Vor einem großen Walde - Leo Vardiashvili - E-Book

Vor einem großen Walde E-Book

Leo Vardiashvili

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Beschreibung

Vom intensiven Leben in einer gefährlichen Welt Georgien, 2010. Auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg bleibt Sabas Mutter zurück. Erst Jahre später hat sein Vater genug Geld, um nach ihr zu suchen. Doch in Tbilissi verschwindet der Vater, und auch der ihm folgende ältere Bruder. Nun ist es an Saba in das ihm unbekannte Land aufzubrechen. Begleitet von den Stimmen seiner georgischen Familie folgt Saba den Hinweisen, die sein Bruder ihm hinterlassen hat. Graffiti, versteckte Notizen, ein Manuskript. Und eine Warnung: Kehre um! Wie im Märchen wird es lebensgefährlich für Saba. Er muss in das von Russland besetzte Südossetien reisen, durch einen großen Wald, der eine Grenze ist: zwischen Ländern, zwischen Wahn und Wirklichkeit, zwischen Leben und Tod. Ein kraftvolles Leseerlebnis, eine Geschichte mit einem alles überstrahlenden Glauben an verbleibende Inseln von Menschlichkeit. »Ein überwältigender Roman. Voller Witz und tiefster Menschlichkeit.« Khaled Hosseini, Autor von Drachenläufer »Romane wie dieser leuchten einem den Weg.« The Guardian »Ein betörender Roman« The Sunday Times

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Vor einem großen Walde

Leo Vardiashvili ist in Tbilissi aufgewachsen.  Als er zwölf ist, immigriert seine Familie aus dem postsowjetischen Georgien nach England. Er hat in London Literatur studiert und arbeitet heute als Steuerberater in Birmingham. 

Georgien, 2010. Auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg bleibt Sabas Mutter zurück. Erst Jahre später hat sein Vater genug Geld, um nach ihr zu suchen. Doch in Tbilissi verschwindet der Vater, und auch der ihm folgende ältere Bruder. Nun ist es an Saba in das ihm unbekannte Land aufzubrechen. Begleitet von den Stimmen seiner georgischen Familie folgt Saba den Hinweisen, die sein Bruder ihm hinterlassen hat. Graffiti, versteckte Notizen, ein Manuskript. Und eine Warnung: Kehre um! Wie im Märchen wird es lebensgefährlich für Saba. Er muss in das von Russland besetzte Südossetien reisen, durch einen großen Wald, der eine Grenze ist: zwischen Ländern, zwischen Wahn und Wirklichkeit, zwischen Leben und Tod.Ein kraftvolles Leseerlebnis, ein Blick auf die inneren Verwüstungen von Besatzung und Krieg, beseelt von unerschütterlicher Hoffnung und dem Entschluss zu überleben, ohne die Toten zu vergessen.

Leo Vardiashvili

Vor einem großen Walde

Roman

Aus dem Englischen von Wibke Kuhn

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Hard by a Great Forest bei Riverhead Books, ein Verlag von Penguin Random House LLC, New Yorkclaassen ist ein Verlagder Ullstein Buchverlage GmbH© 2024 by Leo Vardiashvili© der deutschsprachigen Ausgabe2024 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAutorinnenfoto: © Kiera Fyles, Palmer PhotographyE-Book powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.ISBN 978-3-8437-3125-6

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1.

Widmung

Für meine Eltern – Tina, Malkhaz und Ketino.Nicht in tausend Jahren hätte ich euren Mut gehabt.

Motto

Ein Mann ohne Geschichte ist wie ein Baum ohne Wurzeln.

Ansor Sulidze

1.

Wo ist Eka?

»Wo ist Eka?« Das haben wir bestimmt tausendmal gefragt.

Unsere Mutter ist geblieben, damit wir fliehen konnten.

Wissen Sie, der Krieg übertönt im Grunde alles. Tatsächlich werden Sie feststellen, dass eine Salve aus einer Kalaschnikow, die direkt in Ihrer Straße abgeschossen wird, fast alle anderen Sorgen verstummen lässt. Nachts hörten wir Gewehrschüsse, morgens sahen wir Metall in den Ritzen des Gehwegs blitzen, als wären aus den Wolken über Tbilissi Patronenhülsen geregnet. So weit klingt alles ganz machbar.

Doch wenn eine verirrte Panzergranate neben Ihrem Schlafzimmerfenster die Schallmauer durchbricht, weiter­dröhnt und den Lebensmittelladen an der Ecke mitsamt der darüber lebenden Familie auslöscht, dann beginnen Sie, Pläne zu schmieden. Unsere Eltern, Irakli und Eka, planten unsere Flucht, vergiss die Scheidung.

Das Land zu verlassen bedeutete fragwürdige Bestechungsgelder, gestohlene Reiseerlaubnisse und gefälschte Bescheinigungen. Das Geld, das unsere Familie zusammenkratzen konnte, reichte kaum für einen Elternteil und uns Kinder. Eka hatte nicht mal einen Pass. Gemeinsam konnten wir also nicht ausreisen.

In der Zwischenzeit kam der Bürgerkrieg so richtig in Fahrt, Einschusslöcher an vertrauten Orten und in geliebten Menschen waren keine Überraschung mehr. Wir mussten gehen. Eka blieb, und wir flohen mit Irakli.

Und so wurden wir mutterlos, Sandro und ich. Ich war acht, und Sandro war zwei Jahre älter. In so einem Alter war der Altersunterschied ein ganzes Meer an Erfahrung. Trotzdem hatte Sandro keinen Schimmer, was es bedeutete, mutterlos zu sein, und ich erst recht nicht.

Als wir an den kapitalistischen Ufern des Vereinten Königreichs landeten, ertönten keine Fanfaren, und es gab auch keine Empfangszeremonie. Sie steckten uns ohne großes Federlesens in ein Flüchtlingsheim in Croydon. In dieser kalten Lagerhalle mit den Stockbetten, Gemeinschaftstoiletten und Essenmarken spukten nervöse Gesichter durch die Korridore.

Irgendwann schaltete tief in den Eingeweiden des Innenministeriums das Getriebe, ein Bildschirm erwachte flackernd zum Leben, wir bekamen unseren Flüchtlingsstatus bewilligt, und in unserer Akte wurde »Tottenham, N17« vermerkt.

In diesen frühen Tagen stolperten wir durch eine Stadt, die wir nicht kannten. Das Tottenham von 1992 war nicht das London, das wir uns vorgestellt hatten. Keine Zylinder, kein Smog, kein Holmes, kein Watson, keine Ladys, keine Gentlemen und kein Nachmittagstee. Zumindest nicht für uns. Wir lebten in einem anderen London. In unserem London fluchten und spuckten die Leute, tranken, stritten sich und lachten in gereizten Ausbrüchen. Sie sprachen auf seltsame Art, die wir nicht zu fassen bekamen. Sie gingen gebeugt unter dem Gewicht des Mäuler-die-gestopft-werden-Müssens, Rechnungen-die-gezahlt-werden-Müssens und Wie-viele-Tage-noch-bis-zum-Zahltag.

Unser Papa bewegte sich unter ihnen. Unser Irakli – ein Mann auf dem offenen Meer ohne Kompass. Auf der Suche nach einer Frau, die er zweimal verloren hatte. Das erste Mal bei einer Scheidung, über die niemand sprach und die uns geheimnisumwittert erschien. Und ein zweites Mal in einem Krieg, der sie in einem Atemzug wiedervereinte und trennte.

»Wo ist Eka?«

»Bald, Jungs. Wir bekommen sie schon zurück«, sagte Irakli immer wieder. Ein Versprechen, noch keine Lüge.

Er arbeitete sich krumm und lahm, um Eka aus dem Land rauszukaufen. Er pflückte Obst, strich Wände, stapelte Regale in Lagerhäusern, schwitzte und schuftete in namenlosen, fensterlosen Fabriken in ganz Nord-London.

Diese Arbeit laugte ihn schleichend, aber gründlich aus. Wir sahen zu, wie er sich aufrieb. Einmal schlief er bei Tisch ein, den Löffel fast am Mund. Wir lachten uns halb tot. Manchmal lacht man über etwas, nur um ihm seine Macht zu nehmen.

Es ist schwierig, Tausende zusammenzusparen, wenn man nur einzelne Pfund und Pennys weglegen kann. Noch schwieriger ist es, das Zusammengekratzte in ein brennendes Land zu schicken. Georgien fraß sich selbst bei lebendigem Leibe auf – es gab keine nennenswerten Banken, keine funktionierende Post. Und wer geflohen war, wollte nicht wieder hinfahren.

