Wahr Di Buer... - Arne Steenbock - E-Book

Wahr Di Buer... E-Book

Arne Steenbock

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Beschreibung

Mehr als 500 Jahre sind vergangen, seitdem das dänische Heer eine vernichtende Niederlage gegen das Dithmarscher Bauernvolk erlitten hat. Als auf Helmsand eine weibliche Leiche mit Brandzeichen auf dem Rücken gefunden wird, ahnt niemand, dass es sich nur um den Anfang einer Mordserie im beschaulichen Kreis Dithmarschen handelt. Der Kieler Beamte Moiczek nimmt sich der Sache an und wird in den kommenden Tagen an die Grenzen der Belastungsfähigkeit kommen. Wo schlägt der Täter wieder zu - wen wählt er als Nächstes aus? Die Zeit rennt dem Ermittlungsteam davon ...

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Seitenzahl: 422

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Ähnliche


Für Karin, die sicherlich in einer stillen Stunde ihre Freude mit dieser etwas ungewöhnlichen Rundreise durch das schöne Dithmarschen gehabt hätte…

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

-1-

Wie oft schon hatte sie diesen Satz gehört – es kann später werden – wenn mal wieder eine Vorstandssitzung auf der Tagesordnung stand. Dabei wusste Sören nur zu gut, wie sehr Telse es hasste, in den dunklen Winterabenden allein auf dem einsamen Hof zu sein. Hier im Epenwöhrdenermoor gab es zwar Nachbarn, aber die waren so weit entfernt, da war jeder auf sich allein gestellt. Sie wusste natürlich auf was sie sich einließ bei der Heirat. Sören hatte den Hof seiner früh verstorbenen Eltern geerbt und nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er ihn nicht verkaufen würde, egal wie schwierig das Leben als Landwirt sein würde.

Und das Leben war schwierig, Arbeit von früh bis spät, die Erträge kaum der Rede wert, von Freizeit gar nicht zu sprechen. Sören hatte immerhin seinen Boßelverein, für den er fast schon zu viel Zeit opferte. Telse hatte kein ähnliches Hobby. Aber immerhin hatte sie Max, ihren stolzen Labradorrüden, der ihr jetzt in den dunklen Abenden immerhin ein Gefühl der Sicherheit in der Einsamkeit gab. Draußen tobte ein Herbststurm, der Regen peitschte gegen die Fenster, zum Glück hatten beide ihre Abendrunde noch im Trockenen bewältigen können. Nun saß sie mit Max vor dem Fernseher und sah sich irgendeinen Actionthriller aus Hollywood an. Normalerweise waren diese Filme gar nicht die Art von Abendgestaltung, die sie bevorzugte, aber der Lärm, den der Sturm draußen verursachte, hinderte sich einfach am Lesen. Sie liebte es, abends im großen Ohrensessel zu sitzen, Max zu ihren Füßen (oder wenn sie allein waren auch mal mit auf dem Sessel) und ein Gläschen Wein bei einem guten Buch zu genießen. Nur wenn sie mal wieder ganz allein im großen Hof war, zog sie es vor, einen Film zu schauen, da sie dann mögliche Geräusche nicht hören konnte. Natürlich gab es hier draußen im Moor keine angsteinflößenden Geräusche. „Glaubst Du etwa, die Moorleichen wandern herum, um sich die fremde Frau zu holen?“, zog sie Sören immer wieder auf. Sie fand es in keinster Weise witzig. Natürlich wusste sie, dass es hier draußen niemanden gab, der sich im Moor verirrte oder gar einbrechen würde. Was gab es hier auch schon zu holen? Der Hof hatte seine beste Zeit längst hinter sich, er zerfiel mehr und mehr, die Einbildung war nur stärker als ihre Vernunft.

Der Sturm nahm weiter zu, sie schickte Sören jetzt schon die zweite Nachricht auf sein Handy – aber gelesen hatte er selbst die erste noch nicht. Es war schon halb elf, eigentlich müsste er bald wieder nach Hause kommen, wenn seine Boßelbrüder nicht wieder auf die tolle Idee kommen würden, noch einen Zug durch Heide zu machen. Da es Freitag war, war die Wahrscheinlichkeit dafür relativ groß. Sie legte ihr Handy auf den Tisch, trank das Gläschen Wein aus, sah Max an. „Na mein Großer, was denkst Du – Zeit schlafen zu gehen?“ Max legte seinen Kopf schief, lauschte den Worten seines Frauchens, wedelte mit seiner Rute, begann dann etwas zu wittern. Auf die Frage Telses kam normalerweise seine typische Reaktion, er ging ohne auf weitere Kommandos zu warten zur Terrassentür, um eine letzte Runde im Garten zu machen. Jetzt wirkte er nervös, schaute sich um, lief durch das Wohnzimmer. „Max, was hast Du?“, fragte Telse, ohne eine Antwort erwarten zu können, das wusste sie. Sie redete einfach zu viel mit ihrem Hund, aber er war nun mal immer für sie da, auf ihn konnte sie sich verlassen. Max verließ das Wohnzimmer, ging in die große Diele, schnupperte an der großen Eingangstür, knurrte. Max knurrte. Telse blieb im Durchgang zur Diele stehen, ihr Herz schlug schneller. Max knurrte. Wann hatte sie Max zuletzt knurren gehört?

Verdammt, hatte ihr Labrador nur den Sturm gehört, das Dach des morschen Geräteschuppens, welches sich unter den starken Böen wehrte, um nicht komplett abgetragen zu werden? Sie wusste es nicht, wurde unruhig. Max ging wieder durch die Diele, vorbei an Telse zur Terrassentür. Hatte sie sich geirrt? War es gar nicht ein Knurren sondern ein Knarren des Gebälks? Wie viel Wein hatte sie getrunken? Mach Dich bloß nicht verrückt, Sören wird dich wieder auslachen. Sie schloss die Tür zur Diele, ging zu ihrem Hund. „Na mein Alter, alles gut – ich lass Dich mal raus und räum in der Zwischenzeit hier auf. Aber flieg mir nicht weg“, sagte Telse und öffnete die Tür zum großen Garten. Der Starkregen peitschte ihr entgegen, Max zögerte zwar kurz, ging dann aber doch raus. Schon war er aus ihrem Blickfeld verschwunden. Sie lehnte die Terrassentür an, Max konnte sie aufdrücken wenn er mit seiner Abendrunde fertig war. Telse brachte ihr Glas und die halbleere Flasche in die Küche, stelle das Glas in die Spüle. Draußen ein Bellen. Max – er klang trotz des Sturmes bösartig, das war kein spielerisches Bellen. Verdammt, was ist da los? Sie verließ die Küche, ging zur Terrassentür, öffnete sie einen Spalt, sah nur die tiefschwarze Nacht. Noch immer hatte Sören den Bewegungsmelder im Garten nicht repariert, sie konnte Max nicht sehen, nur bellen hören. „Max, komm her mein Großer, Max!“, rief sie. Doch anders als sonst gehorchte ihr Rüde nicht, er bellte immer weiter, aufgeregt, nicht enden wollend. Sie rief erneut, bekam einen leichten Anflug von Panik. Warum war es nur so stockfinster in diesem Garten? Wo konnte er stecken? Das Bellen endete abrupt, war das ein Jaulen gewesen? Gerade hatte eine Windböe die lockere Wellblechpappe vom Schuppen gefegt, mit einem lauten Knall landete das ehemalige Schuppendach auf der asphaltieren Auffahrt. Aber mitten in diesem Lärm war ein anderes Geräusch, war das Max gewesen? Warum bellte er nicht mehr? „Max! Max! Großer, komm her – wo bist Du?“ Telse wagte es nicht, in diese schwarze Nacht zu treten, das Wohnzimmer schien zumindest ein bisschen Sicherheit auszustrahlen. Sicherheit wovor? Was war da draußen? Vom Labrador war jedenfalls nichts mehr zu hören. Nur der Sturm und der Regen peitschten wie wild gegen das Haus. Es nützte nichts, sie musste ihren Hund suchen. Sie nahm ihre Fleece Jacke, zog sie über, schaltete die Taschenlampe an ihrem Handy ein. Bei dem Regen war die Sicht quasi gleich Null, wo sollte sie mit der Suche beginnen? Sollte sie Sören anrufen? Wozu, der bräuchte mindestens eine halbe Stunde – wenn er denn noch auf der Sitzung war. Bleib ruhig, vielleicht hat Max auch nur einen herabstürzenden Teil der Pappe abbekommen und den Sturm angebellt. Sie leuchtete mit ihrem Handy durch den Garten, erkannte schemenhaft den Gartenpavillon, die Ränder des Teiches mit den Solarlampen, die tapfer gegen den Sturm ankämpften, um nicht aus dem Boden gerissen zu werden. Immer wieder rief sie ihren Hund, doch es kam keine Reaktion, kein Bellen, nichts. Sie schlich durch den Garten, leuchtete in Richtung des Holzunterstandes mit dem Kaminholz – und meinte die Reste eines Schattens gesehen zu haben. Sie erschrak, ließ das Handy fallen. Verdammt, auch das noch. Sie schaute wieder zum Unterstand, der jetzt natürlich in der Schwärze der Nacht verschwand, bückte sich nach ihrem Handy, ertastete es auf dem nassen Rasen, nahm es in die Hand, zielte in Richtung Unterstand und leuchtete direkt in das Gesicht eines völlig durchnässten Mannes mit Vollbart. Sie wollte schreien, brachte aber kein Wort heraus, der Mund stand offen. Wieder wurde es dunkel, als der Mann ihr einen übel riechenden Stoffbeutel über den Kopf zog. Panik- jetzt war endgültig Zeit für Panik. Sie wollte sich irgendwie wehren, bekam jedoch einen Schlag auf den Kopf – dann war es komplett dunkel.

