Vor Frauen wird gewarnt - Heidi Rehn - E-Book

Vor Frauen wird gewarnt E-Book

Heidi Rehn

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Beschreibung

Ein schillernder und aufregender biografischer Roman über die Schrifttstellerin Vicki Baum, die Frau, die in den Zwanziger Jahren zur Ikone der Unterhaltungsliteratur in Deutschland wurde, von Erfolgsautorin Heidi Rehn Neue Zeiten - neue Frauen Sie war in den Zwanziger Jahren das, was man eine emanzipierte Frau nennt, und damit eine Pionierin ihrer Zeit. Ihr Roman "Menschen im Hotel" war ein Bestseller, der Vicki Baum schlagartig zum Star der Unterhaltungsliteratur machte. Sie wurde zur Verkörperung der Karrierefrau, ein Begriff, der damals durchaus positiv besetzt war,und von ihren Leserinnen verehrt und um ihre Eigenständigkeit beneidet. Doch wie sah die Frau hinter der glänzenden Fassade aus? Heidi Rehn erzählt in ihrem brillant recherchierten Roman vom Leben und Lieben dieser ungewöhnlichen Frau und setzt ihr damit ein unvergessliches Denkmal. Nachschub für die LeserInnen von "Fräulein Gold" oder "Mademoiselle Coco" und viel mehr als "nur" ein biografischer Roman!

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Seitenzahl: 513

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Heidi Rehn

Vor Frauen wird gewarnt

Ein Vicki-Baum-Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Sie war in den Zwanziger Jahren das, was man eine emanzipierte Frau nennt, und damit eine Pionierin ihrer Zeit. Ihr Roman »Menschen im Hotel« war ein Bestseller, der Vicki Baum schlagartig zum Star der Unterhaltungsliteratur machte. Sie wurde zur Verkörperung der Karrierefrau, ein Begriff, der damals durchaus positiv besetzt war, und von ihren Leserinnen verehrt und um ihre Eigenständigkeit beneidet. Doch wie sah die Frau hinter der glänzenden Fassade aus? Heidi Rehn erzählt in ihrem brillant recherchierten Roman vom Leben und Lieben dieser ungewöhnlichen Frau und setzt ihr damit ein unvergessliches Denkmal.

Inhaltsübersicht

MottoProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. KapitelEpilogListe der wichtigsten PersonenNachbemerkung
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»Im Ullsteinhaus in Berlin fühlte ich mich wie auf dem Nabel der Welt. (…) Berlin war so herrlich lebendig, so geladen mit einer seltsamen Elektrizität. (…) Ja, ich erlebte meine zweite Blüte sozusagen. Berlin machte mich zu einer schicken, kultivierten, mondänen Frau.«

 

Vicki Baum, Es war alles ganz anders. Erinnerungen, Berlin 1962, S. 367, 369 und 419

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Prolog

Berlin, März 1926

Nach Vickis Worten breitete sich bleierne Stille aus. War sie zu weit gegangen? Dabei hatte sie nur wie gewünscht von ihrem neuen Buchmanuskript erzählt. »Schreiben Sie einmal etwas über ein tüchtiges Mädel«, hatte Hermann Ullstein bei ihrem ersten und bislang einzigen Verlagsbesuch vor dreieinhalb Jahren vorgeschlagen. Nichts anderes hatte sie getan. Offenbar aber löste nun die Geschichte der Stud. chem. Helene Willfüer, einer jungen Frau, die sich als begabte Wissenschaftlerin und ledige Mutter in der von Männern beherrschten Berufswelt bewähren muss, bei ihm und den anderen Herren im Raum dennoch Befremden aus.

Vickis Herz begann wild zu pochen. Ihre Finger fühlten sich eisig-feucht an. Zum Glück bemerkte das niemand. Bestimmt würde ihr die Nervosität als weibliche Schwäche ausgelegt – und das ausgerechnet jetzt, da sie abgeklärt auf das reagieren wollte, was die Herren in dem nüchtern eingerichteten, holzgetäfelten Büro für sie inszenierten. Wie sie diese Rollenklischees hasste! Auch wenn sie nicht nur beim Schreiben liebend gern selbst mit ihnen spielte. Sie richtete sich im Sessel auf. Keinesfalls sollte man denken, sie wäre eingeschüchtert.

Das »man« bezog sich auf vier Herren mittleren Alters in tadellos sitzenden dunkelgrauen Anzügen, die ihr im Halbkreis gegenübersaßen. Neugierig betrachtete Vicki sie. Bis auf Kurt Szafranski, den Leiter der Zeitschriftenabteilung, waren sie von eher schmächtiger Figur und wenig beeindruckender Größe. Wüsste sie es nicht besser, hätte sie die Herren in den tiefen Lederfauteuils für Brüder halten können. Der Ullstein Verlag befand sich ja unter der Leitung von Brüdern, fünfen allerdings. Doch davon hatte nur der Jüngste vor ihr Platz genommen. Die trockene, sehr zielstrebige Art Hermann Ullsteins, Leiter der hauseigenen Werbeabteilung, war ihr noch von ihrer ersten Begegnung in Erinnerung.

Flankiert wurde er auf der einen Seite von dem korpulenten, süffisant schmunzelnden Szafranski, dessen wache Augen hinter einer kleinen, runden, randlosen Brille aufblitzten, auf der anderen von Emil Herz, dem Leiter der Buchabteilung, dessen grobe Gesichtszüge in krassem Gegensatz zu seinem feinfühligen Benehmen standen. Der Letzte im Kreis war Kurt Korff, der berühmte Chefredakteur der noch berühmteren BIZ – Berliner Illustrirten Zeitung –, des Flaggschiffs des Verlags, das sich trotz aller Modernität selbstbewusst zeitlos mit einfachem i statt ie im Namen schrieb. Ebenso selbstbewusst und zeitlos gab sich Korff. Gern zwirbelte er gedankenverloren an seinem schmalen, dunklen Oberlippenbart oder nestelte am Knoten seiner eleganten Krawatte, bevor er wie aus dem Nichts eine kluge, zuweilen humorvolle Bemerkung abschoss.

Die vier Herren repräsentierten die höchste Verlagsetage – und diese illustren Chefs eines der wichtigsten und größten Verlagshäuser des Landes, wenn nicht gar Europas, hatten an diesem grauen, nasskalten Märznachmittag nichts Besseres zu tun, als sich mit ihr zu unterhalten! Sich inzwischen sogar schon sehr lange mit ihr zu unterhalten, wie der Anbruch der Dämmerung vor den bodentiefen Fenstern des Büros im dritten Stock des Verlagsgebäudes an der Berliner Kochstraße bewies. Nach wie vor konnte Vicki das nicht so recht fassen.

Inzwischen fürchtete sie, die vier mit der knappen Zusammenfassung ihres neuen Manuskripts vor den Kopf gestoßen zu haben. Hatte sie sich damit jegliche Chancen auf ein Engagement im Verlag zunichtegemacht? Schweiß trat ihr auf die Stirn. Undenkbar, jetzt ein Taschentuch zu zücken und sie sich trocken zu tupfen.

Aus einer Laune heraus hatte sie sich letztens völlig unbedarft für eine x-beliebige Stelle im Haus beworben. Nach dem ersten Kontakt zu Ullstein vor einigen Jahren war ihr das als gute Idee erschienen. Bewusst hatte sie keine festen Vorstellungen, Wünsche oder gar Erwartungen geäußert. Stattdessen hatte sie in ihrem Schreiben lediglich hervorgehoben, besonders schnell tippen zu können – trotz ihrer autodidaktischen, unökonomischen Zweifingermethode auf einer noch unökonomischeren AEG-Zeigerschreibmaschine.

Als auf ihre unverbindliche Anfrage aus der Provinzstadt Mannheim umgehend die verbindliche Einladung aus der Hauptstadt Berlin eingetroffen war, hatte sie sicherheitshalber außer dem besagten, inzwischen fertigen Romanmanuskript eine Mappe mit Modetableaus quer durch die Jahreszeiten und Anlässe, Einrichtungsvorschlägen für alle nur denkbaren Ansprüche sowie Stoffmusterideen für die unterschiedlichsten Geschmäcker angefertigt. Obwohl sie bereits mehrere Romane bei Ullstein und anderen Verlagen veröffentlicht und insgesamt schon weit über hunderttausend Exemplare verkauft hatte, war sie nicht auf die Idee gekommen, sich als feste Hausautorin oder gar Redakteurin ins Spiel zu bringen, wie ihr erst in diesem Moment auffiel. Stattdessen hatte sie an eine Position als Modezeichnerin, Hilfsbuchhalterin oder Sekretärin gedacht. Sogar angeboten, für Letzteres noch die Kunst des Stenografierens zu erlernen. Lernfähig war sie. Und flexibel. Sowie anpassungswillig. Was sie den erlauchten Herren jederzeit gern unter Beweis stellte. Am liebsten sofort.

Eigentlich hatte sie mit der ganzen Bewerbungsgeschichte vor allem eins im Sinn: weg aus dem langweiligen Mannheim zu kommen, fort aus ihrer in eine Sackgasse geratenen Ehe, um stattdessen in ein selbstständiges Leben als berufstätige, moderne Frau zu starten. Natürlich am liebsten im vor Lebenslust überschäumenden Berlin. Um diesen Traum zu finanzieren, musste sie allerdings eine einigermaßen ordentlich bezahlte Anstellung ergattern. Deshalb der Vorstoß bei Ullstein.

Das Schweigen der Herren nach der Zusammenfassung ihres Manuskripts brachte sie nun allerdings aus dem Konzept. Dabei hatte sie Hermann Ullstein vorhin so verstanden, als wollte er ihr eine feste Stelle anbieten – und die drei anderen Herren hatten zu seinen Worten genickt. Bis sie von ihrer Helene Willfüer zu reden begonnen hatte und danach die lähmende Stille eingetreten war.

»Es ist bewährte Praxis unseres Verlags, erfolgversprechende Autoren wie Sie als Redakteure fest ans Haus zu binden«, hob Ullstein endlich wieder zu reden an.

