte gereist, die für die restliche Bevölkerung unerreichbar waren, höchstens noch vorstellbar für Wissenschaftler, die auf ihrem Gebiet als internationale Koryphäe galten.

In der Regel wurden eigens Flugzeuge für uns gechartert, denn auf Linienflügen wäre die Gefahr viel zu groß gewesen, dass wir am Ende noch mit Passagieren mit anderer Gesinnung ins Gespräch kommen könnten. Womöglich hätten sie uns merkwürdige Fragen gestellt oder uns seltsame Gedanken in unsere jungen Köpfchen gepflanzt.

Die erste Maschine, in der ich in meinem jungen Leben gesessen bin, war eine russische IL 18. Ich war noch nie zuvor geflogen und die Sache war mir äußerst suspekt. Glücklicherweise konnte mich das Flugpersonal umgehend beruhigen, hatte die Maschine doch immerhin vier Propeller und selbst für den nachgerade unmöglichen Fall, dass drei davon ausfallen würden, wäre sie sogar mit nur einem immer noch problemlos in der Lage zu steigen. Die IL 18 war also ein besonders gelungenes Beispiel für die technische Überlegenheit des Sozialismus. Ich dachte nur: »Genial, was wir so alles haben, nichts wie los.« Leider machen Luftmassen keine politischen Systemunterschiede, wenn sie überraschend steigen oder sinken. Das nachweislich beste Flugzeug der Welt musste sich durch heftige Turbulenzen kämpfen und wir wurden so heftig durchgeschüttelt, dass fast jeder von uns den Spuckbeutel in der Sitztasche mindestens einmal mit Inhalt versorgt hat.

Ein Jahr später habe ich dann in Japan zum ersten Mal erlebt, was Starkult bedeutet. Am Flughafen Tokio hatte ich als Erster die Passkontrolle hinter mir gelassen und lief auf eine große Glasscheibe zu, von der aus man in den Ankunftsbereich blicken konnte. Ich gucke also nach unten und plötzlich erhebt sich ein lautes Kreischen. Meinen die mich? Kann nicht sein. Ich dreh mich um, 30, 40 Meter hinter mir keine Menschenseele, es war also doch keine Verwechslung. Also wieder Richtung Scheibe. Wieder lautes Kreischen. In Japan hatten wir ein paar wirklich enthusiastische Fans, die uns während der dreiwöchigen Tournee sogar hinterhergereist sind. Und nicht nur das. Die Jüngeren von uns mussten an den Konzerttagen Mittagsschlaf halten, das war gesetzlich vorgeschrieben, denn so ein Konzert galt als Nachtarbeit, weshalb wir tagsüber sozusagen vorschlafen mussten. Die Japanerinnen wussten genau, in welchem Hotel wir untergebracht waren.

Sie haben sich über die Feuertreppen in unser Stockwerk geschlichen und an die Türen geklopft. Sie wollten mit uns reden, Fotos machen, Autogramme bekommen. Zum ersten Mal hatten die Erzieher, die uns auf den Reisen begleiten mussten, wirklich etwas zu tun. Ständig wurden die Gänge und die Zimmer kontrolliert, ob sich dort auch ja niemand versteckte. Nach dieser Japan-Reise hatte ich eine japanische Brieffreundin aus Osaka, die Deutsch gelernt hat und später mal bei uns in Oschatz zu Besuch war. Nach ein paar Jahren ist dieser Kontakt dann eingeschlafen, vielleicht hatte sie inzwischen einen Mann kennengelernt, der es seltsam fand, wenn sie diesem ominösen Deutschen da immer wieder Kindergedichte auf Deutsch schickte.

Während unsere Begleiter sonst ständig darauf bedacht waren, uns möglichst in der Gruppe zusammenzuhalten, hatten wir ausgerechnet in Tokio zwei Stunden für uns zur freien Verfügung. In diesem unübersichtlichen Moloch wäre es nun wirklich ein Leichtes gewesen, sich zu verirren, die falsche U-Bahn zu nehmen und plötzlich ohne jede Absicht unter dem Verdacht der Republikflucht zu stehen. Aber es war natürlich aufregend, eine fremde Welt. Ich bin zufällig in einem Kaufhaus gelandet, in dem man um den Rabatt würfeln konnte, der einem anschließend auf seine Einkäufe gewährt wurde. Ich hatte Glück, der Würfel zeigte 85 %, deshalb konnte ich vom Taschengeld, das wir auf diesen Reisen bekamen, zwei Digitaluhren für meine Brüder kaufen. Denn im Verhältnis zu meinen Geschwistern mussten immer wieder Wogen geglättet werden.

DER FEINE HERR STAR AUF HEIMATBESUCH

Willst Du gelten, mach Dich selten: Sehr zum Leidwesen meiner beiden Brüder galt dieser Satz tatsächlich jedes Mal, wenn ich sonntags hin und wieder für ein paar Stunden zuhause in Oschatz vorbeischauen konnte. Morgens hatten wir noch im Gottesdienst gesungen, dann stieg ich um 11:36 Uhr in den Zug, um 13:00 Uhr holte mich mein Vater vom Bahnhof ab, um 18:00 Uhr musste ich bereits den Rückweg Richtung Internat antreten. Aber in den 5 Stunden dazwischen stand ich nonstop im Mittelpunkt. Auf dem Tisch stand – deutlich später als sonst – das Essen, das ich mir gewünscht hatte. Wie geht’s Dir, Jens? Erzähl doch mal von Italien. Und wohin geht die nächste Reise? Bleib doch sitzen, Du musst nicht abräumen. Möchtest Du heute gerne noch irgendwas unternehmen? Such Dir was aus!