Wage zu träumen! - Papst Franziskus - E-Book

Wage zu träumen! E-Book

Papst Franziskus

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mit offenem Herzen die Welt verändern

Für Papst Franziskus gibt es kein Zurück zur Normalität vor der Corona-Pandemie. Sie hat die großen gesellschaftlichen Probleme wie ein Brennglas verdeutlicht: wirtschaftliche Ungleichheit, Existenzängste und Sorgen um die Gesundheit bestimmen unseren Alltag. Franziskus zeigt Auswege auf und schildert mit großer Offenheit, wie ihn selbst drei persönliche Krisen zu einem Besseren verändert haben. Sein Credo lautet: Mit offenem Herzen und Blick für die Armen können wir die Welt verbessern! Eine Offenbarung für alle, die auf der Suche nach dem Sinn des Lebens sind und einen Weg aus der aktuellen Krise gehen wollen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 231

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



»Wage zu träumen« ist die persönliche Auseinandersetzung des Papstes, die ihn zum Verfassen der Enzyklika »fratelli tutti« bewegt hat. Mit »Wage zu träumen!« legt Papst Franziskus nun seine neue Regierungserklärung vor. Für ihn gibt es kein zurück zur Normaliät vor der Corona-Pandemie. Vielmehr appelliert er an eine Neuausrichtung der Gesellschaft und erklärt, warum wir diese sicherer und gerechter gestalten müssen.

Die Corona-Krise hat die großen gesellschaftlichen Probleme wie ein Brennglas verdeutlicht. Wirtschaftliche Ungleichheit, Existenzängste und Sorgen um die Gesundheit bestimmen das tägliche Denken. Das Oberhaupt von weltweit über einer Milliarde Menschen hat dies mit großer Sorge beobachtet. Zugleich stellte er aber auch eine große Kreativität bei den Menschen fest, um mit dieser globalen Krise umzugehen.

In seinem neuen Buch möchte Papst Franziskus in einfacher und zugleich kraftvoller Sprache Hilfestellungen für den Weg aus persönlichen Krisen aufzeigen. Mit großer Offenheit schildert er, wie ihn drei persönliche Krisen zu einem Besseren verändert haben. Wir brauchen laut Franziskus Mut zur Veränderung – so können wir besser als zuvor aus der Krise hervorgehen.

Franziskus bietet eine brillante und zugleich vernichtende Kritik an den Systemen und Ideologien, die zur Entstehung der gegenwärtigen Krise beigetragen haben: von einer globalen Wirtschaft bis hin zu Politikern, die die Angst des Volkes schüren, nur um ihre eigene Macht zu festigen.

Schlussendlich bietet der Papst eine inspirierende und praktische Blaupause für den Aufbau einer besseren Welt. Dabei stellt er die Armen und unseren Planeten in den Mittelpunkt seines Denkens. Er stützt sich u.a. auch auf die neuesten Erkenntnisse renommierter Wissenschaftler, Ökonomen und Aktivisten. Doch anstatt einfach nur »Rezepte« anzubieten, zeigt er, wie gewöhnliche Menschen unvorhergesehene Möglichkeiten entdecken können.

Sein Credo lautet: Mit offenem Herzen und einen Blick zu den Armen können wir die Welt zu einer besseren verändern! Eine Offenbarung für alle, die auf der Suche nach dem Sinn des Lebens sind und einen Weg aus der aktuellen Krise gehen wollen.

PAPST

FRANZISKUS

WAGE ZU

TRÄUMEN!

Mit Zuversicht aus der Krise

Im Gespräch mit Austen Ivereigh

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2020 Austen Ivereigh

Dank geht an Alexis Valdés für den Nachdruck

seines Gedichtes Esperanza.

Copyright © 2020 Alexis Valdés,

Nachdruck mit Erlaubnis des Autors.

Deutsche Übersetzung des Originaltitels Let us dream

Copyright 2020 durch Austen Ivereigh.

Alle Rechte vorbehalten.

Veröffentlichung nach Absprache mit dem Originalverlag

Verlag Simon & Schuster, Inc.

