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Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. »Aller guten Dinge sind drei. Obwohl es sich hier eher um schlechte Dinge handelt«, seufzte Denise und betrachtete ärgerlich ihr weizengelbes Lederblouson, dessen warmer Ton so gut zu ihren dunklen Haaren und dem leicht gebräunten Teint paßte. »Diese Reißverschlüsse sind ja recht praktisch, solange sie funktionieren. Aber dieser hier ist eindeutig kaputt. Dabei ist die Jacke so gut wie neu.« Gusti, eine Hausangestellte mittleren Alters, nahm ihrer Arbeitgeberin das Kleidungsstück aus der Hand und begutachtete es nun ihrerseits. »Man muß bloß einen neuen Reißverschluß einnähen«, meinte sie. »Stimmt«, gab Denise von Schoenecker zurück. »Und einen neuen Reißverschluß benötigen auch mein grünes Kleid und Nicks Leinenhose. Ich frage mich nur, wo ich die Zeit hernehmen soll, um drei neue Reißverschlüsse einzunähen. Abgesehen davon bin ich auch zu ungeschickt dafür. Zum Knöpfeannähen reicht meine Fertigkeit gerade, aber auch da bin ich im Rückstand. Die weiße Spitzenbluse, in der mein Mann mich so gerne sieht, hängt seit Monaten im Schrank, weil ich einen Knopf verloren habe. Ich müßte auch alle übrigen auswechseln.« »Das Knöpfeauswechseln übernehme ich gerne«, erklärte Gusti. »Aber bei den Reißverschlüssen muß ich passen.
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Seitenzahl: 144
Veröffentlichungsjahr: 2022
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»Aller guten Dinge sind drei. Obwohl es sich hier eher um schlechte Dinge handelt«, seufzte Denise und betrachtete ärgerlich ihr weizengelbes Lederblouson, dessen warmer Ton so gut zu ihren dunklen Haaren und dem leicht gebräunten Teint paßte. »Diese Reißverschlüsse sind ja recht praktisch, solange sie funktionieren. Aber dieser hier ist eindeutig kaputt. Dabei ist die Jacke so gut wie neu.«
Gusti, eine Hausangestellte mittleren Alters, nahm ihrer Arbeitgeberin das Kleidungsstück aus der Hand und begutachtete es nun ihrerseits.
»Man muß bloß einen neuen Reißverschluß einnähen«, meinte sie.
»Stimmt«, gab Denise von Schoenecker zurück. »Und einen neuen Reißverschluß benötigen auch mein grünes Kleid und Nicks Leinenhose. Ich frage mich nur, wo ich die Zeit hernehmen soll, um drei neue Reißverschlüsse einzunähen. Abgesehen davon bin ich auch zu ungeschickt dafür. Zum Knöpfeannähen reicht meine Fertigkeit gerade, aber auch da bin ich im Rückstand. Die weiße Spitzenbluse, in der mein Mann mich so gerne sieht, hängt seit Monaten im Schrank, weil ich einen Knopf verloren habe. Ich müßte auch alle übrigen auswechseln.«
»Das Knöpfeauswechseln übernehme ich gerne«, erklärte Gusti. »Aber bei den Reißverschlüssen muß ich passen. Im Umgang mit Nähmaschinen bin ich eine Niete.«
»Nähen gehört ja auch nicht zu Ihren Aufgaben«, sagte Denise.