Vicki brauchte noch einen Atemzug, bis sie kapierte, was das bedeutete. Dann aber war der Groschen gefallen. Er wollte sie trotzdem im Verlag haben! Erleichtert lauschte sie weiter.

»Das garantiert Ihnen ein geregeltes Einkommen und bietet Ihnen zugleich die Gelegenheit, unter den Kollegen und auf den Fluren noch etwas inspirierende Verlagsluft zu schnuppern«, erklärte er.

»Es schadet niemandem, sich quasi nebenher noch einige elementare Fähigkeiten als Redakteur anzueignen«, ergänzte Szafranski und aschte seine Zigarre in einen voluminösen Kristallaschenbecher auf dem Beistelltisch zwischen den Sesseln.

Kurz zuckte Vicki zusammen. Das klang, als wäre er in ihre Vergangenheit bei der Literaturzeitschrift ihres Ex-Manns Max Prels eingeweiht. Mit viel Enthusiasmus und reichlich Unvermögen hatten sie die glorreich in den Sand gesetzt. Danach war Max ebenfalls für Ullstein tätig gewesen und hatte eines von Vickis ersten Manuskripten an den Verlag vermittelt. Gut möglich, dass Szafranski ihn von daher kannte und jetzt darauf anspielte. Andererseits lag die Sache mit Ton und Wort mehr als fünfzehn Jahre zurück, war längst ebenso in den Untiefen der Vergangenheit begraben wie überhaupt das lächerliche Abenteuer ihrer viel zu überstürzt geschlossenen ersten Ehe, die schon vor dem Großen Krieg ebenso grandios gescheitert war wie ihr hochtrabendes Zeitschriftenunternehmen.

»Ich bin mir sicher, Fräulein Baum steckt uns mit ihrem Talent am Ende alle in die Tasche und beweist uns, was eine gute Geschichte ist«, stellte unterdessen Korff klar und zupfte den Stoff seiner Hosen an den scharfen Bügelfalten zurecht.

Hörte sie ihn da gerade »Fräulein Baum« sagen? Scharf sog sie die Luft ein. Zwar veröffentlichte sie nach wie vor unter ihrem Mädchennamen, war aber seit mehr als zehn Jahren verheiratet und mit ihren achtunddreißig Jahren längst nicht mehr im zarten »Fräulein«-Alter. Doch das kommentierte sie jetzt besser nicht.

»Anregungen und Ideen für Artikel und Geschichten finden Sie bei einer Tätigkeit hier im Haus bestimmt mehr als genug«, schaltete sich unterdessen Emil Herz ein. »In Ihren Romanen greifen Sie doch gern Beobachtungen aus dem Alltag sowie Figuren aus dem wahren Leben auf. Gerade das verleiht besonderen Reiz, gibt den Leserinnen und Lesern das Gefühl, sie wären im besten Wortsinn echt.«

»Danke«, erwiderte sie beschämend lapidar auf das Lob, aber etwas Geistreicheres fiel ihr nicht ein. In ihrem Kopf drehte sich alles immer angestrengter um die Frage, worauf die vier eigentlich noch hinauswollten. Je offensichtlicher sie ihr eine Anstellung im Verlag schmackhaft machten, desto nebulöser wurde ihr, was sie genau im Sinn hatten. Kaum wagte sie, die Teetasse an den Mund zu führen. Das Zittern der Finger würde nur ihre Unsicherheit entlarven.

Paradoxerweise schien ihr Zögern, das allein ihrer Aufregung geschuldet war, bei den Herren den gegenteiligen Eindruck zu erwecken. Vermutlich interpretierten sie es als geschickten Schachzug. Die Blickwechsel zwischen ihnen wurden nervöser.

»Sicherlich kennen Sie unser Magazin Die Dame«,meldete sich endlich Szafranski zu Wort und fixierte sie mit seinen wachen Augen.

»Natürlich.« Indigniert spitzte sie den Mund, hielt Szafranskis Blick herausfordernd stand. Davon abgesehen, dass jede Frau in Deutschland, die auf sich hielt, die Zeitschrift nicht nur kannte, sondern regelmäßig las, hatte sie sogar schon einige Texte für die Zeitschrift verfasst, was ihm anscheinend entgangen war. Selbstverständlich hatte sie außerdem vor der Abreise nach Berlin ihre Hausaufgaben gemacht und sich sämtliche Informationen, die sie über den Verlag erhalten konnte, eingetrichtert. Im Schlaf betete sie nicht nur alle Zeitungs- und Zeitschriftentitel herunter, selbst diejenigen aus dem 1910 gegründeten Fachverlag, alphabetisch sowie nach Auflagenhöhe und Zielgruppen sortiert, sondern ebenso sämtliche aktuell ans Haus gebundene Autoren wie Lion Feuchtwanger oder Heinrich Mann, die verschiedenen Buchreihen sowie die größten Erfolge und deren wichtigste Besprechungen von namhaften Kritikern wie Alfred Kerr oder Herbert Ihering, ebenfalls auf Wunsch alphabetisch vor- und rückwärts.

»Wir wollen dem Blatt eine Literaturbeilage beigeben und dachten beim Posten der zuständigen Redaktionsleitung an Sie«, erlöste Szafranski sie unterdessen mit triumphierendem Unterton aus der Anspannung.

Literaturbeilage? Redaktionsleitung? Sie? Bei der Dame? Vicki benötigte einen Moment, um die Stichworte in ihrem Kopf zu sortieren. Erst ganz allmählich begriff sie deren Sinn. Und wunderte sich, den Vorschlag ausgerechnet von Szafranski vernommen zu haben. Hatte der nicht eben erst darauf gepocht, sie müsse sich noch weitere »elementare Fähigkeiten als Redakteur« aneignen? Und jetzt bot er ihr eine derart anspruchsvolle, verantwortliche Position an?

Korff lächelte, als ahnte er ihre Gedanken, zündete sich die nächste Zigarette an und sagte durch die munter von ihm in die Luft ausgestoßenen Rauchkringel: »Daneben sollen Sie selbstverständlich auch für die anderen Titel unseres Hauses Artikel oder kürzere Texte verfassen. Das ist bei uns Brauch und hat sich bewährt. Insbesondere weil es einem ganz nebenbei ein gutes Gespür für die verschiedenartige Leserschaft der jeweiligen Blätter verleiht.«

»Was den zusätzlichen Effekt hat, Ihre Bekanntheit in den jeweiligen Leserkreisen zu steigern. Was sich wiederum verkaufsfördernd auf Ihre Romane auswirkt«, schob Herz mit einem fast schon entschuldigenden Augenaufschlag nach.

»Natürlich vorausgesetzt, wir einigen uns mit Ihnen in puncto Gehalt«, mischte Ullstein sich wieder ein. »Ihre Erwartungen werden wahrscheinlich weit über dem liegen, was wir bieten können. Dabei ist uns natürlich bewusst, was wir an Ihnen als Autorin haben. Aber leider gibt es auch in unserem Haus Vorgaben und Regeln, an die wir uns schon aus Gründen der Fairness allen Mitarbeitern gegenüber …«

Mitten im Satz brach er ab, hob die linke Hand einige Zentimeter an, um sie wieder matt auf die Lehne sinken zu lassen.

»Eine Tätigkeit in Ihrem Haus zieht natürlich gewisse Änderungen für meine gesamte Familie nach sich«, setzte sie zögernd an. Das war kein Pokern. Damit wollte sie nur ihre Unwissenheit kaschieren. Woher in Teufels Namen sollte sie wissen, was sie für eine solche Tätigkeit verlangen durfte? Sie kam aus der Provinz!

»Mein Mann, die Kinder und ich leben momentan noch in Mannheim …«

Kaum dachte sie an ihren Ehemann Hans, der dort am Nationaltheater als Generalmusikdirektor engagiert war, sowie an ihre beiden Söhne Wolfgang und Peter, gewann sie an Zutrauen. Dass sie in Wahrheit angetreten war, um dem mittlerweile als zu eng empfundenen Korsett von Ehe, Mutter- und Hausfrauendasein und dem Leben in der Provinz zu entkommen, würde sie den Anwesenden gewiss nicht auf die Nase binden. Das war ihre Privatangelegenheit. Ungern wollte sie unverrichteter Dinge wieder nach Hause zurückkehren. Noch dazu, da die von Szafranski in Aussicht gestellte Position als Redaktionsleiterin einer neu zu gründenden Literaturbeilage einen faszinierenden Glanz ausstrahlte.

Plötzlich wusste sie, dass sie genau die wollte. Und wenn sie einmal wusste, was sie wollte, setzte sie alles daran, das am Ende auch zu bekommen. So auch jetzt. Allerdings hatte die Sache den winzigen Schönheitsfehler, dass sie nach wie vor nicht die geringste Ahnung hatte, welches Gehalt sie verlangen konnte. Was zu blamabel gering und was zu unverschämt hoch für den Posten war. Kurzerhand entschied sie sich für den dritten Weg.

»Was bieten Sie mir für die Position?«

Kaum hatte sie die Frage ausgesprochen, senkte sich von Neuem eine bleierne Stille über den Raum. Die rauchgeschwängerte Luft nahm Vicki den Atem. Mehrmals musste sie sich räuspern.

»Mehr als achthundert Mark im Monat können wir Ihnen anfangs beim besten Willen nicht zahlen«, antwortete Ullstein, nachdem er einen provozierend langen Schluck Cognac getrunken hatte.

Achthundert Mark! Ihr wurde blümerant. Das war mehr als das Doppelte, was Hans als Generalmusikdirektor in Mannheim erhielt. Und gut zehnmal so viel wie eine einfache Tippmamsell irgendwo in Berlin. So unauffällig wie möglich hob sie die Oberschenkel von der Sitzfläche des Sessels und schob diskret die Mappe mit ihren Entwürfen darunter. Die Figuren und Szenerien darin erschienen ihr auf einmal entsetzlich peinlich.

Laut kommentierte sie Ullsteins Angebot mit einem knappen »Aha«.

Abermals deuteten die Herren ihre Reaktion völlig falsch.