Copyright © 2020 Penguin Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt nach einem Entwurf von zero-media.net, München

Covermotiv:© Godong / Alamy Stock Photo

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27750-5V002

www.penguin-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Eine Zeit zum Sehen

Eine Zeit zum Wählen

Eine Zeit zum Handeln

Nachwort

Einige Worte von Austen Ivereigh

Literaturhinweis

Anmerkungen

Vorwort

Ich sehe diese Zeit als eine Stundeder Wahrheit. Ich denke daran, was Jesus zu Petrus sagt: der Teufel verlange, dass er ihn »wie Weizen sieben« dürfe (lukas 22,31). In eine Krise zu geraten bedeutet, gesiebt zu werden. Die eigenen Kategorien und Denkweisen werden erschüttert, deine Prioritäten und dein Lebensstil werden herausgefordert. Du überschreitest eine Schwelle, entweder durch deine eigene Entscheidung oder zwangsweise, denn es gibt Krisen wie die, durch die wir gerade gehen, die du nicht vermeiden kannst.

Die Frage ist, ob du diese Krise überstehst und wenn ja, wie. Die Grundregel einer jeden Krise ist, dass du nicht genau so herauskommst, wie du hineingegangen bist. Wenn du sie überstehst, dann gehst du besser oder schlechter aus ihr hervor, aber bleibst nicht derselbe.

Wir erleben eine Zeit der Prüfung. Um solche Prüfungen zu beschreiben, spricht die Bibel davon, »durch ein Feuer zu gehen«, wie in einem Brennofen, der die Arbeit des Töpfers prüft (Sirach 27,5). Es ist so, dass wir alle im Leben geprüft werden. Auf diese Weise wachsen wir.

In den Prüfungen des Lebens offenbarst du dein eigenes Herz: wie stabil es ist, wie barmherzig, wie groß oder wie klein. Normale Zeiten sind wie formale Veranstaltungen: Man muss sich selbst niemals zeigen. Du lächelst, du sagst die richtigen Dinge, und du überstehst das alles unbeschadet, ohne jemals zeigen zu müssen, wer du wirklich bist. Wenn du aber in einer Krise bist, ist es das genaue Gegenteil. Du musst wählen. Und in deiner Wahl zeigst du dein Herz.

Denk daran, was in der Geschichte passiert. Wenn das Herz der Menschen geprüft wird, wird ihnen bewusst, was sie niedergehalten hat. Andererseits spüren sie auch die Anwesenheit des Herrn, der treu ist und der den Schrei Seines Volkes hört. Die darauf folgende Begegnung lässt eine neue Zukunft anbrechen.

Denk daran, was wir während der Covid-19-Krise erlebt haben. Alle diese Märtyrer: Frauen und Männer, die ihr Leben im Dienst an den Bedürftigsten hingegeben haben. Denk an Menschen im Gesundheitsdienst, die Ärztinnen und Ärzte, die Pflegerinnen und Pfleger, oder auch an die Geistlichen und an alle, die andere in ihrem Leiden beigestanden haben. Unter den notwendigen Vorsichtsmaßnahmen versuchten sie, anderen Unterstützung und Trost zu bieten. Sie legten Zeugnis ab für Nähe und Zärtlichkeit. Tragischerweise starben viele von ihnen. Um ihr Zeugnis und das Leiden so vieler zu ehren, müssen wir eine Zukunft aufbauen, indem wir den Wegen folgen, welche sie für uns ausgeleuchtet haben.

Aber – und ich sage das mit Schmerz und Scham – denken wir auch an die Wucherer, die Kredithaie, die an den Türen verzweifelter Menschen aufgetaucht sind. Wenn sie ihre Hände reichen, dann um Kredite anzubieten, die niemals zurückgezahlt werden können, sondern die jene für immer verschulden, welche sie aufnehmen. Solche Kreditgeber spekulieren auf dem Rücken des Leidens anderer.

In Krisen bekommst du beides, Gutes und Schlechtes. Menschen zeigen sich, wie sie wirklich sind. Einige verausgaben sich im Dienst an den Bedürftigen, während andere sich an der Not von Menschen bereichern. Einige brechen auf, um anderen zu begegnen – auf neue und kreative Weisen, ohne ihre Häuser zu verlassen –, während andere sich in ihre Rüstung zurückziehen. Unsere Herzen zeigen sich.