»Aber irgend jemand müßte sich darum kümmern. Es wäre schade um die hübsche Jacke. Sie steht Ihnen so gut, Frau von Schoenecker.«
»Trotzdem wird sie vermutlich das Schicksal des grünen Kleides teilen und im Schrank bleiben, bis sie total aus der Mode ist. Unsere Hausschneiderin übernimmt Ausbesserungsarbeiten höchst ungern. Hier auf Gut Schoeneich und drüben in Sophienlust türmen sich wahre Berge schadhafter Wäsche und leicht beschädigter Kindersachen. Oft sind es nur Kleinigkeiten, wie eben fehlende Knöpfe oder offene Säume. Eine Fachkraft wird gewiß leicht damit fertig. Ich werde doch noch einmal ein ernstes Wort mit der Hausschneiderin reden.«
Gusti furchte nachdenklich die Stirn. »Ich habe unlängst beim Kaufmann ein Gespräch mitangehört«, erzählte sie. »Da war eine junge Frau, eine noch sehr junge Frau, mit einem kleinen Mädchen. Es war die Rede von Näharbeiten. Ach ja, jetzt erinnere ich mich genau! Nachdem die junge Frau mit dem Kind gegangen war, schwatzten die anderen noch eine Weile.«
»Aha«, warf Denise ein. Sie kannte den Kaufmannsladen, er diente nicht nur der Versorgung der Wildmooser Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, er fungierte darüber hinaus auch als eine Art Nachrichtenbörse, wo Neuigkeiten, Gerüchte und allerlei Klatsch in Umlauf gesetzt wurden.
Gusti schmunzelte über den Einwurf der Gutsbesitzerin, dann fuhr sie fort: »Es heißt, Frau Rieder und ihr Töchterchen leben gewissermaßen von der Hand in den Mund. Die Frau sei mit einem Studenten verheiratet, der sich irgendwo in der Weltgeschichte herumtreibe und nur hin und wieder bei seiner Familie auftauche. Die Lechnerbäuerin behauptete, daß Frau Rieder Flickarbeiten übernimmt und wunderschön arbeitet, und das zu reellen Preisen!!« Das Hausmädchen blickte Denise erwartungsvoll an.
»Sie meinen, wir sollten diese junge Frau beschäftigen? Wissen Sie denn, wo sie wohnt?«
Gusti nickte. »Angeblich in dem alten Haus schräg gegenüber vom ›Grünen Krug‹. Soll ich sie aufsuchen und mich erkundigen, ob sie für uns nähen will?«
»Ja. Das ist eine gute Idee«, pflichtete Denise dem Hausmädchen bei und hängte das Lederblouson zurück in den Schrank. Stattdessen wählte sie einen leichten Übergangsmantel. Es war noch zu kühl, als daß man sich mit Rock und Bluse hätte begnügen können.
»Grüßen Sie die Kinder von mir«, bat Gusti. »Pünktchen und Heidi ganz besonders.«
»Gerne«, versprach Denise und verließ das schloßähnliche Gutshaus. Wie beinahe an jedem Tag, fuhr sie hinüber nach Sophienlust. Eine kurze Straße verband die beiden Anwesen, deren Parkanlagen ineinander übergingen. Zäune oder sonstige Absperrungen wären ja auch höchst überflüssig gewesen. Gut Schoeneich war seit Generationen im Besitz der Familie von Schoenecker. Der derzeitige Gutsherr war Alexander von Schoenecker, Denises Ehemann. Ihrem Sohn aus erster Ehe, Dominik von Wellentin-Schoenecker, gehörte Sophienlust. Dabei handelte es sich ebenfalls um einen alten Gutsbesitz, aber das großzügig angelegte Herrenhaus diente jetzt als Kinderheim und wurde bis zu Dominiks Volljährigkeit von seiner Mutter verwaltet.
Denise parkte ihr Auto neben der Freitreppe und trat in die große Halle. Zielstrebig wollte sie das Büro der Heimleiterin aufsuchen, doch ein kleines blondes Mädchen mit abstehenden kurzen blonden Zöpfen, hinderte sie daran, es stürmte auf sie zu und warf sich in ihre Arme.
»Endlich, Tante Isi!« rief das Kind. »Ich habe schon furchtbar lange auf dich gewartet!«
»Ich bin nicht später dran als sonst, Heidi«, erwiderte Denise. »Was gibt es denn so Dringendes?«
»Ich war heute schon sehr traurig, Tante Isi«, vertraute Heidi der Verwalterin an.