»Mit Leichtigkeit kommt da noch einmal das Doppelte an Honoraren für Ihre Zeitschriftenartikel, die Fortsetzungsabdrucke Ihrer Romane sowie natürlich für die Buchausgaben, Auslandslizenzen und dergleichen obendrauf«, beeilte sich Herz klarzustellen, und Korff ergänzte: »Wir denken bei den Texten an kleine Füller, gelegentliche kurzweilige Beiträge. Nichts Weltbewegendes oder allzu Aufwendiges für eine Autorin wie Sie. Was Ihnen halt so einfällt, wenn Sie hier im Haus am Schreibtisch sitzen. Pro Zeile garantieren wir Ihnen eine Mark.«

»Das ist der höchste Honorarsatz bei unseren Zeitschriften«, unterstrich Szafranski.

»Die Aussichten stehen jedenfalls gut, dass Sie mit uns die höchstbezahlte Romanautorin Deutschlands werden«, schloss Ullstein die Unterredung in überzeugtem Ton.

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1

Ende August 1926

Da war sie also. Mitten in Berlin. Allein, aber glücklich. Und fühlte sich trotz ihrer achtunddreißig Jahre, der mehr als zehnjährigen Ehe mit Hans, den neun und fünf Jahre alten Söhnen Wolfgang und Peter und allem, was sie in dem ein Dutzend Jahre seit ihrem Weggang aus ihrer Geburtsstadt Wien in Darmstadt, Kiel, Hannover und Mannheim erlebt hatte, wie am eigentlichen Beginn ihres Erwachsenendaseins. Am Anfang eines neuen, aufregenden Lebensabschnitts. Und voller Neugier darauf, was er für sie bereithalten würde.

Ihr neues Zuhause trug erheblichen Anteil daran. So seltsam es klang, hatte Vicki es zum ersten Mal nur für sich ausgewählt. Sich dabei allein von ihren Bedürfnissen leiten lassen. Und es ebenso allein für sich eingerichtet. Nach ihrem Geschmack und ihren Vorstellungen in einer provokanten Mixtur aus traditionell und modern. Hatte alte, verspielte Biedermeiererbstücke ihrer Wiener Verwandtschaft kühn mit neu erworbenen Möbeln im nüchternen Bauhausstil kombiniert. Und sich auf das Notwendigste beschränkt, statt die Wohnung ähnlich vollzustopfen wie das Familiendomizil in Mannheim, das ihr trotz hoher Stuckdecken und großzügiger Zimmerfluchten zuletzt heftig aufs Gemüt gedrückt hatte.

Höchste Zeit, das alles hinter sich zu lassen und einen Neuanfang in Berlin zu wagen. Allein. Und auf eigenen Füßen. Auch wenn die Entscheidung bedeutete, die nächsten Monate, wenn nicht gar Jahre getrennt von ihren Söhnen zu verbringen. Was ihr alles andere als leichtfiel. Gerade im Hinblick auf ihre eigene triste Kindheit mit der ewig kranken Mutter und dem Vater, der sich nicht für sie interessiert hatte. Deshalb hatte sie stets alles darangesetzt, Wolfgang und Peter ein aufmerksameres, liebevolleres Zuhause zu bieten. Am liebsten hätte sie die zwei zwar gleich mit nach Berlin genommen, das aber wäre absolut unvernünftig gewesen, wie sie schweren Herzens hatte begreifen müssen. Es hätte bedeutet, sie aus ihrer vertrauten Umgebung mit Schule und Freunden herauszureißen. Und das vor dem Hintergrund, dass sie selbst ganztags außer Haus arbeitete und noch nicht wusste, was sie im Verlag erwartete und ob sie tatsächlich auf Dauer dort bleiben wollte. In Mannheim dagegen wurden die beiden von Kindermädchen Helene und Köchin Tilda bestens betreut. Sowie vor allem von Hans, der die Buben ebenso abgöttisch liebte wie sie. Die Ferien würden sie sowieso stets zusammen verbringen und jeden Tag ausführlich miteinander telefonieren. Aufrichtige Liebe bedeutete aufrichtiges Vertrauen in die Eigenständigkeit des anderen. Das war wichtiger als ständiges Zusammenglucken.

Vicki wischte sich die feuchten Augenwinkel. Legte den Kopf in den Nacken und konzentrierte sich auf dieses wundervolle Gefühl von Freiheit, das auf einmal von den Haarspitzen bis in die Fußsohlen hinunter von ihr Besitz ergriff. Und fühlte sich verboten gut dabei.

Mit Leib und Seele hatte sie es genossen, bei sämtlichen Entscheidungen rund um ihr neues Dasein keinerlei Rücksicht auf die Erfordernisse einer vierköpfigen Familie nehmen und vor allem keinen Gedanken daran verschwenden zu müssen, ob das Heim nicht nur für Hans behaglich war, sondern auch den repräsentativen Verpflichtungen eines Generalmusikdirektors entsprach. Das tat es ganz gewiss nicht. Auch wenn es im mondänen Grunewald lag, direkt am idyllischen Dianasee, handelte es sich nicht um eine komplette der prächtigen Villen, sondern lediglich um eine gemietete Mansardenwohnung in einer solchen Villa, in der sich so dicht unterm Dach bei sonnig-sommerlicher Witterung die Tageshitze staute. Selbst jetzt, da es auf den September zuging, war die noch deutlich zu spüren. Dafür war es eine geräumige Wohnung mit sieben Zimmern im prachtvollen Anwesen einer in finanzielle Kalamitäten geratenen Bankiersfamilie. Es verfügte sogar über einen privaten Zugang zum See unter schattig-kühlen, weit ausladenden Platanen. Zu Vickis Entzücken war die Wahl aus den zahlreichen Bewerbern auf sie gefallen, obwohl sie als berufstätige, finanziell unabhängige Frau und obendrein in Teilzeit von Ehemann und Kindern Getrennte aus dem Reigen der typischen Grunewald-Bewohnerinnen herausstach.

Statt großzügiger, bodentiefer Fenster mit und ohne Balkon wie in Mannheim hatte die Wohnung lediglich bescheidene Gaubenfenster ohne Balkon und obendrein schräge Wände. Außerdem war sie nur über den Hintereingang und eine steile, enge Treppe mit einer Art Luke als Zugang zu erreichen, denn es handelte sich um die ehemalige Dienstbotenetage. Was Wolfgang und Peter bei ihrem ersten Besuch vor wenigen Tagen als überaus aufregend empfunden hatten, Hans jedoch ein missbilligendes Stirnrunzeln entlockt hatte.

»Du musst hier nicht leben«, hatte sie klargestellt.

»Vorerst zumindest nicht«, hatte er erwidert. »Aber sobald ich ein Engagement an der Staatsoper Unter den Linden …«

»Wolltest du nicht erst deinen Vertrag in Mannheim erfüllen?«, unterbrach sie ihn erstaunt. »Bis der Ende nächsten Jahres abgelaufen ist, kannst du doch, wie mit deinem Freund Erich Kleiber vereinbart, Gastdirigate in der Lindenoper übernehmen. Selbstverständlich wohnst du dann bei mir und probierst in aller Ruhe aus, ob Berlin wirklich etwas für dich ist.«

»Das klingt, als könntest du es kaum erwarten, die Buben und mich los zu sein, um dein eigenes Leben zu leben. Ohne uns.«

»Ich brauche etwas mehr Zeit für mich …«

»Willst du mir damit sagen, dass du die Scheidung willst?«, fiel er ihr ins Wort. »Ich dachte, die unsägliche Geschichte mit Bengt Wadsted wäre aus der Welt! Hast du mir nicht hoch und heilig versichert, er wäre zu seiner Frau zurückgekehrt? Weil Vibeke, oder wie sie heißt, in anderen Umständen ist?« Aufgewühlt raufte er sich das schüttere Haar. »Wie kannst du nur, Vicki? Ist dir klar, was du anrichtest? Nicht nur in seiner, sondern auch in unserer Familie?«

Einige Sekunden hielt er inne, suchte ihren Blick, bevor er mit zittrigem Unterton fortfuhr: »Wenn du schon nicht an uns beide denkst, dann denk wenigstens an unsere Buben. Was sollen sie von ihrer Mutter halten? Du führst dich auf wie ein verliebter Backfisch! Bengt ist neun Jahre jünger als du. Hat er nicht Aussichten, in Berlin Direktor eines chemischen Werks zu werden? Wenn er seine hochschwangere Frau deinetwegen verlässt, wird es einen Skandal geben, und er wird den Posten nicht bekommen. Das kannst du doch nicht wollen!«

»Was phantasierst du dir da nur zusammen?« Sie schüttelte den Kopf. »Bislang hielt ich mich für die Geschichtenerfinderin von uns beiden. Da habe ich mich wohl gründlich verschätzt. Wenn du so weitermachst, muss ich ernsthafte Konkurrenz von dir befürchten.«

Sie lachte, um die Ironie in ihren Worten zu betonen. Vergebens. Hans biss die Lippen fest zusammen.

»Mehrfach habe ich dir bereits versichert, die Geschichte sei vorbei«, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort. »Für Bengt und mich war stets klar, dass jeder in seine Ehe und sein Leben zurückkehrt. Ich habe dir mein Wort gegeben, Hans. So gut solltest du mich kennen, um zu wissen, was das heißt. Habe ich dir das nicht schon oft genug bewiesen?«

Versöhnlich legte sie ihm die Hand an die Wange.

Zu ihrer Überraschung ließ er sie gewähren.

Sie betrachtete ihn. Er war mehr als einen Kopf größer als sie und gefiel ihr noch immer gut. Seine einundvierzig Jahre sah man ihm kaum an, obwohl sich sein helles Haar bereits merklich lichtete. Dadurch gewannen seine kantigen Gesichtszüge noch schärfere Konturen und die ernsten, stets ein wenig verträumt schauenden Augen mehr Tiefe. Letztlich war Bengt eine blondere, jüngere Version von ihm.