-2-

Sie hätte die Bahn nehmen sollen, mal wieder. Der Verkehr in Hamburg an einem Spätnachmittag war sowieso immer furchtbar, an einem Freitag ein paar Prozentpunkte schlimmer. Tessa quälte sich mit ihrem Fiat 500 durch die verstopften Straßen, der Pressetermin im Hotel Hafen Hamburg rückte immer näher und sie hatte noch nicht einmal annähernd die Königstraße erreicht, außerdem stand ihr die lästige Suche nach einem Parkplatz noch bevor. Mit der Bahn hätte sie bequem an den Landungsbrücken aussteigen können und wäre innerhalb von fünf Minuten im Hotel gewesen. Ihre Kollegen in der Agentur hatten wieder einmal Recht behalten, aber sie war bekannt für ihren Dickschädel und fluchte nun leise vor sich hin. Jetzt fing es in der Dämmerung auch noch an zu regnen, der Wind frischte auf, die Lichter der Laternen und der entgegenkommenden Autos spiegelten sich in der nassen Fahrbahn, das war ja ihr absolutes Lieblingswetter. Warum kann so ein Pressetermin nicht auch am Vormittag stattfinden? Der Hamburger Sportbund hatte sich mal wieder etwas Besonderes einfallen lassen und zur Pressekonferenz um 18 Uhr geladen, Tessa hatte sich als zuständige Sportfotografin der dpa Nord auch diesen Termin geschnappt, jedes Foto brachte schließlich Kohle und als freie Mitarbeiterin war es immer ein Hauen und Stechen in der Fotobranche. 17:40 Uhr zeigte das Display ihres Autoradios, Alsterradio spielte gerade Bette Midlers „Beast of Burden“. Der Verkehr schlich über den Ottenser Marktplatz, langsam, sehr langsam erreichte Tessa nun die Königstraße, sah rechts im kleinen Professor-Brix-Weg eine kleine Parklücke. Gedankenschnell bog sie ab, quetschte sich in die Lücke, nahm ihre Fototasche – wegen dieses unhandlichen Koffers mied sie immerzu die Bahn, gerade zur Hauptverkehrszeit – und lief zu nahen S-Bahnstation Königstraße. Sie hatte Glück, die Bahn fuhr gerade ein, für ein Ticket hatte sie jetzt keine Zeit mehr, zwei Stationen würde es schon gehen. Natürlich waren die Wagen prall gefüllt, sie zwängte sich mit ihrem Koffer in das Abteil, blieb gleich neben der Tür stehen. „So ein zartes Pflänzchen mit so großem Gepäck – wo geht die Reise denn hin?“, fragte ein angetrunkener Mittvierziger, der ihr natürlich direkt gegenüberstand und derart nach Schnaps stank, dass ihr im überhitzten Wagen übel wurde. Sie schaute nach draußen ins Dunkel, ignorierte die blöde Anmache. „Sprichst wohl nicht mit jedem, was?“ Tessa schaute in die Menschenmenge, leere Blicke überall. Der Suffkopp machte jetzt tatsächlich einen Schritt nach vorn. Wenn Du nicht gleich stehenbleibst ramm ich Dir mein Gepäck in Deine Kronjuwelen, Du hässlicher Vogel. Heute war Tessa schlau genug, ihre Gedanken in ihrem Kopf zu behalten. Oft genug rutschten ihr ähnliche Kommentare über die Lippen, ihre große Klappe hatte ihr hin und wieder nicht nur Vorteile gebracht.

S-Bahnstation Reeperbahn. „Na, musst Du hier zur Arbeit?“, säuselte der Kerl, der jetzt aber vor der ein- und aussteigenden Masse zurückgedrängt wurde. Tessa nutzte die Gelegenheit, stieg aus und im nächsten Wagen wieder ein. Sie atmete tief durch, zückte ihr Handy und schrieb ihrer Schwester eine kurze Nachricht. Nerviger Tag heute, muss gleich noch zu einem Termin – lass uns nachher telefonieren, was machst Du heute noch? Ihre Schwester war ihr Ein und Alles, beide hatten eine sehr innige Beziehung, nachdem ihre Mutter sehr früh an Krebs gestorben war und Ihr Vater frühzeitig an Demenz erkrankte und als Pflegefall seit Jahren betreut werden musste. Leider zog Telse vor fünf Jahren der Liebe wegen nach Dithmarschen auf einen verfallenen Hof. Tessa hatte nie verstanden, wie sie dieses lebendige Hamburg verlassen konnte, um zu diesem Dorftrottel zu ziehen. Für Tessa war Sören nichts anderes – ein Dorftrottel, der nur für den Hof und diesen komischen Sport, das Boßeln, lebte. Telse hätte ohne Probleme eine bessere Partie finden können, aber irgendwie hatte sie sich auf diesem Open-Air-Konzert damals auf der Trabrennbahn in diesen Kerl verliebt. Immerhin passte ihr Name nach Dithmarschen. Ihre Eltern hatten die tolle Idee, beide Töchter mit denselben Anfangsbuchstaben wie die Mutter zu versehen – aus Tea wurden Telse und Tessa. Großes Kino. Tessa fand ihren Namen ganz in Ordnung, Telse war irgendwie aus der Mode gekommen, dort oben im hohen Norden fanden es alle klasse, dass jemand mit so einem Namen nach Dithmarschen zog.

