(Vor-)Urteil - Sibylle Steger - E-Book

(Vor-)Urteil E-Book

Sibylle Steger

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Beschreibung

Ein Suizid im Berner Nobelhotel, ein ermordeter Politiker und ein Ermittler, welcher die Protagonistin regelmässig zur Weissglut bringt. Zu viel für die tollpatschige Privatdetektivin Vittoria Beltrametti, mit welcher man ab der ersten Zeile mitfühlen kann und die man für ihre Authentizität einfach ins Herz schliessen muss. Die Suche nach dem Mörder wird für die Detektivin mittleren Alters zum Wettlauf gegen die Zeit. Die Wahlen zum Einzug ins Bundeshaus stehen kurz bevor. Bald schon sieht sie sich selbst als Opfer sowohl ihrer eigenen, falschen Schlussfolgerungen wie auch jener unserer heutigen Gesellschaft. Ein packender Krimi, welcher einen schmunzeln und mitfiebern lässt und einen mit seinen eigenen, allzu schnellen (Vor-)Urteilen konfrontiert. Ob als amüsante Lektüre zur Schweizer Politlandschaft, zum Abschalten vom Alltag oder zum Aufspüren eigener, gefestigter Muster, dieses Buch kann in seinen unterschiedlichen Facetten gelesen werden. Bei welchen irrtümlichen Annahmen ertappst du dich?

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Seitenzahl: 169

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sibylle Steger

(Vor-)Urteil

Krimi

Wort des Dankes

Mein herzlichster Dank gilt sowohl meiner Familie, vor allem meinen Eltern, meiner Schwester, wie auch meinen Freunden, im Speziellen Nadia, Cindy und Laura mit Kollegen, welche mich unermüdlich auf meinem Weg unterstützt und motiviert haben, sowie meinem Mentor Hans, der mich überhaupt zum Schreiben gebracht hat. Ein grosser Dank gehört auch meinem Mann, welcher die Strapazen des Self-Publishing mit mir geteilt hat. Gracias a ti, Luis Miguel, por motivarme a hacer realidad mi sueño. Ein riesiges «Merci» gehört auch meiner Lektorin, wie auch meiner Cover-Designerin, welche das Buch zu dem gemacht haben, was es heute ist. Weiterer Dank gilt der Berner Kantonspolizei, der Eventra GmbH und all jenen, welche die Bekanntmachung dieses Buches so tatkräftig unterstützt haben. Und nicht zuletzt danke ich dir, liebe:r Leser:in, dafür, dass du das Buch gekauft hast und hoffentlich mit derselben Freude liest, mit welcher ich es geschrieben habe. Ich wünsche dir damit eine wunderbare Auszeit und (ent-)spannende Unterhaltung!

