Vulkanjäger - Katja Brandis - E-Book

Vulkanjäger E-Book

Katja Brandis

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Jan begleitet seinen Vater, einen berühmten Dokumentarfilmer und Vulkanologen, auf eine abenteuerliche Reise zu den Vulkanen der Welt. Aber er hat nicht damit gerechnet, dass sein Vater auf der Jagd nach spektakulären Ausbrüchen immer wieder sein Leben riskiert. Auf die ständige Angst hat Jan wenig Lust, denn in Neapel, der Stadt am Vesuv, hat er sich in Giulia verliebt. Erst als seltsame Beben die Stadt erschüttern, wird Jan klar, dass der Vesuv einer der gefährlichsten Vulkane der Welt ist und sie alle in größerer Gefahr schweben als je zuvor ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 424

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Katja Brandis

Vulkanjäger

Roman

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Feurige Ferien

Dunkle Augen

Alles auf eine Karte

Schwarzes Wasser

Hawaii

Feuerfest

Ohne Peles Gnade

Gelbe Augen

Denk an die Kraft

Mädchen

Schwefelsklaven

Ausgestoßen

Respekt

Angst

Brennende Wolken

Born this way

Schönheit und Furcht

Entscheidung

Ganz und gar Giulia

Toter Stein

Rivalen

Undercover

Verhör

Zeit der Wahrheit

San Gennaro

Dachwache

Gefangen!

Fluchthelfer

Asche

In der Stadt des schwarzen Mönchs

Todesurteil

Familie

Epilog

Nachwort

Glossar

Impressum neobooks

Feurige Ferien

Als mir der Brandgeruch in die Nase stieg, wusste ich, dass etwas gewaltig schieflief. „Melde mich später wieder“, sagte ich zu meinem besten Freund Noah, drückte Auflegen und sprintete die Treppe hinunter in die Küche. Kurzer Blick durch die Glasscheibe des Backofens – verdammt, das sah schlecht aus! Ich riss die Ofentür auf und Rauch wallte mir entgegen. O Mann, ich hatte versehentlich Grill eingestellt! Das Hühnchen sah aus, als hätte es eine Feuerbestattung hinter sich. Konnte man das noch essen? Oder hatte sich die selbst gekochte Überraschung für Mama gerade erledigt?

Ich packte das Hühnchen mit einem Ofenhandschuh am Schenkel, versuchte, es auf einen Teller zu schleudern und gleichzeitig mit dem Knie die Ofenklappe zuzuknallen. Aber das Hühnchen hatte zu viel Schwung, es glitschte auf der anderen Seite des Tellers wieder hinunter. Instinktiv wollte ich es mit der bloßen Hand stoppen, schrie auf – heiß! – und ließ es fallen. Auf den Fußboden.

Alles kein Problem. Kein Problem – wenn man sich das oft genug sagt, dann stimmt es irgendwann. Ich hatte noch eine Viertelstunde, bis Mama von der Arbeit kam. Reichlich Zeit, den Vogel abzuwaschen und die verkohlten Stellen abzukratzen. Als ich damit fertig war, hatte ich noch genau sieben Minuten für den Salat. Aber wenn jemand Salat machen kann, dann ist das Jan Bendert, sechzehn Jahre, Vizechampion im Küchenduell der zehnten Klasse. Die Gurke hatte keine Chance gegen mich, die Tomaten zerfielen förmlich vor meinem Messer, und die Paprika drückte sich winselnd in eine Ecke des Kühlschranks, als sie mich kommen sah. Pünktlich war alles fertig. 19.30 Uhr, fast auf die Sekunde genau. Wow!

Jetzt fehlte nur noch meine Mutter.

Ich wischte mir den Schweiß ab, kippte das Küchenfenster und wartete auf das Geräusch ihres Schlüssels im Schloss. Vielleicht kam sie ein paar Minuten später, das war gar nicht so schlecht, dann konnte ich noch den Tisch decken. Das tröstete sie vielleicht darüber hinweg, dass es im ganzen Erdgeschoss nach Waldbrand roch.

19:40 Uhr. Wahrscheinlich traf sie jeden Moment ein. Ich warf mich aufs Sofa. Zu einem gelungenen Essen gehört schließlich ein entspannter Gastgeber.

Das Telefon klingelte. Es dauerte eine Weile, bis ich es gefunden hatte – ich hatte es vorhin auf mein Bett fallen lassen. „Bendert“, meldete ich mich und zurückkam ein gut gelauntes „Hier auch!“.

„Hi, Mama“, sagte ich und blickte auf die Anruferkennung, um festzustellen, ob sie vom Handy aus anrief oder aus dem Büro. Mama Büro, stand da. In diesem Moment wusste ich Bescheid und ein hohles Gefühl breitete sich in meinem Inneren aus.

„Bei mir wird´s leider ein bisschen später, ich bin mit der Präsentation immer noch nicht fertig und die Geschäftsleitung sitzt mir im Nacken ...“

„Aha“, sagte ich so freundlich wie möglich. „Na, dann noch viel Erfolg und bis nachher.“

Ich nahm mir die Hälfte des Hühnchens und ein bisschen Salat, den Rest warf ich weg. War eh nicht so gut geworden, in der Eile hatte ich zu viel Kreuzkümmel ins Dressing getan. Meine Katze Lucky machte es sich auf meinem Schoß bequem, begann sofort zu schnurren und tat so, als interessiere sie das Huhn gar nicht. Ich schenkte ihr trotzdem ein Stück. Vor drei Jahren war mir Lucky in einer eiskalten Winternacht auf dem Bahnsteig einer S-Bahn-Station begegnet und fast einen Kilometer weit hinterhergelaufen. Wieso hatte sie ausgerechnet mich ausgesucht und keinen von den anderen Fahrgästen, obwohl auch andere sie gestreichelt hatten? Hatte sie gespürt, wie sehr ich Tiere mochte? Als Kind hatte ich mal eine junge Elster großgezogen, und wenn die Nachbarn einen Igel fanden, der Hilfe brauchte, brachten sie ihn direkt zu mir.

Während ich den letzten Rest Salat aß, informierte mich der 3-D-Screen über all das, was an diesem 4. Mai 2020 passiert war. Ehemaliger Ministerpräsident Italiens nach Herzinfarkt in seinem Pool ertrunken. Neuer Wasserkrieg zwischen Pakistan und Indien. Naturschützer verurteilen den neuen Trend, aus haltbar gemachten Blumen Kleidung herzustellen. Sämtliche Neuigkeiten rauschten an mir vorbei. Wieso hatte ich überhaupt versucht, sie zu überraschen? Das war total naiv. Jemand Schlaueres als ich hätte ihr heimlich einen wichtigen Dinner-Termin in den elektronischen Terminkalender eingetragen. Aber sobald sie gemerkt hätte, dass es nur ein Treffen mit mir ist ...

Mit aller Kraft konzentrierte ich mich auf den Bildschirm, ich wollte diesen Gedanken nicht zu Ende denken. In Island war gerade mal wieder ein Vulkan ausgebrochen und bedrohte durch seine Aschewolke den Flugverkehr. Dunkelgrau wallte das Zeug nach oben. Sah ein klein bisschen aus wie der Rauch aus unserem Ofen, nur dicker.

Wie immer, wenn ich irgendetwas über Vulkane im Fernsehen sah, musste ich an meinen Vater denken. Ob er gerade dort war, in Island? Waren diese Filmaufnahmen von ihm?

Ich schrak auf, als das Telefon schon wieder klingelte. Vielleicht war das Noah, der wissen wollte, was passiert war und wann ich endlich zurückrief. Abwesend drückte ich auf den grünen Knopf und murmelte: „Ja?“

„Hier ist André. Bist du das, Jan?“

„Äh, ja“, stammelte ich verblüfft. Mein Vater! Zum ersten Mal seit zwei Monaten! Hatte er gespürt, dass ich an ihn dachte?