Jäh wandte Hans sich ab, trat vor eines der Gaubenfenster und richtete den Blick nach draußen. Irgendwo zwischen den Baumwipfeln, die das Grundstück des Hirschberg-Anwesens nach Nordwesten säumten, konnte man das in der Sonne glitzernde Wasser des Dianasees erahnen.

»Sonst bin ich stets diejenige von uns beiden, die vor Eifersucht zergeht.« Nah trat Vicki hinter ihn. »Oft genug hast du mir dazu Anlass gegeben. Vor allem wenn es um deine Musik, deine völlige Hingabe für deine Bühnenprojekte und deine Zusammenarbeit mit jungen Diven an der Oper gegangen ist. Und jetzt machst ausgerechnet du mir eine Szene? Noch dazu wegen einer Affäre, die längst vorbei ist?«

Hans schwieg weiter. Ein lächerliches Spiel. Zweier erwachsener Menschen nicht würdig. Noch dazu angesichts dessen, was sie sich für ihr gemeinsames Leben vorgenommen und bereits miteinander durchgestanden hatten. Sie führten eine moderne Ehe, wie sie für das zwanzigste Jahrhundert angemessen war.

»Wir waren uns immer einig, dass keiner dem anderen im Weg steht«, mahnte sie Hans. »Insbesondere nicht bei beruflichen Dingen. Uns ist da etwas ganz Besonderes gelungen. Eine echte Kameradschaft. Der entscheidende Unterschied zwischen reinem Liebesverhältnis und Ehe.«

Er sagte noch immer nichts.

»Unserer Beziehung hat es noch nie geschadet, wenn wir eine Weile getrennt voneinander waren«, setzte sie nach. »Oft genug war es deiner Engagements wegen nötig. Nun bin ich diejenige von uns beiden, die als Erste woanders ein Angebot hat. Eine solche Trennung auf Zeit hat unsere Ehe immer frisch gehalten und verhindert, dass sie in festgefahrenen Bahnen versandet.«

Vergeblich wartete sie auch jetzt auf eine Reaktion von ihm.

»Außerdem waren wir uns einig, unsere Buben so lange wie möglich im vertrauten Umfeld zu lassen, bis wir uns mit Berlin wirklich sicher sind«, spielte sie den letzten Trumpf aus. »Das Kindermädchen und unsere Köchin werden sie verwöhnen. Genau wie dich. Ihr werdet eine aufregende Männerwirtschaft führen. Und in den Ferien sind wir alle zusammen. So wie letztens im Salzkammergut. War das herrlich! Nicht einmal der viele Regen hat uns den Spaß verdorben, so wunderbar haben wir es am Zeller See miteinander gehabt.«

»Ach, Vicki!«

Endlich drehte Hans sich mit jenem verzückten, ein wenig entrückten Lächeln auf den Lippen zu ihr um. Das liebte sie so an ihm. Dann schlang er die kraftvollen Dirigentenarme um sie und drückte sie fest an seine Brust.

»Wie machst du das nur immer?« Er hauchte ihr einen Kuss auf die dunkelblonden, eigenwilligen Locken. »Nie kann ich dir lange böse sein. Wie töricht von mir, dass ich dir immer noch die Geschichte mit Bengt vorwerfe. Als hätte er in seinem Labor für mich eine Mixtur fabriziert, die mich in dieser lähmenden Beschränktheit gefangen hält. Aber für so etwas ist er viel zu klug. Und du sowieso.«

Zärtlich zog er sie noch enger an sich heran.

»Wahrscheinlich ist es genau dieses Wissen um eure Klugheit, die mich so umtreibt. Weil ich Angst habe, Bengt könnte dir auch so ein guter Kamerad werden, wie ich dir sein darf. Wenn du künftig hier in Berlin bist, wirst du ihn gelegentlich treffen. Ebenso wie du jeden Tag andere, ähnlich kluge, aufgeschlossene, sympathische Kameraden kennenlernst, während ich Hunderte Kilometer weit weg bin. Die Vorstellung bereitet mir Höllenqualen. Noch dazu, da ich merke, wie sehr du darauf brennst, hier dein Leben zu leben. Ich habe einfach Angst, bei dir in Vergessenheit zu geraten und nicht mehr mitzukommen bei allem, was du hier ohne mich ausheckst. Immer bist du mir einen Schritt voraus. In jeder Hinsicht.«

»Was bist du nur für ein Hasenfuß? Es gibt nicht den geringsten Grund, dass du dich von solch albernen Ängsten quälen lässt!« Behutsam löste sie sich aus seinen Armen, hielt seine Hände fest und lächelte ihn an. »Wie könnte mir ein anderer je ein ähnlich guter Kamerad sein wie du? Du kennst mich schon so lange. Deshalb solltest du wissen, dass das Einzige, worauf ich jetzt sehnsüchtig brenne, darin besteht, in meiner viel zu spärlichen freien Zeit außerhalb des Verlags einen neuen Roman auszuhecken. Schließlich bin ich ab sofort vertraglich verpflichtet, neben meiner Redakteurstätigkeit am nächsten Roman für Ullstein zu stricken. Zum Glück schwirrt mir schon eine erste Idee durch den Kopf.«

Verschmitzt zwinkerte sie ihm zu.

»Ich sehe schon, kaum in Berlin angekommen und noch nicht einmal mit der neuen Stelle begonnen, steckst du schon wieder bis über beide Ohren im nächsten Buch.«

»Du weißt, dass ich ständig schreiben muss. Einerlei, wie weit ich mich von dir und unserem gewohnten Ehe- und Familiendasein freischwimme, bleibe ich dieselbe. Und genau so, wie du mich seit Jahren kennst und liebst.«

»Dann will ich nur hoffen, du gehst über all den vielen neuen Gedanken in deinem Kopf nicht im Berliner Haifischbecken unter. Und insbesondere nicht im riesigen Ullsteinverlag. So ganz allein auf weiter Flur, weit weg von deinen drei Männern und so wasserscheu, wie du eigentlich bist.«

Damit schien der Streit über Vickis Aufbruch in ein freies, unabhängiges Dasein beigelegt gewesen. Vorerst zumindest. Die letzten gemeinsamen Tage in Berlin verbrachten sie in bester Eintracht zusammen mit den Kindern. Von der Vermieterfamilie liehen sie sich den alten Kahn für eine Ruderpartie auf dem Dianasee, erkundeten die Umgebung und radelten zum Baden an den Wannsee.

Vicki vermied es, noch einmal auf das Thema Wohnung zurückzukommen. Anscheinend war es Hans nur recht, obwohl Wolfgang wie auch Peter ihnen mit der Frage in den Ohren lagen, wann sie endlich ganz zu ihrer Mutter in das verwunschene Dachjuchhe mit dem waghalsigen Lukenzugang ziehen durften. Offenbar gefiel es ihnen in Berlin schon jetzt besser als in Mannheim – trotz ihrer dortigen Freunde, der vertrauten Umgebung, der geliebten Sportvereine und vor allem des von beiden angebeteten Kindermädchens Helene und der Köchin Tilda, die sich wie niemand sonst auf der Welt auf die Zubereitung von Mehlspeisen verstand. Als sie doch wieder mit Hans nach Mannheim aufgebrochen waren, hatten sie bittere Tränen vergossen. Weniger aus Abschiedsschmerz Vicki gegenüber, mit der sie fortan jeden Abend telefonieren würden, als vielmehr, weil sie sich so sehr in das Abenteuer Grunewald verliebt hatten.

 

In Gedanken bei der erst wenige Tage zurückliegenden Abreise ihrer drei Männer, durchstreifte Vicki jetzt noch einmal ihr neues Reich, ihr persönliches Zuhause. Und landete zuletzt in der kaum vier Quadratmeter großen Nische im Wohnzimmer, in die sie einen Stuhl sowie einen zierlichen Tisch gequetscht hatte, auf dem nichts stand außer ihrer altmodischen AEG-Mignon-Zeigerschreibmaschine.

Ehe sie es so recht bedachte, saß sie davor, hob den Holzdeckel ab, spannte ein Blatt Papier ein und begann zu tippen. Ganz automatisch entfaltete sich auf der kahlen weißen Wand vor ihr das Romangeschehen wie auf einer Kinoleinwand. Sie brauchte nur aufzuschreiben, was an Worten und Sätzen aus ihr heraussprudelte. Zielsicher führte sie den dünnen Metallstift der Schreibmaschine zwischen Zeigefinger und Daumen der linken Hand über das Buchstabenfeld, drückte mit dem rechten Zeigefinger die Taste für das Stempeln mit dem Typenkopf. Das gelang ihr in einer Geschwindigkeit, die rasch vergessen machte, wie umständlich die Bedienung des Geräts war.

Langsam füllte sich die ehedem jungfräulich leere Seite mit einer neuen Szene aus ihrem Roman, der Geschichte eines jungen, attraktiven Schwimmlehrers, der von den vornehmen, wohlgenährten Damen der besseren Gesellschaft aufdringlich umlagert wird und dennoch unermesslichen Hunger leidet. Vicki tauchte in ihr neues, selbstständiges und unabhängiges Autorinnendasein ab. Die Geschichte wollte heraus. Sie schrieb hoch konzentriert, allein auf sich gestellt, einzig ihren Figuren und dem für sie ersonnenen Schicksal verbunden – ohne dass jemand sie ans Essen, Trinken oder gar ans rechtzeitige Aufhören und Zubettgehen gemahnte.

Trotz aller Sehnsucht nach ihren Kindern und den schönen Stunden mit Hans wusste sie: Das war ihre Chance! Sie hatte die richtige Entscheidung getroffen. Sowohl bei ihrem Entschluss, auf Ullsteins Angebot einzugehen, als auch, dafür in Kauf zu nehmen, ein oder zwei Jahre größtenteils getrennt von ihrer Familie zu sein. Die dadurch gewonnene Zeit würde sie zu nutzen wissen. Für sich zu nutzen wissen.

In dieser Bleibe unterm Dach im Grunewald hatte sie sich die perfekte Zuflucht dafür geschaffen. Die ihr allein gehörte. In die niemand ihr hineinreden konnte. Sie war allein ihrs. So wie ab sofort ihr Leben allein ihrs war. Zum ersten Mal in ihren achtunddreißig Jahren.