Doch irgendwie trieb Irakli einen Mann auf, der bereit war, gegen Bezahlung nach Georgien zu fliegen. Es war ein großer, dünner Mann mit ernsten Augen. Er sah aufrichtig aus und sagte die richtigen Sachen. Er hielt seine Zigarette genau richtig. Er aß unser Essen und trank unsere Getränke. Er nahm die für Eka gesparten Pfunde und Pennys und ging davon, nachdem er uns lächelnd die Hände geschüttelt hatte. Für eine Weile hörten wir auf, nach Eka zu fragen.

Ich kann mich nicht mehr an den Namen des aufrichtigen Mannes erinnern, ich weiß nur, dass er in meinen Träumen tausend Tode durch meine Hände gestorben ist. Eka hat das Geld nie bekommen, und wir haben den aufrichtigen Mann nie wiedergesehen. Irakli betrank sich, und wir hörten in unserem Kinderzimmer, wie er den Wohnzimmertisch zerschlug. Am nächsten Morgen war der Tisch wieder zusammengeklebt und Irakli in der Arbeit.

Seine Bemühungen, uns eine Mutter zu kaufen, wurden immer hektischer. Angespannte Telefonate, manchmal auf Georgisch, manchmal in gebrochenem Englisch, gedämpft von einer geschlossenen Tür, wurden oft jäh von Iraklis zornig dröhnender Stimme beendet.

Wir fanden sonderbare Hinweise im ganzen Haus. Das aus dem Anschluss gerissene Telefonkabel, ungewohnte Dellen im Putz, unters Sofa gestopfte Fetzen zerrissener roter Briefe von den Banken und feine Splitter von zertrümmertem, eilig zusammengefegtem Geschirr.

»Euer Papa ist eben ein Tollpatsch« war alles, was er sagte. »Ein furchtbarer, furchtbarer Tollpatsch.«

Wir verstanden es damals noch nicht, aber heute schon. Irakli versuchte alles, um Ekas Freiheit zu erkaufen. Und es gelang ihm nicht.

»Wo ist Eka?« Wir wollten nicht fragen, aber wir konnten nicht anders.

»Ich arbeite dran, Jungs.«

Ungefähr ein Jahr nach unserer Ankunft in London wurden wir eingeschult, und das kostete Geld. In dem Winter ging unsere alte Waschmaschine kaputt, und das kostete Geld. Irakli fiel ein Betonziegel auf den Fuß, und er konnte schlanke zwei Monate nicht arbeiten. Das kostete viel Geld. Ein paar Pfund schafften es zu Eka, aber nie genug. Die Dinge in Georgien kosteten nämlich auch Geld. Und so ging es immer weiter.

In den nächsten sechs Jahren verloren wir Eka Stück für Stück. Wir verloren sie an Gasrechnungen und Lebensmitteleinkäufe, an Bustickets und Federmäppchen, an Bücher und Schuluniformen.

Iraklis Versprechen gerannen langsam zu einer Lüge, bis wir eines sonnigen Januarmorgens den Anruf bekamen: Eka ist tot. Wir atmeten schuldbewusst einen kleinen Seufzer der Erleichterung. Jetzt brauchten wir nicht mehr zu fragen. Irakli konnte aufhören, uns Lügen zu versprechen.

Während wir uns langsam durch den klammen, schneelosen englischen Winter schleppten, drehte jemand bei unserem Vater den Lautstärkeknopf herunter. Manchmal trieb er ins Zimmer, schaute sich um und ging wieder hinaus, ohne etwas zu sagen. Er schaute fern mit abwesenden Augen, eine Tasse kalt gewordenen Kaffee in der Hand. Unser Geschirr blieb heil.

In diesem Winter alterte unser Papa vor unseren Augen um ein Jahrzehnt. Seine Haare wurden schockartig grau. Wir sahen ihn nie weinen, aber er rannte oft aus dem Zimmer, weil er plötzlich dringend etwas zu erledigen hatte.

»Bist du schon mal vom Blitz getroffen worden, mein Freund?«, fragte er jeden, den er damals traf.

Verrückter Osteuropäer, dachte derjenige dann beim fiebrigen Funkeln in den Augen unseres Vaters und dem Akzent, den keiner zuordnen konnte.

»Die Wahrscheinlichkeit, vom Blitz getroffen zu werden, ist größer als die, einen Georgier außerhalb von Georgien anzutreffen.«

Vielleicht lachte derjenige dann aus Höflichkeit.

»Hab ich selbst ausgerechnet.« Er tippte sich an die Schläfe. »Du hast großes Glück, mein Freund.« Und dann glänzten seine Augen. »Aber auch sehr großes Pech.« Er wartete darauf, dass man ihn fragte, warum. »Weil die Wahrscheinlichkeit, im Lotto zu gewinnen, viel größer ist. Du hättest Millionär werden können, mein Freund. Stattdessen hast du mich getroffen.«

Dann lachte er, laut und aus ganzem Herzen. Sein Gegenüber auch. »Komm, ich schenk dir ein Glas ein, zur Wiedergutmachung.«

Nach dem Anruf mit der Nachricht von Ekas Tod war es schwierig, die richtigen Worte zu finden, und noch schwieriger, sie laut auszusprechen. Also schlossen wir einen unausgesprochenen Pakt, unsere Mutter nie wieder zu erwähnen.

Dieser Pakt leistete uns elf lange Jahre gute Dienste. Doch im letzten Jahr begann Irakli, diese Absprache zu brechen. Dann sprach er über Orte, an denen er mit Eka gewesen war, die Parks und Cafés, in denen sie gesessen hatten, die Spuren und Wege, die sie durch Tbilissi gezogen hatten. Tag für Tag verlor er mehr Interesse an der Zukunft, während sich seine Augen mit der Vergangenheit füllten.

Er schaute sich oft Flüge nach Tbilissi an, buchte aber nie einen. Ein paarmal kaufte er ein Ticket, benutzte es dann aber nicht. Er packte nicht mal eine Tasche. Er schien Angst zu haben.

»Diese Leute pflegen ihren Groll noch bis übers Grab hinaus.«

Er konnte nicht erklären, wen er mit »diese Leute« meinte. Wir nahmen an, dass er alte Freunde oder Bekannte meinte, die wir gekränkt hatten, als wir flohen, während sie es nicht konnten.

Bei seinem nächsten zum Scheitern verurteilten Versuch packte er einen Koffer. Er ging sogar aus dem Haus. Ein paar Stunden später kam er zurück, beschämt und kleinlaut. Als sie am Gate seinen Flug aufriefen, gestand er uns, war er einfach sitzen geblieben und hatte zugeschaut, wie alle anderen einstiegen. Als sie ihn über Lautsprecher ausriefen, ging er davon.

Doch mit jedem Versuch rückte er seinem Vorhaben ein wenig näher, bis er eines Tages nach Heathrow fuhr und nicht zurückkam. Wir hörten erst wieder von ihm, als er am Flughafen von Tbilissi gelandet war. Seine ersten Berichte aus Georgien strotzten nur so vor nervöser Energie, als ob er das alles nicht verkraften könnte. »Ich kann nicht glauben, was ich hier sehe, ich kann es einfach nicht glauben«, sagte er zu uns am Telefon.

Was genau er nicht glauben konnte, wurde uns nicht ganz klar. Sandro und ich ließen ihn zwei Monate in Ruhe. Wir waren beide in unseren Zwanzigern, hatten unser eigenes Leben und spürten keine große Sehnsucht nach einem lang verlorenen Heimatland.

Dann blieben seine Anrufe und Mails immer öfter aus. Sandro und ich passten nicht auf. Bis uns seine letzte Mail dazu zwang:

Meine lieben Jungs, ich habe etwas getan, was ich nicht mehr rückgängig machen kann. Ich muss fort von hier, bevor mich diese Leute kriegen. Vielleicht bin ich in den Bergen sicher. Ich habe eine Spur hinterlassen, die ich nicht auslöschen kann. Folgt ihr nicht. Ich liebe euch, so gut ich kann.Irakli

Die Mail ergab überhaupt keinen Sinn. Irgendetwas Schlimmes verbarg sich in diesen Worten. »Diese Leute«? Wer war hinter ihm her? Und was Berge angeht – ganz Georgien ist ein einziger verdammter Berg.

Wir riefen an und schrieben Mails, immer wieder, bekamen aber keine Antwort. Sandro belästigte wochenlang die Polizei von Tbilissi, die Britische Botschaft und jeden, der ihm zuhören wollte. Er überzeugte sogar eine Wohltätigkeitsorganisation für Obdachlose, dass sie überall in Tbilissi Plakate aufhängte. Auf den Postern war Irakli abgebildet und eine Nachricht, mit der er gebeten wurde, sich zu melden.