Personen

Vittoria Beltrametti

Privatdetektivin

Jean-Luc du Bois

Journalismus-Student und rechte Hand von Beltrametti

Jann Emmenegger

Ermittlungsleiter,

Kantonspolizei Bern

Ammann

Kommandant der

Kantonspolizei Bern, Emmeneggers oberster Vorgesetzter

Kisha Bysäth

Polizistin,

Kantonspolizei Bern

Robert Nessler

1. Opfer, SP-Politiker, Anwärter auf Bundesratssitz

René Stucki

2. Opfer, SP-Politiker

Kurt Halder

SP-Politiker

Leopold (Poldi) Dettwiler

SP-Politiker und Finanzchef in der Firma des amtierenden SP-Parteipräsidenten

Armin Lienhard

SP-Parteipräsident,

Firmeninhaber

Otto Affolter

SVP-Parteipräsident

Stämpfli

Vize-Parteileiter SVP

Le comptable

Anhänger der S’ITA

Kapitel 1

Es war wieder einmal einer jener verfluchten Tage, der einen hätte zum Manisch-Depressiven werden lassen können. Mit rastlosem Blick legte ich meinen Kopf auf meine Faust und starrte in den trostlosen Spätnachmittag hinaus. Der Regen plätscherte unentwegt von den Dächern der Berner Altstadt, und der Himmel schien sich bereits in ein dämmerndes Nachtblau zu verfärben. Ein trister Ausblick, sowohl nach innen wie nach aussen. Mein Kaffee hatte längst zu dampfen aufgehört, während es in meinem Kopf jedoch brodelte. Hätte ich die Steuererklärung doch nur nicht bis zur allerletzten Sekunde aufgeschoben! Aber was nützte es, sich jetzt noch zu beklagen? Mit dem letzten Funken an Motivation, den ich für diese hirnzermürbende Arbeit aufbringen konnte, versuchte ich die mir vorliegende Sache letztlich zu meinen Gunsten zu wenden. Prinzipiell wäre die Steuererklärung einer selbstständigen und dadurch erst recht dürftig verdienenden Frau, wie ich es war, ja ein relativ kurzes Unterfangen. Es sollte sich aber doch als hohe Schule erweisen, diese Behörden-Gauner davon abzuhalten, mir noch meinen letzten Rappen aus der Tasche zu ziehen. Womöglich, um sich damit ein dekadentes Weihnachtsessen auf Kosten ehrlicher Bürger zu gönnen! Würde mein ehemaliger Steuerexperte es mir wohl vergönnen, wenn ich das mir gestohlene Portemonnaie auf dem «Samstigs-Märit» als «Spende» verbuchen würde? Ich überlegte kurz: Hmm, wohl kaum. Und so setzte ich mit einem unschuldigen Gesichtsausdruck, wie ihn Michelangelo nicht hätte besser malen können, die CHF 400.00 entwendetes Shopping-Geld in das hübsch vorbereitete «Spenden»-Kästchen – plus Spesen. Neues Total CHF 800.00.

Plötzlich schoss ein schwarzer Schatten von rechts auf den alten, hölzernen Schreibtisch direkt vor dem Fenster. Ein Riesenschrecken fuhr mir durch Mark und Bein. Doch, Schreck lass nach: Monty – die Hauskatze. Meine Hauskatze. Das haarige Vieh streckte sich, krümmte seinen Rücken zu einem Katzenbuckel und schnurrte genüsslich, als es graziös vor mir über den Tisch stolzierte. All die Jahre war mir Monty ein treuer Freund gewesen – was man gewiss nicht von jedem behaupten konnte. Monty pflegte mir stets ein offenes Ohr zu widmen, wenn ich mich denn einmal mit einem Pack Schoko-Pralinen, mit Wollsocken, Morgenmantel und einer Flasche Rotwein auf der Couch verschanzte und schwieg, wann immer ich es wollte. Kein Klingeln, kein Telefonanruf und schon gar keine gut gemeinten Ratschläge liess ich an solchen Tagen an mich ran. Zugegebenermassen kamen derartige Tage in letzter Zeit –

eigentlich in den letzten Jahren – des Öfteren vor. Nur meine Mutter, mein eigen Fleisch und Blut, wagte es einst zu behaupten, dass dies auf mein Einsiedlerwesen zurückzuführen sei. Ich war Single. Jawohl! Und ein sehr überzeugter sogar. Was kümmerten mich die Menschen, die ihr Leben damit verschwendeten, einen einzigen Menschen in ihrem Leben zu finden, auf welchen sie all ihre Träume und Wünsche projizieren konnten? Sollten sie sich doch etwas vorlügen mit ihren ach so verrückten Schmetterlingen im Bauch! Mir war es gerade recht, dass Pilatus diese Saison seinen Zorn über Europa entlud. Oder war es doch Petrus gewesen? Egal. – So blieben zumindest die sabbernden und kichernden Liebesanbeter in ihren gemachten Nestern und verstopften die Stadtpärke nicht unnötig als schlendernde, engumschlungene Strassenbarrikaden.