Ganz in Gedanken verpasste Tessa nun fast die Chance, aus diesem muffigen Wagen auszusteigen. Sie musste mit diesen Tagträumen aufhören. Sie packte den Fotokoffer, beeilte sich und kam gerade noch pünktlich zur Eröffnungsrede des Geschäftsführers des Sportbundes. Sie suchte sich einen geeigneten Platz, erntete mal wieder einige böse und genervte Blicke ihrer Kollegen anderer Agenturen. Doch gerade die männlichen Kollegen konnten ihr nie lange böse sein, ein kurzes Lächeln und ein Zwinkern mit ihren stahlblauen Augen reichten, um sie schnell zu versöhnen. Ihr seid alle so leicht zu durchschauen. Sobald sie einen passenden Platz gefunden hatte, fror ihr Lächeln wieder ein und sie konzentrierte sich auf ihre Arbeit. Kurz noch ein Blick auf ihr Handy. Bin allein, Sören hat Sitzung. Werde irgendwas im Fernsehen gucken – bis später. Kuss.

„Dieser Idiot“, fluchte Tessa vor sich hin. Diesmal vertonte sie ihre Gedanken mal wieder – mitten in eine Pause während der Rede des Geschäftsführers. Zahlreiche Augenpaare blicken sie an. Tessa fuchtelte schnell mit der Hand, warf ein kurzes „Sorry“ in die Runde und setzte ihr gewinnbringendes Lächeln wieder auf. Trotzdem erntete sie diesmal mehr böse Blicke noch als vorhin, aber damit konnte sie leben. Zum Glück war der Job sehr einfach, Pressetermine dieser Art waren leicht verdientes Geld. Gutes Licht, keine Bewegungen, kaum Unruhe – da war es nicht schwer, ein gutes Foto zu machen. Aber es zog sich hin. Sie hatte längst das passende Bild gemacht, wartete auf die Pause, um das Ergebnis auf den Server der Agentur zu stellen. Erst kurz vor halb acht endete der erste Durchgang. Tessa packte ihre Sachen, setzte sich an einen freien Tisch im Vorzimmer und bearbeitete die fünf besten Fotos, schickte sie auf den Server, wartete auf eine Reaktion des zuständigen Redakteurs. Melde Dich, dann kann ich meine Schwester anrufen. Irgendwie spürte Tessa, dass eine innere Unruhe von ihr Besitz ergriff. Erklären konnte sie es nicht. Aber beide Schwestern spürten, wenn die andere Probleme oder Sorgen hatten. Sie starrte auf ihren Mail-Account. Wie lange kann es dauern, ein Foto vom Server zu ziehen und sich dazu zu äußern, ob es in Ordnung ist? Nichts. Keine Reaktion. Im Saal füllten sich die Plätze wieder. Sollte keine Mail kommen müsste sie wieder rein, vielleicht kam noch eine wichtigere Aussage eines anderen Vorstandsmitglieds, welches dann mit Bild versehen werden musste. Sie wurde nervös. Ihr Handy summte, eine eingehende Nachricht. Fotos ok – aber wir benötigen noch ein Bild des gesamten Vorstandes. Tessa klappte ihr Laptop zu, ging genervt zu ihrem Platz. Jetzt durfte sie sich das ganze Gelaber weiter anhören und musste ganz am Ende zum Gruppenbild bitten. Sie warf noch einen Blick auf ihr Handy, aber keinen neue Nachricht von Telse. Warum auch, ich hab ja auch nicht mehr geantwortet, aber irgendwas stimmt da oben nicht.

Unendlich lang palaverten die Mitglieder des Vorstandes über neue Programme an den Schulen, neue Zuschüsse für Kunstrasenplätze und Programme zur Integrierung von Flüchtlingen. Alles irgendwie interessant, aber Tessa kam es unglaublich lang vor. Geschätzt alle zwei Minuten blickte sie zur großen Wanduhr, die Zeiger bewegten sich einfach nicht vorwärts. Als das Schauspiel schließlich endete und Tessa ihr Gruppenbild im Kasten hatte, war es 21 Uhr geworden. Obwohl der Job heute alles andere als anstrengend war, fühlte sie sich erschöpft. „Hey Tess, kommst Du noch mit an die Bar – kleinen Absacker zum Start ins Wochenende?“ Matthias gab einfach nicht auf. Bei jedem Termin versuchte er ihr einen auszugeben, sie einzuladen. Irgendwie war es ja süß, dass er nicht aufgab. Aber er war so rein gar nicht ihr Typ. Für einen Mann zu klein, spießig angezogen mit seinem Pullunder über den knitterfreien Hemden, die Brille viel zu altmodisch. „Danke Matthias, aber ich bin irgendwie zu müde“, sagte Tessa freundlich wie immer, „ich denke ich fahre nach Hause. Ich parke zudem irgendwo in Altona, ich hoffe, sie haben mich nicht abgeschleppt.“ Er reagierte wie gewohnt mit einem Lächeln. „Aber das macht doch nichts. Soll ich Dich begleiten? So eine hübsche junge Lady darf man doch nicht allein durch Hamburg laufen lassen.“ Tessa musste lächeln, er war auf seine Art zwar charmant, aber das passte alles nicht zu seinem Äußeren. „Ich bin schon groß, ich kann auf mich aufpassen, Danke!“ Die Antwort kam unfreundlicher rüber als sie wollte. Aber Matthias kannte Tessa seit Jahren, konnte mit ihrer teilweise ruppigen Art umgehen. „Aber den Weg zur Bahn darf ich mit Dir bestreiten, ja?“ Gut, dagegen gab es nichts zu sagen. Sie packte ihren Koffer, zog ihren Mantel an – wobei ihr Matthias wie immer beim Anziehen behilflich war. „Lass‘ mich bitte nur noch kurz eine Nachricht an meine Schwester schicken, ok?“ Sie kramte ihr Handy aus der Manteltasche, noch immer keine neue Nachricht von Telse. Sorry, ist spät geworden. Ist Sören schon zurück? Wahrscheinlich nicht. Kann ich Dich in 15 Minuten anrufen? Tessa stopfte das Handy zurück in die Tasche, nahm den Koffer und ging mit Matthias den Weg runter zur S-Bahn. Ständig lauschte sie, ob ein Summen aus ihrer Tasche kam, wartete auf eine Antwort. Dieses mulmige Gefühl wollte einfach nicht weichen. „Tessa? Zur S-Bahn geht es hier lang.“ Sie war in Gedanken an der Treppe zum Bahnsteig vorbeigelaufen. „Oh, ja klar. Danke Matthias.“ Diese Antwort war ein Fest für den ewigen Single, der sofort über das ganze Gesicht strahlte. „In welche Richtung musst Du denn fahren?“ fragte er hoffnungsvoll. „Ich muss zur Königstraße“, antwortete Tessa wohl wissend dass Matthias im Osten der Stadt wohnte und daher in die andere Richtung fahren musste. „Schade, dann muss ich Dich hier einsam zurücklassen, Tessa“, spielte er den enttäuschten Liebhaber, der einen Korb bekommen würde. „Schönen Abend noch“, brachte sie noch hervor und ging zu ihren Bahnsteig. Sie wusste, dass er ihr hinterher schauen würde, aber sie drehte sich nicht um. Manchmal konnte es spaßig sein, mit ihm dieses Spiel zu spielen, aber dann musste ihre Laune doch extrem gut sein. Zudem hatte sie jetzt ganz andere Sorgen – Telse hatte sich noch nicht immer nicht gemeldet. In der Bahn warf sie immer wieder einen Blick auf den Chatverlauf, zugestellt war die Nachricht, gelesen nicht. Lag sie schon im Bett? War sie mit Max draußen? Allein im Moor – das konnte sie sich nicht vorstellen. Von der Bahn ging sie schnellen Schrittes zum Auto, setzte sich hinein, nahm das Handy und wählte Telses Nummer, wobei ihr Herz schneller schlug. Da stimmte etwas nicht, sie meldete sich sonst immer sofort, gerade wenn sie auch noch allein auf dem Hof war. Es klingelte mehrfach, irgendwann sprang die Mailbox an. Nach dem Pfeifton sprach Tessa auf das Band: „Telse, warum meldest Du Dich nicht? Wo bist Du? Ruf mich bitte so schnell wie möglich zurück.“