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2

Vicki hasste es, auf die letzte Minute anzukommen, und erschien deshalb meist eine halbe Stunde zu früh. Eine Angewohnheit aus Wiener Kindheitstagen, in denen sie die so gewonnene Zeit vor Unterrichtsbeginn in der Schule genutzt hatte, um ihre Hausaufgaben in Ruhe zu erledigen. Was ihr daheim angesichts der kranken Mutter, die sie versorgen musste, und des nörgelnden Vaters, dem sie nie etwas recht machen konnte, einfach nie gelungen war. Als professionelle Harfenistin im Orchester hatte sie später die so für sich gewonnenen dreißig Minuten verwendet, um ungestört ihr Instrument zu stimmen.

Auch an ihrem ersten Arbeitstag bei Ullstein stand sie statt wie verabredet um halb zehn schon um neun Uhr im dritten Stock des Verlagsgebäudes in der Kochstraße. Und hoffte, man sähe ihr weder die Aufregung noch die Hitze an, die Anfang September immer noch über der Stadt lag.

Ein dicker Mann in dunkelblauer Uniform, der sich knurrig als »Botenmeister Appel« und Herr über eine kleine Armee ähnlich uniformierter Botenjungen vorstellte, musterte sie misstrauisch.

»In die Zeitschriftenabteilung gehören Sie? Als Redakteurin?«, fragte er und bemüht sich gar nicht erst, sonderlich zuvorkommend zu klingen. Offenbar hatte man es versäumt, ihn über ihren Eintritt in den Verlag zu informieren. Geschäftig blätterte er an seinem Stehpult in einem dicken Buch. Anscheinend fand er keinen passenden Eintrag. Und nicht nur das. Natürlich war ihm ebenso wenig mitgeteilt worden, in welcher Funktion sie im Hause tätig sein sollte. Ihre schlichte Antwort »als Redakteurin« erregte sein Misstrauen erst recht.

»Und dann kommen Sie um neun?«

Demonstrativ blickte er erst auf die große Wanduhr über seinem Pult, dann an Vicki vorbei auf die nach und nach dem Paternoster entsteigenden Frauen.

Sobald sie ebenfalls dorthin starrte, wurde ihr klar, was er ihr sagen wollte: Um neun trudelten die Sekretärinnen und Stenotypistinnen ein. Redaktionsmitglieder und höherrangige Verlagsmitarbeiter bewiesen ihre anspruchsvollere Position durch späteres Erscheinen.

»Am besten setzen Sie sich in einen Sessel und warten. Auf wen eigentlich, wenn ich fragen darf?«

Peinlicherweise konnte sie ihm keinen Namen nennen. Die Herren der Verlagsleitung würden sie wohl kaum persönlich zu ihrer Einarbeitung in Empfang nehmen. Erst recht nicht zu so früher Stunde, wie sie inzwischen begriffen hatte. Ihr kleinlautes Schweigen veranlasste Appel jetzt zu einem leicht mitleidigen Blick.

»Kommen Sie.« Er fasste sie am Arm, geleitete sie zu der Sitzgruppe neben der Treppe und half ihr aus dem Sommermantel.

Sie nahm Platz, legte sich den Mantel über die Knie, bettete den Hut obenauf und fühlte sich wie ein Schulmädchen, das beim Ausflug in die Welt der Erwachsenen vorschnell an der eigenen Courage gescheitert war.

Doch dann erwachte der Kampfgeist in ihr. Sie war schließlich nicht einer der eingeschüchterten halbwüchsigen Burschen, die Appel von seinem Katheder aus kommandierte und dabei stets zu noch höherem Tempo antrieb. Sie war die Redaktionsleiterin der neu gegründeten Literaturbeilage der Dame und nach Hermann Ullsteins Prophezeiung auf dem besten Weg, »die höchstbezahlte Romanautorin Deutschlands« zu werden. Was angesichts von mehr als einem halben Dutzend bereits von ihr erschienener verkaufsstarker Buchtitel durchaus plausibel war. Also stand ihr auch eine dicke Portion selbstbewusster Lässigkeit zu. Sie griff nach einer der auf dem Glastisch ausliegenden Zeitschriften, lehnte sich im Sessel zurück und begann betont beiläufig, darin zu blättern.

 

Bald hatte sie die bunte Auswahl durch, angefangen bei den Flaggschiffen Berliner Illustrirte Zeitung, Die Dame und Uhu über das biedere, aber sehr beliebte Blatt der Hausfrau bis zum intellektuellen Querschnitt und der Kinderzeitschrift Der heitere Fridolin, die Wolfgang und Peter abgöttisch liebten. Längst war es darüber zehn Uhr geworden, ohne dass sich jemand ihrer erbarmt hatte. Unruhig fächelte sie sich mit einer Zeitung Luft zu.

Allmählich änderte sich die Zusammensetzung der pausenlos mit dem Paternoster in die Zeitschriftenetage Hereinschwirrenden. Neben beim Reden bedeutungsvoll mit den Händen gestikulierenden Herren verschiedener Altersstufen, die schon von Weitem als rasende Reporter, bissige Kommentatoren oder geistreiche Kritiker zu erkennen waren, entstieg dem geheimnisvollen Gefährt auch eine stattliche Anzahl weiblicher Redaktionsangehöriger, die entweder dank ihrer schicken Aufmachung eindeutig zur Mode- und Kosmetikredaktion der Dame gehörten oder aber aufgrund ihres forschen, intellektuell wirkenden Auftretens sicherlich die Mannschaft der BIZ, des Uhu oder die Feuilletonredaktion der Vossischen Zeitung oder des Börsen-Couriers verstärkten. Doch einerlei, welchen Geschlechts sie waren, niemand von ihnen schenkte Vicki in dem Sessel direkt bei der Treppe, gegenüber dem Paternoster, Beachtung. Man hatte sie tatsächlich vergessen!

Hatte sie das mit dem sensationellen Angebot und dem irrwitzigen Versprechen Ullsteins und der drei anderen Verlagsgrößen womöglich nur geträumt? Ihren ersehnten Neubeginn im atemlos pulsierenden Berlin auf einem windigen Hirngespinst aufgebaut? Weil sie zu viel Phantasie besaß und von jeher dazu neigte, sich die unwahrscheinlichsten Dinge zusammenzureimen – und das derart realitätsgetreu, dass sie gelegentlich ihrer eigenen Fabulierkunst auf den Leim ging?

Schmerzlich vermisste sie mit einem Mal das Zigarettenrauchen, um sich wenigstens an etwas Realem festzuhalten. Das aber hatte sie sich ihres fanatischen Nichtrauchergatten wegen schon vor Jahren abgewöhnt. Sie sollte nicht ausgerechnet jetzt wieder damit anfangen.

Also konzentrierte sie sich auf ihr eigentliches Talent, das Beobachten von Menschen. Auch das konnte helfen, ruhiger und gelassener die Schmach des Wartens zu ertragen. Zu sehen und zu entdecken gab es im Ullsteinhaus mehr als genug, insbesondere im dritten Stock, der legendären Zeitschriftenetage, vis-à-vis dem Treppenaufgang sowie dem Paternoster.

Schon als die adrett zurechtgemachte Armada der jungen Tippfräulein an ihr vorbeigeflattert war, hatte sie bemerkt, wie bieder, wenn nicht gar altbacken ihre Aufmachung war. Dabei hatte sie in Mannheim als modisch-elegante, stilsichere Dame gegolten. Im quirligen Berlin Mitte der Zwanziger aber konnte ihr Äußeres kaum mit den einfachen Büromamsells mithalten, denen weder die Herfahrt in der stickigen, überfüllten U-Bahn noch die Septemberhitze oder die frühe Morgenstunde etwas anhaben konnte. Selbst in den schlichtesten Kleidern wirkten sie wie einem Modeheft entsprungen.

Obwohl Vicki das Haar bereits nackenkurz hatte und mit dem obligatorischen kecken Seitenscheitel frisierte, außerdem ein schlichtes, dunkles Kleid mit vorteilhaft tief angesetzter Taille sowie farblich darauf abgestimmte Spangenschuhe trug, fehlte ihrer Aufmachung der gewisse Pfiff. Und den brauchte es. Oder vielmehr sie, wenn sie in der Masse der künftigen Kolleginnen bestehen wollte.

Wohl oder übel würde sie nach der Finanzierung der Wohnungseinrichtung ihre eiserne Reserve ein zweites Mal antasten müssen und sich in den nächsten Tagen im KaDeWe, bei Tietz oder Wertheim beraten lassen, was die selbstbewusste, berufstätige Frau von heute in Berlin als Grundausstattung im Kleiderschrank benötigte. Zum Glück hatte sie die vor zwei Jahren beim Literaturwettbewerb der Kölnischen Zeitung gewonnenen fünftausend Mark Preisgeld noch auf dem Sparbuch. Was ihr persönlicher »Schutzheiliger« und Oberjuror Thomas Mann wohl dazu sagen würde, erführe er, für was sie das Preisgeld verwendete?

Sie wandte sich wieder dem Paternoster zu. Die Vielzahl unterschiedlichster Charaktere, die an ihr vorbeiströmten, wie auch der rätselhafte Lift selbst, der sie meist paarweise, gelegentlich auch zu dritt, ganz selten sogar zu viert im immer gleichen Rhythmus ausspuckte, wobei er den meisten einen kleinen Sprung aus der engen Kabine auf den Boden des Stockwerks abverlangte, zogen sie bald wieder vollständig in Bann. So ein Ding hatte sie noch nie benutzt. Vorhin war sie wie bei ihren vorangegangenen Besuchen im Haus die Treppe hinaufgestiegen, weil sie die Bewegung schätzte – und dem offenen Fahrstuhl mit seinem unerbittlichen In-Bewegung-Bleiben misstraute.

»Sage mir, wie du Paternoster fährst, und ich sage dir, wer du bist« – ein gefundenes Fressen für eine Autorin wie sie! Daraus ließe sich eine wunderbare Szene gestalten und die unterschiedlichsten Figuren binnen weniger Zeilen treffend umreißen. Am liebsten hätte sie Stift und Block gezückt, um sich erste Notizen zu machen, doch ärgerlicherweise hatte sie beides zu Hause vergessen.