»So? Weshalb denn?«
»Weil mein schönes blaues Kleid kaputt ist. Es ist in der Mitte entzwei gerissen. Ich hab heute morgen oben den Kopf durchgesteckt. Schwester Regine wollte mir beim Anziehen helfen und hat unten am Rock gezogen. Auf einmal hat es ›ratsch‹ gemacht, und ich habe nur das Oberteil angehabt. Den Rock hat Schwester Regine in der Hand gehabt. Zum Trost hat sie mir dann die Zöpfe geflochten. Mein blaues Kleid kann ich erst wieder anziehen, wenn jemand es zusammengenäht hat«, seufzte die Kleine.
»Mit diesem Problem stehst du nicht allein da«, bemerkte Denise. »Mir ist heute etwas Ähnliches passiert.« Sie berichtete von dem irreparablen Reißverschluß.
»Bei dir ist das nicht so schlimm, Tante Isi«, meinte Heidi. »Du bist schon groß und kannst nähen. Aber ich muß warten, bis Schwester Regine oder eines von den größeren Mädchen Zeit für mein blaues Kleid hat. Pünktchen und Irmela haben leider sehr wenig Zeit, denn sie müssen dauernd für die Schule lernen. Mit Angelika habe ich gestern gestritten, und Vicky hilft mir sowieso schon bei einem Puppenmäntelchen«, zählte sie die für Näharbeiten in Frage kommenden Mädchen auf.
»Weswegen hast du denn mit Angelika gestritten?« erkundigte sich Denise.
»Sie hat mich beleidigt. Sie hat Dreikäsehoch zu mir gesagt«, erwiderte Heidi empört.
Die Verwalterin verbiß sich ein Schmunzeln und erklärte: »Gusti wird sich um die notwendigen Reparaturarbeiten an unseren Kleidungsstücken kümmern. Sie läßt dich übrigens schön grüßen.«
Heidi riß ihre blauen Augen weit auf. »Gusti?« fragte sie zweifelnd. »Hat Gusti denn Zeit für mein Kleid? Sie muß doch aufräumen und servieren und Betten machen und einkaufen.«
»Das stimmt«, bestätigte Denise. »Gusti soll ja auch nicht selbst nähen. Sie hat von einer jungen Frau gehört, die solche Arbeiten ausführt. Gusti will versuchen, diese junge Frau nach Gut Schoeneich zu holen.«
*
Tanja Rieder saß über ihre Nähmaschine gebeugt und war bemüht, sich voll auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie war eine hübsche Frau von knapp dreiundzwanzig Jahren, mittelgroß und beinahe überzart. Trotz ihres brünetten Haares und der dichten dunklen Wimpern um ihre grauen Augen wirkte sie seltsam farblos. Daran war wahrscheinlich ihr schlichtes taubenblaues Kleid und ihre blasse Haut schuld.
Tanja drückte das Füßchen der Nähmaschine in die Höhe, zog den Stoff hervor und schnitt die Fäden ab. Kopfschüttelnd betrachtete sie ihr Werk. Die Naht war stümperhaft, aber zum Glück handelte es sich lediglich um einen Kissenbezug. Beim Reißverschluß hatte sie tadellos gearbeitet, dem Lederblouson war die Reparatur nicht anzusehen.
Die junge Frau unterdrückte ein Stöhnen und streckte sich. Sie war müde, ihr Rücken schmerzte vom langen Sitzen, und vom Bauch her strahlte dieses beängstigende Ziehen schon wieder über den ganzen Körper aus. Mit einem Seufzer trennte Tanja die mißlungene Naht auf. Sie durfte sich keine Schlamperei leisten. Sie war froh, daß sie für mehrere Tage Arbeit zu äußerst günstigen Bedingungen gefunden hatte. Sie mußte nicht in ihrer winzigen Wohnung, wo das Licht schlecht war, arbeiten. Frau von Schoenecker hatte sie und ihre Nähmaschine mit dem Wagen nach Sophienlust geholt und ihr auch erlaubt, ihr dreijähriges Töchterchen Fanny mitzunehmen. Und das Beste war, daß die lebhafte Fanny hier auf dem Gutshof Anschluß gefunden hatte. Der jüngste Sohn des Hauses, Henrik von Schoenecker, hatte sich der Kleinen angenommen und sie mit dem Versprechen, ihr die Ponys zu zeigen, hinaus in den Park geführt. Fanny war dem um etliche Jahre älteren Jungen unter munterem Geplapper willig gefolgt.