Suchplakate verströmten das Flair des Zuspätkommens, aber ich sagte nichts. Die Suche nach Irakli nahm Sandros Zeit vollkommen in Anspruch. Vielleicht sah Irakli die Plakate, vielleicht auch nicht. Vielleicht hatte er Tbilissi inzwischen schon verlassen, vielleicht auch nicht. Es gab für uns im fernen London keine Möglichkeit, es herauszufinden. Und so wanderten Sandros Gedanken genau dorthin – er würde selbst nach Georgien fliegen.

Da gab es allerdings zwei Probleme. Zum einen wusste ich, wie schwer es Sandro fiel, Georgisch zu lesen und zu schreiben. Die Schrift ist ein verschnörkelter Albtraum, der aussieht, als wäre er aus einem Tolkien-Buch. Das englische Alphabet hat sechsundzwanzig Buchstaben. Die Georgier mussten ihr Alphabet mühsam auf achtunddreißig beschränken und dann zusehen, wie sie damit zurechtkamen. Zweitens war unklar, bei wem Sandro wohnen sollte. Unsere Familie war in den Jahren unserer Abwesenheit ausgestorben. Großmütter, Großväter, Onkel, Tanten und Cousins waren verloschen wie billige Lichterketten. Wir hatten alle ihre Beerdigungen verpasst. Bei Ekas Tod war keine Familie mehr übrig, die sich an ihrem Grab hätte versammeln können. Wir sind nicht mal sicher, wer sie begraben hat oder wo genau.

Trauern, ohne wirklich abschließen zu können, kann einen ziemlich von der Seite erwischen. Es ist ein uralter, tief in den Knochen sitzender Instinkt. Wenn unsere Lieben sterben, ist es wichtig, dass wir den Beweis zu sehen bekommen. Zu unserem eigenen Besten. Dazu sind Begräbnisse doch da, oder?

Vielleicht hat eine uralte hasserfüllte Kreatur unsere Familie mit einem Fluch belegt. Vielleicht auch nicht. So oder so, Ekas Seite der Familie – die Sulidzes – ist schnell ausgestorben. Iraklis Seite der Familie – die Donauris – war schon ziemlich dezimiert, bevor wir überhaupt aus Tbilissi herausgekommen sind. Das sind die zwei Hälften von mir. Ich bin halb Eka und halb Irakli. So wie auch mein Name – Saba Sulidze-Donauri.

Mit diesem tief in den Knochen steckenden Bedürfnis nach Abschließen-Können, das einfach nicht zu stillen war, lebte ich mein Leben in London und dachte dabei ständig an die Toten. Ich fragte mich, was sie mit einem Abend anfingen, was sie für Pläne fürs Wochenende hatten. Dann erst fiel mir wieder ein, dass sie ja schon gestorben waren – eine Schneekugelminiatur des ersten Mals, als ich die Todesnachricht bekam. Häppchenweise Herzschmerz.

Ich wurde geradezu besessen von ihnen. Ich meinte, Züge von ihnen in den Gesichtern fremder Menschen zu erkennen, ihre Stimmen aus dem Lärm in der U-Bahn herauszuhören. In den listigen Lücken zwischen meinen Gedanken erwachten die Toten wieder zum Leben. Und mir gefiel das.

Ich stellte mir vor, was Lena in einer bestimmten Situation sagen würde, oder Eka oder Ansor oder Surik. Schon bald krochen mir ihre Stimmen in den Kopf. Ich redete mit ihnen, wenn ich sie brauchte, und sie begannen zu antworten:

Ansor, mein Superhelden-Onkel, der mir alles Nützliche beigebracht hat, was ich weiß. Er spendete zwei Finger für die sozialistische Sache durch die schmerzhafte Methode einer fehlerhaften Hydraulikpresse in einer sowjetischen Autofabrik. Er war die langsame, ruhige Stimme der Vernunft.

Lena, meine spartanische Großmutter. Zwei Weltkriege, die permanente Diät des Stalinismus, kommunistische Pionierlager und der Beschuss durch deutsche Soldaten machten ihr Rückgrat zu Stahl.

Eka, die Mutter, die zurückblieb, damit ihre Kinder fliehen konnten. Uns beiden brach das Herz, wenn wir miteinander sprachen.

Surik, unser saufender Nachbar und mein erster Freund. Er war wie ein großer Bruder für meine Mutter und brachte mich immer zum Lachen, egal, wie mir zumute war. Er sprach mit mir, wann immer ihm danach war.

Nino, die Hüterin meines dunkelsten Geheimnisses. Meine Schwester in jeder Hinsicht, außer in der Frage der Blutsverwandtschaft. Ihre Stimme war am schwersten zum Schweigen zu bringen.

Ich wusste, dass es grausam war, diese groben Karikaturen am Leben zu halten, ihnen ihren Tod für immer vorzuenthalten. Schließlich brachte ich sie eine nach der anderen zum Schweigen. Es tat mir genauso weh wie ihnen.

Auf jeden Fall würde Sandro am Flughafen nicht von einem Willkommenskomitee empfangen werden. Doch er konnte Irakli unmöglich da draußen allein lassen. Sandro, der zu diesem Zeitpunkt schon fast dreißig war und nichts außer Büchern und einer Mietwohnung sein Eigen nannte, dümpelte in einer ausweglosen Abteilung des öffentlichen Dienstes dahin.

Also drückte er eines Tages in seinem Londoner Leben auf den Pausenknopf, packte einen Koffer, kaufte sich ein Flugticket nach Tbilissi und fuhr los.

Zu Anfang telefonierten wir täglich. Er erzählte mir von dem Ärger, den er bei seinen Versuchen hatte, Irakli aufzuspüren. Da sein Nachname Sulidze-Donauri in einem funkelnden britischen Pass stand, war die Polizei in Tbilissi nicht bereit, ihm allzu viel zu helfen.

Irakli besaß ebenfalls einen britischen Pass, und wie sich bald herausstellte, rührte die Polizei keinen Finger, wenn die Britische Botschaft keinen Druck auf sie ausübte, und die Botschaft war nicht gerade erpicht darauf, eine Arbeit zu übernehmen, die die georgische Polizei hätte erledigen sollen.

»Manchmal verschwinden Leute eben einfach«, hatte der Ermittler zu Sandro gesagt und gelächelt. Irgendwas stimmte nicht mit dem, sagte Sandro zu mir.

Er begann seine eigene Suche anzuleiern, dort, wo wir früher gewohnt hatten, im staubigen Labyrinth von Sololaki, zwischen baufälligen Straßen und zerbröselnden Häusern. Er hörte, dass jemand in zwielichtigen Bars gesehen worden war, auf den Iraklis Beschreibung passte. Doch die Spur führte zu nichts.

Sandro hängte mehr Plakate auf. Immer noch nichts. Er fand einen Hostelbetreiber, der Iraklis Foto wiedererkannte. Vielleicht hatte er vor Monaten in diesem Hostel gewohnt, aber vielleicht auch nicht. Wieder eine Sackgasse.

Dann gab es noch einen Ladenbesitzer, der sich definitiv an Irakli erinnern konnte, aber nur weil Irakli in seinen winzigen Laden hereingeplatzt war, um Campingausrüstung zu kaufen. »Er sah aus, als wäre er völlig neben der Spur«, erklärte der Ladenbesitzer Sandro. »Suchte Zelte und Schlafsäcke, wo ich doch bloß Zigaretten und Zeitschriften verkaufe.«

Sandro begann darüber zu reden, dass er nach London zurückkommen wolle. Er war schon wochenlang allein in Tbilissi unterwegs und suchte nach Spuren, die Irakli vor Monaten dort hinterlassen haben könnte. Er suchte verzweifelt nach einem Hinweis, nach irgendetwas, was ihm Mut machen würde, seine Suche fortzusetzen. Und ich schätze, er hat etwas gefunden, denn die Dinge nahmen eine unerwartete Wendung.