„Alles klar bei dir?“

„Ja“, sagte ich zum dritten Mal. Bis auf ein verbranntes Huhn und eine Mutter, die nicht aufgekreuzt ist. „Wo bist du gerade? In Island?“

Er lachte. „Nee, in München, ganz in eurer Nähe. Du meinst, wegen der Eruption? Die ist mir eine Nummer zu klein. Und weil die isländischen Vulkane oft unter Gletschern liegen, sieht man bei den Ausbrüchen sowieso fast nichts.“

„Aufnahmen von Aschewolken hast du wahrscheinlich schon genug, oder?“

„Yep. Dutzende.“

Es tat gut, mit ihm zu reden. So gut, dass ich auf einmal feuchte Augen hatte. Ich wischte mir schnell mit dem Ärmel drüber.

André war in München! Hieß das etwa, dass er Zeit hatte, mich zu sehen? Besser, nicht drauf zu hoffen. Wahrscheinlich ging schon morgen sein Flug nach Kolumbien, Japan oder wohin auch immer.

Doch so war es anscheinend nicht. „Kann ich am Wochenende mal bei euch vorbeikommen?“, fragte mein Vater. „Ich würde dich gerne sehen und habe einen Vorschlag, der dich vielleicht interessiert.“

„Einen Vorschlag?“, wiederholte ich, wahrscheinlich klang ich heute arg begriffsstutzig. Kurzer Blick in den geistigen Terminkalender. „Samstag haben wir noch nichts vor, glaub ich. Komm einfach am Nachmittag vorbei, wenn du magst.“ Ich sagte nicht, dass ich mich schon darauf freute. Nur für den Fall, dass es doch nicht klappte.

Aber es klappte tatsächlich.

Ein paar Tage später lehnte er lässig am Rahmen der Wohnzimmertür, die Daumen in die abgewetzte Jeans gehakt, die kurzen blonden Haare und der Dreitagebart schon ein bisschen grau. Wir sahen uns ähnlich, das gleiche sandfarbene Haar, die rauchgrauen Augen. Nur die Coolness hatte er mir nicht vererbt. Leider.

Meine Mutter begrüßte ihn deutlich freundlicher als ihre diversen Ex-Freunde, die hin und wieder vorbeischauten. Neugierig kam Lucky näher, um ihn abzuchecken, und strich um seine Beine. André beugte sich hinunter, um sie zu streicheln. „Hallo, Süße.“

„Das sagst du wirklich zu jedem weiblichen Wesen!“ Meine Mutter hob die Augenbrauen.

„Zu Jans Streifenhörnchen hab ich´s nicht gesagt“, meinte André schmunzelnd.

„Das ist leider letzten Monat gestorben“, informierte ich ihn.

„Hast du mir gar nicht geschrieben.“

Ich zuckte die Schultern. So richtig oft mailte ich ihm nicht, denn die meisten Nachrichten aus meinem Alltag waren nur begrenzt spannend, vor allem wenn man sie mit seinen Abenteuern verglich. Was sollte es ihn interessieren, dass Lucky zurzeit mit schrecklichem Erfolg Amseln jagte oder ich gestern mal wieder den Haushalts-Deppen gegeben und drei Ladungen Wäsche erledigt hatte? Dass ich um ein Haar von Frau Seidl beim Abschreiben erwischt worden wäre und mich mit meinen beiden Cousins zu einer LAN-Party getroffen hatte? Dass ich wohl nie Anna-Lia küssen würde, weil ich herausgefunden hatte, dass sie mit einem Typen aus ihrem Judo-Club zusammen war? Gähn.

Immerhin, von meinen Kanu-Touren hatte ich ihm geschrieben, schließlich stammte das alte, ramponierte Kanu von ihm – André hatte, als ich acht Jahre alt gewesen war, ein paar Monate bei uns gelebt und das Ding dagelassen, als er wieder auszog. Inzwischen hatte es ein paar Dellen und Aufkleber mehr. Manchmal paddelte ich mit Finn oder anderen Freunden los, aber auch oft allein, ich mochte die Stille und das Gefühl, dort auf dem Fluss ganz im Einklang mit mir selbst zu sein.

Mit Tellern und Tassen beladen wanderten wir raus auf die Terrasse.

„So, hier ist der Kuchen“, sagte meine Mutter und beförderte ungefragt ein Stück davon auf den Teller meines Vaters. Ich verzog das Gesicht – hatte sie vergessen, dass er nicht auf solchen Süßkram stand? Wahrscheinlich. Schließlich waren sie schon seit einer Ewigkeit getrennt.

André hatte meine Grimasse gesehen. Unsere Blicke trafen sich und wir tauschten ein kurzes, heimliches Lächeln. Erstaunlich – wir sahen uns selten, doch jedes Mal dauerte es nur ein paar Minuten, bis das Gefühl der Fremdheit verschwunden war.

Mein Stück Kuchen war schnell weg und ich nahm mir noch eins. Schlechte Angewohnheit von mir. Immer wenn ich nervös war, aß ich zu viel.

„Na, wie läuft´s so?“, fragte André mich.

„Er hat ganz gute Noten zurzeit, in Bio ist er Klassenbester, nur in Mathe braucht er Nachhilfe, und ...“, begann meine Mutter.

Ich verdrehte die Augen und André grinste. Als meine Mutter verstummt war, sagte ich: „Geht so. War schon mal besser.“

Er ging nicht darauf ein, sondern sah mich einen Moment lang nachdenklich an und wechselte ganz plötzlich das Thema. „Sag mal, hättest du Lust, in diesen Sommerferien mitzukommen? Zum Dreh?“

Mir kam es so vor, als bliebe mein Herz stehen.

„Du meinst ... auch mitfliegen und so?“, brachte ich irgendwie heraus.

„Na klar würdest du mitfliegen. Die Tickets spendiere ich. Also, was ist?“

„Irre!“, sagte ich andächtig. „Bin dabei!“

„Da habe ich auch ein Wörtchen mitzureden“, mischte sich meine Mutter ein. Sie hat wirklich ein gutes Herz, engagiert sich für Amnesty International und spendet jedes Jahr Unsummen für einen Pferde-Gnadenhof. Aber jetzt hatte ihre Stimme einen stahlharten Klang. „Was für einen Film machst du gerade? Doch nicht etwa wieder über Vulkane?“

„Doch.“ André schob den Kuchenteller, der noch fast voll war, von sich weg. „Menschen und Vulkane ist der Arbeitstitel, ein Drittel habe ich schon gedreht. Etwa fünfzig Drehtage werden es noch, schätze ich.“

Wie cool! Ich würde bei einem Film über Vulkane mitarbeiten dürfen! Wenn ich das meinem Freund Noah erzählte – er hatte mich schon ein paarmal gefragt, ob ich später auch Filme machen wollte, und er verpasste keine Doku meines Vaters im Fernsehen.

Doch leider sah meine Mutter längst nicht so begeistert aus. „Klingt gefährlich“, sagte sie. „Wieso drehst du nicht mal was über Fossilien oder Geysire? Für einen Geologen gibt es noch andere Themen als Vulkane!“

„Klar. Aber die Leute sehen nun mal lieber Lavafontänen im Fernsehen als herumspritzendes Heißwasser. Außerdem bin ich streng genommen Vulkanologe.“ André ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Ist das okay für dich, Jan? Traust du dir das zu?“

In diesem Moment traute ich mir alles zu. Oder zumindest hätte ich zu allem Ja gesagt, Hauptsache, ich durfte wirklich mit. Also nickte ich.

André wandte sich an meine Mutter. „Britta?“

„Erst will ich wissen, wo ihr überhaupt hinfahren werdet.“

„Erst mal Hawaii. Danach schauen wir mal, wo gerade ein Vulkan ausbricht.“ André breitete entschuldigend die Hände aus. „Vorausplanen kann man so was selten.“

„Na gut“, sagte meine Mutter und ich atmete auf. „Aber ihr geht nicht so nah ran, okay?“

„Versprochen – wir drehen fleißig mit Tele“, gab André fröhlich zurück. So fröhlich, dass ich nicht sicher war, ob er es ernst meinte.