Es sind nicht nur einzelne Menschen, die geprüft werden, sondern auch ganze Völker. Denk an die Regierungen, die während der Pandemie Entscheidungen treffen mussten. Was ist wichtiger, sich um Menschen zu kümmern oder das Finanzsystem am Laufen zu halten? Kümmern wir uns um die Menschen oder opfern wir sie, der Börse zuliebe? Halten wir die Wohlstandsmaschine an, wissend, dass einige Menschen leiden werden, um so Leben zu retten? In einigen Fällen haben Regierungen versucht, vor allem die Wirtschaft zu schützen, vielleicht weil sie das Ausmaß der Krankheit nicht begriffen oder weil ihnen die Mittel fehlten. Diese Regierungen haben ihrer Bevölkerung schwere Hypotheken aufgebürdet. Die Krise hat gezeigt, welche Prioritäten die Regierenden hatten, ihre Werte wurden aufgedeckt.

In einer Krise besteht immer die Versuchung des Rückzugs. Natürlich gibt es immer Zeiten, in denen wir uns aus taktischen Gründen zurückziehen müssen – wie die Schrift sagt: »In deine Zelte, Israel!« (1 Könige 12,16) –, aber es gibt Situationen im Leben, in denen es weder richtig noch menschlich ist, so zu handeln. Jesus verdeutlicht das in seinem berühmten Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Wenn der Levit und der Priester von einem Mann weggehen, der blutend und von den Dieben geschlagen an der Straße liegt, dann machen sie einen »zweckmäßigen« Rückzug. Damit meine ich, dass sie ihren eigenen Platz in der Gesellschaft – ihre Rolle, ihren Status – bewahren wollen, wenn sie in eine Krise geraten, in der sie geprüft werden.

In einer Krise wird unser Funktionalismus erschüttert und wir müssen unsere Rollen und Gewohnheiten verändern, um aus der Krise als bessere Menschen hervorzugehen. Eine Krise verlangt immer, dass unser ganzes Selbst präsent ist. Du kannst dich nicht zurückziehen, dich in alte Wege und Rollen flüchten. Denke an den Samariter: Er hält an, kommt näher, betritt die Welt des verwundeten Mannes, wirft sich selbst in diese Situation hinein, in das Leiden des anderen, und schafft so eine neue Zukunft.

In einer Krise wie der Samariter zu handeln bedeutet, sich von dem, was ich sehe, berühren zu lassen, wissend, dass das Leiden mich verändern wird. Wir Christen nennen das das Kreuz aufnehmen und annehmen. Das Kreuz anzunehmen, in der Zuversicht, dass das Kommende neues Leben sein wird, gibt uns den Mut, das Wehklagen und den Blick zurück aufzugeben. So können wir aufbrechen, anderen dienen und so Veränderung geschehen lassen, die nur durch Mitgefühl und Dienst am Menschen entstehen kann.

Manche reagieren auf Leiden in der Krise mit einem Achselzucken. Sie sagen: »Gott hat die Welt halt so geschaffen, so ist sie nun einmal.« Aber solch eine Antwort sieht Gottes Schöpfung fälschlicherweise als statisch, während sie in Wirklichkeit ein dynamischer Prozess ist. Die Welt wird ständig erschaffen. Paulus sagt im Römerbrief (8,22), dass die Schöpfung seufzt und in Geburtswehen liegt. Gott will die Welt mit uns als Partner fortwährend hervorbringen. Er hat uns von Anfang an eingeladen, uns ihm anzuschließen, in friedlichen Zeiten und in Zeiten der Krise – zu jeder Zeit. Es ist ja nicht so, dass uns die Sache eingepackt und versiegelt übergeben worden wäre: »Hier, das ist die Welt für euch.«

Im Schöpfungsbericht der Genesis befiehlt Gott Adam und Eva, fruchtbar zu sein. Die Menschheit hat den Auftrag, die Schöpfung zu verwandeln, aufzubauen und sich untertan zu machen in dem positiven Sinn, aus ihr und mit ihr zu erschaffen. Was kommen wird, hängt nicht von einem unsichtbaren Mechanismus ab, einer Zukunft, in der die Menschheit ein passiver Beobachter wäre. Nein, wir sind Akteure, wir sind – wenn ich das Wort etwas dehnen darf – Mit-Schöpfer. Als der Herr uns auftrug, hinauszugehen und uns zu mehren, die Erde uns untertan zu machen, sagte er: Seid die Schöpfer eurer Zukunft!