Sandros Mails begannen zu schrumpfen, wie zuvor die von Irakli. Er rief mich nicht mehr an. Er verkaufte seinen Laptop, schrieb mir nur noch aus Internetcafés. Und auch dann nur immer ein paar wenige Worte. Seine letzte Mail lautete:

Ich hab Iraklis Brotkrumenspur gefunden. In seiner alten Wohnung in Sololaki. Keine Zeit, es dir zu erklären. Ich mail dir, wenn ich mehr weiß. Sandro

Und das war’s – seitdem hab ich nichts mehr von Sandro gehört. Wochen sind ins Land gegangen. Meine panischen Mails und Anrufe bei der georgischen Polizei, der Britischen Botschaft und den Krankenhäusern von Tbilissi haben mich auch nicht weitergebracht. Die ganze Zeit über wusste ich, was getan werden musste. Ich wollte bloß nicht wahrhaben, mich der Sache stellen zu müssen …

Tja, und hier bin ich, um mich der Sache zu stellen. Ich sitze in einem Taxi, mitten in Tbilissi, Georgien. Der Fahrer, ein Mann namens Nodar, raucht Kette, als würde sein Leben davon abhängen. Etwas Seltsames geht in dieser Stadt vor – es kommt mir vor, als hätte ich die wichtige Information verpasst. Für diese späte Uhrzeit sind zu viele Leute auf den Straßen unterwegs. Sie drängen sich neben den Straßenlaternen, rauchen, reden und schauen sich über die Schulter.

Je weiter wir nach Tbilissi hineinfahren, desto sonderbarer wird es. An den Ecken stehen leere Polizeiautos mit lautlosem Blaulicht. Nodar fährt an einer Reihe von geparkten Pick-ups vorbei, auf deren Ladeflächen sich schlammverschmierte Hundeartige drängen.

»Sind das Hunde?«, frage ich.

Nodar ignoriert mich, während er durch seine Windschutzscheibe späht. Vor uns versperrt ein stumm aufblitzendes Polizeiauto den Weg. Dahinter erhasche ich einen Blick auf schimmerndes Wasser, wo eigentlich gar kein Wasser sein dürfte. Nodar macht einen großen Bogen, um einem breiten Schlammstreifen auszuweichen, der sich unerwartet vom Berg auf die Straße geschoben hat. Der feuchte Matsch dämpft das Rattern der Stoßdämpfer. Als ich aufschaue, sehe ich es.

Direkt vor uns auf der Straße steht ein Nashorn. Nodar runzelt die Stirn und steigt auf die Bremse. Das Nashorn wendet seinen wuchtigen Kopf in einer seltsam menschlichen Geste von Nodars Scheinwerfern ab. Hinter dem Nashorn sieht man ein zerstörtes Schaufenster, nichts als Glas und Chrom. »Swatch« steht auf dem zerbrochenen Schild. Die sonst ordentliche Ausstellungsware ist wie funkelnde Eingeweide auf dem Gehweg verteilt. Das war wohl das Werk des Nashorns.

»Ist das ein Nashorn, Mann? Mitten auf der Straße?«

Ein Grüppchen von Menschen steht in sicherer Entfernung und beobachtet das Tier. Ein Polizist macht einen Schritt vorwärts und winkt uns, dass wir weiterfahren sollen.

»Das ist kein Nashorn. Das ist Boris.«

»Was?«

»Boris, das Flusspferd.« Ein schiefes Grinsen von Nodar.

»Nein, ich meine … warum steht das hier?«

Nodar dreht mir seinen kahl werdenden Schädel zu. »Du weißt es nicht, oder?«, kichert er.

»Was weiß ich nicht?«

»Großes Chaos, Bruder. Die Flutwelle gestern hat den ganzen Zoo überschwemmt. Alle Tiere sind entwischt. Wölfe rennen frei am Flughafen rum, die Hyänen sind los, Strauße streifen durch die Straßen, Pinguine im Mtkwari und ein Tiger oben in Sololaki.«

Nodar umfasst blinzelnd das Lenkrad. Eine Zigarette hängt ihm von den Lippen, während er das Auto ganz vorsichtig um Boris, das Flusspferd, herumlenkt.

»Willkommen in Georgien.«

Boris’ Flanke zieht an meinem Fenster vorbei. Er ist so groß wie ein kleiner Lieferwagen. Ich kann ihn riechen. Ich lehne mich raus und lasse meine Finger über seine graue, borkenähnliche Haut gleiten. Boris wendet den Kopf und zeigt mir seine wenigen, dafür riesigen Zähne und seine faustgroßen schwarzen Augen.

»Diese Idioten hab ich auf meinem Weg zum Flughafen vor zwei Stunden schon gesehen. Die werden das arme Viech die ganze Nacht vor sich hertreiben.«

Nodar schaltet einen Gang runter. Das Auto erzittert, doch der Motor stirbt nicht ab.

»Mein Haus ist ganz in der Nähe. Fünf Minuten, Bruder.«

Als wir gerade um die Ecke biegen, höre ich einen lauten Knall. Ich drehe mich um und sehe eine kleine rote Blüte auf einem weißen Stängel aus dem Hals des Flusspferds sprießen. Ein Pfeil mit Beruhigungsmittel. Keine Reaktion von Boris – er zuckt nicht mal zusammen. Er verfolgt bloß mit seinen tintenschwarzen Augen unser Auto, als wollte er sagen: »Passt bloß auf.«

Moment, ich sollte vielleicht zuerst erzählen, wie ich überhaupt nach Tbilissi gekommen bin.

In London, in meiner kleinen WG in der Holloway Road, packte ich meinen Koffer für ein unbekanntes Abenteuer. Als ich fertig war, setzte ich mich mitten zwischen all die Hochglanzflyer, Bestellformulare, mit Markennamen bedruckten Stifte und Schlüsselanhänger, der ganze Müll eines Handlungsreisenden, der sich auf jeder freien Oberfläche meines Zimmers ausgebreitet hatte. Ich starrte auf meinen Koffer und versuchte, an irgendetwas anderes zu denken als an Georgien.

Meine Arbeit bestand darin, durchs Land zu reisen und den Leuten schlechte Nachrichten zu überbringen. In klimatisierten Konferenzräumen erzählte ich meinen Zuhörern, dass sie eines Tages sterben würden. Ja, auch du – du dahinten in der letzten Reihe. Einen Weltuntergangshöker nannte mich Sandro.

Doch wie jeder guter Schlangenölverkäufer hatte ich Wundermittel parat. Ich bot ihnen Renten- und Lebensversicherungen an, Investments und Sparkonten. Nutzlose Akronyme, Renditeraten und Prozentzahlen, die ich mit Gewinn für meinen Arbeitgeber verkaufte. Aber auch verkaufte, damit diese Menschen meine Botschaft nicht wirklich verstanden, denn sonst hätten sie ja konsequenterweise ihre Jobs kündigen müssen.

Allabendlich wusch ich mir diese Dinge unter der Dusche von der Haut, wie ein Kohlearbeiter, der sich nach seinem Arbeitstag den Schmutz vom Körper schrubbt. Da glaubte ich immer noch, dass ich durch irgendeinen märchenhaften Trick dem System entgehen könnte.

Wie auch immer, das war alles nur fadenscheinige Ablenkung. Ich konnte keinem etwas vormachen. Ich starrte auf meinen Koffer und wusste, dass ich kurz davorstand, an einen Ort zurückzukehren, den zu vergessen ich mich wirklich angestrengt hatte.

Irgendwann auf der langen Pilgerfahrt mit der U-Bahn nach Heathrow, am Arsch der Piccadilly Line, holte ich die Beruhigungstabletten heraus, die mir mein Mitbewohner gegeben hatte, damit ich auf dem Flug besser schlafen konnte. Zwei unschuldig blaue Tabletten, eingewickelt in ein Papiertaschentuch. Zwischen Haltestellen, deren Namen mir nicht vertraut waren – Boston Manor, Osterley und eine ganze Abfolge von Hounslows –, verdoppelte ich die Dosis und schluckte sie alle beide, in der Hoffnung, dass sie meinem Herzrasen ein Ende setzen würden.

Die Wirkung setzte langsam ein, aber gewaltig. Als ich in Heathrow ausstieg, war meine ganze Wirbelsäule getränkt von Magie. Ich waberte durch den Duty-free-Bereich und fand mich in einer Schlange wieder. Am Gate 19A verliebte ich mich in die Frau, die die Boardingpässe kontrollierte. Sie war eine perfekte Porzellanpuppe – blasse Haut, dunkelroter Lippenstift, tote Augen.

Ich erregte ihre Aufmerksamkeit. Ihre Augen verloren ihre Stumpfheit und konzentrierten sich auf mich. Kein Wunder. Ich stand halb geschmolzen da und starrte sie an, ohne einmal zu blinzeln. Ich entdeckte ein niedliches Stirnrunzeln, wie ein winziges Sturmtief. Ich konnte an nichts anderes mehr denken, als einen dicken, fetten Kuss auf diese roten Miniaturlippen zu drücken und mich direkt im Anschluss verhaften zu lassen.