Die Schneiderin wollte die Stoffbahnen gerade wieder unter die Maschine schieben, als sich die Tür öffnete. Gusti erschien, beladen mit einem Tablett, auf dem sich eine Kaffeekanne mit verlockend duftendem Inhalt, zwei Tassen, Gläser mit Limonade und ein Teller voller Kuchenstücke befanden.
»Unser Nachmittagskaffee«, verkündete das Hausmädchen fröhlich.
»Aber ich hatte ohnehin bereits ein reichliches Mittagessen, und Fanny bekam von Ihnen sogar einen besonderen Leckerbissen aufgetischt, nachdem sie sich weigerte, von dem Hühnchen zu kosten. Ich geniere mich wirklich für meine Tochter. Sie ist sonst nicht so verwöhnt. Ich weiß nicht, was heute in sie gefahren ist.«
»Tja, Kinder sind mitunter heikel beim Essen. Dafür haben ihr dann die Würstchen und das Mischgemüse besonders gut geschmeckt«, meinte Gusti gemütlich und deckte den runden Tisch, der in einer Ecke des Arbeitsraumes stand. »Kommen Sie, Frau Rieder, der Kaffee wird sonst kalt«, forderte sie die Schneiderin auf. »Lassen Sie die Arbeit ein bißchen ruhen, eine Erholungspause wird Ihnen nicht schaden.«
Tanja folgte gern der Einladung. »Wissen Sie, wo Fanny steckt?« erkundigte sie sich mit leichter Besorgnis. »Seit Mittag habe ich sie nicht mehr zu Gesicht bekommen.«
»Sie spielt mit Henrik Verstecken. Die beiden werden gleich hier sein.« Gusti goß den Kaffee in die Tassen und schob Tanja den Kuchenteller hin.
Die Schneiderin griff zu. »Schmeckt fein«, lobte sie nach den ersten Bissen.
»Ich werde Ihr Lob an unsere Köchin Martha weitergeben«, sagte Gusti. »Sie freut sich immer, wenn ihre Erzeugnisse Anklang finden. Nehmen Sie ein zweites Stück. Oder halten Sie etwa Diät?«
»Eine Diät? Ich? Wie kommen Sie darauf?« fragte Tanja verwundert.
»Weil Sie so überschlank sind«, erwiderte das Hausmädchen prompt.
»Ach so. Ich… hm… ich muß mir mein Haushaltsgeld sehr genau einteilen«, bekannte die Schneiderin stockend. Etwas lebhafter setzte sie hinzu: »Ich achte in erster Linie darauf, daß Fanny nichts abgeht. Das Kind ist im Wachsen, und es braucht viel Vitamine. Obst ist leider ziemlich teuer. Ein Glück ist, daß ich eine billige Wohnung mieten konnte, und daß ich unsere Kleidung selber nähe. Schuhe muß ich allerdings kaufen, und Fannys Füße scheinen irrsinnig schnell zu wachsen. Mit meiner Schneiderei verdiene ich nicht viel, und ich bin auf Heimarbeit angewiesen, weil ich doch das Kind nicht allein lassen kann. Und Heimarbeit wird schlecht bezahlt. Daß Sie mir die Beschäftigung hier verschafft haben, ist für mich ein Glücksfall, und ich bin Ihnen sehr dankbar dafür.«
Gusti wollte Tanjas Dank bescheiden zurückweisen, da fiel ihr Blick unwillkürlich auf den Ehering der jungen Frau. Bevor sie noch darüber nachdenken konnte, ob sie sich einer Indiskretion schuldig machte, rutschte ihr die Frage heraus: »Was ist mit Ihrem Mann? Trägt der nichts zu Ihrem Unterhalt bei?«
»Volkmar?« Ein zärtliches Lächeln spielte um Tanjas zarte, blasse Lippen. »Volkmar hat ja selbst nichts. Er studiert. In München. Zwischendurch jobbt er, aber dabei schaut nicht viel heraus. Was er verdient, reicht gerade für seine Bude und für seinen täglichen Bedarf. Später einmal, wenn er erst seinen Doktor hat, wird es uns bessergehen.«
Es war Gusti unmöglich, ihre Neugier zu bezähmen. »Was studiert Ihr Mann denn?« erkundigte sie sich.