Tessa warf den Motor an, das Radio begrüßte sie mit U2`s „Sunday Bloody Sunday“, der Regen prasselte auf ihre Windschutzscheibe, minutenlang saß sie einfach nur da, grübelte, dachte nach. Sollte sie sich auf den Weg machen, zu Telse fahren? Eine Stunde bräuchte sie immer, dann wäre Sören aber sicherlich auch schon zurück. Vielleicht war ihr Akku ja auch leer. Das wäre typisch für Telse, die immer so vergesslich war und auf Kriegsfuß mit allen technischen Sachen stand. Ich bin so furchtbar müde, dachte Tessa auf einmal. 22:10 Uhr zeigte ihr Handy an. Wie lange sitze ich denn schon hier? Sie steckte den Kopf zwischen ihre Hände, knetete ihre leicht pochenden Schläfen, entschied sich, nach Hause zu fahren. Plötzlich doch ein Summen. Sofort nahm sie das Handy, öffnete den Messenger, eine neue Nachricht von Telse, na endlich. Wahr Di, Buer…

-3-

Mit dem Köter hatte er nicht gerechnet. Wieso war das Vieh auch gerade dann draußen unterwegs als er sich Zugang zum Haus verschaffen wollte? Letztendlich war es egal, sein Kurzschwert hatte dem bellenden Monster schnell gezeigt, wer der Stärkere war. Glücklicherweise spielte ihm das Unwetter in die Karten, gerade in dem Augenblick, als der Hund ihn angreifen wollte, flog das alte Dach des Schuppens durch die Gegend und verursachte einen Höllenlärm, so dass der Todesschrei des Labradors kaum zu hören war. Spuren hinterließ er dabei keine, wen kümmert es schon, wie ein Bauernhund zu Tode kam? Milas hatte an diesem Abend das Glück auf seiner Seite. Der Sturm, der dadurch entstehende Lärm, der Regen, der alte Schuppen, der gerade zum richtigen Zeitpunkt zusammenbrach. Zwar hatte sein Objekt der Begierde ihn kurz am Holzunterstand vorbeilaufen sehen, aber die ängstliche Lady hatte doch tatsächlich ihre Taschenlampe dabei fallengelassen. So konnte er sich seelenruhig anpirschen, mit seiner komplett schwarzen Kleidung war er in diesem Höllensturm quasi unsichtbar. Dann tat sie ihm auch noch den Gefallen, ihn direkt anzuleuchten – vor lauer Panik brachte sie keinen Ton zustande. Selbst wenn – hier draußen im Moor hätte niemand sie gehört. Blitzschnell stülpte er ihr den alten Sack über den Kopf, nahm das Kantholz und schlug zu. Wie ein morscher Baum im Wind sackte sie zusammen. Milas hob sie problemlos hoch, legte sie sich über die Schultern. Sie wog keine 50 Kilo, war schlank und zierlich, für den stämmigen Dänen keine wirkliche Last. Beim Schlag auf den Kopf hatte sie ihr Handy erneut fallengelassen. Es lag im Regen, er schenkte dem Ding keine Beachtung, als es plötzlich klingelte. Tessa wurde als Anrufer angezeigt – wer auch immer dies sein mochte. Er ließ es klingeln, wartete, bis die Mailbox ansprang. Kurz darauf nahm er es auf, überlegte. Sollte er so früh schon erste Hinweise geben, das Spiel eröffnen? Er hatte keine Ahnung, wer diese Tessa war – vielleicht eine Freundin, eine Bekannte, jemand aus der Familie? Machte es einen Sinn, wer es war, in welcher Beziehung die Anruferin zu seinem Opfer stand? Nicht im Geringsten. Er ging in die Anrufliste, tippte auf die Nummer – wählte die Option „Nachricht senden“ und tippte mit einem Lächeln im Gesicht Wahr Di, Buer…

Er musste laut lachen – stellte sich das dämliche Gesicht des Gegenübers vor, der mit dieser Antwort so rein gar nichts anfangen konnte. Milas steckte vorsichtshalber das Handy in seine Jackentasche, nachdem er es ausgeschaltet hatte. Mit Telse über der Schulter ging er den langen Feldweg entlang zu seinem dort geparkten alten Ford Transit. Er wusste, dass dieser alte Wagen mit dänischem Kennzeichen in dieser Gegend eher ungewöhnlich war, aber er war erst hier angekommen, als der Ehemann seines Opfers schon weg war und es dämmerte. Niemand konnte ihn gesehen haben, bei dem Unwetter hatte er keine Menschenseele hier draußen gesehen. Er warf die Beute in den Laderaum des Transits, stieg dann ebenfalls ein. Sie war bewusstlos, er schloss die Tür hinter sich. Es kribbelte in seinen Fingern. Sollte er jetzt schon sein edles Langschwert Blut trinken lassen oder sich in Geduld üben? Kurz überlegte er, nahm das Schwert aus der Halterung an der Seitenverkleidung des Wagens, hielt die Spitze an die Kehle des Opfers, dann zielte er auf ihre Brust, die unter der durchnässten Fleece Jacke versteckt war. Er schloss die Augen, genoss das Gefühl der Überlegenheit, endlich Rache nehmen zu können. Später, später – wir haben Zeit. Er zog das Schwert zurück, zog ihr den Sack vom Kopf, betrachtete sie. Hübsch war sie, dass musste er zugeben. Die dunkelbraunen, schulterlangen Haare fielen wirr und nass vom Kopf, aber ihr Gesicht war anmutig, viel zu hübsch für diese trostlose Gegend, dachte Milas. Aber das alles spielte keine Rolle, sie war auserwählt, ihr Name hatte sie zu ihm geführt, das war der einzige Grund. Er stieg aus dem Wagen, schloss die hintere Tür und stieg vorn ein, legte das Schwert auf den Beifahrersitz fuhr durch den Sturm und Regen die Feldwege entlang zur Bundesstraße, von hier war es nicht weit bis zur A23, die ihn über Heide und die anschließende B5 in seine Heimat bringen würde. Sein Opfer würde irgendwann aufwachen – das war kein Problem, weglaufen konnte sie schließlich nicht. Milas war in Hochstimmung, legte eine CD ein und fuhr nach Hause.

-4-

Vorstandssitzung - es klang irgendwie immer ziemlich wichtig, wenn Sören sich zu einer Vorstandssitzung seines Boßelvereins abmeldete. Er wusste zwar, dass Telse ungern in den dunklen Monaten allein war, aber sie hatte Max und Einbrecher oder sonstige Verbrecher verirrten sich nun ganz bestimmt nicht ins Moor. Bei ihrem Treffen ging es heute einzig und allein darum, sich Gedanken über die anstehende Weihnachtsfeier zu machen und anschließend natürlich Heide unsicher zu machen. Davon hatte er Telse natürlich nichts erzählt. Den quasi belanglosen Teil des Abends hatten sie schnell erledigt, schon kreisten die ersten Flaschen Schnaps durch die Reihen. Viel wichtiger als die Feier zum Fest war die Planung des weiteren Abends. Wohin sollte die Reise gehen? Die Kreisstadt war nicht außerordentlich gut bestückt mit Lokalitäten, die eine Bande von 15 trinkfreudigen Boßlern bespaßen konnten. „Lass uns einfach durch den Schuhmacherort ziehen, da sind doch genug Kneipen und Bars, irgendwo finden wir schon einen Platz“, machte Torben der Diskussion ein Ende. Zwar hatten mittlerweile alle ein paar Bierchen intus, aber Kontrollen gab es hier auf dem Land eher selten, also fanden sich schnell drei Fahrer, die noch am wenigsten angetrunken waren und ab ging die Reise nach Heide. Sören schaltete sein Handy schon kurz nach der Ankunft auf der „Sitzung“ aus, er wollte heute einfach nur seinen Spaß haben und nicht alle paar Minuten gefragt werden, wann er denn nach Hause kommen würde.