Meine Mutter seufzte tief, dann beugte sie sich zu mir und umarmte mich. „Vielleicht ist es wirklich besser, dass du mit ihm fährst. Ich habe nämlich eine Anfrage für ein Projekt in Dubai, könnte sein, dass ich im Sommer ein paar Wochen weg bin ...“

Ach so. Deshalb hatte sie sich so schnell umstimmen lassen. Dabei hätte es mir nicht mal besonders viel ausgemacht, alleine hier zu bleiben. Ich war gewohnt, mich durchzuschlagen, wenn Mama bei Kunden vor Ort arbeitete. Einkaufen, Wäsche machen, Spülmaschine ein- und ausräumen, bei ausreichendem Hunger irgendetwas in den Topf werfen und so weiter. Manchmal fühlte ich mich allerdings bescheuert dabei, ich war der Einzige in meiner Klasse, der daheim den Haushalt organisieren musste. Meine Freunde kamen sich schon heldenhaft vor, wenn sie mal den Müll rausbrachten. Dafür mussten sie aber auch um zwölf daheim sein – bei mir achtete oft genug niemand darauf, wann ich im Bett war.

Tapfer hatte meine Mutter ihren Communicator ignoriert, der schon den Eingang mehrerer Nachrichten signalisiert hatte. Als sie die Teller in die Küche trug, wusste ich, dass sie erst mal ein paar Minuten wegbleiben würde. Jetzt konnten André und ich uns ungestört unterhalten.

„Weißt du wirklich nicht vorher, wohin wir fliegen werden?“, fragte ich gespannt. Mein Vater nickte lächelnd, meine Begeisterung schien ihm zu gefallen. „Na ja, zwei Stationen stehen schon fest. Was ich auf jeden Fall filmen will, sind wie gesagt Lavaströme in Hawaii und wie die Menschen darauf reagieren. Außerdem will ich die Schwefelernte am Kawa Ijen drehen, das heißt, es geht auch nach Indonesien.“

Hawaii! Indonesien! Wahrscheinlich stand auf meinem Gesicht ein seliges Lächeln, denn mein Vater lachte. „Ich hätte auch furchtbar gerne diesen Bauer in Mexiko interviewt, in dessen Maisfeld eines Tages einfach so ein Vulkan aus dem Boden gewachsen ist. Aber der Kerl lebt leider nicht mehr.“

„In einem Maisfeld? Einfach so?“ Diesmal war ich es, der lachen musste. „Aber hier kann das nicht passieren, oder?“

„Unwahrscheinlich. Vulkanausbrüche und Erdbeben gibt´s vor allem dort, wo die Platten zusammenstoßen. Du weißt schon: aus denen die Erdkruste besteht. Hattet ihr schon in der Schule, oder?“

„Längst.“

„In Süditalien ist so eine Plattengrenze, aber hier nicht. Früher gab´s in Deutschland mehr als genug Vulkane, aber der Einzige, der noch ein bisschen was hergeben könnte, ist in der Eifel.“

„So ein kleiner Vulkan im Garten wäre ganz praktisch fürs Grillen“, frotzelte ich und streichelte Lucky, die das sehr zu schätzen wusste.

André zog eine Augenbraue hoch. „Zumindest würden dann ziemlich viele Besucher vorbeikommen, um ihn sich anzuschauen.“

„Und du auch, schätze ich.“ Es war mir so rausgerutscht. Eigentlich hatte ich gar nicht vorgehabt, ihm irgendwelche Vorwürfe zu machen.

„Ja. Ich unter Garantie auch.“ Mein Vater lächelte schief. „Hör zu, es tut mir wirklich Leid, dass ich mich in den letzten Jahren so selten gemeldet habe ...“

„Immerhin hast du dir meinen Geburtstag gemerkt. Gibt ja Väter, die schaffen nicht mal das.“ Es kam aggressiver raus, als ich eigentlich wollte. Seine letzte Geburtstagsnachricht war zwei Wochen zu spät eingetrudelt.

André fuhr sich durch die kurzen Haare, er wirkte verlegen. „Eigentlich hatte ich auch vor, dir ein Geschenk mitzubringen. Aber dann habe ich es in meinem Hotelzimmer vergessen ...“

Was sollte ich dazu sagen? „Tja, hab ich halt Pech gehabt“? „Schade“? „Macht nichts“? Ich sagte gar nichts und stapelte schweigend die Tassen aufeinander, um sie in die Küche zu bringen. Auf einmal war ich nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee war, die kompletten Sommerferien mit meinem Vater zu verbringen. Wir waren noch nie so lange zusammen gewesen, was war, wenn wir uns nach ein paar Tagen an die Kehle gingen? Vielleicht hatte sich das ganze sowieso schon erledigt, vielleicht überlegte es sich mein Vater nach diesem blöden Gespräch noch mal, ob er mich dabeihaben wollte ...

„Dumm gelaufen, das mit dem Geschenk“, sagte André plötzlich. „Aber ich hatte schon länger vor, dir das hier zu geben. Ist vielleicht ein kleiner Ersatz.“

Verblüfft sah ich, wie er ein schmales Lederband mit drei tiefschwarzen Perlen von seinem Handgelenk knotete. „Die Perlen sind aus Lava“, sagte mein Vater. „Ich habe es vor ein paar Jahren in Indonesien bekommen. Es soll Glück bringen ...“

Ich nahm das Lederband und drehte es in der Hand. Die Lavaperlen fühlten sich glatt und warm an ... angewärmt von seiner Haut. Auf einmal war ich wieder den Tränen nahe, was war eigentlich los mit mir in letzter Zeit? Ungeschickt versuchte ich, das Band um mein rechtes Handgelenk zu befestigen.

„Warte, ich helfe dir“, sagte André und knotete das Band mit seinen kräftigen, gebräunten Händen fest.

„Danke“, sagte ich leise und er nickte.

André blieb nicht mehr lange, sondern plauderte nur noch eine Weile mit meiner Mutter über ihre Arbeit bei der Consultingfirma und mein Taschengeld, dann umarmte er mich zum Abschied. „Ich kümmere mich um alle Visa und Genehmigungen, dann kann es im August losgehen.“

Also hatte er seine Meinung nicht geändert!

„Sag deiner Mutter, du brauchst für die Reise drei Paar Wanderschuhe mit Kunststoff-Sohle, die könnt ihr schon mal besorgen. Alles andere, Stirnlampen und so weiter, leihe ich dir.“

„Drei Paar? Wieso das?“

Er lachte. „Wirst du schon sehen“, sagte er.

In dieser Nacht bekam ich nicht viel Schlaf. Nachdem ich die brandheißen Neuigkeiten gepostet hatte und sofort jede Menge Likes und Kommentare bekommen hatte, klickte ich mich mit klopfendem Herzen auf YouTube durch einen Vulkan-Clip nach dem anderen. Besonders lang blieb ich an einem Film über den Ausbruch des Mount St. Helens im Mai 1980 hängen. Jahrhundertelang hatte er ausgesehen wie ein ganz normaler Berg, rundum bewaldet, mit einer hübschen Schneekappe. Doch dann sprengte er eines Tages seinen Gipfel weg – explodierte einfach. Mit einer solchen Wucht, dass innerhalb von Sekunden Millionen von meterdicken Bäumen umgeworfen wurden. Ihre kahlen Stämme lagen säuberlich in die gleiche Richtung zeigend nebeneinander, als habe jemand Hügel und Täler mit Streichhölzern bedeckt. Ein riesiger dampfender Trichter klaffte dort, wo einmal die Spitze des St. Helens gewesen war. Um ihn herum ... eine graue Wüste, so weit das Auge reichte.

Eine Gänsehaut überzog meine Arme, als ich den Film wegklickte. Dieses Ding war eigentlich kein Berg gewesen, sondern eine Bombe von der Größe eines Berges! Und niemand hatte gewusst, wie lang die Lunte war.

Traust du dir das zu, Jan?