Jawohl. Ich war Single und das war auch gut so. Während andere in meinem Alter sich dreckigen Windeln und topmodernen Flaschenwärmern verschrieben hatten, würde ich zumindest mit meinen 35 Jahren meine eigenen Brötchen verdienen und meinen Beitrag zur Sanierung der AHV leisten. So.

Diesen vielen guten Gründe zum Trotz führte kein Weg daran vorbei, den verschütteten Kaffee, welchen Monty über der Steuererklärung verteilt hatte, aufzutupfen. Ich erhob mich von meinem Schreibtisch und wankte zu meiner kleinen Einbauküche, um mir einen Lappen zu holen. Das Studio, in welchem ich mich eingemietet hatte, war nicht gross. Es verfügte, wie gesagt, über diese Küche. An der rechten Mauer war ein 1,20-Meter-Bett aufgestellt und vis-à-vis zur linken Wand ein altes Sitzsofa, dessen Farbe zu verbleichen begann. Bei Regen tropfte es an einigen undichten Stellen in die gelben und blauen Kübel, und der knarzende Holzboden hatte garantiert schon bessere Zeiten gesehen. Trotz allem wollte ich meine Dachwohnung im Herzen der Berner Altstadt auf gar keinen Fall verlassen. Dass das fahle Tageslicht nur durch dieses eine Fenster scheinen konnte, störte mich nicht. Die Wohnung war billig, und der Vermieter bemitleidete mich vermutlich dermassen, dass er auch keinen Aufstand um ein paar verspätet bezahlte Monatsmieten machte. Zudem nutzte ich dieses Einzimmerstudio vorwiegend, um zu arbeiten oder – wie gerade jetzt, wenn ich wieder einmal keinen Auftrag an der Angel hatte – um einen kleinen Tapetenwechsel vorzunehmen. Manchmal konnte mich die Arbeit bis tief in die Nacht hinein so sehr beanspruchen, dass auch ein kleines Kreativitäts-Päuschen nicht verkehrt sein konnte – daher das Bett.

Schräg über die Strasse im Erdgeschoss befand sich auch eine Drogerie. Meine Drogerie. Es kam wohl nicht von ungefähr, dass ich beim kleinsten Schnupfen sofort diejenige welche aufsuchte, um mir von dem einfach unwiderstehlichen Drogisten ein Mittelchen verschreiben zu lassen. Ein Mann – ein Spartaner und zugleich ein zartes Antlitz wie ein Babypopo. Achhhh. Ein Traum von einem Mann mit seinen tiefblauen Augen, den dunklen dicken Brauen und dem verspielten goldenen Schopf … und dann diese Arme! Den restlichen Körper wagte ich mir bisher nur in meinen kühnsten Träumen auszumalen. An dieser Stelle bedarf es wohl der Erklärung, dass sich mein überzeugtes Single-Dasein bei genau diesem netten Ausnahmefall als nicht ganz so absolut versteht. Ich verehrte diesen Mann; ja, ich vergötterte ihn und sein Wissen über Eukalyptus und Thymian. Ja, er konnte mir erzählen, was er wollte; in seinem Munde klang selbst jede Durchfallerkrankung wie ein Symphonieorchester aus Heilblumen und Wunderpflänzchen. Doch ihn schon nur spontan auf einen Kaffee oder Kräutertee hochzubitten – ein Ding der Unmöglichkeit. Dazu war ich viel zu schüchtern, wenn es denn darauf ankam. Und so schmachtete ich immer mal wieder auf dem Nachhauseweg unauffällig, wie es in meiner Natur lag, an der grossen Glasvitrine vorbei und freute mich im Stillen des Tages. Im Stillen … Ja, in der Tat war es in den vergangenen Jahren in so manchen Bereichen meines Lebens still geworden. Manche Bereiche hätte ich selbst schon als klinisch tot diagnostiziert, hätte man mich um einen ärztlichen Befund hinsichtlich meines Sexuallebens gefragt. Sie waren nun halt mal vorbei, die wilden Zeiten in meinen so genannten besten Jahren. «Welche wilden Zeiten?!», würde mia madre nun wohl wieder zu sagen pflegen. Aber ja, meine wilden Zeiten, die gab es. Und wie! Wenn die nur wüsste … Doch längst waren sie passé, die romantisch-lauen Sommernächte, mit im Wind wehendem Haar und zwei sich im einsamen Dunkel der Nacht küssenden Silhouetten … Gewichen sind diese Dinge sorgsam rundumplatzierten Fettpölsterchen, einem stets leeren Konto und einer nach wie vor halbfertigen Steuererklärung.

