Wahrhaftigkeit - Cornelius Riese - E-Book

Wahrhaftigkeit E-Book

Cornelius Riese

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Welche großen Fragen prägen unsere Gesellschaft in der Zukunft? Welche Wirkung entfalten das Streben nach einer nachhaltigeren Lebensweise, die Dominanz digitaler Medien und Akteure oder eine immer heterogenere Medienlandschaft? Wie gehen wir mit diesen Herausforderungen um? Ein gefälschtes Testament, eine ungewöhnliche Entführung, eine desillusionierte Wissenschaftlerin, ein aufbegehrender Teenager, eine aus dem Ruder laufende Talkshow und eine generationsübergreifende Freundschaft – sie alle finden Eingang in die Geschichten von Cornelius Riese. Dem Autor gelingt es durch seine Texte, die großen Fragen unserer Zeit aus einem neuen und kreativen Blickwinkel zu beleuchten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 83

Veröffentlichungsjahr: 2021

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


CORNELIUS RIESE

Wahrhaftigkeit

GESCHICHTEN ZUGESELLSCHAFTLICHEN FRAGENUNSERER ZEIT

Die Veröffentlichung erfolgt seitens des Autors als Privatperson.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2021

© 2021 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Cover Montage: © Shutterstock/wavebreakmedia, © Shutterstock/SusaZoom

ISBN 978-3-99200-317-4

eISBN 978-3-99200-318-1

INHALT

Entführung und Erwachen

Erkenntniszirkel

Forschungsreise

Nahestehende Personen

Nutritheismus

Talkshow

Verlies

Wahrhaftigkeit

ENTFÜHRUNG UND ERWACHEN

I.

Es überraschte ihn nicht, entführt zu werden – den unmittelbaren Prozess der Entführung hatte er sich allerdings verdrießlicher vorgestellt. Der Sack, der ihn vom Kopf bis zur Hüftregion bedeckte, war weicher als vermutet, fast samtähnlich. Die Entführer umgab ein angenehmer Körperduft. Die Autofahrt im Kofferraum war – wohl dem höherwertigen Modell geschuldet – zumindest erträglich. Zugleich bot sich die sonst im Alltag doch seltene Möglichkeit einer vollständigen geistigen Fixierung auf die gegenwärtige Situation und damit die Abwesenheit von anderen vermeintlichen Mühseligkeiten sowie analogen und digitalen Ablenkungen.

Seine Gedanken kreisten um die Fragen des Wohins (er wohl transportiert würde), des Warums (man diesen Transport mit ihm unternahm) und des Womits (er diesen wohl verdient habe).

Ein Mangel an Strebsamkeit würde in diesem Zusammenhang kein hinreichendes Erklärungsmuster bilden können. Aus einfachen bürgerlichen Verhältnissen entstammend hatte er stets mit instrumenteller Hingabe an seinem beruflichen Fortkommen gearbeitet und zweckdienliche fachliche, methodische und persönliche Kompetenzen perfektioniert. Die Partitur aus Analyse und Dialog, aus Orientierung und Empathie wusste er zu lesen und zu spielen.

Folgerichtig brachte dies einen schrittweisen Aufstieg mit sich. Inzwischen war er eine zentrale Figur in der ihn beschäftigenden Firma und damit auch – auf niedriger Relevanzhöhe – eine Person des gesellschaftlichen Lebens. Hierbei zeichnete ihn aus, dass er an den gewöhnlichen Ritualen und Insignien von Aufstiegsbiografien und innerbetrieblichen Wettbewerben keinen Gefallen fand.

Ungeachtet dessen war er mit dem kürzlichen Vorbeiziehen des fünfzigsten Lebensjahres im dauerhaften Widerstreit mit emotionalen Kategorien wie Zufriedenheit und Glück. Die berufliche Etablierung brachte einen regelmäßigen inneren Spannungszustand zwischen Überforderung und Über-Ambition mit sich, den die Demut meist nur notdürftig schlichtete.

Die soziale Karawane an persönlichen Beziehungen in seinem Leben war quantitativ stärker ausgeprägt als qualitativ. Er war unschlüssig, ob diese weitgehend bindungsfreie Konstellation, ebenso wie die Abwesenheit einer eigenen Familie, eher dem eigenen Unwillen oder einem Fähigkeitenmangel anzulasten war.

Diese komprimierte Lebensinventur erlaubte für zwei der aufgeworfenen Fragen thesenartige Antworten: Materielle Motive der Entführer dürften ursächlich für seine aktuelle horizontale Lage im Kofferraum sein. Gleichzeitig erschien sie mit Blick auf die anspruchsvollen Dimensionen von Schuld und Gerechtigkeit jedoch unverdient.