Ja. Nein. Vielleicht.

Fast ohne dass ich es bemerkte, glitten meine Finger über das Lederband mit den Lavaperlen, das ich ums Handgelenk trug. Warum wollte André überhaupt, dass ich mitkam? Jahrelang hatte er sich so selten gemeldet, dass ich ihn fast abgeschrieben hatte! Und nun, auf einmal ... warum jetzt? Einfach nur, weil ich inzwischen kräftig genug war, für ihn die Kamerataschen zu schleppen?

Es dauerte lange, bis ich es schaffte, einzuschlafen.

Dunkle Augen

Als es dann wirklich losging, konnte ich es selbst kaum glauben. Ich warf meine Reisetasche in den Kofferraum unseres Golf Hybrid, meine Mutter saß schon am Steuer. Zum Glück war sie nicht der Typ, der mich fragte, ob ich auch wirklich meine Zahnpasta und genug frische Unterhosen eingepackt hatte. Stattdessen blickte sie mich nachdenklich von der Seite an. „Wenn irgendwas nicht klappen sollte ... man kann einen Flug auch umbuchen, weißt du? Du kommst einfach zurück und ich hole dich vom Flughafen ab.“

„Von Dubai aus?“, gab ich trocken zurück. „Wow – toller Service!“

Verlegen ließ sie den Motor an. „In Dubai bin ich ja erst in einer Woche. Schreib mir gleich eine Nachricht, wenn ihr angekommen seid, ja?“

Sie setzte mich vor der Wohnung meines Vaters ab und stieg aus, um mich noch einmal zu umarmen. „Ich wünsche dir ganz viel Spaß und eine tolle Zeit“, sagte sie und drückte mich an sich. Etwas verlegen umarmte ich sie zurück und ihr vertrauter Duft stieg mir in die Nase. „Ich dir auch.“

Ich klingelte beim Firmenschild meines Vaters, und als die Tür aufsummte, schleifte ich mein Gepäck die Treppen hoch in den ersten Stock. Die Tür stand einen Spalt offen. Ich klopfte kurz, doch als keine Antwort kam, drückte ich die Tür einfach auf und ging hinein. André war nirgends in Sicht, stattdessen stand ich vor einem Berg von Taschen und Rucksäcken unterschiedlichster Größe. An den Wänden hingen gerahmte Vulkanfotos und eine Art meterlanger Kalender, auf dem in unterschiedlichen Farben Zeiträume markiert waren, vielleicht Drehtage. Mehr bemerkte ich nicht, denn jetzt kam André mit langen Schritten aus einem Nebenraum geeilt, auf seinem Kopf thronte eine ausgeschaltete Stirnlampe. Als er mich sah, strahlte er. „Pünktlich auf die Minute, so mag ich das. In einer halben Stunde fahren wir zum Flughafen. Pass, Flugticket, Geld?“

„Alles dabei“, sagte ich gehorsam. „Wo fliegen wir zuerst hin?“

„Neapel.“ André zog sich die Lampe vom Kopf. „Aber wir holen dort nur jemanden ab und fliegen dann weiter. Fred – eigentlich heißt er Federico – wird für uns den Ton machen, er kann aber auch verdammt gut drehen.“

Irgendwie hatte ich gedacht, wir würden nur zu zweit sein, André und ich. Total naiv. Ich nickte und hoffte, dass er mir die Enttäuschung nicht ansah. Schon redete André weiter. „Hier, bring das schon mal runter, unser Taxi kommt jeden Moment.“ Der Rucksack, auf den André deutete, erwies sich als atemberaubend schwer.

„Was ist denn da drin?“, keuchte ich.

„Meine neue High-Speed-Kamera, eine Arri – neu kostet die 100 000 Dollar, also lass sie nicht fallen“, gab mein Vater zurück, lud sich selbst ein Stativ sowie eine Tasche auf und folgte mir die Treppe hinunter.

Auch am Flughafen machte ich mich nützlich damit, das Gepäck durch die Gegend zu wuchten. Und war völlig verblüfft, als plötzlich mein Handy klingelte und Finn fragte: „Wo genau bist du gerade am Flughafen?“

Ich sagte es ihm – und keine drei Minuten später tauchten vier bekannte Gesichter beim Check-in auf und begrüßten mich johlend: Finn, sportlich-drahtig wie immer, Noah Hand in Hand mit seiner Freundin Pia, und Emily, die mit ihren schwarzen Klamotten und grünen Haaren ein bisschen auffiel zwischen den Urlaubern und Geschäftsleuten.

„Wir wollten uns noch mal richtig verabschieden, nur für den Fall, dass du in irgendeinen Krater fällst“, sagte Emily und umarmte mich.

Finn klatschte mich ab und Noah schlug mir auf die Schulter. „Sag uns Bescheid, wann der Film mit dir ins Kino kommt, okay?“

„Ich war doch noch nicht mal beim Casting“, sagte ich verlegen und war gerührt, dass sie sich die Mühe gemacht hatten, heimlich mit der Bahn herzukommen und mich zu verabschieden. In der Zwischenzeit hatte André unser Gepäck abgegeben und ich stellte ihm meine Freunde vor. Doch für mehr als ein kurzes Händeschütteln reichte die Zeit nicht, André blickte schon auf die Uhr. „Wir müssen jetzt durch die Kontrollen, fürchte ich.“ Neugierig schauten meine Freunde zu, wie ich durch den Body Scanner marschierte, und schossen ein paar Fotos. Ein letztes Mal winkte ich ihnen zu, dann waren sie außer Sicht.

Der Flug kam mir sehr kurz vor, denn André wollte alles wissen: Woran ich mich aus meiner Kindheit erinnerte, wer meine besten Freunde waren, was für Multiplayer-Games wir bei unseren LAN-Partys spielten, welches meine Lieblingsfächer in der Schule waren. Was sollte das, wollte er jetzt auf einmal alles nachholen, was er in den letzten Jahren verpasst hatte? Wollte er mir das Gefühl geben, er interessiere sich für mich? Oder wollte er das wirklich alles wissen, sogar den unwichtigsten Scheiß?

Ausgerechnet als die Stewardess sich uns mit dem Getränkewagen näherte und ich ihm nur halb zuhörte, fragte er: „Sag mal, warum hast du eigentlich das alte Kanu behalten? Ist doch komplett zerschrammt. Ich dachte, ihr würdet es irgendwann auf den Wertstoffhof bringen.“

Ungläubig wandte ich den Kopf und sah ihn an, während die Stewardess meinen Sitznachbarn fragte, was er trinken wolle. Es war nicht irgendein altes Kanu, war ihm das nicht klar? Es hatte doch ihm gehört! Er hatte die vielen Reiseaufkleber auf die Seiten gepappt, die meisten Schrammen stammten von seinen Fahrten. Nie würde ich dieses Kanu hergeben, ich würde es über Flüsse und Seen paddeln, bis es auseinanderfiel. Ich öffnete den Mund, um ihm zu antworten, doch dann sah ich das ungeduldige Lächeln der Stewardess, und heraus kam: „Eine Cola bitte.“

„Gerne.“ Dreißig Sekunden später umklammerte ich einen Kunststoffbecher mit braunem Inhalt, mein Vater bestellte einen Tomatensaft und die Antwort von eben gerade war in mir versiegt.

„Also, das Kanu. Das kann man doch noch benutzen“, murmelte ich schließlich, André nickte, und dann schauten wir uns auf Andrés Tablet die Erebos-Verfilmung an.

Nach der Landung nahmen wir uns ein Taxi in die Innenstadt von Neapel und landeten ziemlich bald im Stau. Um uns herum Autos, die alle irgendwie verbeult und verkratzt aussahen, sogar die noch ziemlich neuen. Zentimeterweise schoben wir uns durch die mehrspurige Straße voran, jemand hupte wütend. „Come sempre – wie immer“, sagte unserer Fahrer gleichgültig und packte ein nach Schinken duftendes belegtes Ciabatta aus.