Aus der Krise können wir besser oder schlechter hervorgehen. Wir können rückwärtsgleiten oder wir können etwas Neues schaffen. Was wir jetzt brauchen, ist die Chance, uns zu verändern, Raum für das zu schaffen, was jetzt nottut. Es ist wie bei Gott, der zu Jesaja sagt: Komm, lass uns darüber reden. Wenn du bereit bist, zu hören, dann werden wir eine große Zukunft haben. Aber wenn du dich weigerst, zu hören, dann wirst du durch das Schwert gefressen (Jesaja 1,18–20).

Es gibt so viele Schwerter, die uns zu fressen drohen.

Die Covid-Krise mag besonders erscheinen, weil sie fast die gesamte Menschheit betrifft. Aber sie ist nur insofern etwas Besonderes, als sie sichtbar ist. Es gibt tausend andere Krisen, die genauso schlimm sind, aber weit genug von vielen von uns weg, sodass wir so tun können, als ob es sie gar nicht gäbe. Denk zum Beispiel an die Kriege überall in der Welt, an Waffenherstellung und -handel, an die Hunderttausende von Flüchtlingen, auf der Flucht vor Armut und Klimawandel, denk an den Hunger und die Chancenlosigkeit, an den Klimawandel. Diese Dramen mögen uns fern erscheinen, als Teil der täglichen Nachrichten, die uns leider nicht dazu bewegen können, unsere Ansichten und Prioritäten zu ändern. Aber wie die Covid-Krise betreffen sie die gesamte Menschheit.

Schau nur auf die Zahlen, was eine Nation für Waffen ausgibt, und dir gefriert das Blut in den Adern. Dann vergleiche diese Zahlen mit der UNICEF-Statistik darüber, wie viele Kinder keine Schulbildung haben und hungrig zu Bett gehen müssen, dann merkst du, wer den Preis für den Waffenhandel zahlt. In den ersten vier Monaten diesen Jahres sind 3,7 Millionen Menschen an Hunger gestorben. Und wie viele sind durch Kriege gestorben? Die Ausgaben für Waffen zerstören die Menschheit. Sie sind ein schwerwiegender Coronavirus, aber weil seine Opfer vor uns verborgen sind, sprechen wir nicht darüber.

Vielen ähnlich verborgen ist die Zerstörung der Natur. Wir dachten, dass es uns nicht betrifft, weil es woanders passiert. Aber plötzlich sehen wir es, wir verstehen es: Ein Boot überquert zum ersten Mal den Nordpol und wir erkennen, dass die fernen Überschwemmungen und Waldbrände Teil der einen Krise sind, die uns alle betrifft.

Sieh uns an: Wir tragen Gesichtsmasken, um uns und andere vor einem Virus zu schützen, den wir nicht sehen können. Aber was ist mit all den anderen unsichtbaren Viren, vor denen wir uns schützen müssen? Wie werden wir mit den verborgenen Pandemien dieser Welt umgehen, den Pandemien des Hungers und der Gewalt und des Klimawandels?

Wenn wir aus der Krise weniger egoistisch herauskommen wollen, als wir hineingegangen sind, dann müssen wir uns von dem Leiden anderer anrühren lassen. Es gibt zwei Zeilen in Friedrich Hölderlins Gedicht Patmos, die mich ansprechen. Sie sagen, dass die in einer Krise drohende Gefahr niemals vollkommen ist, sondern dass es immer einen Ausweg gibt: »Wo aber Gefahr ist, wächst / das Rettende auch.«1 Das ist das Wunderbare an der menschlichen Geschichte: Es gibt immer einen Weg, der Zerstörung zu entkommen. Die Menschheit muss genau dort handeln, in der Bedrohung selbst, dort öffnet sich die Tür. Diese Zeilen Hölderlins haben mich zu verschiedenen Zeiten meines Lebens begleitet.

Dies ist ein Augenblick, große Träume zu träumen, unsere Prioritäten zu überdenken – was wir wertschätzen, was wir wollen, was wir anstreben – und uns zu entschließen, in unserem täglichen Leben das zu tun, wovon wir geträumt haben. Was ich in diesem Augenblick höre ist wie das, was Jesaja Gott sagen hört: Kommt doch, wir wollen miteinander reden, die Dinge überdenken. Wagen wir es, zu träumen.