»Alles in Ordnung, Sir?« Ihre Augen musterten mich von Kopf bis Fuß.

»Ich hab Flugangst. Die Schlaftablette …« Ich deutete auf meinen Kopf. »Ich glaube, sie beginnt gerade zu wirken.« Ich merkte, wie mir ihre Aufmerksamkeit wieder entglitt, wie die Sonne, wenn sie hinter einer Wolke verschwindet.

»Dann gehen Sie bitte gleich zu Ihrem Platz, Sir.«

Sie schenkte mir ein desinteressiertes Lächeln und winkte mich zur Tür. Ich machte ein paar Schritte darauf zu, blieb stehen, zielte erneut und versuchte es wieder. Sie bemerkte mich gar nicht.

Nachdem ich meinen Platz gefunden hatte, begannen die Tabletten so richtig zu wirken. Als wir abhoben, schloss ich die Augen und löschte die ganze Welt und alles, was in ihr war.

»Entschuldigen Sie, Sir.« Jemand stupste mich an der Schulter an. »Sir?«

Als ich die Augen aufschlug, konnte ich nur meine Knie sehen. Mein Kopf fühlte sich an wie ein Betonklumpen, und meine Lippen waren verklebt mit getrocknetem Speichel.

»Entschuldigen Sie, Sir. Wir landen gleich in Kiew. Stellen Sie bitte Ihre Lehne senkrecht.«

Der Flughafen in Kiew war verlassen, abgesehen von ein paar vereinzelten Kettenrauchern, die in den Glaskabinen Wache hielten. Dieser Flughafen, erbaut in den frühen Tagen der Sowjetunion, war im Jahr 2010 die reinste Zeitreise in die UdSSR, nur ohne die Hammer-und-Sichel-Fahnen und die Lenin-Porträts. Ich steckte hier stundenlang fest, um auf meinen Anschlussflug zu warten.

In diesem Moment fiel mir zum ersten Mal auf, dass irgendwas nicht stimmte. Während ich durch die fensterlosen Korridore aus grobem Beton ging, folgte mir jemand. Es war ein missmutiger Mann mit Lederjacke und unglücklichem Gesichtsausdruck. Er hatte nichts dabei – keinen Koffer, keine Einkäufe, gar nichts. Das fand ich seltsam.

In der Halle mit den ganzen Restaurants setzte er sich ans andere Ende und beobachtete mich, wie ich mir im Burger King einen lauwarmen kapitalistischen Burger in den Mund schob. Er selbst aß nichts. Dann folgte er mir in die Raucherkabine, wo wir beide drei Zigaretten rauchten. Er war schon mitten im Satz, als ich merkte, dass er mit mir redete.

»… nach Tbilissi?«

»Entschuldigung, wie bitte?«

Er warf mir einen kummervollen Blick zu, als täte ihm etwas leid, was noch gar nicht passiert war. Ich konnte es durch den Zigarettenqualm nicht richtig erkennen, aber seine Augen könnten verschiedene Farben gehabt haben – eines blau und eines grün.

»Ich hab gesagt, müssen Sie wirklich unbedingt nach Tbilissi?«

»Was? Ja. Warum?«

Er schüttelte den Kopf. »Tbilissi ist nicht die richtige Stadt für Sie. Dort werden Sie sich nur Ärger einhandeln, mein Freund. Kehren Sie um, fahren Sie wieder nach Hause.«

»Wer sind Sie?«

»Ich bin niemand.«

Er drückte seine halb gerauchte Zigarette aus und ging hinaus. Ich versuchte, ihm zu folgen, verlor ihn aber. Später sah ich ihn noch einmal vom Flugzeugfenster aus, wie er mit den Mitarbeitern vom Boarding redete, während mein Flugzeug auf die Startbahn rollte. Ich tat ihn als einen Verrückten ab, der einfach zu wenig Schlaf gekriegt hatte.

Umgeben von schläfrigem georgischem Gemurmel, war ich den ganzen Flug bis nach Tbilissi wach und starrte auf die Flügelspitze, die in der riesigen Dunkelheit dort draußen einsam rot blinkte. Die Stewardess drehte ihre Runden, blieb bei jedem Platz stehen und sagte mit gedämpfter Stimme irgendetwas auf Georgisch. Als sie zu meinem Platz kam, schien sie sich an etwas zu erinnern, was sie als Kind einmal auswendig gelernt hatte. Sie straffte den Rücken und sammelte sich, als würde sie gleich ein Gedicht aufsagen.

»Alles gut bei Ihnen, Sir?«, fragte sie.

Das zog die Blicke von ein paar anderen Fluggästen auf sich.

Ich schaute auf meine Sachen und fragte mich, woraus sie geschlossen hatte, dass ich Englisch sprach.

»Ja, danke«, sagte ich auf Georgisch.

Sie schaute auf das Klemmbrett in ihrer Hand. »Sind Sie Mr Sulidze-Donauri?«

Ich schaute mich um, als wäre Mr Sulidze-Donauri jemand, den ich vor einer Sekunde noch gesehen hatte, jetzt aber nirgends entdecken konnte.

»Äh … ja.«

»Danke. Guten Flug«, sagte sie und ging davon.

Sie hatte niemand anderen nach dem Namen gefragt. Nur mich. Ich hätte gleich wissen müssen, dass da was faul war.

Als die Flugzeugräder auf der Landebahn in Tbilissi aufsetzten, klatschten alle. Während wir zum Terminal rollten, erhaschte ich einen Blick auf eine Ansammlung von Lichtern in der Ferne. Die Innenstadt von Tbilissi, meinem lang verlorenen Geburtsort. Überwältigt starrte ich darauf, und ein eiskaltes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus. Langsam wurde mir klar, wie verdammt lächerlich diese Expedition war.

Draußen roch die Luft nach heißem Asphalt und verschüttetem Kerosin. Ich war erst einmal am Flughafen von Tbilissi gewesen, nämlich als Achtjähriger. Damals verließ ich das Land, wobei ich mich mit einem Lederkoffer aus der Stalin-Ära abquälte, der von zwei Gürteln zugehalten wurde. Ich weiß noch, wie ich ihn auf einen Trolley hievte und ganz stolz war, dass ich stark genug war.

Alle waren dort – Irakli, Eka, Sandro, sogar meine Großmutter und mein Onkel. Es war das letzte Mal, dass wir alle zusammen waren.

Es muss etwas ganz Besonderes gewesen sein, dieser Abend, an dem wir fortzogen. Ich kann mir nicht vorstellen, was ihnen durch den Kopf ging – als sie sich von uns verabschiedeten, die wir zu einem fernen Ort aufbrachen, an dem »alles besser war«. Das war es, was sie sagten: »Die Dinge sind besser da drüben.«

Was denn für Dinge? Besser als was? Ich verstand nicht, warum ich nicht einfach zu Hause bleiben konnte. Aber jetzt wusste ich, was sich hinter diesem angestrengten Lächeln am Flughafen verbarg – der Bürgerkrieg.

Georgien trennte sich von der Sowjetunion und wurde 1991 zur Republik. Hastig gebildete Parteien stritten sich um den Thron dieser frisch geprägten »Republik«. Es dauerte nicht lange, bis man zu den Waffen griff. Und in genau diesem Winter stürzten wir kopfüber in einen bitteren, chaotischen Bürgerkrieg.

Als wir in jener Nacht zum Flughafen kamen, nach sechs Monaten Bürgerkrieg und zwischen lauter anderen gequält lächelnden Familien, war Tbilissi der reinste Albtraum. Kein Strom, kein Gas, kein fließendes Wasser. Wenn man vor die Tür ging, um Brot zu kaufen, konnte man sich genauso gut eine Kugel einhandeln wie ein Brot. Es heißt, damals wäre fast die Hälfte der gesamten Bevölkerung geflohen. Von denen die meisten nie wiederkamen.

Im grellen Licht des Flughafens wirkte meine Familie beschämt über die Schäbigkeit ihrer Sachen und den Dreck, der sich in ihren Sorgenfalten gesammelt hatte. Diese gnadenlosen Lichter nahmen ihnen ihre Superkräfte, von denen ich wusste, dass sie sie besaßen. Sie wirkten besorgt und zögerlich. Sie wirkten zerbrechlich. Mir war nur vage bewusst, dass hier gerade etwas Wichtiges passierte, während um mich herum Herzen brachen.