Gerade hatte ich mich meinen Gedanken entreissen können und den Stift zur Vollendung des leidigen Themas angesetzt, als mit einem schrillen Ton das Telefon klingelte. Verdutzt starrte ich die altmodische Vorrichtung aus dem 20. Jahrhundert an. Ich hatte mir diese Errungenschaft auf einem Flohmarkt gegönnt und seither hatte es nur ein paar Mal geklingelt. Ich schaute auf die Uhr. Es war mittlerweile kurz vor 20 Uhr. Wer um alles in der Welt würde um diese Zeit an einem verregneten Samstagabend etwas von mir wollen? Zwei Optionen schossen mir durch den Kopf: Mia Madre oder die Mormonen. Weder von ihr noch von jenen wollte ich mir die Ohren volldröhnen lassen, dazu hatte ich weder Zeit noch Lust. Zumal sich deren Sorgen oftmals um die gleiche Sache drehten. Widerwillig nahm ich nach dem zehnten Klingeln den Hörer von der Gabel und staunte nicht schlecht. Eine junge Frauenstimme meldete sich zu Wort.

«Signora Beltrametti?»

«Ja, mit wem spreche ich?»

«Das tut im Moment nichts zur Sache. Ich muss Sie dringend sprechen. Ich habe für Sie einen neuen Fall. Kennen Sie die alte Mattentreppe? Wir treffen uns morgen Abend dort gegen 21.00 Uhr», erwiderte es mit einer unsicheren Stimme aus dem Apparat.

«Moment, Moment, junge Dame. Also, so geht das nicht. Um was für einen neuen Fall handelt es sich denn überhaupt, und wie war noch gleich Ihr Name?»

«Ich habe Ihnen doch schon gesagt, das kann ich Ihnen nicht sagen. Vielleicht wird Ihr Telefon abgehört. Lesen Sie die Zeitung morgen! Ihr Fall ist kein Zufall! Morgen, 21 Uhr, und bitte vergewissern Sie sich, dass Ihnen niemand folgt.»

Das war’s. Die Verbindung wurde unterbrochen. Verdutzt starrte ich in den immer noch andauernden Regen hinaus und legte den Hörer behutsam auf die Gabel zurück. Ein neuer Fall, eine möglicherweise überwachte Telefonleitung und die Warnung, ich solle sichergehen, dass mir niemand folgt? In was für eine Sache würde ich da nur wieder reingeritten? Intuitiv schüttelte ich den Kopf. Auf keinen Fall würde ich mich morgen mit jemandem treffen, der mir noch nicht einmal seinen Namen nennen wollte. Solche Geheimnistuereien hatte ich gehörig satt. Um dann wieder auf so ein junges, verstörtes Ding zu treffen, das mich hinter dem Rücken seiner Eltern anzuheuern versuchte, um seine vermisste Katze zu finden. Und das zu einer Pauschale von CHF 50.00 Taschengeld! Nein, so weit war ich noch nicht gesunken. Zwar ging es mir finanziell betrachtet derzeit mies, sogar verdammt mies, konnte man sagen. Aber mich auf so ein Niveau hinabzubegeben, das verletzte den Stolz der italienischen Hälfte in mir zutiefst. Basta! Mit diesen Worten in meinem Kopf liess ich die Steuererklärung nun denn Steuererklärung sein und machte mich auf ins Bett. Morgen war ja auch noch ein Tag, an dem ich mich ihr widmen konnte.