Die Beförderung durch das Auto glich in allem, insbesondere in der Akustik, mehr einem Gleiten als einem Fahren. Auch der Stillstand trat eher sanft ein. Zügig öffnete sich der Verschluss seiner temporären Unterbringung und ländliche Wahrnehmungen strömten in seine Kajüte. Er empfand die Koinzidenz seiner persönlichen Situation und der friedvollen Laute und Gerüche von landwirtschaftlichen Nutztieren als irritierend. Außerdem hatte er sich schon immer stärker der Kategorie der Stadtmenschen zugehörig gefühlt.

Nachdem er geschäftsmäßig aus der mobilen Unterkunft befreit worden war, wurde ihm ein kurzer Augenblick der physiotherapeutischen Erholung gewährt und anschließend mit knappen prägnanten Direktiven der Weg gewiesen. Trotz seines Komforts erfüllte der Sack weiterhin seine ihm zugedachte Funktion und verhinderte jegliche optische Wahrnehmung.

Er bemerkte, dass sie ein Gebäude betraten und auf knarzenden Dielen einen oder mehrere Räume durchschritten. Die Krönung dieses kurzen Marsches kam unerwartet; nahezu gleichzeitig wurde ihm der ständige Begleiter der letzten Stunden vom Körper abgezogen, ein leichter Tritt ließ ihn etwas nach vorne taumeln und eine Tür fiel hinter ihm ins Schloss.

Seine Augen benötigten eine kurze Phase der Rekonvaleszenz, bis sie wieder ihre gewohnte Funktionsfähigkeit erreichten. Was er vor sich erblickte, genauer gesagt, worin er sich befand, würde in Metropolen wahrscheinlich mit dem Begriff des Mikroapartments umschrieben werden und sich studentischer Wertschätzung erfreuen. In seiner persönlichen Lage war der Terminus einer Zelle zutreffender.

Hätte er aufgrund der ländlichen Eindrücke bei seiner Ankunft ein idyllisches Bauernzimmer erwartet, so wäre diese Hoffnung nur durch ein Utensil in seiner derzeitigen Herberge erfüllt worden. Diese Rolle übernahm die schwere, vor einem kurzen Augenblick zugefallene Holztür hinter ihm. Sie flößte Respekt und Unüberwindlichkeit ein.

Demgegenüber war der Rest seiner Zelle zweckgemäß konstruiert und eingerichtet: weiße, wahrscheinlich schalldichte Wände, eine Liege, ein Tisch, ein Stuhl und ein handlicher Toiletten- und Waschbeckenbereich. Fenster suchte man bedauerlicherweise vergeblich. Licht spendete eine ohne jegliche Dekoration von der Decke hängende Energiesparlampe – spärlich unterstützt durch Ahnungen von Tageslicht, die durch einige Glassteine innerhalb einer der Wände gespeist wurden.

Auf dem Tisch lagen säuberlich angeordnet einige Blätter Papier und ein Bleistift. Seine doch eher gedrückte Stimmung wurde durch die daneben stehende Flasche mit stillem Wasser samt Glas sowie einen Teller mit Reiswaffeln nur leicht gehoben. Seufzend ließ er sich auf dem Stuhl nieder und starrte gedankenverloren auf sein karges Mahl.

II.

Zeitgefühl in einer Zelle in Abwesenheit elektronischer Hilfsmittel zu erhalten, ist ein schwieriges Unterfangen. Das war zumindest eine mittelmäßig produktive Lernerfahrung, die er seit der Ankunft für sich verbuchen konnte. Er hatte den Eindruck, dass das ohnehin nur dünn durch die Glassteine schimmernde Tageslicht noch schwächer geworden war, als sich die Tür öffnete.

Die Person, die eintrat und bedächtig die Tür hinter sich schloss, passte nicht in das Persönlichkeitsschema von Mitarbeitern in Entführungsorganisationen, das er in der verstrichenen Zeit gedanklich hin und her gewälzt hatte. Auch wunderte ihn, dass die weibliche Person – zumindest dem äußeren Anschein nach – nicht bewaffnet war. Die Vernunft hielt ihn jedoch davon ab – vielleicht fehlte ihm auch der Mut –, dies als Chance für einen Fluchtversuch zu begreifen. Zu durchdacht wirkte die Komposition seiner Entführung.

Es folgten Momente der gegenseitigen Musterung. Sie war jung. Er hatte es schon immer als herausfordernd empfunden und war häufig schmerzhaft danebengelegen, wenn es um das Einschätzen des weiblichen Alters ging. Letztendlich einigte er sich mit sich selbst auf „Mitte zwanzig“. Sie war schlank und mittlerer Größe, hatte lange dunkelblonde Haare; braune Augen veredelten ihr Gesicht.

In einer Mischung aus Nüchternheit und Selbstbewusstsein begann sie zu sprechen: „Ich begrüße Sie sehr herzlich bei uns.“ Auch wenn der Begriff der Herzlichkeit im Gesprochenen verwendet wurde, so empfand er ihn doch eher als floskelhaft. Trotz der offenkundigen Höflichkeit strahlte sie gleichzeitig ein hohes Maß an Kühle und Strenge aus.