„Mist, das hätte ich mir denken können – ich gebe Fred Bescheid, dass es später wird“, brummte mein Vater und tippte auf seinem Communicator herum. Ich legte den Kopf gegen das Sitzpolster aus braunem Kunstleder zurück und schloss die Augen. Aus dem Radio wummerte die italienische Version eines alten Maroon 5-Songs.

Endlich hielten wir in einer schmalen Straße und André klingelte an einem der von Abgasen geschwärzten fünfstöckigen Gebäude. Nichts passierte, doch zwei Minuten später hörten wir das Röhren eines Motors und ein Geländemotorrad schoss heran. Der Fahrer parkte seine Enduro auf dem Bürgersteig neben uns und zog den Helm vom Kopf. Zum Vorschein kam ein älterer Mann mit raspelkurzen grauen Haaren und tiefen Furchen um die Mundwinkel. Er ignorierte mich und schüttelte meinem Vater die Hand. „Na, alles klar, Fred?“, fragte André ihn lächelnd.

„Man schlägt sich so durch“, sagte Fred auf Deutsch mit einem leichten Akzent, den ich nicht einordnen konnte, italienisch oder amerikanisch oder eine Mischung aus beidem. Er streifte mich mit einem Blick. „Also das da ist dein Kleiner?“

Verblüfft glotzte ich ihn an. Schon vor einem Jahr hatte ich die 1,80-Marke geknackt und dieser Typ da in der abgewetzten Lederjacke reichte mir nicht mal bis zum Kinn.

„Ja, genau.“ Mein Vater grinste. „Ganz der Papa, was?“

„Könnte man sagen“, brummte Fred und musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen. „Wenn man eine lebhafte Fantasie hat.“

Wie, was? Na logisch sahen wir uns ähnlich! Zwei oder drei Minuten später fiel mir die beißende Bemerkung dazu ein. Tut euch keinen Zwang an, redet ruhig über mich. Ich tue nur so, als ob ich zuhöre! Nur leider quatschten sie längst nicht mehr über mich, sondern nur noch über den geplanten Dreh.

Wir verstauten unser Gepäck in einem kleinen Hotel eine Straße weiter, dann meinte André zu mir: „Fred und ich müssen noch die Ausrüstung überprüfen und alles Mögliche besprechen, magst du dich ein bisschen in der Stadt umsehen?“

Das hieß wohl, dass ich gerade überflüssig war. Kein Problem, ich wollte mir sowieso Neapel anschauen.

Ich streifte durch die engen Gassen, in die jetzt am späten Nachmittag kaum noch ein Sonnenstrahl drang. Vorbei an einem übervollen, stechend riechenden Müllcontainer und an einer Bäckerei, aus der es nach Vanille und Blätterteig duftete. An einem kleinen Altar an einer Hauswand, in dem Plastikblumen und Kerzen vor einem Heiligenbild aufgebaut waren. An einem Fischgeschäft, von dessen Auslage mich Dutzende von starren Augen anglotzten. Auf den Balkons über mir flatterte zum Trocknen aufgespannte Wäsche, und wenn ich wollte, konnte ich in die Erdgeschosswohnungen hineinschauen, alle Fenster waren offen. Drinnen lief überall Fußball im Fernsehen. Ich konnte sehen, woher der Strom dafür kam, die oberen Stockwerke vieler Häuser waren mit kleinen Stücken Solarfolie vollgeklebt, ein schimmerndes Patchwork.

Interessiert spähte ich in jede Ecke. Das hier war nicht das gepflegte, idyllische Italien, das ich aus den Urlauben mit meiner Mutter am Gardasee und in der Toskana kannte. Dieses Italien war rau, dreckig, arm und deutlich interessanter.

Ich bog in eine größere Straße ab, in der sich Geschäfte und Cafés aneinanderreihten. Ein paar Minuten später kam ich an einem Souvenirladen vorbei, dessen Auslagen sich über den ganzen Bürgersteig erstreckten. Keine Ahnung, was passiert wäre, wenn ich einen anderen Laden ausgesucht hätte, um etwas für meine Mutter, Noah, Finn, Emily und meine anderen Freunde zu kaufen. Aber ich ging in diesen und schaute mich mit leichtem Grusel um – hatte irgendjemand, den ich kannte, Verwendung für Wandteller mit einem kitschigen Blick über die Bucht von Neapel mit dem darüber thronenden Vesuv? Oder für Kühlschrankmagnete in Pizza-Form? Es gab auch eine Schneekugel, in der eine Art brauner Napfkuchen mit Schlagsahne thronte ... ach so, das sollte wohl der ausbrechende Vesuv sein, das Weiße oben drauf war die Aschewolke ...

Mein Blick streifte durch den Laden, in dem ich der einzige Kunde war. Die junge Italienerin an der Kasse hatte mich noch nicht bemerkt, weil ich in der Nähe des Eingangs stand. Sie war gerade konzentriert dabei, ihr langes dunkles Haar zusammenzudrehen und hochzustecken. Doch dann rutschte ihr die Haarklammer aus der Hand, und als sie danach schnappte, entglitt ihr auch die Frisur. Leise fluchend versuchte sie sie zu retten und gleichzeitig ihre Haarklammer zu suchen.

Unwillkürlich musste ich lächeln, und es war, als habe sie ihre Fingerspitzen ausgestreckt und mein Herz berührt. Wer war sie? Wie hieß sie? Jetzt hatte sie mich bemerkt, und mit einem höflichen Lächeln sah sie mich an und wartete darauf, dass ich etwas kaufte. Ich schnappte mir blindlings eine I love Napoli-Tasse und ging damit auf sie zu. Sie hatte ein elfenhaft zartes Gesicht und ihre langen Haare glänzten wie die schwarzen Tasten eines Klaviers. Da sie mir nur bis zur Schulter ging, schaute sie kurz zu mir hoch, als sie „Tre Euro“ sagte. Ich wollte noch irgendeine Bemerkung machen, aber ihre schönen dunklen Augen hatten mein Italienisch von der Festplatte gelöscht. Der Blick des Mädchens wurde immer fragender, und ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde. Auch das noch. Jan die Tomate. Schnell das Geld rüberschieben und raus hier, ein „Grazie – ciao“ schaffte ich gerade noch.

Ich wanderte durch die Straßen, ohne irgendetwas zu sehen, immer geradeaus, verloren in einem Traum. Um ein Haar hätte mich ein Motorroller umgenietet, aber der Fahrer konnte gerade noch ausweichen.

Ganz von selbst steuerten meine Füße mich irgendwann zurück zum Souvenirladen. Das Mädchen stapelte gerade Aschenbecher mit bunten Bildchen und Goldrand aufeinander. Ich tat so, als würde ich Weinflaschenhalter mustern, bis ich endlich den Mut hatte, sie in Italienisch anzusprechen. „Scusi, Signorina, haben Sie eigentlich auch Bücher?“ Es war keine sehr schlaue Frage, doch ich hielt mich an Wörter, die ich kannte.

Dafür bekam ich ein Lächeln. „Leider nein, aber wie wäre es damit? Molto bello!“

Sie zeigte mir eine Tischdecke mit einer dekorativen Karte der Amalfi-Küste darauf. Unglaublich hässlich. Ich kaufte sie trotzdem. Mit etwas Glück fand meine Mutter das Ding witzig. Wie konnte ich herauskriegen, wie die Elfe hieß? Sie war garantiert nicht älter als ich, jobbte sie während der Ferien hier? Hatte sie einen Freund?

Als ich ins Hotelzimmer zurückkehrte, war mein Vater noch nicht wieder da. Ich warf mich auf mein Bett, starrte an die Decke und rief mir noch einmal jeden Moment mit ihr ins Gedächtnis. Nicht mal zu Anna-Lia hatte ich mich so hingezogen gefühlt. Sie hatte in der Klasse ein paar Monate lang neben mir gesessen, doch vermutlich hatte sie nichts davon gemerkt, dass ich sie toll fand. Ich hatte mir auch alle Mühe gegeben, es mir nicht anmerken zu lassen, während wir herumwitzelten oder zusammen Bio lernten.