Durch den Sturm ging es über die B5 nach Heide, auf dem Marktplatz ließ die Truppe ihre Wagen zurück, von hier war es nur ein Katzensprung in den Schuhmacherort, im L1 schien die Stimmung am besten zu sein, es hatte sich sogar eine Junggesellinnenabschiedsparty hierher verirrt. Ein gefundenes Fressen für die Boßeltruppe, die sich unter die Partyladys mischte. Sören kam ziemlich schnell ins Gespräch mit einer süßen Blondine, knapp Mitte Zwanzig, lange gewellte Haare und mit weiblichen Formen versehen, die Telse nun leider gar nicht aufweisen konnte. „Du trägst ja einen dicken Ring am Finger, bist Du etwa verheiratet?“, fragte die Blondine, die sich als eine 23-jährige Anja entpuppte, die an der FH studierte. „Ach Quatsch, Männer können doch auch nur so Ringe tragen, ist ein Geschenk meiner Schwester“, log Sören, wobei es zwar kein Hochzeits- wohl aber ein Verlobungsring war. „Ok, weil mit verheirateten Männern will ich nichts zu tun haben“, erklärte Anja auf dem Barhocker sitzend, den vierten Cocktail in sich hineinschüttend. Sören bestellte sich einen Gin-Tonic, prostete seiner neuen Bekanntschaft zu und freute sich auf den weiteren Verlauf des Abends. „Alter Du hast ja nen heißen Feger geangelt“, plapperte Maik Sören ins Ohr, als er sich sein viertes oder fünftes Bier bestellte. „Jo, so sieht’s aus“, grinste Sören, die Hand auf dem Knie von Anja liegend, die das nicht sonderlich zu stören schien. Kurz nach 23 Uhr entschied die Ladybande, das L1 zu verlassen, um die nächste Kneipe zu erobern. Anja jedoch fand Gefallen an ihrem Gegenüber, der mit seinen 1,85 Metern und der kräftigen Figur zu dem Typ Mann passte, den sie hin und wieder gern mal mit in ihre Studentenwohnung nahm. Eine Schönheit war er nicht mit seinem etwas rundlich wirkenden Gesicht und den schon sehr dünnen Haaren, aber witzig war er und der Alkohol tat sein Übriges. Also entschied sie sich, das Partyvolk ziehen zu lassen. „Du lässt Deine Mädels echt im Stich?“, fragte Sören mit gespielter Überraschung, „das wird denen aber nicht gefallen.“ Seine Hand lag weiter auf ihrem Knie, er hatte das Gefühl, hier könnte wirklich was gehen. „Ach was, die kommen auch ohne mich klar – ich hab viel mehr Lust, den weiteren Abend mit Dir zu verbringen.“ Das war doch praktisch eine Aufforderung, anders konnte man das gar nicht verstehen. „Du bist auch echt ne Süße“, frohlockte Sören und wagte es, sich Anjas Lippen zu nähern. Dem ersten zarten Kuss folgten mehrere, die schon der Sorte innig zuzuschreiben waren. Seine Boßelbrüder hatten sich von der Ladytruppe verabschiedet, drei Kumpels zogen sogar mit den Mädels zur nächsten Kneipe, der Rest blieb an Ort und Stelle oder machte sich ebenfalls auf den Weg zu weiteren Lokalitäten in der Umgebung. Sören und Anja entschlossen sich, den Weg zu ihrer Studentenwohnung aufzusuchen. Ein schlechtes Gewissen hatte Sören dabei rein gar nicht, er fand sie führten eine offene Beziehung. Wenn Telse das nicht auf ihre Weise nutzen wollte, war das ihre Entscheidung. Er genoss seine Freiheit und hatte seinen Spaß mit der jungen Studentin, wobei beide im ziemlich angetrunkenen Zustand nicht gerade zur Höchstleistung fähig waren.

Gegen ein Uhr lag er nackt neben seiner bereits eingeschlafenen Eroberung. „Und ich dachte, wir Männer schlafen nach dem Sex immer gleich ein“, sagte er zu seiner blonden Bettnachbarin. Die reagierte aber überhaupt nicht mehr, er hörte nur den gleichmäßigen Atem von Anja. „Nun denn, übernachten wollte ich hier ja nun auch nicht. Einfach so abhauen ist ja auch nicht gerade das Benehmen eines Gentleman, aber bin ich einer?“ fragte er sich selbst und musste lachen. Also stand er auf, zog sich an, stolperte leicht benommen zur Tür ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Auf dem Weg zur Straße schaltete er sein Handy wieder ein, um sich ein Taxi zu rufen. Morgen müsste er Telse dann erklären, warum er nicht mit dem Wagen nach Hause gekommen war. Er hasste diese Fragestunden nach solchen Nächten, aber auch diesmal hatte es sich schließlich gelohnt. Im Regen wartete er auf sein Taxi, welches ihn ins Epenwöhrdenermoor brachte. Kurz vor zwei kam er zu Hause an, zahlte und torkelte zur Eingangstür. „Warum brennt denn im Haus noch Licht? Ist sie mal wieder vor dem Fernseher eingeschlafen, typisch. Dann kommen jetzt schon diese nervigen Fragen, wo ich denn jetzt erst herkomme, na toll.“ Sören war angetrunken, sogar leicht mehr als das, müde und hatte keine Lust auf nervige Diskussionen. Er öffnete die Tür, ging durch die Diele ins Wohnzimmer, wo der Fernseher noch lief. Keine Telse zu sehen und auch kein Max, der ihn begrüßte. Aber die Terrassentür stand offen, der Boden davor war nass, der Sturm hatte den Regen ins Wohnzimmer gepeitscht. „Was ist hier denn los? Telse!“, brüllte er ziemlich genervt. „Max – wo steckst Du, du Köter?“ Es war Telses Hund, sie hatte ihn unbedingt haben wollen, damit sie hier draußen nicht immer so allein war. „Max! Telse!“ Keine Antwort, keine Reaktion. Er knallte die Terrassentür zu. Den Boden konnte Telse morgen selber aufwischen, dazu hatte er jetzt ganz bestimmt keine Lust.

Ihm kam die Idee, seine Mails auf seinem Handy zu checken, vielleicht hatte sie ihm ja irgendwann im Laufe des Abends eine Nachricht geschickt. Ob sie bei einer Freundin war? Vielleicht hatte sie Angst bei dem Sturm bekommen. Aber zu welcher Freundin hätte sie gehen sollen? Er wusste eigentlich gar nicht, ob sie richtig gute Freundinnen hatte. Keine Mails. Er ging zur Terrassentür, schaute in den dunklen Garten. „Was gibt es da schon zusehen, Du Idiot?“, maulte er sich selbst an, zog die Vorhänge zu, schaltete den Fernseher aus und ging ins Bad. Dort musterte er sich im großen Spiegel. „Siehst müde aus, alter Freund – aber das war doch ein geiler Abend mit dieser süßen Blondine. Wie hieß die nochmal? Ach egal, süß war sie“, grinste er sich selber an, ging aufs Klo und zog sich aus. Nur in Shorts stand er vorm Spiegel, bemerkte zwei Kratzer an seiner Schulter. „Dieses kleine Luder hat mich verletzt“, freute er sich innerlich über die Hinterlassenschaften seines Abenteuers. Mit sich und der Welt zufrieden schlich Sören ins Schlafzimmer und legte sich ins Bett. Er sollte ganze vier Stunden Schlaf bekommen, ehe sein Handy ihn wecken sollte.