»Fräulein Baum, wie schön, Sie zu sehen! Sitzen Sie hier schon lange?«

Sie schrak zusammen. Offenbar war sie ganz in ihren Gedanken versunken, sodass sie nicht bemerkt hatte, wie sich endlich jemand ihrer erbarmte. Noch dazu Kurt Szafranski, der seines voluminösen Umfangs und seines gewichtigen Auftretens wegen eigentlich nicht zu übersehen noch angesichts seines leichten Schnaufens beim Gehen zu überhören war. Und wieder hatte er sie – bewusst oder aus Gewohnheit? – mit »Fräulein« angeredet, wie die Herren aus der Vorstandsetage das schon bei ihrem ersten Gespräch im Frühjahr getan hatten. Sie sprang auf und reichte ihm die Hand, abermals überzeugt, dass jetzt nicht der Moment war, ihm das abzugewöhnen.

Im Hintergrund sah sie die Zeiger der Wanduhr auf halb zwölf vorrücken. Unglaubliche zweieinhalb Stunden hatte sie untätig herumgesessen! Und das an ihrem ersten Arbeitstag, an dem sie Szafranski und den anderen hatte beweisen wollen, wie gut sie es mit ihr getroffen hatten und dass sie ihr hohes Gehalt in jeder Sekunde im Haus wert war.

»Tut mir leid, falls Sie warten mussten.«

Szafranski strich sich mit den dicken Fingern, zwischen denen die gewohnte Zigarre steckte, über das runde Kinn. Jäh wurde ihr klar, warum sie so lange im Foyer gesessen hatte: Er hatte sie und ihren für diesen Tag verabredeten Einstieg bei Ullstein vergessen! Ebenso schien er vergessen zu haben, was er mit ihr anfangen, vor allem, wo er sie am geschicktesten abliefern sollte. Anscheinend hatte sich niemand im Haus Gedanken darüber gemacht, was sie mit ihr tun sollten, wenn sie wie abgemacht am ersten September vor der Tür stand.

Enttäuschung löste das seit Wochen so beflügelnde Hochgefühl ab, sie wäre am Ziel ihrer Träume: Zeitschriftenetage, Ullsteinhaus, dritter Stock, Kochstraße Berlin.

Unschlüssig schob Szafranski die runde Brille auf der Nase nach oben. Dann zog er sie sacht am Arm mit sich den Flur hinunter, allerdings alles andere als zielstrebig, sondern eher die anstehende endgültige Entscheidung über ihr weiteres Schicksal so lange wie möglich hinauszögernd, wie das gelegentliche Verlangsamen seiner Schritte vor einer Tür und das rasche Weitergehen verrieten, sobald er Stimmen dahinter vernahm oder menschliche Umrisse hinter den Milchglasscheiben erspähte.

»Gleich haben wir es. Irgendwo findet sich ein Plätzchen. Leider ist es gerade sehr unübersichtlich bei uns«, murmelte er mehr zu sich selbst als an sie gewandt.

Im fensterlosen, halbdunklen Flur war es stickig. Nach einigen Richtungswechseln und neuerlichen Stopps – das Ullsteinhaus war durch den Anbau neuer Flügel verwinkelt und tatsächlich sehr unübersichtlich geworden – hielten sie an einer der wenigen Türen mit Klarglasfenster. Schwungvoll stieß er sie auf und schob Vicki mit einem erleichterten »So, da wären wir!« hinein.

Die dicke Luft in dem winzigen Raum nahm ihr den Atem.

»Hier können Sie einstweilen bleiben, bis wir Sie endgültig platziert haben. Wenn Sie etwas brauchen, geben Sie Appel Bescheid. Den erreichen Sie über den Apparat auf dem Tisch unter der Eins. Das Weitere wird sich finden. Alles Gute!«

Schon war er draußen und sie mutterseelenallein in dem Kabuff. »Büro« wäre ihr als Bezeichnung zu hochtrabend erschienen. Sicher, es gab einen Schreibtisch, reichlich zerschrammt, aber zumindest ordentlich abgestaubt, sowie einen Stuhl. Und sogar ein Telefon, das noch dazu funktionierte, wie sie durch das Abnehmen des Hörers feststellte. Aber wen sollte sie anrufen? Oder wer sie?

Erschöpft sank sie auf den Stuhl, sah zum vorhanglosen Fenster hinaus und starrte auf die Fassaden alter grauer, heruntergekommener Mietskasernen. Die mussten nach Westen an der Charlottenstraße stehen, wie ihr ihr Pfadfindersinn verriet. Hektisch wurden dort Fenster geputzt, nahezu alle Fenster – und zwar von einem oder mitunter gar zwei auffällig hübschen, schick zurechtgemachten jungen Fräulein. Verwundert trat Vicki an ihr Fenster, öffnete es und blickte hinüber, um perplex zurückzuschrecken. Die Mädchen trugen lediglich leichte Unterkleider oder gar offenherzige Morgenröcke!

Allmählich dämmerte ihr, wer die Damen waren: Prostituierte. Allerdings solche von der gehobeneren Sorte, die nicht direkt am Straßenrand, sondern von ihrem Zimmer oder dem ihrer Madame aus um Kundschaft buhlten. Wegen des Verbots, durch Rufen oder Winken auf sich aufmerksam zu machen, bedienten sie sich des Tricks, mit der Fensterwischerei ihre Dienste anzupreisen.

Die eine oder andere entdeckte Vicki jetzt ebenfalls und winkte ihr lächelnd zu. Vicki erwiderte den Gruß. Wenigstens die leichten Mädchen schenkten ihr Beachtung. Auch das eine schöne Geschichte für ihre Stoffsammlung.

Der Straßenlärm, der zu ihr heraufdrang, war höllisch. Außerdem stank die Luft nach Abgasen und anderen wenig erfreulichen Großstadtgerüchen. Resigniert schloss sie das Fenster, nahm wieder am Schreibtisch Platz und beschäftigte sich mit dem Durchstöbern der diversen Schübe und Fächer. Außer einigen Blatt weißen Papiers, einem Stenoblock, einem Bleistift sowie leeren Aktendeckeln fand sich nichts.

Als sie ihre kleine Inspektionsreise ins Innere des Schreibtischs beendet hatte, bemerkte sie beim Aufrichten, wie fatal die klare Glasscheibe in der Tür war. Jeder, der draußen auf dem Flur vorbeikam, konnte zu ihr hereinsehen. Und das war, wie sie feststellte, eine beeindruckende Zahl Leute. Offenbar hatte es rasch die Runde gemacht, dass am Ende des Flurs ein neues Wesen zu bestaunen war. Das taten nun viele, zumal es inzwischen auf ein Uhr zuging, beste Mittagessenszeit. Das trieb die Belegschaft aus den Löchern und anscheinend zwingend am neuen Kuriosum vorbei zur Kantine. Manch einer starrte neugierig zu ihr herein, der eine oder andere winkte oder nickte ihr aufmunternd zu, und zwei oder drei trauten sich gar kurz zur Tür herein, um sich vorzustellen. Ehe sie sie mit einigen Fragen festhalten konnte, waren sie jedoch schon wieder verschwunden.

Vickis Magen knurrte, und ihre Kehle war ausgetrocknet. Höchste Zeit für eine Stärkung. Sie beschloss, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, und wählte am Apparat die Eins. Mürrisch meldete sich Appel. Auf Anhieb wusste er, wer sie war. Wenigstens ein Hoffnungsschimmer.

»Wäre es möglich, mir einen Türvorhang zu besorgen, damit ich hier nicht auf dem Präsentierteller sitze?«

Sie zwang sich zu einem munteren, unbefangen klingenden Ton, obwohl ihr das Herz bis zum Hals klopfte.

»Das muss Herr Ullstein entscheiden«, antwortete der Botenmeister hörbar entrüstet. Sein Ton ließ keinen Zweifel zu: Für jemanden wie sie, die an ihrem ersten Tag viel zu früh und ohne Vorwarnung an ihn in den Verlag hereingeschneit war, verhielt sie sich reichlich unverfroren.

Dennoch wagte sie noch den zweiten Vorstoß. Längst hing ihr der Magen in den Kniekehlen.

»Unser Kasino befindet sich in der vierten Etage«, reagierte Appel auf ihre Frage nach der Kantine weitaus zuvorkommender als vorhin. »Allerdings müssen Sie sich beeilen. Nur bis zwei wird dort warmes Essen serviert. Danach gibt es höchstens noch einen Kaffee.«

»Und wie finde ich am schnellsten hin?«

»Mit dem Paternoster. Mit dem gelangen Sie oben gleich an die richtige Stelle.«

»Einen anderen Weg gibt es nicht?«

»Nein.«

Damit war das Kantinenessen erledigt. Zumindest für den ersten Tag. Absolut undenkbar, in dieses Monstrum zu steigen! Zwar war sie eine begeisterte Sportlerin, besaß jedoch auch ein unbestreitbares Talent als Pechvogel. Gut möglich, dass sie beim tollpatschigen Ein- oder Aussteigen entweder das Gefährt außer Betrieb setzte oder sich gleich »die Haxen brach«, wie man in Wien sagte. Bei ihrem Glück an diesem ersten Tag im Verlag sprachen die Wettquoten für beides gleichzeitig. Also blieb sie lieber da, wo man sie abgestellt hatte: im Kabuff am Flurende mit direktem Blickkontakt zu den leichten Mädchen gegenüber.

Das laute Knurren ihres Magens würde die Neugierigen sicher bald davon abschrecken, zu ihr hereinzusehen. Oder ihren Ruf als Ungeheuer festigen. Angesichts der Aussicht auf achthundert Mark am Monatsende auf ihrem Konto war es letztlich kein allzu beklagenswertes Schicksal, das sie in der dritten Etage im Ullsteinhaus an der Berliner Kochstraße erlitt.