Nur Irakli, Sandro und ich würden den Flieger besteigen, auf den wir gewartet hatten. Der Rest meiner Familie würde uns nie wieder zu Gesicht bekommen. Sie wussten es nur noch nicht. Nun ja, Eka hielt Sandro fest im Arm, als mir ihr seltsamer Gesichtsausdruck auffiel. Vielleicht wusste sie es.

Fast zwanzig Jahre später stand ich am selben Flughafen. Bei der Grenzkontrolle zog der Typ hinter dem Schalter eine Augenbraue hoch, als er meinen Pass betrachtete. Er griff zum Telefon und sagte meinen Namen. Ein paar Sekunden später erschien ein Mitarbeiter der Flughafen-Security neben mir, der sich ein Sturmgewehr an die Brust drückte.

Er führte mich in ein kleines Büro, in dem eine strenge Frau mit Gummihandschuhen bereits meinen Koffer durchsuchte.

»Stichprobenkontrolle.« Sie sah kaum auf. »Bitte setzen Sie sich.«

Ich schaute ihr zu, wie sie sich durch meine Sachen hindurcharbeitete. Sie ließ meine Kleidung in einem Haufen auf dem Tisch liegen, zog sich schnalzend die Handschuhe aus und warf sie in den Abfalleimer.

»Der Zweck Ihres Besuchs?«

»Urlaub.«

»Urlaub«, wiederholte sie mit ausdrucksloser Miene.

»Ja«, sagte ich.

Sie zog erneut eine Augenbraue hoch. »Folgen Sie mir bitte.«

Sie brachte mich ins Nebenzimmer, wo ein aufgedunsener Techniker in einem zwei Nummern zu kleinen Laborkittel meine Fingerabdrücke nahm.

»Sie brauchen meine Fingerabdrücke?«

»Stichprobenkontrolle«, sagte die Frau.

Der Techniker schaute sie schläfrig an, dann wieder mich und nickte. »Stimmt«, bestätigte er.

Er reichte mir ein Feuchttuch für meine schwarz verschmierten Finger. Dann führte man mich zurück in den ersten Raum, wo mich die strenge Frau ausfragte. Sie war nicht glücklich darüber, dass ich ihr keine Adresse geben konnte. Sie fragte, warum ich nicht irgendwo ein Quartier gebucht hätte und was ich vorhätte. Das waren alles große Fragen, auf die ich keine Antworten wusste.

Ich füllte ein Formular aus, während sie meinen Koffer mit mehr Sorgfalt packte als ich. Gerade als ich anfing zu glauben, dass das wirklich nur eine typisch georgische Stichprobenkontrolle gewesen war, drückte sie mir eine Visitenkarte in die Hand.

»Was ist das?«

Kommissar Kelbakiani, Stadtpolizei Tbilissi, Distrikt Sololaki.

»Danke für Ihre Mitarbeit«, sagte sie, während ich auf die Visitenkarte starrte.

»Was soll das?«

»Bitte besuchen Sie Kommissar Kelbakiani so bald wie möglich.«

Hatte sich was mit Stichprobenkontrolle.

»Warum?«, fragte ich.

»Er wird Ihnen Ihren Pass wiedergeben.«

Sie hatten mich so schnell aus der Menge gezogen, dass ich ganz vergessen hatte, meinen Reisepass zurückzuverlangen. Bevor ich meinen Protest in einen georgischen Satz verpacken konnte, übergab mich die Frau dem bewaffneten Wachmann, der mich und meinen frisch gepackten Koffer zum gleichen Grenzbeamten zurückbrachte.

»Uel-kom«, sagte er auf Englisch und grinste dazu.

Ich konnte meinen Pass auf seinem Tisch sehen. Ich hielt inne, doch mein Begleiter gab mir einen leichten Schubs. Der Schubs reichte, um mich zittrig und nervös durch den mageren Duty-free-Shop und zu einem windigen Paar Schiebetüren zu schicken, die von weiteren Wachen mit Maschinengewehren flankiert wurden.

Ich holte tief Luft, trat durch die Türen und wäre fast gegen eine Wand aus wartenden Gesichtern gerannt. Automatisch suchte ich sie nach einem vertrauten ab. Aber unter meinem Blick verwelkten sie eines nach dem anderen in die Anonymität. Mein Koffer versuchte, sich selbstständig zu machen, und brach damit den Bann. Hier stand niemand, der auf mich wartete. Ich riss meinen Koffer wieder auf seine Rollen und steuerte die letzten Türen an, hinter denen endlich das richtige Georgien auf mich wartete.

Draußen fand ich mich umgeben von einer noch größeren Menge von Menschen, die sich umarmten, abküssten, aufgeregt redeten und mit einem kleinen Regiment von Taxifahrern feilschten. Ich trat beiseite und versuchte, das Durcheinander in mich aufzunehmen, während ich mit einer Zigarette herumfuchtelte, die anzustecken mir ums Verrecken nicht gelingen wollte.

Ich stand eine ganze Weile so da, und meine Gedanken drehten sich immer schneller in immer enger werdenden Kreisen. Wenn ich rauchen könnte, wenn ich mir einfach nur diese Scheißzigarette anstecken könnte, dann würde dieses wilde Karussell vielleicht abbremsen. Ich schrammte mir den Daumen an meinem Feuerzeug blutig, brachte jedoch bloß Funken hervor.

Ich ließ das Feuerzeug durch meine Finger gleiten. Das Wort »Panikattacke« schoss mir durch den Kopf. Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Kopf nach unten sackte. Meine Finger begannen zu prickeln. Mein Puls schlug in meinem Kiefer. Meine Atemzüge kamen unregelmäßig und flach. Es war wie die grausame Pause ganz oben auf der Achterbahn. Jetzt kam es.

Alles rundherum verlangsamte sich und erstarrte. Meine Augen landeten auf einem zerbeulten öffentlichen Aschenbecher, der vor Zigarettenkippen überquoll. Das war er – der hässliche Anblick, den die Panikattacke mir ins Gehirn brennen würde.

Plötzlich hörte ich eine Stimme wie ein Messer durch den verworrenen Tumult schneiden.

»Saba«, zwitscherte es silbern.

Ich erkannte die Stimme sofort wieder. Auch wenn ich sie vor langer Zeit zum Schweigen gebracht hatte. Das war Surik! Surik, mein betrunkener Komplize, der mir zu Hilfe eilte. Surik ex Machina, dessen Haus immer nach alten Zeitungen, Mottenkugeln und Geheimnissen roch.

»Wai, wai, wai! Schau dir diese halbglatzigen Hyänen an.«

»Surik?«

Tränen stiegen mir in die Augen.

»Wen hattest du erwartet? Den Scheißweihnachtsmann?«

»Du bist wieder da.«

»Ich dachte, du könntest ein bisschen Hilfe gebrauchen. Soll ich wieder gehen?«

»Nein.«

»Wai, schau sich einer dieses Chaos an. Mehr Taxifahrer als Passagiere.«

Die Menge der Taxifahrer wurde aufgewühlt, als sie eine neue Welle von Ankommenden verdaute. Während das Blut wieder in mein Gehirn zurückströmte, beobachtete ich, wie sie einen unbekümmerten Touristen ganz verschlang. Mitsamt seinem übergroßen Rucksack und allem – er verschwand einfach. Ich war froh, einen Freund bei mir zu haben, und sei er auch nur eingebildet.

»Eingebildet ist besser als gar nichts«, sagte Surik.

»Hilf mir, Surik.«

»Du brauchst keine Hilfe, Saba. Trödel nicht rum, komm. Geh einfach los. Egal wohin – die Richtung ist egal. Der Rest ergibt sich von selbst.«

In dem Moment bemerkte ich einen Mann, der mich beobachtete. Er pirschte durch die Menge, mit dem Wind und wachsam. Er hielt immer wieder inne, um mich nicht zu verschrecken.

»Da kommt er ja.«

Schließlich tauchte er neben mir auf, hob seinen behaarten Arm und legte mir die Hand in einer geschmeidigen Bewegung auf die Schulter. Mit der anderen Hand steckte er mir die Zigarette an, die von meinen Lippen baumelte.

»Danke.«

Überrascht nahm er die Hand von meiner Schulter und lehnte sich zurück, um mich besser betrachten zu können.

»Du bist Georgier?« Er kratzte sich hörbar das Kinn. »So siehst du gar nicht aus.«

»Ich weiß.«

Das brachte ihn zum Glucksen.