Aber was jetzt, was war mit diesem italienischen Mädchen? In solchen Dingen hatte ich einfach kein Glück, wahrscheinlich würden wir nicht mehr als zehn Sätze wechseln in der Zeit, in der ich hier war. Schon bald würden André und ich weiterreisen zu all den Vulkanen, die mein Vater filmen wollte, und irgendwann würde ich sie vergessen ... schließlich wusste ich nicht einmal, wie sie hieß ...

Ich schrieb eine Nachricht an Noah, ihm konnte ich es sagen, was heute geschehen war. Ziemlich schnell war seine Antwort da.

Hey, das freut mich total! Lass einfach deinen Charme spielen! Pia sagt, du hättest es echt verdient, dass dich endlich mal eine entdeckt ...

Noah

Moment mal, Noah redete mit Pia über mein Liebesleben? Der bekam vorerst keine weiteren Enthüllungen mehr von mir!

Den Abend verbrachten wir mit Fred in einem winzigen Restaurant auf der Via dei Tribunali, vor uns drei nach geschmolzenem Käse duftende Pizza Vesuvio, zu Ehren des Berges, der sich neben der Stadt erhob. „Wenn du magst, können wir morgen kurz auf den Vesuv klettern, während Fred noch ein paar Ersatzakkus für die Arri besorgt“, kündigte mein Vater an. „Schließlich willst du möglichst viele Vulkane sehen, oder?“

„Äh, ja, logisch.“

„Aber wenn du was anderes machen willst, gerne.“

„Okay.“ Abwesend biss ich in ein dampfendes Stück Pizza.

Mein Vater ließ mich nicht aus den Augen. „Sag mal, was ist eigentlich los mit dir? Oder redest du immer so wenig?“

„Los? Mit mir?“, wiederholte ich und bemühte mich um ein Lächeln. „Ich glaube, es ist das Klima. Ziemlich heiß hier.“

„Das wird in Hawaii nicht besser“, meinte Fred. „Kannst dich gleich dran gewöhnen.“

Ach echt? Der hatte ja tolle Tipps auf Lager.

Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete mich André, und einen Moment lang befürchtete ich, dass er einfach raten würde, was mit mir los war ... und damit richtigliegen würde. Aber dann zuckte er die Schultern und schob seinen halb leeren Teller von sich. „Das war meine erste und letzte Pizza hier, ich vertrage so fettiges Zeug einfach nicht.“

„Gut, dass du sonst härter im Nehmen bist“, bemerkte Fred und aß den Rest von Andrés Pizza gleich mit.

Alles auf eine Karte

Ich bekam dieses Mädchen einfach nicht aus dem Kopf. Warum eigentlich? Nur weil sie hübsch war? Womöglich stellte sie sich als oberflächliche Zicke heraus, die sich vor jeder Spinne ekelte und hauptsächlich an Shopping interessiert war. Aber irgendwie glaubte ich das nicht. Sie wirkte so herzlich, so echt.

Wenn ich sie in ihrem Laden sah, ging etwas, was sich wie ein elektrischer Schlag anfühlte, durch meinen ganzen Körper. Einmal sah ich sie mit einem Mann diskutieren und bewunderte die feurige Art, wie sie mit den Händen sprach. Ein anderes Mal beobachtete ich sie dabei, wie sie heimlich unter der Theke auf ihrem Communicator herumtippte, und musste grinsen. Niemand war im Laden, ich musste einfach nur auf sie zugehen und sie fragen, wie sie hieß. Alles auf eine Karte. Los jetzt!

Wieder nichts, weder meine Füße noch meine Lippen bewegten sich. Es nahm mir jeden Mut, dass sie mich immer noch mit diesem höflichen Verkäuferinnen-Lächeln bedachte, wenn sie mich sah. Kein Erkennen in den Augen, gar nichts. Obwohl ich gestern und heute so oft da gewesen war.

Am Nachmittag machte André sein Versprechen wahr, mir den Vesuv zu zeigen. „Es wird nicht besonders anstrengend, man kommt gut mit dem Auto hin“, kündigte er an. Nachdem wir aus Neapel raus waren, fuhren wir eine gewundene Straße entlang, die durch eine Ortschaft nach oben führte. Nach und nach wurden die Gebäude seltener, wir fuhren durch unbebaute Gegenden mit niedrigen Bäumen und Buschwerk. „Unter dem Gestrüpp sind lauter alte Lavaströme“, erklärte André. Neugierig hielt ich Ausschau, aber die Ströme waren längst überwachsen, man sah nicht viel. Ich beobachtete lieber den Turmfalken, der über uns jagte.

Auf einem Parkplatz in tausend Meter Höhe stellten wir unser Mietauto neben den anderen Autos und Bussen ab, zahlten Eintritt und gingen zu Fuß weiter. Auf einem gut ausgebauten Schotterweg ging es hoch bis zum Krater. Ungläubig musterte ich die Souvenirhütten, in denen man nicht nur Postkarten, sondern auch Figürchen und Aschenbecher aus Lava kaufen konnte. Direkt am Krater! Mein Vater folgte meinem Blick und verzog das Gesicht. „Unglaublich, was? Würde ich alles verbieten lassen, wenn ich könnte.“

Eine Horde französischer Touristen drängte sich am Kraterrand, lauschte den Erklärungen ihres Führers und bewunderte die Aussicht in den Krater, einen tiefen, rötlich-braunen Schlund. Wir gingen ein Stück weiter, um ungestört zu sein, lehnten uns ans Holzgeländer und blickten ebenfalls in die Tiefe. Viel zu sehen war nicht, bis auf eine kleine Dampfwolke, die aus dem Erdinneren hervordrang und sich an der Innenseite des Kraters hochschlängelte. Nach dem, was ich schon über Pompeji gelesen hätte, hätte ich mir den Vesuv irgendwie größer vorgestellt, bedrohlicher.

André betrachtete mich von der Seite. „Nicht sehr beeindruckend, was?“

„Nicht wirklich“, gab ich zu. „Kann das Ding noch mal irgendwann ausbrechen? Oder ist es erloschen?“

„Nein, erloschen ist der Vesuv nicht.“ Mein Vater beobachtete die Kraterwände aufmerksam, schien jede Kleinigkeit in sich aufzunehmen. „Er ruht nur. Irgendwann geht´s hier wieder rund – aber niemand weiß, wann. Manchmal dauert es Jahrzehnte bis zur nächsten Eruption, gelegentlich sogar Jahrhunderte. Bis dahin filme ich lieber anderswo ausbrechende Vulkane.“

Instinktiv berührte ich mein neues Lederarmband mit den Lavaperlen. Noch konnte ich nicht wirklich glauben, dass ich André dabei begleiten durfte, wie er Ausbrüche filmte ...

Wir wanderten am Kraterrand entlang, und André zeigte mir Pompeji, auf den ersten Blick ein ganz normales Städtchen in der Küstenebene. Mit der Kamera zoomte ich die römischen Ruinen heran. „Das ist ganz schön weit weg“, sagte ich erstaunt und André nickte nachdenklich. „Aber nicht weit genug.“

Ich blickte übers den Golf von Neapel hinaus, das Meer schimmerte in der Mittagssonne wie die Schuppenhaut einer Echse.

„Genug gesehen?“, fragte André und ich nickte. Auf dem Rückweg schweiften meine Gedanken ab, zurück zu dem Mädchen im Souvenirgeschäft. Würde sie mich wiedererkennen, wenn ich das nächste Mal in ihren Laden kam? Bestimmt!

Am frühen Abend bekam ich dann die Quittung für den ganzen Irrsinn.

„He, was hast du denn da für eine Sammlung?“, wollte mein Vater wissen, nachdem ich unvorsichtigerweise in seiner Gegenwart meine Reisetasche aufgeklappt hatte. „Wozu brauchst du drei Kühlschrankmagneten in Pizzaform?“

„Souvenirs für meine Freunde“, brummte ich.