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3

Wenigstens ein Glas Wasser, später sogar eine Tasse des besten und stärksten Mokkas, den Vicki je getrunken hatte – eigentlich bevorzugte sie Tee, aber in ihrer aktuellen Situation wollte sie nicht kompliziert erscheinen –, sowie ein Teller Butterkekse und zum krönenden Abschluss ein Apfel trudelten nach und nach bei ihr im Büro ein. Offenbar hatte der Anblick des eingeschüchterten Kanarienvogels hinter der Glasscheibe, als der sie sich inzwischen fühlte, die Herzen ihrer neuen Kollegen erweicht. Was sie etwas für den verwehrten Türvorhang entschädigte und ihren ärgsten Hunger dämpfte.

Darüber wurde es Nachmittag.

»Das wird schon!«, meinte ein beleibter, kahlköpfiger und auffallend kurzatmiger Herr namens Rudolph Falkendong – »einmal ph, einmal f« – aufmunternd, als er ihr den Kaffee als aufmerksamen Willkommensgruß brachte. Der Hitze wegen hatte er aufs Jackett verzichtet und die Ärmel an seinem Hemd burschikos aufgekrempelt. Sie schätzte ihn auf ihr eigenes Alter und erschrak zugleich darüber, weil er ihr so behäbig vorkam. Das mochte daran liegen, dass die anderen Kollegen im Haus so viel jünger und drahtiger wirkten. Zu ihrer größten Verwunderung stellte Falkendong sich als Mitglied der Redaktion des witzig-klugen Uhu vor.

Die dünne, hochgewachsene, alterslose Frau mit dicker, goldumrandeter Brille im spitzen Mausgesicht an seiner Seite, die er zärtlich Minchen nannte, was sie eilig in »Hermine« übersetzte, riet dagegen: »Legen Sie sich ein dickes Fell zu. Hier geht es mitunter schroff zu. Aber letztlich sind wir alle eine große Familie.«

»Eine sehr große von mittlerweile weit über achttausend!«, sagte Falkendong stolz.

»Und trotz allem mit viel Humor und viel Spaß bei der Arbeit«, ergänzte Minchen und wies mit dem frisch manikürten rechten Zeigefinger auf den Apfel, den sie ihr auf den Tisch gelegt hatte. »Deshalb der kleine Vitaminschub. Damit Ihnen der Schwung nicht ausgeht. Mich finden Sie übrigens im Redaktionssekretariat des Uhu, den Flur rechts hinunter fünf Türen weiter. Falls Sie einmal tatkräftige Unterstützung brauchen. Und jetzt komm schon, Falkendong, Kroner wartet ungeduldig auf den letzten Seitenfüller für die aktuelle Ausgabe.«

 

»Pardon, aber was tun Sie hier?«

Nur wenige Minuten später polterte ein weiterer Kollege, ohne anzuklopfen, herein und gewährte ihr nicht einmal eine winzige Chance, zu antworten. Stattdessen schimpfte er sofort weiter: »Das ist mein Büro! Sie sitzen an meinem Schreibtisch! An dem haben Sie nichts verloren. Was fällt Ihnen überhaupt ein, ihn einfach in Beschlag zu nehmen?«

Fast hätte sie sich vor Schreck an ihrem Apfelbissen verschluckt. Minchen hatte recht: Mitunter ging es reichlich schroff im Haus zu. Doch dank der fürsorglichen Stärkung der Redaktionssekretärin fühlte sie sich für den Angriff gewappnet und blitzte den Eindringling herausfordernd an.

Der war von eher hagerer Statur und besorgniserregend krankem Teint.

»Kurt Szafranski hat mir das Zimmer zugewiesen. Ich bin die Leiterin der neuen Literaturbeilage der Dame.«

»Und Sie heißen?«

»Vicki Baum.«

»Sie sind Vicki Baum?«

Auf dem aschfahlen, eingefallenen Gesicht mit den leicht hervorquellenden Augen hinter der Brille breitete sich ein wissendes Lächeln aus. Es belebte die fleischigen Lippen überraschend angenehm.

»Warum sitzen Sie nicht gemütlich zu Hause und schreiben dort weiter an Ihren beneidenswert erfolgreichen Romanen?«

Er musterte sie noch einmal von oben bis unten. Sein Schmunzeln wurde breiter. »Sagen Sie jetzt bloß nicht, Sie befinden sich freiwillig in dieser Irrenanstalt? Noch ist es Zeit zu fliehen. Ich bin übrigens Großmann, Stefan Großmann.«

»Der berühmt-berüchtigte Herausgeber des legendären Tage-Buchs? Eine großartige Zeitschrift! Es ist mir eine Ehre, mit Ihnen das Büro zu teilen.«

»So viel können Sie gar nicht im Leben verbrechen, als dass man Sie zu dieser harten Strafe verdonnern dürfte. Lassen Sie uns lieber dem ollen Schurken Szafranski die Hölle heißmachen, damit er Ihnen auf der Stelle etwas Besseres besorgt. Als gebürtige Wiener in Berlin sollten wir zusammenhalten, ganz einerlei, worum es geht.«

Kurz darauf stürmte er mit ihr im Schlepptau auch Szafranskis Vorzimmer, ohne anzuklopfen, ignorierte geflissentlich die beiden empört aufspringenden Sekretärinnen und riss die Tür zum Chefbüro auf, um eine wütende Tirade über dem verdutzten Herrn der Zeitschriftenetage auszuschütten.

Zu Vickis Verwunderung bewies Szafranski Nerven – oder er war an Großmanns Ausfälle gewöhnt. Kaum hielt Großmann kurz inne, um wieder zu Atem zu gelangen, erhob Szafranski sich hinter seinem Schreibtisch zu ganzer Leibesfülle und sprach beruhigend auf ihn ein. Binnen weniger Minuten hatte er den vor ihm noch kränker und zerbrechlicher Wirkenden so weit beruhigt, dass dieser sich mit einer Tasse Kaffee und einem Glas besten französischen Cognacs sowie einer dicken Zigarre in einem Sessel niederließ, um dort zu warten, bis ihm ein angeblich weitaus komfortableres Büro organisiert wurde.

»Verzeihen Sie vielmals«, wandte Szafranski sich danach an Vicki. Geschickt lotste er sie ins Vorzimmer zurück. »Längst müssen Sie überzeugt sein, in einem Tollhaus statt in einem der größten Verlage des Landes gelandet zu sein. Doch glauben Sie mir, man gewöhnt sich an alles, selbst an die Verrücktheiten bei Ullstein. Material für Ihre Romane und Artikel finden Sie hier mehr als genug. Zumindest in dem Punkt hat Herz Ihnen bei unserem ersten Gespräch im letzten Frühjahr nicht zu viel versprochen.«

Die Bemerkung krönte er mit seinem dröhnenden Lachen.

Ehe Vicki einstimmen konnte, öffnete sich die Tür zum Flur, und der Chefredakteur der BIZ trat ein.

Neben dem grobschlächtigen Szafranski sah er wie der Inbegriff des feinen Geistesmenschen aus. Das schüttere dunkle Haar war ordentlich nach hinten frisiert, der schmale Oberlippenbart akkurat gestutzt, die schlanke, nicht sonderlich große Gestalt steckte selbst am Nachmittag noch in einem tadellos sitzenden Anzug ohne die geringsten Spuren von Knitterfalten. Vicki konnte kaum glauben, dass er sich das alles selbst erarbeitet hatte, »von ganz unten« kam, wie ihr jemand zugeflüstert hatte. Zwischen den frisch manikürten Fingern der einen Hand hielt er eine brennende Zigarette, in der zweiten Hand ein dickes Manuskriptbündel.

»Du kommst gerade recht!«, begrüßte Szafranski ihn in gewohnt leutseligem Ton. »Gerade wollte ich dir Fräulein Baum vorbeibringen, damit du ihr erste Aufträge erteilst. Sie brennt geradezu darauf, endlich die Ärmel hochzukrempeln und für uns loszulegen. Bestimmt hast du dir schon etwas überlegt, mit dem sie sich ihres üppigen Gehalts würdig erweist.«

»Sie haben heute Ihren ersten Tag bei uns?«, fragte Korff erstaunt. Im nächsten Moment hellte sich seine Miene allerdings freudig auf. Galant verbeugte er sich vor ihr.

»Das ist in der Tat hervorragend«, verkündete er geradezu übermütig. »Ich habe mir etwas für Sie überlegt. Der Name Richard Skowronnek wird Ihnen ein Begriff sein. Wahrscheinlich haben Sie einige seiner legendären Heimatromane aus Ostpreußen gelesen.«

Vicki wollte verneinen. Zwar meinte sie, einmal ein Buch des Schriftstellers in Händen gehalten zu haben, gelesen aber hatte sie es gewiss nicht. Ostpreußen und der dort lebende Menschenschlag mitsamt seinen mystischen Geschichten waren so gar nicht ihre Welt. Korff ließ ihr jedoch keine Gelegenheit, sich zu äußern. »Zigtausendfach haben wir die Bücher verkauft. Millionen haben die gelesen. Ein riesiger Erfolg. Und ein großer Verdienst von Skowronnek. Leider ändern sich die Zeiten. Seine Romane sind inzwischen ebenso aus der Mode wie seine lodengrünen Jagdanzüge, in denen er selbst bei diesen Temperaturen hier aufkreuzt. Die Leser unserer Zeitschriften wünschen sich bei den Fortsetzungsromanen modernere Stoffe. Und die Wünsche unserer Leser rangieren für uns an allererster Stelle. Sie sind das A und O, um unseren Erfolg zu garantieren.«

Zustimmend nickte Vicki.

»Jetzt sitzt Skowronnek im Besucherraum. Bedauerlicherweise sind meine engsten Mitarbeiter und ich gerade mitten in einer wichtigen Besprechung«, fuhr Korff fort, sah mit betontem Stirnrunzeln auf seine goldene Armbanduhr, seufzte. »Niemand hat die Zeit, sich so ausführlich mit ihm zu beschäftigen, wie er das verdient. Dabei erfordert es feinstes Fingerspitzengefühl, ihm die Absage verständnisvoll zu übermitteln.«

»Und Sie meinen, ich wäre diejenige, welche…?«, wagte Vicki sich vorsichtig vor.