Gott fordert uns auf, es zu wagen, etwas Neues zu erschaffen. Wir können nicht einfach zu den falschen Sicherheiten der politischen und ökonomischen Systeme von vor der Krise zurückkehren. Wir brauchen ein Wirtschaftssystem, das allen Zugang zu den Früchten der Schöpfung verschafft, zu den grundlegenden Bedürfnissen des Lebens: zu Land, zu Arbeit und zu Wohnraum. Wir brauchen eine Politik, welche die Armen, Ausgeschlossenen und Schwachen integrieren und mit ihnen einen Dialog führen kann, einen Dialog, der den Menschen ein Mitspracherecht bei den ihr Leben bestimmenden Entscheidungen gibt. Wir müssen verlangsamen, Bilanz ziehen und bessere Weisen des Zusammenlebens auf dieser Welt entwerfen.

Das ist eine Aufgabe für uns alle, zu der jeder von uns aufgefordert ist. Aber es ist vor allem eine Zeit für Menschen mit Unruhe im Herzen, jener gesunden Unruhe, die uns zum Handeln anspornt. Was sich jetzt mehr als jemals gezeigt hat, ist der Trugschluss, den Individualismus zum Organisationsprinzip der Gesellschaft zu erheben. Was wird unser neues Prinzip sein?

Wir brauchen eine Bewegung von Menschen, die wissen, dass wir einander brauchen, die ein Verantwortungsgefühl für andere und für die Welt haben. Wir müssen verkünden, dass Freundlichkeit, Glaube und die Arbeit für das Gemeinwohl große Lebensziele sind, die Mut und Kraft brauchen, während unbedarfte Oberflächlichkeit und die Verhöhnung der Ethik uns nichts Gutes gebracht haben. Die Moderne, die mit so viel Entschiedenheit Gleichheit und Freiheit hervorgebracht hat, muss sich nun mit dem gleichen Elan und derselben Hartnäckigkeit auf die Geschwisterlichkeit konzentrieren, um sich den vor uns liegenden Herausforderungen zu stellen. Die Geschwisterlichkeit wird es der Freiheit und der Gleichheit erlauben, ihren rechtmäßigen Platz im Gleichklang einzunehmen.

Millionen von Menschen haben sich selbst und andere gefragt, wo sie in dieser Krise Gott finden können. Was mir in den Sinn kommt, ist das Überfließen. Ich denke an große Flüsse, die sanft anschwellen, so allmählich, dass man es kaum wahrnimmt, aber dann kommt der Moment, wo sie über die Ufer treten und sich ergießen. In unserer Gesellschaft zeigt sich die Barmherzigkeit Gottes in solchen »Momenten des Überfließens«: Hier bricht sie aus, durchbricht die hergebrachten Abgrenzungen, die so viele Menschen von dem abgehalten haben, was sie verdienen, und erschüttert unsere Rollen und unser Denken. Das Überfließen liegt in dem Leid, das diese Krise offenbart hat, und in der kreativen Art und Weise, in der so viele Menschen darauf reagiert haben.

Ich sehe ein Überfließen von Barmherzigkeit mitten unter uns. Viele Herzen wurden geprüft. Die Krise hat in einigen einen neuen Mut und ein neues Mitgefühl geweckt. Einige von uns sind gesiebt worden und haben mit der Sehnsucht geantwortet, unsere Welt neu zu denken. Andere sind Menschen in Not auf ganz konkrete Weise zu Hilfe gekommen und haben dadurch geholfen, das Leiden ihres Nächsten zu verwandeln.

Mich erfüllt das mit der Hoffnung, dass wir mit einer besseren Zukunft aus dieser Krise herauskommen. Aber wir müssen klar sehen, gut wählen und richtig handeln.

Lass uns darüber sprechen, wie. Lass die Worte Gottes an Jesaja auch zu uns sprechen: Komm, lass uns darüber sprechen. Wagen wir es zu träumen.

Eine Zeit zum Sehen

In diesem vergangenen Jahrdes Wandels und der Krise waren mein Geist und mein Herz übervoll mit Menschen. Menschen, an die ich denke und für die ich bete und mit denen ich manchmal weine: Menschen mit Namen und Gesichtern. Menschen, die gestorben sind, ohne dass sie Abschied von den Ihren nehmen konnten. Familien in Schwierigkeiten, die sogar hungrig blieben, weil es keine Arbeit gibt.