Eine feuchtnasse Zunge leckte von unten nach oben quer über mein Gesicht. Es gibt angenehmere Formen, morgens aus den Federn gepiesackt zu werden. Doch die frische Milch, das wusste ich genau, durfte keine zehn Minuten länger auf sich warten lassen. Monty war bereits zu «Trick 77» übergegangen und setzte an, sich mit seiner rechten Pfote nach einem Lebenszeichen von mir zu erkundigen. Erzürnt darüber, dass mir kein Weiterschlafen vergönnt war, wischte ich mit dem Ärmel über meine Visage und machte mich schlaftrunken auf zum Kühlschrank in der Einbauküche. Darin befand sich, wie es nicht anders zu erwarten war, nicht viel ausser einem angefangenen Schimmelkäse, der Weinflasche von Tante Rosa und der obligatorischen, frischen Katzenmilch. Gähnende Leere starrte mich ansonsten aus dem Frigo an, was mich wiederum zum Gähnen animierte. So würde ich nach einem kurzen Blick in den Spiegel, den notwendigsten Handgriffen und einem Überwurfmantel über dem karierten Pyjama wie gewohnt in das Café gleich um die Ecke gehen. Man kannte mich. Mich und meine Ess-, Einkaufs- und Sonntagmorgen-Gewohnheiten und zeigte sich deswegen bei meinem Besuch kaum überrascht. Ich setzte mich mit der neusten Sonntagszeitung in meine gewohnte Ecke nahe dem bodentiefen Glasfenster und liess mir von Linda einen Cappuccino mit Extra-Schokostreusel bringen. Das eine Päckchen Zucker verteilte ich sorgfältig über dem kompakten Milchschaum und rührte es mit einer einstudierten Bewegung geduldig ein. Das zweite würde ich mir nach dem genüsslich verzehrten Schäumchen in einem Zuge in den Kaffee schütten. Ein morgendliches Trinkritual, welches manch trübe Stimmung zu vertreiben vermochte. Und während ich die vorzügliche Röstung langsam meinen Gaumen hinuntergleiten liess, ging mir plötzlich wieder der Gedanke an dieses mysteriöse Telefonat vom gestrigen Abend durch den Kopf. «Ihr Fall ist kein Zufall», hatte die junge Frauenstimme gesagt. Was sie damit wohl gemeint haben mochte? Ich schlug die Titelseite der Sonntagszeitung auf, und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Was ich da las, ich konnte es kaum glauben.

Kapitel 2

Robert Nesslers Hände zitterten, und es bereitete ihm Mühe, den Stift auf dem Papier gerade zu halten. Er wusste, was ihn erwarten würde, sobald er diesen Brief zu Ende geschrieben hatte. Wie hatte er sich nur in eine solch missliche Lage bringen können? Er war stets ein ehrlicher und ehrenwerter Mensch gewesen. Selbst von dieser lukrativen, aber hinterhältigen Sache hatte er sich nicht blenden lassen und seinen jahrelang verfolgten Weg nie aus den Augen verloren. Aber dieses eine Mal war er schwach geworden. Dieses eine Mal, welches seine Seele und Moral beinahe hatte verkümmern lassen, dieses eine Mal hatte er sich seinem Verlangen hingegeben. Monatelang hatte er seiner Frau und seinem mittlerweile neun Monate alten Sohn kaum in die Augen sehen können, ohne dass er von diesen quälenden Schuldgefühlen geplagt wurde. Wie hatte diese Misere nur so einen drastischen Verlauf nehmen können? Endlich hatte er gedacht, die ganze Sache allmählich vergessen zu können, da tauchte eines Tages dieser Briefumschlag mit den grässlichen Bildern auf. Seine Scham für das, was er getan hatte, war für ihn kaum auszuhalten. Und er wäre bereit gewesen alles zu bezahlen, was die Erpresser für die weiteren Abzüge von ihm verlangten.