„Und den Topflappen mit Zitronenmotiven?“

„Kann man immer gebrauchen. Ich koche gern.“

„Was ist mit der Amalfi-Tischdecke?“

„Was soll damit sein? Irgendetwas muss man ja über diese verdammten Tische legen.“ Ich trank einen Schluck Wasser aus meiner I love Napoli-Tasse.

André griff sich an den Kopf. „Also, den Sammeltrieb hast du jedenfalls nicht von mir!“

Ich wies ihn darauf hin, dass meine Reisetasche noch keineswegs voll war, im Gegensatz zu seiner.

„Da ist ja auch wichtige Ausrüstung drin“, konterte mein Vater. „Weil wir sehr bald dabei sind, einen Film zu machen, falls du das vergessen hast. Übermorgen fliegen wir ab und können dann endlich mit dem Drehen anfangen.“

„Übermorgen?“ Wahrscheinlich wurde ich gerade blass. Ich konnte doch jetzt nicht aufgeben! Irgendwann würde das Mädchen mich bestimmt wiedererkennen, wir würden ins Gespräch kommen, und…

„Ja, genau. Wir nehmen uns dann Punkt zwölf Uhr mittags ein Taxi zum Flughafen.“ Mein Vater war bester Laune. „Keine Sorge, vom Kilauea in Hawaii wirst du garantiert nicht enttäuscht sein.“

Ich konnte nicht anders. Eine halbe Stunde später erfand ich eine fadenscheinige Entschuldigung, um mich abzusetzen und noch einmal am Souvenirladen vorbeizugehen. Als ich loszog, betrachtete mich André wieder mit diesem durchdringenden Blick, den ich nun schon kannte, aber er sagte nur: „Sei bitte um sieben zurück, dann besprechen wir den Dreh und ich weise dich in die Ausrüstung ein.“

Als ich das Geschäft betrat, war die junge Verkäuferin gerade damit beschäftigt, eine Frau zu beraten, die anscheinend eine britische Touristin war. „Do you have sundials, my dear?“, fragte die Dame, und meine Elfe nickte, ja, Sonnenuhren hatten sie da. Sogar aus echtem italienischen Marmor. Aber leider ganz oben im Regal.

„I would like to buy one“, verkündete die Touristin.

Meine Elfe warf einen Blick nach oben. Da kam sie nicht ran, im Leben nicht. Groß war sie nämlich nicht gerade. Seufzend wollte sie gerade in ein Hinterzimmer gehen und wahrscheinlich einen Hocker holen, da sagte ich spontan: „No problem“, streckte mich etwas und nahm eine der Sonnenuhren herunter. „This one?“, fragte ich die Touristin.

Die junge Italienerin nickte mir lächelnd zu und diesmal war es ein echtes Lächeln. Keins für jeden, sondern eines ganz allein für mich.

Noch drei andere Sonnenuhren musste ich holen, bis die britische Lady eine gefunden hatte, die ihr gefiel. Ich lungerte im Laden herum, bis sie bezahlt hatte und abgezogen war. Dann herrschte wieder Stille.

„Du hast ganz schön viele Freunde, was?“, fragte eine helle Stimme, ihre Stimme! Mein Herz begann zu rasen wie nach einem Sprint. Sie hatte das auf Deutsch gesagt, wieso sprach meine Elfe Deutsch? Ich schaute auf und sah, dass sie an der Kassentheke lehnte und mich beobachtete, das glänzende Haar floss ihr offen über die Schultern. An diesem Tag trug sie ein türkisfarbenes Top und einen schwarzen Minirock, der ihr blendend stand.

„Viele Freunde? Wieso?“, fragte ich, ebenfalls auf Deutsch.

„Weil du schon so viel gekauft hast.“

Ich grinste verlegen. Also hatte sie es doch bemerkt, dass ich ziemlich oft vorbeigekommen war. „Ähm, ja, so einige“, schwindelte ich, obwohl ich eigentlich nur Noah, Finn und Emily wirklich als Freunde zählte. „Denen muss ich natürlich was mitbringen ...“

„Aber kauf bloß nicht den Schrott Made in China – das da und das da und das“, sagte sie und deutete verächtlich auf ein paar Sachen, die ich zum Glück noch nicht besaß. „Taugt nichts.“

Es war so schön, endlich mit ihr zu reden! „Woher hast du gewusst, dass ich aus Deutschland komme?“

Ihre weißen Zähne blitzten auf. „Wir haben zwei Jahre lang in Deutschland gelebt. Dadurch kann meine Mutter jetzt als traduttrice – wie sagt man? Ach ja, Übersetzerin – arbeiten. Und ich erkenne un ragazzo tedesco, einen Jungen aus Deutschland, wenn ich einen sehe.“

„Toll“, sagte ich aus ganzem Herzen. „Wie heißt du eigentlich?“

Ein Kunde ging mit einer kitschigen Heiligenfigur zur Kasse und das Mädchen war wieder beschäftigt. Ich warf einen schnellen Blick auf die Uhr. Shit. Höchste Zeit, zurückzugehen. Ich würde rennen müssen, um es überhaupt zu schaffen. O nein, da kam diese englische Lady wieder, was zum Teufel wollte sie jetzt noch?

Mit dem Mut der Verzweiflung schnappte ich mir ein Tamburin, marschierte selbst zur Kasse und kam ganz knapp vor der Britin dort an. Meine Elfe schenkte mir ein verschmitztes Lächeln und kritzelte schnell Giulia auf einen Block, während sie mit der anderen Hand einen ganz anderen Preis eintippte als den, der wirklich auf dem Musikinstrument stand.

„Jan“, flüsterte ich zurück und bezahlte die fünfzig Cent, die sie mir berechnet hatte. Dann war auch schon die ältere Dame dran.

Auf dem Weg zurück zum Hotel schwebten meine Füße über dem Boden, und ich ließ den Zettel mit ihrem Namen nicht aus der Hand – in meiner anderen Hand klimperte das blödsinnige Tamburin.

Mit zehn Minuten Verspätung war ich zurück, und ich sah auf den ersten Blick, dass mein Vater stinksauer war. „Schluss mit dem bescheuerten Versteckspiel!“, fuhr er mich an. „Klartext. Wie heißt sie?“

Völlig verblüfft hielt ich ihm den Zettel hin.

„Aha, Giulia – ist sie nett?“, meinte er, er sprach es aus wie Julia in Englisch. Dschulia.

„Ich glaube schon“, meinte ich.

„Na, dann ist´s ja gut“, sagte mein Vater trocken und begann, mir den Zusammenbau der High-Speed-Kamera zu erklären. Ich gab mir Mühe, mir alles zu merken, und versuchte, mich möglichst geschickt anzustellen. Damit er sich wieder abregte. Hatte gerade noch gefehlt, dass er einen schlechten Eindruck von mir bekam, noch bevor unsere Reise richtig begonnen hatte!

Nach unendlich langer Zeit, wie es mir vorkam, stand ich endlich wieder in Giulias Laden. Sie begrüßte mich mit einem fröhlichen „Va bene?“, und als ich so tat, als würde ich alle möglichen Souvenirs auf meine Arme häufen, musste sie lachen. Ich mochte die Art, wie sie lachte, übermütig und richtig tief aus dem Bauch heraus. Und es war, als hätte ich etwas gefunden, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass es mir fehlte.

„Hast du Lust, mit mir ein Eis essen zu gehen?“, fragte ich schnell, bevor ich es mir anders überlegen konnte.

Wow. Ich hatte es getan, ich hatte gefragt. Halb gefroren vor Furcht, wartete ich auf ihre Antwort.

„Vediamo“, sagte Giulia. Wenn ich das richtig verstanden hatte, hieß das „Schauen wir mal“ im Sinne von „Vielleicht“. Na ja, besser als ein Nein. Giulia schien auf etwas zu warten, auf irgendetwas, das ich sagte. Aber ich hatte keine Ahnung, auf was. Höflich meinte ich einfach „Okay, denk einfach drüber nach, ja?“, und Giulia schaute mich an wie einen Außerirdischen. Was hatte ich falsch gemacht? Wenn das hier ein Spiel war, kannte ich die Regeln nicht.