Wenn du global denkst, dann kann dich das lähmen: Es gibt so viele Orte mit scheinbar endlosen Konflikten, es gibt so viel Leid, so viel Not. Ich finde, es hilft, sich auf konkrete Situationen zu konzentrieren: Du siehst Gesichter, die in der Wirklichkeit eines jeden Menschen, eines jeden Volkes, nach Leben und Liebe suchen. Du siehst Hoffnung in der Geschichte eines jeden Volkes eingeschrieben, glorreich, weil es eine Geschichte von Opfern ist, von täglichem Kampf, von Leben, die in Selbstaufopferung zerbrochen sind. Anstatt dich also zu überwältigen, lädt dich diese Situation ein, nachzudenken und mit Hoffnung zu reagieren.

Du musst an die Ränder des Daseins gehen, um die Welt so zu sehen, wie sie ist. Ich war immer davon überzeugt, dass der Blick auf die Welt klarer ist, wenn sie von der Peripherie aus gesehen wird, aber in den vergangenen sieben Jahren als Papst ist mir das noch einmal so richtig deutlich geworden. Du musst an die Ränder gehen, um eine neue Zukunft zu finden. Als Gott die Schöpfung neu erschaffen wollte, hat Er entschieden, an die Ränder zu gehen – die Orte der Sünde und des Elends, der Ausgrenzung, der Krankheit und der Einsamkeit –, weil das die Orte voller Möglichkeiten sind: »Wo jedoch die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden« (Römerbrief 5,20).

Du kannst aber nicht abstrakt an die Ränder gehen. Ich denke oft an die verfolgten Völker: die Rohingya, die armen Uiguren, die Jesiden – was Daesh, der sogenannte Islamische Staat, ihnen angetan hat, war wirklich grausam – oder an die Christen in Ägypten und Pakistan, die durch Bomben getötet wurden, die, während sie beteten, in Kirchen explodierten. Eine besondere Zuneigung habe ich aber für das Volk der Rohingya. Die Rohingya sind die auf der Welt derzeit am meisten verfolgte Gruppe. Ich versuche, ihnen soweit ich das kann, nahe zu sein. Sie sind keine Katholiken oder Christen, aber sie sind unsere Schwestern und Brüder, ein armes Volk, getreten von allen Seiten. Ein Volk, das nicht weiß, wohin es sich wenden soll. In diesem Augenblick leben Tausende von ihnen in Bangladesch in Flüchtlingslagern, in denen Covid-19 ungebremst um sich greift. Stell dir diesen Virus in einem Flüchtlingslager vor, was dort passiert! Es ist eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit.

Ich habe Rohingya 2017 in Dhaka getroffen, es sind gute Leute, Leute, die arbeiten wollen und sich um ihre Familien kümmern, denen das aber nicht erlaubt wird; das ganze Volk, in die Enge getrieben und eingesperrt. Was mich aber besonders bewegt hat, ist die geschwisterliche Großzügigkeit in Bangladesch ihnen gegenüber. Es ist ein armes, dicht bevölkertes Land, und trotzdem haben sie 600 000 Menschen aufgenommen. Ihr damaliger Premierminister hat mir erzählt, dass die Bangladeshis eine Mahlzeit pro Tag abgeben, damit die Rohingya etwas zu essen haben. Als ich also im vergangenen Jahr in Abu Dhabi einen Preis bekommen habe – eine nicht unerhebliche Summe –, habe ich sie direkt an die Rohingya weitergeleitet: eine Anerkennung von Muslimen an Muslime.

Wie in diesem Fall konkret an die Ränder zu gehen, erlaubt es dir, das Leiden und die Bedürfnisse eines Volkes zu berühren, aber es erlaubt auch, die potenziellen Bündnisse, die sich bilden, zu unterstützen und zu fördern. Das Abstrakte lähmt, aber die Konzentration auf das Konkrete eröffnet mögliche Wege.

Das Thema des Helfens anderer war mir in den vergangenen Monaten sehr präsent. Während des Lockdowns bin ich im Gebet oft bei den Menschen gewesen, die alles eingesetzt haben, um das Leben anderer zu retten. Damit meine ich nicht, dass sie leichtsinnig gewesen seien oder rücksichtslos; sie haben den Tod nicht gesucht und haben ihr Bestes getan, ihn zu vermeiden. Dennoch ist ihnen das manchmal nicht gelungen, weil sie sich nicht ausreichend schützen konnten. Diese Menschen haben die Rettung ihres eigenen Lebens nicht der Rettung des Lebens anderer vorgezogen. So viele Pflegerinnen und Pfleger, Ärztinnen und Ärzte und so viele Menschen im Gesundheitswesen haben den Preis der Liebe gezahlt, gemeinsam mit Priestern und Ordensleuten und allen Menschen, deren Berufung der Dienst ist. Wir erwidern ihre Liebe durch unsere Trauer um sie, durch unsere Trauer ehren wir sie.