„Warum bin ich hier?“ Diese nicht sehr kreative Frage erschien ihm durchaus der Situation angemessen. „Sie sind vor einigen Wochen vom Observationszum Zugriffsobjekt reklassifiziert worden. Wir sprechen morgen weiter.“ Mit dieser Aussage verließ sie die Zelle und ließ ihn allein mit sich und seinen irrlichternden Gedanken.

Trotz häufiger Reisetätigkeit mit zahlreichen auswärtigen Aufenthalten war ihm der häusliche Schlaf noch immer der erholsamste. In Relation zu diesem Erfahrungswert überraschte ihn die Qualität seiner Nachtruhe, nach der er, ohne sich an größere Traumereignisse zu erinnern, ausgeschlafen erwachte. Die Glassteine signalisierten Morgen.

Es verging nur wenig Zeit, bis seine Gesprächspartnerin erneut seine spartanische Unterkunft betrat. Ausgerüstet war sie diesmal mit einem weiteren Stuhl sowie einem Tablet. Sie setzte sich und wies ihn an, Gleiches zu tun. Während sie augenscheinlich auf dem Tablet Unterlagen für ihr mutmaßlich bevorstehendes Gespräch öffnete, musste er sich selbst eine gewisse Nervosität eingestehen.

Sie begann: „Sie haben schwerwiegende Verfehlungen begangen, indem Sie sowohl Maßnahmen initiiert haben, die die natürlichen Lebensgrundlagen schädigen oder schädigen könnten, als auch solche unterlassen haben, die geeignet gewesen wären, einen Beitrag zur Konservierung des existenziellen ökologischen Gleichgewichts zu leisten.“

Es folgte eine Aufzählung beachtlichen Ausmaßes, die Ergebnis umfangreichster Recherchetätigkeit gewesen sein muss – allesamt Entscheidungen der vergangenen Jahrzehnte, an denen er in der ihn beschäftigenden Firma beteiligt gewesen war: Produktentwicklungen, Investitionen, Standorte, Unternehmensregularien, Positionsfindungen auf Branchenebene und vieles mehr. Ihnen allen war gemein, dass sie auch Konfliktlinien zu gesellschaftlichen und umweltbezogenen Themenfeldern aufwiesen.

Sie schloss mit den Worten: „Am morgigen Tag erhalten Sie die Möglichkeit, hierzu Gehör zu finden.“ Sie klappte ihr Tablet zu und verließ den Raum.

III.

Sowohl der Inhalt als auch die Form der Anklage hatten ihn emotional berührt, wenn nicht sogar aufgewühlt. Er ärgerte sich über seine fehlgeleitete Prognose aus dem Kofferraum, da seiner Entführung augenscheinlich keine materiellen Motive zugrunde lagen. Er war wütend, dass eine Person kurz nach der Übertrittsschwelle vom Teenager zur Frau ihn behandelte, als sei er ein Statist oder – noch passender – ein Schüler, der auf dem Schulhof beim Entwenden einer Brezel erwischt worden war. Er war beeindruckt von der Faktentreue und Detailverliebtheit der ihm vorgestellten Recherche-Ergebnisse. Gleichzeitig schlich sich ein Gefühl der Überforderung bis hin zur Angst ein.

Er unternahm mit gemischtem Erfolg den Versuch, aus seinem heterogenen Gefühlszustand Energie für die Entwicklung einer Verteidigungsstrategie zu ziehen. Den ganzen Tag und auch die diesmal weitgehend ruhearme Nacht grübelte er über Argumentationslinien und reflektierte zahlreiche Begebenheiten der Vergangenheit. Er war dankbar, dass Papier und Bleistift zu seiner kargen Zimmerausstattung gehörten.

Sein Zeitgefühl und die Lichtsteine ließen ihn vermuten, dass es zu einem ähnlichen Zeitpunkt am Morgen gewesen sein muss, als die Klageführerin wieder den Raum betrat. Er saß bereits argumentationsfertig auf seinem Stuhl.

Sie: „Guten Morgen. Hatten Sie Gelegenheit, die am gestrigen Tage formulierten Verfehlungen zu reflektieren?“

Er: „Guten Morgen. Zunächst einmal erkenne ich Ihre Autorität, einen derartigen Dialog zu führen, nur widerwillig an. Ich vermute gleichwohl, in dieser Thematik stellen sich für mich kaum andere Alternativen.“

Sie: „Das vermuten Sie zutreffend.“

Er: „Mir ist es ein Anliegen, zu Beginn ein Bekenntnis abzulegen. Schon von jüngeren Jahren an liegt mir die Bewahrung der natürlichen Umgebung und der Schöpfung am Herzen.“

Sie: „Taten sind die einzige Sprache in dieser Causa, nicht Bekenntnisse. Die Eignung des Begriffs der Schöpfung ist in diesem Kontext im Übrigen nicht gegeben.“