-5-

Sie wachte mit einem dröhnenden Schädel auf, um sie herum war es stockfinster. Leicht benommen versuchte sich Telse zu erinnern, was geschehen war. Sie lag in einem Wagen, in einer Art Laderaum, der Wagen fuhr. Sie fasste sich an den Kopf, ihre Haare waren noch feucht. Sehen konnte sie rein gar nichts. „Hallo! Wo bin ich? Hallo!“ Ihre Rufe blieben unbeantwortet. Gefesselt war sie nicht, sie lag einfach nur im Laderaum des Fahrzeugs, wollte sich einen Überblick verschaffen über ihre Situation. Das war relativ schnell gemacht. Tausend Gedanken wuselten ihr durch den Kopf. Entführung? Das konnte nur eine Verwechslung sein, bei ihnen gab es doch nichts zu holen. „Hört mich denn niemand? Warum antworten sie nicht?“, rief sie immer lauter, aber aus dem Fahrerraum drang nur extrem laute Musik zu ihr nach hinten, der oder die Fahrer konnten sie kaum hören bei dem Lärm. Sie krabbelte zur Hintertür, kein Griff weit und breit zu ertasten. Verdammt, was geschieht hier? Erinnere Dich, was ist passiert? Max hatte gebellt, der Regen, der Sturm… Mehr fiel ihr nicht ein, absolut nicht. Sie setzte sich an die Seitenwand, hatte Angst, wusste nicht, was sie machen sollte.

Milas fuhr seinen alten Transit mit gemütlichen 100 km/h über die Autobahn und war auch auf der anschließenden Bundesstraße nicht wesentlich schneller unterwegs. Ihm war, als hätte er einen Laut aus dem Laderaum gehört. Möglich, aber nicht wichtig. Bis nach Visby Sogn war es noch ein gutes Stück, er hatte alle Zeit der Welt. In der finsteren Nacht fiel sein schwarzer Transit sowieso nicht auf und auf der B5 war um diese Zeit kaum jemand unterwegs. Zudem waren dänische Kennzeichen im Grenzgebiet nun wahrlich keine Seltenheit.

Die Zeit verging nicht, der Wagen fuhr und fuhr, dazu immer diese laute Musik aus dem Fahrerraum. Telse kämpfte mit der Müdigkeit, zudem war ihr leicht übel. Sie erinnerte sich dunkel an einen Schlag auf den Kopf, vielleicht hatte sie ja eine leichte Gehirnerschütterung. Das war aber sicherlich ihr kleinstes Problem. Da sie ihr Handy zu Hause verloren hatte – oder wurde es ihr abgenommen? – und sie ihre Armbanduhr schon vor dem Duschen vor dem Abendessen zur Seite gelegt hatte, hatte sie keine Ahnung, wie spät es sein könnte. Es gab keine Fenster in diesem Auto, um sie herum war alles schwarz. Irgendwann döste sie ein, fiel in einen unruhigen Schlaf, fiel auf die Seite, träumte wirres Zeug, wachte dann aber wieder auf, als der Wagen langsamer wurde und über einen Feldweg fuhr. Schlagartig war sie hellwach, bekam wieder Panik. Oh Gott, wenn gleich diese Tür aufgeht, was passiert dann mit mir? Wie und womit sollte sie sich wehren? War es ein Entführer oder mehrere? Wieder strömten ihr die schlimmsten Gedanken durch den Kopf, sie zitterte vor Kälte und Angst am ganzen Körper. Der Wagen wurde noch langsamer, rumpelte über einen Kiesweg und kam schließlich zum Stehen. Die Musik verstummte, vorne wurde eine Tür zugeworfen. Sie konzentrierte sich, nur eine Tür, also war es nur der Fahrer. Aber möglicherweise waren hier noch andere, die warteten. Oder machte er nur eine Pause? Sie wartete, kroch in die hinterste Ecke des Laderaums – als ob sie da sicherer wäre. Nichts geschah. Sie zog die Beine im Sitzen an sich heran, klammerte die Arme um ihre Beine, blickte verängstigt wie ein Kaninchen in der Falle nur zur Tür, aber nichts geschah. Die Minuten vergingen, sie verkrampfte total, zitterte, fing an zu weinen.

Kurz nach ein Uhr kam Milas an seinem einsamen Hof in Visby Sogn an. Hier hatte er vor ewige langer Zeit eine alte Schmiede gekauft, sie ausgebaut und nach seinen Wünschen so hergerichtet, dass jeder „Besuch“ herzlich willkommen war. Es gab keine direkten Nachbarn, er galt sowieso als Sonderling, der seine Arbeit als Schmied zwar hervorragend ausführte, aber da er sich vom sämtlichen Dorfleben ausgrenzte, mied man den hünenhaften Einsiedler besser. Dabei war Milas ein freundlicher Kerl, immer hilfsbereit, fleißig und bei der weiblichen Bevölkerung durchaus als attraktiv geltend. Mit seinen 1,92 Metern und der imposanten muskulösen Figur eines Schmieds, seinem gepflegten Vollbart und den längeren hellblonden Haaren schien er ein direkter Verwandter der Wikinger zu sein, seine blauen Augen konnten dabei jede Frau um den Finger wickeln. Milas jedoch genoss sein Einsiedlerleben, gönnte sich hier und da mal ein Abenteuer, war aber stets darauf bedacht, glamouröse Nächte außerhalb seines Refugiums zu feiern. Allein deshalb galt er als Sonderling – womit er bestens leben konnte.

Nun war endlich der Zeitpunkt gekommen, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Mit Telse hatte er hoffentlich sein erstes perfektes Opfer gefunden. Er stieg aus seinem Transit aus, schloss die Tür und ging zur Schmiede. Dort schaltete er das Licht ein, öffnete eine Kammer und ließ auch dort das Licht an. Prüfend schaute er sich um, ob er an alles gedacht hatte. Er nickte zufrieden, ging zurück zum Wagen, öffnete die hintere Tür.

Telse starrte zwar eine gefühlte Ewigkeit nur auf diese Tür – als sie dann jedoch plötzlich geöffnet wurde, erschrak sie fürchterlich und schrie laut auf. „Geh weg, lass mich in Ruhe!“, brüllte sie ins Dunkle hinein, nur schemenhaft konnte sie eine breite Gestalt erkennen. „Ruhig, ganz ruhig“, sagte Milas in einem sanften Ton, „komm langsam raus, dann passiert dir nichts.“ Telse dachte gar nicht daran, diesen Wagen zu verlassen. „Geh weg!“, schrie sie noch einmal, obwohl sie natürlich wusste, dass dieses Monster da draußen nicht verschwinden würde. „Komm her oder ich muss Dich gewaltsam da rausziehen, und das wollen wir doch beide nicht“, antwortete Milas. „Das ist eine Verwechslung, Sie haben die Falsche“, versuchte Telse zitternd, ihren Entführer zu überzeugen, dass er auf jeden Fall einen Fehler gemacht hatte. „Das wird sich gleich zeigen. Nun komm schon her, sonst komm ich rein.“