Da sass er aber nun mit dem kalten Lauf einer schallgedämpften Makarow an der Schläfe. Winselnd, flehend und mit Schweissperlen auf der Haut. Die beiden maskierten Männer in Schwarz standen dicht hinter ihm. Ein weiterer hatte sich vor der Zimmertür des Bellevue Palace postiert.

Die kühle saubere Luft der kalten Nacht blies ihm ins Gesicht. Robert dämmerte es, dass er diesen maskierten Gestalten in die Falle gelaufen war. Seinen Peinigern war es nie um Geld oder seinen Ruf gegangen. Sein Puls schlug ihm bis zum Hals, und sein Zittern hatte sich in seinem ganzen Körper ausgebreitet. So stand er nun da, mit weit geöffneten Augen und innerlich voller Reue. Mit dem Revolver in seinem Rücken blieb ihm nicht mehr die Zeit, sein Leben vor seinem inneren Auge vorbeiziehen zu lassen. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft zu schreien. Seine letzten Gedankengalten seiner Frau und seinem Kind, bevor er seine Sünden der tiefblauen Nacht übergab und sprang.

Kapitel 3

Behutsam spähte ich um die Ecke der Mattentreppe. Keine Menschenseele war zu sehen. Es war kurz vor

21 Uhr und über der Stadt lag eine seltsame Stille. Etwa 600 Meter von mir entfernt kam ein verliebtes Pärchen turtelnd aus einer Seitengasse geschlendert und verschwand auch sogleich wieder in einem Hauseingang der Münstergasse. Erneut beobachtete ich mit einem flauen Gefühl im Magen die Umgebung, um zu sehen, ob mir bis dahin jemand gefolgt war. Nichts. Wer sollte sich auch die Mühe machen, mein Telefon abzuhören? Wer konnte das überhaupt? Der Staat? Zögernd stand ich am oberen Ende der überdachten Holztreppe und fragte mich, ob das Ganze nicht vielleicht doch nur ein schlechter Witz gewesen war. Doch die Stimme der jungen Frau am anderen Ende der Leitung hatte keineswegs so geklungen, als ob ihr zum Scherzen zumute war. Mit beiden Händen in den Taschen und mit vor Kälte hochgezogenen Schultern starrte ich die Treppe hinunter. Ich fröstelte und sehnte mich nach meiner warmen Wohnung.

Da! Plötzlich trat die Silhouette einer schlanken Gestalt mit hochgezogener Kapuze aus der Nische inmitten der Treppe hervor. Instinktiv kniff ich mein Sehorgan zusammen, um sicherzugehen, dass die Handzeichen dieser Person mir galten. Wem auch sonst? Es war ausser mir ja niemand anderes da … Das musste sie sein! Mit langsamen Schritten bewegte ich mich auf die wartende Gestalt zu. Die Kirchenuhren um uns herum hatten bereits 21 Uhr geschlagen, doch ich nahm sie kaum wahr. Meine Verabredung in der Mitte der Treppe schien aufs Äusserste verängstigt zu sein und drehte sich in der kurzen Zeit, in der ich mich ihr näherte, etliche Male um.

«Signora Beltrametti? Sind Sie allein?»

«Ja, das bin ich.»

«Danke, dass Sie gekommen sind. Wir wussten nicht, an wen wir uns sonst wenden sollten …»

«Wie? Wer ist wir? Könnte ich jetzt endlich mal erfahren, wer Sie sind?», fragte ich mit leichtem Nachdruck in der Stimme, vermutend, dass sie mir dies nun wieder nicht verraten wollte.

«Selbstverständlich», antwortete mein Gegenüber zu meinem Erstaunen.

«Wir sind der amtierende Bundespräsident und ich, seine Praktikantin. Mein Name ist Amelia Burkhard.» Sie reichte mir zur Begrüssung die Hand und hob dabei ihren Kopf unter der Kapuze. Nicht in erster Linie, um mir dabei flüchtig in die Augen zu sehen, so wie es der Anstand verlangte. Sondern mehr, um über meine Schulter hinweg einen prüfenden Blick auf den oberen Eingang der Treppe zu erhaschen, aus welchem ich gekommen war.