»Ich wusste, Sie verstehen auf Anhieb, worum es mir geht. Als Autorin kennen Sie die Situation. Bestimmt haben Sie selbst schon häufiger Absagen …«

»Glücklicherweise bislang nicht«, stellte sie klar.

»Natürlich nicht! Verzeihen Sie. Trotzdem werden Sie das mit Bravour meistern. Für eine Frau von Ihrem Format ist das ein Kinderspiel. Sie sind wahrlich ein großer Gewinn für unser Haus. Wir schätzen uns überaus glücklich, Sie bei uns zu haben.«

Sie sparte sich eine Erwiderung, nahm das Manuskript und überflog im Weggehen die ersten Seiten. Sie trieften von einem schwülstigen, leicht überheblichen Stil.

Vor der Tür holte sie noch einmal tief Luft, dann öffnete sie sie und trat mit einem verbindlichen Lächeln um den Mund in den behaglich eingerichteten Besucherraum.

Ein Bär von einem Mann thronte in einem ausladenden Sessel, vollständig eingenebelt vom Rauch seiner Meerschaumpfeife. Kaum entdeckte er sie, nahm er die Pfeife aus dem Mund, erhob sich und kam gemessenen Schrittes auf sie zu, vom Scheitel bis zur Sohle in perfekter ostpreußisch-gutsherrlicher Haltung. Begleitet wurde er von einem wohlgeratenen Setter mit seidig glänzendem Fell.

Vicki hielt den Atem an. Bildete sie sich das wegen des Jagdanzugs und des großförsterlichen Habitus nur ein, oder trug Skowronnek tatsächlich seine Jagdflinte bei sich? Formvollendet hauchte er ihr einen Kuss auf die Hand und lud sie mit einer ausholenden Armbewegung zum Sitzen ein, bot ihr von der bereitstehenden eisgekühlten Limonade an.

Dank seiner ausgezeichneten Manieren wurde es ihr ein Leichtes, ihm mit schwärmerischen Worten vorzugaukeln, welch große Verehrerin seiner Romane sie sei, wie sehr sie es liebe, dank seiner Bücher in die malerische Weite Ostpreußens einzutauchen und sich dort als Teil einer besseren, glücklicheren Gemeinschaft zu fühlen, wie es sie in dem stinkenden, lärmenden Großstadtmoloch Berlin leider gar nicht mehr gäbe.

»Kein Wunder, dass fehlgeleitete Asphaltpflanzen wie Korff und die anderen Redakteure und Lektoren im Haus keinen Sinn für Ihre Kunst haben«, näherte sie sich dem Kern ihres Auftritts. »Feige verschanzen sie sich hinter den angeblichen Bedürfnissen der Leserschaft von heute und der modernen, temporeichen Zeit, um Ihnen den Abdruck Ihres neuen Werks als Fortsetzungsroman auszuschlagen.«

Sie hielt inne, bang seine Reaktion erwartend.

Schweigend sah er sie an.

»Das sollten Sie als Auszeichnung verstehen«, fuhr sie fort, »als eine verkappte Würdigung Ihrer Kunst, die man in einem so reißerisch der angeblichen Moderne hinterherhechelnden Organ wie der BIZschlichtweg nicht mehr zu schätzen weiß.«

Für einen Moment herrschte Stille zwischen ihnen.

Ein dünner Schweißfilm benetzte ihre Stirn. Fast fürchtete sie, zu weit vorgeprescht zu sein. Dann aber gewahrte sie das beglückte Aufleuchten in Skowronneks wässrig grauen Augen. Bedächtig nickte er, tätschelte seinem ihm zu Füßen liegenden Hund die Flanke.

»Sie und ich sind aus demselben Holz geschnitzt«, erklärte er bewegt. »Bewundernswert, wie Sie sich in diesem Ullsteinbabylon schlagen.«

»Ich bin auf dem Land aufgewachsen«, behauptete sie kühn. »In Österreich. Das ist im Vergleich zu Ihrer Heimat natürlich weitaus bescheidener, aber letztlich geht es vor allem um das Gefühl für die Gegend, aus der man stammt, um die Werte, die einem durch die Herkunft vermittelt werden.«

Bevor sie sich mit ihrer Schwindelei auf zu heikles Terrain wagte, stand sie auf und schützte mit größtem Bedauern einen dringenden Termin vor.

Zwar war sie sich letztlich nicht sicher, ob er ihr den ganzen Schwindel wirklich abnahm. Dafür versicherten sie sich auf dem Flur noch einmal herzlich ihrer gegenseitigen Hochachtung. Damit wollte sie es gut sein lassen und in ihr rettendes Kabuff verschwinden, er jedoch verstellte ihr den Weg und überraschte sie mit einer innigen Umarmung.

Als er sie wieder losließ, schimmerten seine Augen feucht.

 

»Bravo!«, gratulierte Korff, der trotz seiner angeblich so dringenden Besprechung ausreichend Zeit fand, Vicki direkt nach dem erledigten Auftrag in ihrem Büro aufzusuchen. »Ich wusste, dass Sie die Richtige für diese Aufgabe sind.«

»Die Feuertaufe haben Sie bestens bestanden. Respekt!«

Auch Szafranski kam persönlich vorbei und beglückwünschte sie ebenfalls überschwänglich zu dem Erfolg.

Kaum hatte der Zeitschriftendirektor sie wieder allein gelassen, tauchte eine Frau mit keckem, dunklem Bubikopf und knallroten Lippen bei ihr auf. Allmählich schwante Vicki, was Szafranski mit Tollhaus gemeint hatte. Im Verlag war es offenkundig Sitte, ohne Ankündigung oder gar Anklopfen das Büro eines anderen zu betreten. Das fortwährende Kommen und Gehen schien ruhige Momente oder gar längere Phasen des Ungestörtseins völlig unmöglich zu machen. Wie man sich unter solchen Umständen auf seine Arbeit konzentrieren sollte, würde sie noch herausfinden müssen. Zum Glück war sie anpassungsfähig. »Grete Fischer«, stellte die Frau sich vor.

Sie steckte in einem Hosenanzug mit weißem Hemd und dunkler Krawatte, trug passend dazu flache Budapester. Ihre rauchige Stimme wie auch die dunkel umschatteten Augen erzählten von verboten langen Nächten in vermutlich eher anrüchigen Etablissements. Dennoch strahlte sie eine klassische Eleganz aus.

»Ich schreibe Musikkritiken beim Börsen-Courier und wie jeder im Haus alles, was sonst noch anfällt und kurz vor Redaktionsschluss dringend in Zeilen gepresst werden muss, um zu auffällige weiße Löcher in der nächsten Zeitungsausgabe zu kaschieren.«

»Vicki Baum«, erwiderte Vicki, auch wenn sie ahnte, dass selbst die Toilettenfrauen im Haus mittlerweile ihren Namen kannten, und schüttelte die von Grete angebotene Hand.

»Bei Skowronnek haben Sie wohl für alle Zeiten ein Stein im Brett«, stellte Grete fest. »Wer weiß, wann Sie das noch einmal gebrauchen können. Auf einen aufrechten Ostpreußen wie ihn ist wirklich Verlass. Er lebt die Tugenden, von denen er schreibt, aus tiefster Überzeugung selbst.«

»Woher wissen Sie …?«

»So etwas macht bei uns im Haus gleich die Runde.« Grete schmunzelte. »Kein Geheimnis bleibt hier lange geheim. Und kommentiert wird hier übrigens auch alles sofort von jedem, ob Sie es hören wollen oder nicht. Wie wäre es jetzt mit Feierabend? Für heute haben Sie genug geleistet. Ich begleite Sie nach draußen.«

Nur zu gern nahm Vicki den Vorschlag an. Grete gefiel ihr auf Anhieb noch einen Tick besser als Minchen oder die anderen Kollegen, die sie im Lauf des turbulenten ersten Tages kennengelernt hatte. Rasch packte sie Tasche, Staubmantel und Hut.

»Das mit dem Paternoster ist übrigens ebenfalls kein Geheimnis«, verkündete Grete auf dem gemeinsamen Weg den Gang hinunter.

Vicki stutzte. Woher wusste sie auch schon über ihre Abneigung gegen das Gefährt Bescheid?

Je näher sie dem Foyer der Zeitschriftenabteilung kamen, desto mehr verkrampfte Vicki. Ausgeschlossen, in dieses Monstrum zu steigen! Wie aber konnte sie dem entgehen? Es blieben nur noch wenige Meter. Die Knie wurden ihr weich. Und Grete war nicht die Frau, der man so leicht etwas vorgaukelte.

»Sie ahnen nicht, wie lange ich gebraucht habe, bis ich mich in das Höllending getraut habe«, bekannte Grete unvermittelt und tat, als bemerkte sie nicht, was in Vicki vorging. »Dabei ist es keine Kunst. Selbst die dümmsten Botenjungen benutzen es, ohne mit der Wimper zu zucken. Da wird doch eine gestandene Frau wie ich damit zurechtkommen, habe ich mir gesagt und es einfach probiert. Und siehe da, es hat funktioniert! Weder habe ich mir den Hals gebrochen, noch den Fahrstuhl oder gar die gesamte Elektrik im Haus außer Betrieb gesetzt. Es ist eine Frage des Gespürs für den richtigen Moment. Und wer, wenn nicht wir Frauen, hat den?«

Im selben Augenblick zog sie Vicki in eine der engen, hölzernen Kabinen. Instinktiv setzte Vicki zum Sprung an. Und wunderte sich in der nächsten Sekunde, es tatsächlich geschafft zu haben. Sie war drinnen! Unverletzt. Und ohne eine Katastrophe ausgelöst zu haben.

»Glückwunsch! Die nächste Feuertaufe ist bestanden.« Als wäre nichts gewesen, lächelte Grete. »Und am besten wechseln wir jetzt zum Du. Auch das ist hier im Haus üblich. Zumindest in den Zeitschriftenredaktionen.«

»Vicki« war alles, was Vicki erwiderte.