Telse löste etwas die Umklammerung ihrer Beine, versuchte mehr zu erkennen. Merkwürdigerweise war die Stimme des Fremden, die eindeutig einen dänischen Dialekt hatte, freundlich und irgendwie sogar einfühlsam. So gar nicht wie die eines Verbrechers – wobei sie nicht wusste, wie genau sich Verbrecher anhören. „Sie tun mir wirklich nichts?“, fragte Telse und dachte im selben Augenblick wie dämlich die Frage war. Der Kerl kann mir ja viel erzählen, ich muss versuchen, ihm zu entwischen. Ich krieche langsam zur Tür, trete ihm da in seine Zwölf und renne. Guter Plan. „Du kannst von mir aus auch die Nacht im kalten Wagen verbringen, ich geh jetzt ins Warme, deine Entscheidung“, sagte Milas und begann, die Tür langsam wieder zu schließen. „Nein, bloß das nicht!“, sagte Telse hektisch und begann, langsam zur Tür zu kriechen. Milas ging einen Schritt zurück, öffnete die Tür wieder komplett. Telse kroch weiter zum Ausgang, schätzte ihre Chancen ein, der Kerl wich weiter zurück. „Kleiner Tipp noch:

Solltest Du auf die verrückte Idee kommen, weglaufen zu wollen, wirst Du nicht weit kommen“, sagte der Däne und zog etwas aus einer Ledertasche, was sich nach einem Schwert anhörte. „Was hast Du da?“, fragte Telse panisch. „Komm endlich raus und ich zeig es Dir, aber lauf ja nicht weg, dann endet Dein Weg hier schneller als Du denkst.“ Sie stoppte auf ihrem Weg zum Ausgang, ordnete ihre wirren Gedanken neu, aber es herrschte das totale Chaos in ihrem Kopf. Was soll ich nur machen? Der Irre sticht mich ab. Also entschloss sie sich, langsam aus dem Wagen zu steigen. Vielleicht konnte sie ihn ja doch überzeugen, dass er die Falsche entführt hatte.

„Na also, geht doch“, sagte Milas zufrieden, hielt sein Kurzschwert in der rechten Hand und beobachtete jede Bewegung seiner Beute. Telse war leicht schwindelig, ihr Kreislauf musste erst einmal wieder in Gang kommen. Sie saß auf der Kante des Laderaums, stand langsam auf, starrte ihren Entführer an. „Und was jetzt? Bringst Du mich jetzt um? Ich bin die Falsche!“, versuchte sie es noch einmal. „Wie ich schon sagte, es wird sich zeigen. Komm her, geht voran in Richtung der Schmiede. Geh dahin, wo das Licht brennt. Ich bin genau hinter Dir. Vorher schließt Du die Tür des Wagens. Dann drehst Du Dich langsam um, gehst an mir vorbei und vor mir zum Haus. Mein Schwert ist ständig auf Dich gerichtet, eine falsche Bewegung und Du bist tot. Hast Du soweit alles verstanden? Dann schließe jetzt die Tür.“ Telse drehte sich um, knallte die Tür zu, wartete auf die zündende Idee, was sie tun konnte, aber es wollte ihr partout nichts einfallen.

Also drehte sie sich langsam um, stand ihrem Entführer jetzt gegenüber, erkannte aber nur, dass er mächtig groß und breit war. Sie konnte das kurze Schwert erkennen, zitterte. Sie machte einen Schritt, einen zweiten. Sie ließ ihn nicht aus den Augen, er sie aber auch nicht. Renne, Telse, renne! Das war ihr einzig vernünftiger Gedanke. Nur wohin? Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, es war noch immer stockfinster und der Kerl kannte sich hier besser aus als sie. Dazu dieses Schwert in seiner Hand. Wie weit würde sie kommen? Noch einen Schritt, dann stand sie neben ihm, er starrte sie an. „Geh“, sagte er nun weniger freundlich, „ich will nicht die ganze Nacht hier draußen verbringen, also geh.“ Telse gehorchte besser, der Typ machte ihr nun doch noch mehr Angst, seine Statur war eindrucksvoll, sein Tonfall ließ keine Widerrede zu. Also ging sie langsam an ihm vorbei, drehte sich um, natürlich folgte er ihr. Schritt für Schritt näherte sie sich der Schmiede. Was, wenn ich mich fallen lassen? Zur Seite wegrolle und dann renne? „Keine Tricks, Mädchen, geh einfach geradeaus zum Haus“, kam es von hinten. Telse atmete schwer, ging langsam voran, verscheuchte den Gedanken wieder. Kurz vor dem Haus blieb sie stehen. „Ich geh da nicht rein“, sagte sie trotzig. Ein harter Stoß von hinten.

„Geh ins Haus!“, forderte Milas sie laut auf. Fast wäre Telse doch gestürzt, diesmal jedoch nicht freiwillig. Der Stoß ließ nur erahnen, welche Kraft der Kerl haben mochte. Sie hatte keine Chance, fügte sich vorerst ihrem Schicksal, öffnete die schwere Holztür, wurde vom Licht geblendet, blieb stehen. „Weiter, geh hinein“, sagte Milas, gab ihr wieder einen Stoß, weniger heftig, aber doch bestimmend. Telse stolperte in die große Werkstatt. In ihrer Panik versuchte sie sich schnell einen Überblick zu verschaffen. Sie sah einen riesigen Amboss, unzählige Zangen, einen gewaltigen Schmiedehammer, den Schraubstock und an den Wänden Schwerter in verschiedenen Größen. Was ist das hier bloß?

„Trödel hier nicht rum, da vorn in die Kammer, rein mit Dir“, forderte sie Milas zum Weitergehen auf. Sie blickte sich um und warf zum ersten Mal einen Blick auf ihren Entführer. Groß, breit, muskulös, langhaarig mit Vollbart – aber nicht wirklich angsteinflößend. „Geh weiter, nun geh schon.“

Warum zeigt er sich mir so offen? Das kann doch nur heißen, dass er mich umbringen will. Telse bekam es erneut mit der Panik. Blitzschnell ergriff sie einen auf der Werkbank liegenden Vorschlaghammer, um den Dänen zu überraschen. Das Ding wog allerdings mehr als fünf Kilo und kaum hatte sie den Holzgriff gepackt, fiel der Hammer auch schon laut scheppernd auf den Boden. „Jetzt reicht mir das Theater hier“, ärgerte sich Milas, legte sein Schwert auf die Werkbank, ging auf Telse zu.“ Fass mich bloß nicht an, ich warne dich“; schrie sie ihn an, sah sich nach irgendwas um, was sie ihm an den Kopf werfen konnte. Aber die Werkstatt war viel zu aufgeräumt, als dass sie etwas greifen konnte. Sie klammerte sich mit den Händen an der Werkbank fest, schrie. Viel zu schnell war Milas bei ihr, packte ihren Arm, verdrehte ihn. Telse schrie vor Schmerzen auf. Milas riss sie von der Werkbank weg, schob sie mit dem verdrehten Arm auf ihrem Rücken zur Kammer. Sich zu wehren war zwecklos, der Kerl hatte einfach zu viel Kraft und die Schmerzen waren unerträglich. Sie stolperte vorwärts in die Kammer. Ein kleines Zimmer ohne Fenster erwartete sie, mit Tränen in den Augen sah sie verschwommen ein Bett in der einen Ecke stehen, ein altes Ledersofa dem gegenüber.