Der Bundespräsident! Ein Hitzeschwall durchfuhr bei diesen Worten meinen Körper. Solch einen offenbar wichtigen Auftrag hatte ich bisher noch nie gehabt, für den sich selbst das Staatsoberhaupt ins Zeug legte. Aber konnte man diesem Fräulein Unschuldslamm Glauben schenken?

«Der Bundespräsident, ich bitte Sie! Und Sie glauben, der würde eine Praktikantin zu mir schicken? Der müsste ja grosse Stücke auf eine derart junge Mitarbeiterin im befristeten Anstellungsverhältnis halten. Meinen Sie nicht auch?»

«Das tut er in der Tat! Ich bin seine Nichte und er schenkt mir sein vollstes Vertrauen in sämtlichen Belangen», fuhr sie in ruhigem und selbstsicherem Tonfall fort. Vitamin B also. Wozu man es damit heutzutage nicht alles bringen konnte. In ein paar Jahren würde sich ihre Karriere sicher im Show- und Entertainment-Business wie von Geisterhand weiterentwickeln.

Aber zumindest erklärte diese Tatsache so einiges. Wenn sie denn auch stimmte.

«Sie können absolut sicher sein, dass ...»

«Schon gut, schon gut», fiel ich ihr ins Wort. Allein mit Worten liess sich meiner Erfahrung nach sowieso nichts beweisen, und so konnte ich mir die unnötige Zeit in der Kälte auch sparen. «Um was geht es denn überhaupt?»

«Antoine – Herr Burkhard – möchte, dass Sie den Tod von Robert Nessler untersuchen. Wir glauben, dass Nessler sich nicht freiwillig umgebracht hat, sondern ermordet wurde. Das war kein Zufall, dass er genau jetzt gestorben ist, und auch kein Suizid. Nessler hat das Leben und wofür er sich stark gemacht hat, geliebt. Haben Sie die Zeitung gelesen, wie ich Ihnen gesagt habe?»

«Sowas in dieser Art habe ich mir schon gedacht. Und ja, ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Aber glauben Sie mir, es gibt absolut nichts, was im Leben von Robert Nessler auffällig gewesen wäre. Wer sollte diesen beinahe perfekten Vorzeigeburschen schon umbringen wollen? Zudem, sind die schlüpfrigen Fotos neben seinem Abschiedsbrief nicht Beweis genug? – Zumal er darauf nicht wirklich eine gute Figur abgibt, muss man dazu noch sagen. Bei dem Anblick hätte ich mich wohl auch in die Tiefe gestürzt …– Haben Sie denn handfeste Beweise für Ihre Theorie?», hakte ich leicht spöttisch nach.

«Ich nicht. Aber genau deswegen möchte Herr Burkhard mit Ihnen ein Treffen vereinbaren. Hier, er hat mir einen Brief für Sie mitgegeben, den ich Ihnen überreichen soll. Lesen Sie ihn und vernichten Sie ihn bitte anschliessend sofort. Der Bundespräsident darf auf keinen Fall in die Sache mit reingezogen werden. Sie wissen, wie schnell dies für die Presse zu einem gefundenen Fressen werden kann und zu einem Skandal aufgebauscht wird. Dieser Fall erfordert absolute Diskretion. Aber bei Ihrem Ruf dürfen wir sicher nichts anderes erwarten.»

«Dem darf ich zustimmen, meine Teure», gab ich mit einem selbstgefälligen Lächeln zur Antwort.

«Aber wäre das Ihrer Meinung nach nicht eher eine Information für die Polizei? Immerhin werden die den Fall, zumindest wenn man der Presse diesbezüglich Glauben schenken kann, schon bald ad acta legen. Und trotz der ein bis zwei mir bekannten Pfeifen unter ihnen hege ich doch recht grosses Vertrauen in unsere Freunde und Helfer.»