»Aber du siehst so aus, als würdest du ein Taxi brauchen.« Er warf einen Blick auf meinen Koffer. »Wo sind deine Leute?«

»Meine Leute?«

»Das übliche Willkommenskomitee am Flughafen. Mutter, Vater, Tante, Onkel, Hund, Katze …«

»Oh. Ich bin allein.«

Wieder diese Fältchen in seinen Augenwinkeln.

»Na gut. Dann mal los, Bruder.«

Er schlug mir auf den Rücken und setzte mich damit fast gegen meinen Willen in Bewegung. Wir gingen durch die Garnison von Taxifahrern.

»Nodar, Nodar! Weiß er, dass er dich auf der Autobahn wird schieben müssen?«, fragte jemand, dann folgte eine Lachsalve.

Als ich das Taxi sah, verstand ich den Witz.

»Ich hätte nie gedacht, dass ich noch mal einen von diesen Scheißkübeln sehen würde«, kicherte Surik.

Das Auto war ein schwarzer GAZ-Wolga. Er war mindestens ein halbes Jahrhundert alt und mit einer Dreckschicht bedeckt, die man nicht mehr abwaschen konnte, ohne die Farbe mit runterzuwaschen. Auf den Radläufen saßen Schlammspritzer, und die hintere Stoßstange war mit einem blauen Nylonstrick festgebunden.

Der Taxifahrer öffnete die quietschende Kofferraumklappe und warf meinen Koffer hinein.

»Ich bin Nodar.«

»Saba.« Ich gab ihm die Hand. Er deutete mit einem Nicken auf seinen Dinosaurier von Auto.

»Hässlich wie die Sünde, Bruder. Aber Gott liebt das Hässliche.« Er strich dem Auto über die Flanke, als wäre es ein Rennpferd. »Die hinteren Türen klemmen, setz dich vorne rein.«

Der Wolga sprang beim vierten Versuch an. Nodar fuhr davon, ohne mich zu fragen, wohin ich überhaupt wollte. Er brachte uns auf Autobahngeschwindigkeit, indem er den Motor im zweiten Gang so hochlaufen ließ, dass das ganze Auto bebte, und dann schaltete er in den vierten. Das Auto machte unselige Geräusche.

»Wo bleibt denn der Spaß im Leben, wenn man alle Gänge hat?«

Mit einer Hand am Steuer klopfte Nodar seine karierte Hemdbrust ab. Er fand eine Schachtel L&M in seiner Brusttasche und zog mit den Zähnen eine heraus.

»Hier, halt mal kurz, ja?«, sagte er und ließ mir keine Zeit für eine Antwort, bevor er das Lenkrad losließ.

Ich umklammerte das Lenkrad aus hartem Plastik und lenkte uns zurück auf die Fahrspur, während er sich seine Zigarette ansteckte.

»Schon besser«, sagte er, als er den Rauch ausatmete.

So begann sein regelrechter Angriff auf eine Schachtel L&M. Ich saß eine ganze Weile nur stumm und tatenlos neben ihm und starrte aus dem Fenster. Sirenen und Polizeiautos rasten in der anderen Richtung an uns vorbei. Ein Krankenwagen kreischte mit ungefähr der doppelten Geschwindigkeit an uns vorbei. Er hinterließ eine Kielwelle aus klingender Stille.

»Alles in Ordnung, Bruder?«, fragte Nodar.

»Wo fahren die denn alle hin?«

»An keinen guten Ort, Bruder.«

Er zuckte mit den Schultern und schaltete das Radio an. Ein seltsamer Sender. Eine schläfrige, desinteressierte Stimme verlas eine endlose Liste von Nachrichten, die Zuhörer eingeschickt hatten – anonyme Liebesbriefe, kryptische Treffpunkte und so weiter.

»Was ist das?«

Nodar lächelte das Radio an. »Das ist wie das Internet für arme Georgier.«

»Talkradio?«

»Nicht so richtig. Sie nennen es ›Wenn du zuhörst‹. Jede Nachricht, die du einschickst, verlesen sie kostenlos. Ohne Fragen zu stellen.«

Ich sah, dass der Drehknopf mit Klebeband fixiert war, sodass er den Sender nie verstellen konnte.

»Ganz sicher nichts, was ein ex-sowjetischer Serienkiller hören würde«, bemerkte Surik, und ich hätte beinahe losgelacht.

Ich schaute hinüber zu Nodar und erwartete fast, dass er Surik auch gehört haben musste. Doch Nodar war damit beschäftigt, die Straße zu ignorieren, während er mit den Knien lenkte und sich die nächste Zigarette ansteckte.

»Also, Bruder, wohin willst du?«, fragte Nodar irgendwann.

»Ich brauche ein Hotel.«

»Was für ein Hotel?«

»Irgendeins.«

Nodar zog eine Augenbraue hoch. »Hotels nehmen so spät keine Gäste mehr auf. Und wenn doch, dann verlangen sie das Dreifache.« Er kratzte sich am Kinn und überlegte. »Mach dir keine Sorgen, Bruder. Ich vermiete ein Zimmer in meiner Wohnung. Es steht leer, du kannst heute Nacht gern dort schlafen.«

»Hör mal, Saba, als ich gesagt habe, die Richtung ist egal, hab ich nicht gemeint, dass du dich von irgendeinem verrückten Taxifahrer zerstückeln und in den Gefrierschrank legen lassen sollst.«

Ich blendete Suriks Stimme aus. Nodar hatte etwas an sich, dem ich trauen wollte.

»Okay«, sagte ich. »Danke.«

»Ein Gast ist ein Geschenk von Gott«, antwortete er mit einem alten georgischen Sprichwort.

Die Straße nach Tbilissi führte durch eine sowjetische Geisterstadt – Didi Dighomi. Didi Dighomi liegt am Rand der Stadt wie ein Lepradorf. Nachdem sie in den Achtzigern erbaut worden war, um Tausende von Menschen unterzubringen, hätte sie eigentlich Parks, Spielplätze, ein Schwimmbad mit olympischen Maßen und sogar ein Fußballstadion haben sollen. Sie hätte wunderbar werden sollen. Doch die Sowjetunion brach 1991 zusammen, und Didi Dighomi wurde am Ende nur wunderbar kommunistisch – halb fertig.

Die abgenagten Rippen von nie fertiggestellten Wohnblöcken standen in ordentlichen Reihen auf dem Hügel. Der hindurchwehende Wind pfiff durch die gähnenden Löcher, in denen die Leute ihre gemütlichen, warmen Wohnzimmer hätten haben sollen, mit ihren sowjetischen Standardsofas und ihren in Polen hergestellten Standardfernsehern. Als wir vorbeifuhren, sah ich in einem der Gebäude Licht.

»Leben dadrin Leute?«

»Natürlich, Bruder.«

»Wie? Da ist doch gar nichts.«

Nodar seufzte. »Ossetische Flüchtlinge. Das ist immer noch besser als das, was sie zurückgelassen haben.«

Als wir die Innenstadt von Tbilissi erreichten, begann ich, Dinge wiederzuerkennen – eine bröckelnde Straßenecke oder ein Gebäude oder eine bestimmte Kurve. Gleichzeitig erkannte ich überhaupt nichts wieder. So wie sich Zähne anfühlen, wenn der Zahnarzt einen nach Hause schickt mit ungewohnten Kanten, an denen man dann mit der Zunge rumspielen kann.

Tbilissi ist eine Stadt, die über dreißigmal erobert, dem Erdboden gleichgemacht und wiederaufgebaut wurde. Im Laufe der Jahrhunderte haben alle möglichen Reiche und ihre größenwahnsinnigen Herrscher mit der Stadt gemacht, was sie wollten – die Osmanen, die Byzantiner, die Russen. Dementsprechend ist die Architektur von Tbilissi schizophren. Stattliche Fassaden und Kolonnaden direkt neben Ansammlungen von schäbigen Holzhäusern, die sich aneinanderlehnen wie Bücher auf einem schiefen Regal. Moderne Geschäfte, brandneu und leuchtend, stachen heraus, weil man sie zwischen Gebäude aus einer völlig anderen Ära gequetscht hatte.

Abseits der Hauptstraßen schimmerte das Tbilissi, an das ich mich erinnerte, immer noch durch. Die Straßenlaternen waren funzelig und spärlich. Häuser beobachteten uns mit orangem Schein hinter ihren staubigen Fenstern. Außer Kontrolle wuchernde Platanen verstopften die Bürgersteige und eroberten die Straße. Wenn man in Tbilissi lebt, kennt man die Struktur der Straßen so gut wie die Schönheitsfehler in der Decke über seinem Bett. Unebener, gerissener Asphalt auf den Gehwegen belohnt die Treuen und bestraft die Neuankömmlinge mit absurden Kanten, über die man stolpern kann.