Sie stand in der Kammer, blickte sich um, schaute zu Milas. „Telse, richtig?“, fragte er. „Was? Ja, aber was hast Du vor? Wir haben kein Geld, ich habe keine reichen Eltern, bei mir gibt es nichts zu holen“, erklärte die immer noch zitternde Telse. Sie rieb sich ihren schmerzenden Arm, ihr Kopf dröhnte noch immer, wieder überkam sie ein leichter Schwindel, sie setzte sich auf das Bett, klammerte sich sofort an die Bettdecke. „Gut. Das ist gut. Jetzt zieh den Pullover aus“, forderte Milas sie auf. „Ich soll was? Nein, bitte nicht, bitte“, flehte Telse, den Tränen nahe. Sie kroch weiter nach hinten auf das Bett, suchte wieder einen Ausweg aus dieser aussichtslosen Situation. „Nicht was Du denkst. Zieh einfach den Pullover aus, zeig mir deinen Rücken, mehr will ich nicht von Dir.“

Sie verstand nicht, warum wollte er ihren Rücken sehen? Was das alles ein schlechter Scherz? Es wurde immer alles verwirrender, ihre Gedanken waren total durcheinander. Fragend schaute sie Milas an. „Was willst Du von mir?“, fragte sie ihn wieder. „Zeig mir deinen Rücken, dann werden wir sehen, ob ich die Richtige habe oder nicht.“ Er kam näher an das Bett heran, hatte wieder diesen fordernden Blick, er verschränkte seine unglaublich kräftigen Arme vor seiner Brust, wartete. „Es ist das gleiche Spiel wie im Wagen, Mädchen. Spiel mit oder ich helfe, dann wird es unangenehm für Dich. Ich bestimme die Spielregeln, Du den Verlauf des Spiels. So einfach ist das.“

Telse zitterte, eine Flucht aus dieser Kammer war noch unwahrscheinlicher als vorhin aus dem Wagen. Was soll schon passieren? Er will meinen Rücken sehen, was passiert dann? Der Kerl ist doch komplett verrückt. Aber besser ich spiele das Spiel mit. Habe ich eine Chance? Sie rutschte an die Kante des Betts, stand auf, drehte sich weg von ihm, schaute an die Wand, zögernd zog sie ihren Pullover nach oben. „Ganz ausziehen, Mädchen“, forderte Milas. Wieder zögerte sie, schließlich zog sie ihn über den Kopf, hielt ihn sich vor die Brust, wartete, was passieren würde. „Hervorragend, keine Tattoos, wunderbar“, freute sich Milas über den Anblick, „also bist Du die Richtige.“ Telse verstand rein gar nichts mehr. Sie drehte sich um, blickte ihn fragend an. „Die Richtige? Wofür?“ Milas lächelte sie an. „Du kommst aus Dithmarschen, heißt Telse und hast einen makellosen Rücken.

Demnach bist Du genau die Richtige. Hättest Du auch nur ein klitzekleines Tattoo gehabt, hättest Du morgen nach Hause fahren können. Jetzt gehörst Du mir“, sagte er, ging aus der Kammer und schloss die Tür. Telse blieb allein zurück, zog sich langsam den Pullover wieder an, setzte sich auf das Bett und überlegte. Was sind das für Zusammenhänge? Kein Wort darüber, ob er Lösegeld fordern würde. Sie verstand die Welt nicht mehr. Was hatte ihr Rücken mit ihrem Namen zu tun? Sie legte sich auf das Bett, starrte die mit Holz vertäfelte Decke an, blickte sich noch einmal in der kleinen Kammer um. Ein Bett, ein Sofa, neben dem Bett ein Nachttopf. Das war die komplette Einrichtung. Keine Fesseln, keine Handschellen, keine Masken, nichts. Sie grübelte und fiel irgendwann in einen tiefen Schlaf, übermannt von der Müdigkeit.

Milas schloss nach dem Verlassen die Kammer ab, zog den Schlüssel ab, legte den schweren Riegel vor die Tür. Er war mit sich und der Welt zufrieden. Seine Recherchen hatten ihm zu seinem ersten Opfer geführt. Morgen schon würde er Telse töten müssen. Eigentlich schade um die schöne Frau, aber seine Rache war wichtiger. Er verließ die Schmiede, schloss auch hier die Tür sorgfältig ab und ging zu seinem Wohnhaus, wo er sich einen Whiskey gönnte, er sich schlafen legte und den morgigen Tag Punkt für Punkt durchspielte. Mit einem Lächeln auf seinem Gesicht schlief er schließlich ein.

-6-

Zu Hause angekommen fand Tessa nicht die nötige Ruhe, um ihre Fotos zu bearbeiten. Zwar hatte sie die erste Auswahl auf den Server der Agentur gestellt, aber für das Archiv mussten auch die anderen gelungenen noch bearbeitet werden. Da sie am heutigen Sonnabend ans Millerntor zum Zweitligaspiel des FC St. Pauli musste, durfte sie keine Zeit vertrödeln. Aber diese langweiligen Pressekonferenzbilder halfen nicht wirklich dabei, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Natürlich hatte sie gleich nachdem diese merkwürdige Nachricht von Telse kam, im Internet recherchiert, was dieses „Wahr Di, Buer“ bedeuten sollte. Es deutete auf eine Schlacht von 1500 bei Hemmingstedt hin. Das war ein Dorf unmittelbar in der Nähe von Telses und Sörens Hof.

Aber warum Telse ihr diese Nachricht geschickt hatte, konnte sie sich nicht erklären. Zwar hatte Tessa noch mehrfach versucht, ihre Schwester anzurufen und ihr weitere zwei Mails geschickt, aber auf eine Antwort wartete sie noch immer. Erst nach Mitternacht entschloss sie sich, ins Bett zu gehen, wachte aber schon kurz nach sechs Uhr wieder auf. Sie benötigte nicht viel Schlaf und Spiele am Millerntor waren immer eine reine Freude. Die tolle Stimmung im Stadion riss sie jedes Mal mit. Aber heute verspürte sie keine Freude, sie machte sich weiter Sorgen um ihre Schwester. Auch in der Nacht kam keine Antwort. Obwohl es noch so früh war, entschloss sie sich, Sören anzurufen. Sie mochte ihn nicht besonders und hatte wirklich keine Ahnung, was in ihre Schwester gefahren war, als sie sich in diesen Bauerntölpel verliebt hatte.

Nachdem sie geduscht hatte und sich einen Espresso gönnte, wählte sie Sörens Nummer. Nach dem fünften oder sechsten Klingeln nahm er endlich ab. „Ja?“, fragte eine total verpennte Stimme. „Hier auch ja. Sören, ich bin’s, Tess. Ist meine Schwester da?“ Ruhe. Keine Antwort. „Sören, war die Frage so schwer – ob Telse da ist will ich wissen.“ Ein kurzes Husten in der Leitung, dann ein Räuspern. „Was? Weißt Du, wie spät das ist?“, fragte er verkatert und übermüdet. „Natürlich weiß ich, wie spät es ist.

Kannst Du mir jetzt bitte meine Frage beantworten? Was ist los mit Dir? Du klingst erbärmlich“, erwiderte Tessa sichtlich genervt. „Es ist gerade sechs Uhr, spinnst Du, mich so früh anzurufen? Ich bin müde und hab kaum geschlafen, ruf‘ nachher nochmal an“, nuschelte Sören ins Handy und war kurz davor, das Gespräch zu beenden. „Leg‘ jetzt bloß nicht auf, Sören, ich warne Dich“, schnauzte Tessa ihn an, „wo ist meine Schwester?“ Sören richtete sich endlich auf, rieb sich die Augen, blickte zur Seite, das Bett war unberührt. Er musste erst einmal wach werden. „Warte“, maulte er, „ich seh‘ mal nach.“ Tessa schüttelte ihren Kopf, der Typ war zum Verrücktwerden, zu nichts zu gebrauchen. Wo wollte er denn nachsehen? War sie bei ihm oder nicht? „Sören, was ist jetzt – so schwer kann es doch nicht sein.“ Er setzte sich auf die Bettkante, sein Kopf drohte zu explodieren. Was hatte er gestern bloß alles getrunken? Das wusste er nicht mehr – aber seinen Spaß hatte er, das hatte er nicht vergessen, musste wieder grinsen bei dem Gedanken an sein Liebesabenteuer mit der süßen Blondine, deren Name ihm aber nicht mehr einfallen wollte. Ein Stöhnen ging durch die Leitung, als er endlich aufstand. Dann ein Grunzen, ein Husten, Rücksicht war noch nie seine Stärke. Angewidert schaute Tessa auf ihr Handy. Was für ein Ekelpaket.