»Medien- und Theaterwissenschaften.«
»Aha.« Das Hausmädchen wußte mit dieser Antwort wenig anzufangen.
»Natürlich wird es noch eine Weile dauern, bis Volkmar sein Studium beendet hat«, fuhr Tanja fort. »Er ist erst vierundzwanzig. Außerdem kommt er nicht so schnell weiter wie andere Studenten, weil er sich doch nebenher seinen Lebensunterhalt verdienen muß.«
»Haben Sie keinerlei Angehörige?« forschte die Hausangestellte.
»Nur eine alte Tante. Sie hat mich nach dem Tod meiner Eltern aufgezogen. Jetzt lebt sie in einem Altersheim.«
»Dann haben Sie also niemanden, dem sie Fanny anvertrauen könnten, wenn Sie einmal einen Weg haben oder sich nicht wohlfühlen!« rief Gusti bestürzt aus.
»N… nein.«
Gusti wollte sich gerade erkundigen, was das leise Zögern in der Antwort ihrer Gesprächspartnerin zu bedeuten habe, da flog die Tür auf, und ein kleines rundliches Mädchen stürzte in den Raum, gefolgt von einem größeren Jungen mit wirrem dichtem Haarschopf.
»Mamilein!« Die Kleine kletterte auf Tanjas Schoß, legte die Arme um ihren Hals und schmiegte das Gesichtchen an die Wange der Mutter. Ihre Augenpartie glich der Tanjas, und auch das etwas zu breit geratene Näschen hatte sie von ihrer Mutter geerbt, aber damit waren die Ähnlichkeiten zwischen Mutter und Tochter auch schon erschöpft. Stefanie Rieder war wohlgenährt, ihre Gesichtsfarbe war gesund, und ihre Lebhaftigkeit ließ nichts zu wünschen übrig. »Mamilein, darf ich morgen mit Tante Isi nach Sophienlust?« bat sie.
»Tante Isi? Wer ist das?«
»Meine Mutti!« rief Henrik prompt, und gleichzeitig erklärte Gusti: »Fanny meint Frau von Schoenecker. Die Kinder von Sophienlust nennen Frau von Schoenecker Tante Isi.«
»Henrik sagt, daß er morgen vormittag in die Schule muß. Er kann nicht mit mir spielen. Aber Heidi wird mit mir spielen. Heidi ist ein bißchen älter als ich. Henrik sagt, daß sie trotzdem mit mir spielen wird. Ich darf mir sogar ihr Dreirad ausborgen. Heidi ist schon zu groß zum Dreiradfahren. Ich noch nicht«, sprudelte Fanny hervor.
Einigermaßen überrumpelt begann Tanja: »Du krauchst dir doch kein Dreirad auszuborgen. Du hast ein eigenes…«
»Das ist aber bei Opa und Oma. Du erlaubst ja nicht, daß ich es mit nach Hause nehme«, unterbrach die Kleine ihre Mutter.
»Schätzchen, wir haben viel zu wenig Platz in der Wohnung.«
»Darf ich morgen nach Sophienlust?« kam die Kleine wieder auf ihr ursprüngliches Anliegen zurück.
»Das muß ich mir noch überlegen«, antwortete Tanja ausweichend. Sie kannte den Dickkopf ihres kleinen Lieblings zur Genüge und fürchtete, mit Betteln und Drängen bombardiert zu werden, bis sie endlich nachgab.
Gusti nahm der jungen Frau die Entscheidung ab. »Erfüllen Sie Ihrer Tochter den Wunsch«, riet sie Tanja. »Sie brauchen keine Angst zu haben, Fanny ist in Sophienlust bestens aufgehoben. Sophienlust ist ein Kinderheim, das man nicht mit gewöhnlichen Maßstäben messen darf. Die Kinder dort sind alle sehr kameradschaftlich. Ihre Fanny wird dort nicht zu Schaden kommen.«
»Bitte erlauben Sie es«, mischte sich nun Henrik ein, der bis dahin nur zugehört hatte.