Aus der Sicherheit dieser schäbigen Seitenstraßen heraus fiel mein Blick immer wieder auf riesige glitzernde Wolkenkratzer-Monolithen, die hier nicht hergehörten. Ich kurbelte das Fenster herunter und ließ die Luft über mich hinwegziehen.

»Riecht wie zu Hause, was, Bublik?«

Surik hatte recht – es roch wirklich wie zu Hause. Ich hatte schon ganz vergessen, dass er mich immer Bublik genannt hatte. Danach hatte ich keine große Lust mehr, irgendwas zu sagen. Den Rest des Weges legten wir schweigend zurück.

Und so bin ich hierhergekommen – vorwärtsgetrieben von eingebildeten Freunden, seltsamen Taxifahrern und Boris, dem Flusspferd. Bis wir bei Nodars Haus waren, hatte die Nacht ihren Griff um die Stadt schon gelockert.

»Lass es einfach geschehen, Bublik. Die Sonne wird aufgehen – daran führt kein Weg vorbei.«

Jeder und alles schläft. Nichts rührt sich, und die Dunkelheit verbirgt den Hof, über den wir uns Nodars Wohnung nähern. Ich nehme meine Umgebung nur mit dem Geruchssinn wahr. Das scharfe Aroma von verschüttetem Bier und ausgedrückten Zigaretten aus dem Sitzbereich, der Geruch nasser Asche von einem längst ausgegangenen Feuer und der Gestank von ausgeschütteten Mülltüten, aus denen sich die streunenden Hunde und Katzen schon alles Essbare herausgezogen haben.

Der wartende Mund eines Eingangs kommt immer näher. In diesem Moment fällt mir auf, dass niemand wirklich weiß, wo ich bin. Wenn ich jetzt verschwinden sollte, wie Sandro und Irakli, hätte niemand einen Schimmer. Mein Vermieter würde es natürlich bemerken. Meine paar Freunde auch. Bestenfalls würden sie meine nächsten Verwandten aufsuchen wollen – Irakli und Sandro. Aber ich bezweifle, dass ihre Sorge so weit gehen würde, dass sie mich vermisst meldeten und nach Georgien reisten. Nein, ich bin der Letzte in dieser Reihe.

Nodar stemmt eine Tür auf, die aussieht, als könnte sie einer Atombombe standhalten. Wir betreten die feuchte Dunkelheit seiner Wohnung, und ich sehe ein Schlafzimmer am Ende des Flurs. Das Fußende des Bettes ist flackernd erleuchtet von einem leise laufenden Fernseher. Sie zeigen Aufnahmen von dem überschwemmten Zoo und verschwommene Handybilder von Boris, dem Flusspferd, wie es den Swatch-Laden plattmacht.

»Keti, schaust du dir immer noch diesen Unsinn an?«

»Du lebst also noch«, sagt eine weibliche Stimme.

»Ja.«

»Gut gemacht.«

Er schaut mich an, der ich dämlich auf seinem Flur rumstehe.

»Keti, hör mal, wir haben einen Gast. Hilf mir doch mal kurz.«

»Einen Gast?«

»Einen Mieter, um genau zu sein.«

»Wie meinst du das – einen Mieter?«

»Na los, Keti, komm und hilf mir mit Natias Zimmer.«

Mir dämmert, dass Nodar mit »meiner Wohnung« wirklich ein Zimmer in seinem eigenen Zuhause gemeint hat. Eine Frau mittleren Alters in Morgenmantel und Pantoffeln kommt aus dem Schlafzimmer. Ihr Haar ist mit einem Taschentuch zurückgebunden.

»Das ist meine Frau, Ketino. Aber sie lässt sich lieber Keti nennen.«

Sie wirft ihm einen Blick zu.

»Bleib lieber vorerst bei Ketino, Bruder.«

»Hallo, Ketino. Ich bin Saba.«

Ketino nickt und winkt mich ins Wohnzimmer. »Na gut, dann komm mal rein. Kann dich ja schlecht wieder rausschicken zu diesen Wölfen, Flusspferden und Tigern.«

Das Wohnzimmer ist voll mit alten, sorgfältig reparierten Möbeln. Nichts passt zusammen, aber alles funktioniert, wie es soll. Die Sachen hier werden immer wieder geflickt.

Die Mechanismen eines Lebens in Armut sind überall dieselben. Ich erkenne die Anzeichen sofort wieder.

Ich sehe Servietten, die aus Cafés mitgenommen wurden, kleine Tütchen mit Salz, Pfeffer, Zucker und Kaffeepulver. Wasserflaschen und Plastiktüten werden aufbewahrt und wiederverwendet. Die Töpfe und Pfannen in der Küche sind zerbeult und schwarz von Ruß. Das Geschirr und das Besteck sind abgestoßen, zerkratzt und wild zusammengewürfelt. Ich tippe darauf, dass »Mindestens haltbar bis« hier keine Bedeutung hat und dass es so etwas wie Essensreste gar nicht gibt. Alles wird aufgebraucht. Aus altem Brot wird Zwieback gebacken. Knochen werden ausgekocht für Suppen, dann den Haustieren gegeben.

Nodar zeigt mir ein kleines Zimmer, das vom Wohnzimmer abgeht. Ein einzelnes Kinderbett steht am Fenster, die Tapete ist rosa, und abgeliebte Teddys sitzen hintereinander auf dem Bett. Eine Reihe von Michael-Jackson-Postern starrt mich von der Wand an.

»Das Zimmer meiner Tochter.«

»Du vermietest das Zimmer deiner Tochter?«

Nodars Wangen laufen rot an. »Na ja, ich vermiete es an dich, Bruder.«

»Wo ist sie?«

»Natia ist nicht hier. Fühl dich wie zu Hause.«

Die Tour durchs Grand Hotel du Nodar ist offiziell vorbei. Ketino erscheint hinter uns mit einem dampfenden Becher mit irgendetwas Duftendem darin.

»Hier, trink das. Danach kannst du garantiert gut schlafen. Komm, Nodar, lass den Mann jetzt in Ruhe. Nimm, ich hab dir auch eine Tasse Tee gemacht.«

Während Nodar hinausgeht, fällt mir ein, dass ich ihm noch keinen Penny bezahlt habe. Ich mache den Mund auf, um etwas zu sagen. Aber was? Ich hab ja nicht mal Bargeld bei mir.

»Danke«, bringe ich heraus.

Doch er macht nur eine abwehrende Handbewegung, als wären meine Worte nur Fliegen, die ihm um den Kopf schwirren. »Schlaf gut, Bruder.«

Ich weiß genau, dass ich das nicht tun werde. Doch ich steige ins Bett und nehme den Becher mit. Es ist eine Art gewürzter Tee, und ich merke, dass ihm ein guter Schuss Alkohol hinzugefügt wurde. Dieser Geruch löst das seltsame Gefühl in mir aus, die Erinnerung eines anderen vor Augen zu haben. Ich muss trotz allem lächeln. Und dann höre ich eine Stimme, die ich schon seit Jahren nicht mehr zugelassen habe.

»Sie haben mich zurückgelassen.«

Ich fahre hoch, als hätte ich einen elektrischen Schlag bekommen.

»Erst hat mich mein Bruder verlassen. Hat sich aus dem Krankenhaus geschlichen wie ein Dieb in der Nacht. Dann ist ihm meine Mutter gefolgt. Sie hat ihn immer lieber gehabt – den Thronerben. Dann folgten meine Tanten. Meine Cousins. Alle miteinander. Sie haben mich zurückgelassen.«

»Eka.«

»Du hast mich nie Mama genannt, nicht mal, als du noch ganz klein warst. Immer Eka, nie Mama.«

»Tut mir leid …«

»Du hast mich auch verlassen.«

»Du hast mich doch weggeschickt.«

»Ich dachte, dass wir uns wiedersehen würden.«

Ich bleibe ihr die Antwort schuldig.

»Ist schon gut, Saba. So ist das eben manchmal. Trotzdem würde ich dir gern eine Geschichte erzählen. Sie ist deinem Ururgroßvater wirklich passiert.«

So fingen Ekas Gutenachtgeschichten immer an. Was dann folgte, war eine ausufernde Lügengeschichte, ein mitreißendes, episches Märchen, das sie einfach so aus der Luft griff. Ich liebte es.

Eka erzählt mir eine Geschichte, während ich beobachte, wie das Sonnenlicht sirupartig langsam von den Hügeln herab auf Tbilissi fließt und eine Straße nach der anderen in ein staubig goldenes Licht taucht.