Gleich ob ihnen das bewusst war oder nicht, ihre Entscheidung legt Zeugnis ab für einen Glauben: dass es besser ist, nach einem kurzen Leben im Dienst an anderen zu sterben, als nach einem langen Leben, das sich diesem Ruf verweigert. Deswegen haben in so vielen Ländern Menschen in den Türen gestanden und haben diesen Menschen in Dankbarkeit und Bewunderung applaudiert. Das sind die Heiligen von nebenan, die in unseren Herzen etwas ganz Wichtiges geweckt haben. Sie machen wieder glaubwürdig, was wir durch unsere Predigt zu verkünden suchen.

Sie sind die Antikörper gegen den Virus der Gleichgültigkeit. Sie erinnern uns, dass unser Leben ein Geschenk ist und dass wir wachsen, indem wir uns hingeben: nicht sich selbst bewahren, sondern sich im Dienst verlieren.

Was für ein Zeichen gegen den Individualismus und die Selbstbezogenheit und den Mangel an Solidarität, welche unsere wohlhabende Gesellschaft so sehr beherrschen! Können diese helfenden Menschen, die nun von uns gegangen sind, uns den Weg zeigen, wie wir jetzt die Welt wieder aufbauen müssen?

* * *

Wir, geliebte Geschöpfe unseres Schöpfers, des Gottes der Liebe, wurden in eine Welt hineingeboren, die es schon lange vor uns gab. Wir gehören zu Gott und zueinander, und wir sind Teil der Schöpfung. Und aus dieser Einsicht unseres Herzens muss die Liebe füreinander fließen, eine Liebe, die nicht verdient oder erworben werden kann, denn alles, was wir haben, ist ein unverdientes Geschenk.

Was hat uns vom Gegenteil überzeugt? Wie nur sind wir blind geworden für die Kostbarkeit der Schöpfung, für die Zerbrechlichkeit der Menschheit? Wie konnten wir die Gaben Gottes und der anderen nur vergessen? Wie lässt sich erklären, dass wir in einer Welt leben, in der die Natur erstickt wird, in der sich Viren wie Lauffeuer verbreiten und unsere Gesellschaften zum Einsturz bringen, in der herzzerreißende Armut neben unvorstellbarem Reichtum besteht, wo ganze Völker wie die Rohingya auf den Abfall geworfen werden?

Was uns überzeugt hat, so glaube ich, ist der Mythos der Selbstgenügsamkeit, der uns einflüstert, dass die Erde nur dazu da ist, geplündert zu werden; dass andere dazu da sind, unsere Bedürfnisse zu befriedigen; dass das, was wir erworben haben oder was uns fehlt, das ist, was wir und andere uns verdient haben; dass die Belohnung für mich der Reichtum ist, auch wenn das bedeutet, dass das Schicksal der anderen die Armut ist.

Es sind Zeiten wie diese, wenn wir die radikale Ohnmacht erfahren, der wir uns nicht aus eigener Kraft entziehen können, in denen wir zur Besinnung kommen und die Selbstsüchtigkeit der Kultur, in die wir eingetaucht sind, erkennen; eine Selbstsüchtigkeit, die uns das Beste von dem, was wir sind, verweigert. Und wenn wir in solchen Augenblicken bereuen und wieder auf unseren Schöpfer schauen, und wenn wir uns gegenseitig anschauen, dann können wir uns an die Wahrheit erinnern, die Gott in unsere Herzen eingesenkt hat: dass wir zu Ihm und zueinander gehören.

Während des Lockdowns haben wir ein wenig von der Geschwisterlichkeit wiedergefunden, die unsere Herzen schmerzlich vermisst hatten. Vielleicht haben deswegen viele von uns die ungeduldige Hoffnung in sich gespürt, dass die Welt möglicherweise anders und dieser Wahrheit entsprechend geordnet werden könnte.