»Aber Fanny ist noch so klein«, meinte die junge Frau unentschlossen.
»Wir haben mehrere kleine Kinder in Sophienlust«, erklärte er Junge. »Wir hatten sogar schon Babys dort.« Wenn Henrik in Fahrt kam, vergaß er gern, daß sein älterer Halbbruder Nick der eigentliche Besitzer des Kinderheims war. Auch er, Henrik, fühlte sich gewissermaßen als Hausherr in Sophienlust, das ja von seiner Mutter verwaltet wurde. »Fanny ist kein Baby mehr«, führte Henrik weiter aus. »Sie ist zwar noch klein, aber sie kann schon alles reden. Sogar schwierige Wörter.«
Fanny nahm dieses Lob gelassen hin, Tanja aber errötete vor Stolz. »Nicht wahr!« rief sie aus. »Mein Schätzchen ist ein kluges, kleines Mädchen. Sie hat die Intelligenz von ihrem Vater geerbt. Mein Mann hat einen gescheiten Kopf. Ich kann da leider nicht mithalten. Die Schule habe ich gerade so mit Ach und Krach geschafft. Aber Stefanie wird sicher einmal zu den Vorzugsschülern gehören.«
»Hm«, brummte Henrik. Er war zwar kein schlechter Schüler, aber von Strebern hielt er wenig. Und in seinen Augen gehörten die Vorzugsschüler meist zu dieser verachtenswerten Gattung.
»Ihr Töchterchen hat noch drei Jahre Zeit, bis es in die Grundschule kommt«, meinte Gusti. »Sie sollten es nicht schon vorher überfordern.«
»Ich überfordere Fanny nicht«, erklärte Tanja. »Alles was sie kann, hat sie irgendwie von selbst gelernt. Sie kann sogar schon alle Farben unterscheiden, sogar violett von blau. Sie kann sich allein an- und ausziehen, nur mit dem Schleifenbinden hapert es noch.« Die junge Frau hielt inne, um zu überlegen, welche Fähigkeiten ihres Töchterchens noch hervorzuheben waren.
Henrik aber hatte die Aufzählung der stolzen Mutter bereits satt. Er nahm das kleine Mädchen an der Hand und befahl: »Komm, Fanny, wir steigen ins Turmzimmer hinauf. Das liegt hoch oben, und wir können durch das Fenster bis nach Sophienlust schauen.«
»Nein, nein«, wandte Tanja besorgt ein. »Fanny könnte aus dem Fenster fallen!«
»Ich paß schon gut auf«, versprach Henrik und verschwand mit der Kleinen.
»Auf Henrik ist Verlaß«, beschwichtigte Gusti die aufgeregte junge Frau. »Aber wenn Sie wollen, gehe ich den Kindern nach und beaufsichtige sie.«
»Ja, bitte«, murmelte Tanja.
*
Auch am nächsten Tag zeigte sich die junge Schneiderin um ihre Tochter übermäßig besorgt. Nur widerstrebend ließ sie es zu, daß Denise Fanny in ihren Wagen verfrachtete und mit dem Mädchen zu dem benachbarten Kinderheim fuhr. Denise, obwohl für gewöhnlich äußerst feinfühlig, merkte von den Vorbehalten der jungen Mutter nichts. Freundlich teilte sie Tanja mit, daß sie mit Fanny über Mittag in Sophienlust bleiben, daß Henrik später nachkommen würde und daß sie erst gegen Abend gemeinsam zurückkehren würden.
Es blieb Tanja also gar nichts anderes übrig, als zustimmend zu nicken. Stefanie ihrerseits sah mit offensichtlichem Vergnügen den kommenden Stunden entgegen. Henrik hatte ihr eine Menge von den Kindern erzählt, und sie konnte es kaum erwarten, mit ihnen zusammenzutreffen.