Also fragte ich bei meinem nächsten Besuch am gleichen Tag einfach nochmal. „Und, wann gehen wir Eis essen?“ So, als hätten wir alle Zeit der Welt.

Fast rechnete ich wieder mit einem Vediamo, doch diesmal kam keins. Verschmitzt blickte Giulia mich an. „Sagen wir es mal so: Ich gehe mit dir Eis essen, wenn du mit mir im Meer geschwommen bist.“

„Kein Problem“, sagte ich erstaunt. Wo war der Haken? Schwimmen gehen war neben Kanu fahren eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. „Wann treffen wir uns?“

„Heute um Mitternacht“, erwiderte Giulia, und ihre Augen blitzten herausfordernd.

Ein Schauer überlief mich. Ich hätte ihr sagen können, dass es unklug war, nachts im Meer zu baden, weil zu dieser Zeit Haie auf der Jagd waren. Außerdem konnte einen nachts keiner retten, wenn man in Schwierigkeiten kam. Aber das wusste sie wahrscheinlich selbst. Vielleicht hielt sie deutsche Jungs für langweilig und hatte vor, mich zu testen. Das konnte sie haben. „Okay“, sagte ich und hielt ihrem Blick stand.

„Wohin soll ich kommen?“

„Ich hole dich mit dem motorini ab – wo wohnst du?“

Ich beschrieb es ihr und verabschiedete mich mit einem lockeren „Also dann bis später“.

Die Chancen, meinen Vater von dieser Aktion zu überzeugen, waren gleich Null und ihn einfach nicht um Erlaubnis zu fragen die einzige Lösung, die mir einfiel. Also stopfte ich, als André gerade telefonierte, ohne Aufhebens mein Schwimmzeug in den Rucksack und erklärte: „Ich geh noch mal weg, kann spät werden, okay? Mach dir keine Sorgen.“

„Ab wie viel Uhr darf ich die Polizei rufen?“, fragte mein Vater, ohne aufzublicken.

„Wenn die Sonne aufgeht“, gab ich zurück. Wenn ich bis dahin nicht zurück war, hatte ich tatsächlich ein Problem.

Schwarzes Wasser

Erst jetzt, in der Nacht, wich die brütende Hitze langsam aus der Stadt.

Ich stand wartend auf dem Bürgersteig, der nach Hundepisse stank, und hielt Ausschau nach Giulia.

Ein weißer japanischer Motorroller hielt neben mir. „Steig auf“, sagte die kleine Gestalt auf dem Sitz und warf mir einen Helm zu. Ich setzte ihn auf und schwang mich auf den hinteren Sitz. Dann gab Giulia kräftig Gas. Ich suchte mit den Händen nach einem Halt, aber es gab nirgendwo einen Griff. Und dass ich die Arme um Giulias Taille schlang, kam natürlich nicht infrage. Also hielt ich mich – wie die meisten anderen Italiener auf dem hinteren Sitz – gar nicht fest.

Giulias Haare, die unter ihrem Helm hervorlugten, flatterten mir ins Gesicht, während sie elegant Autos überholte und sich an einem kleinen Stau vorbeischlängelte. Dann kamen wir auf einen breiten Boulevard, und ihr motorini sauste immer schneller durch die Nacht, die selbst um diese Zeit noch voller Lichter und Autos und Menschen war.

Ich hatte erwartet, dass sie zu irgendeinem Strand fuhr, aber sie bremste erst, als eine kantige Burg vor uns auftauchte. Eine Festung im Meer vor Neapel, gegen die die Brandung donnerte. „Castel dell´Ovo“, sagte Giulia und parkte ihren Motorroller. „Man sagt, dass irgendwo in seinem Inneren ein Ei verborgen ist. Wenn es zerbricht, dann ist Neapel dem Untergang geweiht.“

„Da reicht wohl das nächstbeste Erdbeben“, sagte ich und gab ihr den Helm zurück.

„Wir hatten eins, aber das ist schon cinque anni, fünf Jahre, her. Ich fand´s aufregend, aber meine Großmutter ist unter den Esstisch gekrochen.“ Giulia schaute sich um – niemand in Sicht, die Ziegelbrücke, die zum Kastell führte, lag verlassen da. Rasch begann Giulia damit, sich auszuziehen und ihre Klamotten in eine Plastiktüte zu stopfen. Zögernd folgte ich ihrem Beispiel. Wo genau sollte man denn hier überhaupt ins Meer kommen? Über die Kalksteinfelsen vor der Promenade? Ich sah mich um und erkannte im schwachen Mondlicht die Silhouette des Vesuv, dessen Doppelgipfel auf der anderen Seite der Bucht aufragte.

Im Bikini sah Giulia atemberaubend aus, während ich mich im kalten Licht der Straßenlaternen einfach nur schlaksig und blass fühlte. Ein Junge, in den man sich unmöglich verlieben konnte. Viel zu uncool.

Trotz des warmen Nachtwinds überzog eine Gänsehaut meine Arme. Wollte sie wirklich in dieses nachtschwarze Wasser – und, noch wichtiger, wollte ich das?

„Jetzt schnell, bevor ein Carabinieri uns bemerkt!“, wisperte Giulia und sprintete los. Ich ganz instinktiv hinterher.

Die Burg aus gelblichem, vom Alter geschwärztem Stein ragte über uns auf, angestrahlt von Scheinwerfern. Giulia gönnte ihr keinen Blick, sondern kletterte behände über die abgrenzende Ziegelmauer, so dass sie an die Seitenwand der Burg herankam. Sie presste sich an die Mauer und schob sich zentimeterweise auf einem schmalen Sims voran; drei Meter unter ihr ragten Felsen aus dem Wasser, wenn sie fiel, würde sie sich das Bein brechen oder, noch schlimmer, den Hals!

„Kommst du?“, rief sie mir zu.

Tickte sie noch ganz richtig? Ich hatte keine Lust, mir hier sämtliche Knochen zu brechen! Erwartete sie wirklich von mir, dass ich ihr folgte?

Doch dann gab ich mir einen Ruck. Wenn ich mich nicht mal traute, an einer Burg herumzuklettern ... wie sollte ich es dann schaffen, mit meinem Vater Vulkane zu filmen?

Der Stein war porös und hatte viele kleine Vertiefungen, in die ich die Finger schieben konnte. Aber mit meinen großen Füßen hatte ich es viel schwerer als Giulia, auf dem Sims Halt zu finden. Ein paar Sekunden später rutschte mein Fuß ab. Ich krallte mich noch fester an die Wand und schwankte einen Moment lang, kämpfte darum, mein Gleichgewicht zu halten und nicht rücklings auf die Felsen zu stürzen. Besorgt sah Giulia zu mir herüber und reichte mir eine Hand. Aber wenn ich die ergriff, würde ich den Halt verlieren!

„Ich schaff´s schon“, presste ich hervor und lehnte mich nach vorne. Der Stein fühlte sich rau und erstaunlich warm an gegen meine bloße Brust. Nach einem Moment hatte ich einen besseren Halt mit den Zehen gefunden, und es konnte weitergehen. Aber auf der hell angestrahlten Seitenwand fühlte ich mich sehr sichtbar und preisgegeben. Jeden Moment konnte uns jemand sehen! Was war, wenn es hier Wächter gab? Wurde man wegen so etwas verhaftet?

Wir kletterten um eine Ecke und gelangten auf einen breiteren Sims, auf dem wir uns problemlos bewegen konnten. Giulia sprang hinunter zu einem halb überspülten Mini-Strand am Fuß der Steinwand und winkte mir zu, ihr zu folgen. Wir wateten durch einen natürlichen Torbogen, den die Wellen aus dem Felsen gespült hatten, und waren auf der Seeseite des Kastells angekommen. Ich entspannte mich etwas. Jetzt konnte uns niemand mehr sehen.