Wir haben die Bande mit unserem Schöpfer, mit der Schöpfung und mit unseren Mit-Geschöpfen vernachlässigt und schlecht behandelt. Aber die gute Nachricht ist, dass eine Arche auf uns wartet, um uns in ein neues Morgen zu bringen. Covid-19 ist unser Noah-Moment, unser Weg zur Arche, der uns die Bande erkennen lässt, die uns verbinden: die Liebe und die gemeinsame Zugehörigkeit.

In der Geschichte Noahs in der Genesis geht es nicht nur darum, wie Gott einen Weg aus der Zerstörung herauswies, sondern vor allem darum, was danach geschah. Die Neuschaffung menschlicher Gesellschaft bedeutete eine Rückkehr zu einem Respekt vor den Grenzen, zur Eindämmung des rücksichtslosen Strebens nach Reichtum und Macht, zur Sorge um die Armen und diejenigen, die am Rand leben. Die Einführung des Sabbat und das Jubeljahr – Zeiten der Erholung und Wiedergutmachung, des Schuldenerlasses und der Wiederherstellung von Beziehungen – waren der Schlüssel zu dieser Neuschaffung. Sie verschafften Zeit: der Erde, sich zu erholen, den Armen, neue Hoffnung zu finden, und den Menschen, ihre Seele wiederzufinden.

Das ist die Gnade, die sich uns in dieser Zeit anbietet, das Licht in den Beschwerlichkeiten. Lass uns das nicht wegwerfen!

* * *

Manchmal fühle ich mich überwältigt, wenn ich an die Herausforderungen denke, die vor uns liegen. Aber ich bin niemals ohne Hoffnung. Wir werden begleitet. Wir werden gesiebt, das ja, und es ist schmerzhaft; viele von uns fühlen sich machtlos und sogar ängstlich. Aber es gibt in dieser Krise auch eine Chance, besser aus ihr hervorzugehen.

Was der Herr von uns heute erwartet, ist eine Kultur des Dienens und nicht die Wegwerf-Kultur. Wir können aber anderen nicht dienen, wenn wir ihre Wirklichkeit nicht zu uns sprechen lassen.

Um dorthin zu kommen, musst du deine Augen öffnen und das Leiden um dich herum dich berühren lassen, sodass du hörst, wie der Geist Gottes zu dir von den Rändern her spricht. Deswegen möchte ich dich vor drei zerstörerischen Wegen der Wirklichkeits-Vermeidung warnen, welche Wachstum, die Verbindung zur Wirklichkeit und ganz besonders das Handeln des Heiligen Geistes blockieren. Ich denke dabei an Narzissmus, Entmutigung und Pessimismus.

Der Narzissmus lässt dich vor den Spiegel treten und auf dich selber schauen, sodass sich alles nur um dich dreht. Du bist so sehr in das von dir selbst geschaffene Bild verliebt, dass du am Ende darin ertrinkst. Nachrichten sind nur dann gut, wenn sie gut für dich persönlich sind; und wenn sie schlecht sind, dann deswegen, weil du der Hauptleidtragende bist.

Die Entmutigung führt dich zum Jammer und zur Klage über alles, sodass du nicht mehr siehst, was um dich herum ist und was andere dir anbieten, sondern nur das, was du meinst, verloren zu haben. Entmutigung führt zu Traurigkeit im geistlichen Leben, die wie ein Wurm ist, der von innen heraus nagt. Irgendwann bist du in dich selbst eingesperrt und kannst nichts mehr über dich selbst hinaus sehen.

Und dann ist da der Pessimismus, der wie eine Tür ist, die du vor der Zukunft und vor dem, was sie bringt, verschließt. Eine Tür, die du dich weigerst zu öffnen, weil ja eines Tages etwas Neues auf deiner Schwelle stehen könnte.

Das sind drei Eigenschaften, die dich blockieren, dich lähmen und dich davon abhalten, voranzugehen. Im Grunde geht es bei ihnen allen um Illusionen, die die Wirklichkeit verbergen, anstatt das zu zeigen, was wir alle erreichen könnten. Um ihnen zu widerstehen, musst du dich dem Kleinen und Konkreten widmen, den positiven Dingen, die du tun kannst, ganz gleich ob du nun Hoffnung säst oder dich für Gerechtigkeit einsetzt.

Eine meiner Hoffnungen für die gegenwärtig durchlebte Krise ist, dass wir wieder in Kontakt mit der Wirklichkeit kommen. Solch eine Hoffnung mag merkwürdig klingen in einer Zeit, in der wir uns nicht begegnen können