Waldwaise - Anke Neder - E-Book

Waldwaise E-Book

Anke Neder

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Beschreibung

Was keiner für möglich gehalten hätte, ist eingetreten. Hauptkommissar Hobelsberger hat den Polizeidienst quittiert. Auf der Suche nach seinem Seelenfrieden hat er sich ein neues Leben aufgebaut, das ihn vollkommen erfüllt. Doch seine kriminalistische Intuition lässt ihn auch an seinem derzeitigen Arbeitsplatz ein Verbrechen wittern. Zwei spurlos verschwundene Personen beschäftigen ihn - und bald auch die Mordkommission in Passau. Schließlich gab es schon vor ein paar Jahren ein ähnlich gelagertes Szenario, das nie aufgeklärt werden konnte. Als eine junge Frau ermordet wird, die Hobelsberger etwas anvertrauen wollte, gerät sein beschauliches Leben gehörig ins Wanken. Und unversehens ist er wieder im Ermittlermodus... Gibt es einen Mörder in seinem neuen Arbeitsumfeld und welche Bedeutung hat eine zutiefst verstörende Geschichte, die sich Ende der 60er Jahre in dem kleinen Örtchen Fürsteneck zugetragen hat? Der vierte Fall, der genaugenommen gar nicht sein Fall ist, bringt nicht nur Hobelsberger, sondern auch das Kripo-Team an ganz persönliche Grenzen und weit darüber hinaus.

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Seitenzahl: 487

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Für Theo, der gerade beginnt, die ersten Seiten seines Buches zu schreiben…

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Dienstag, 31.12.2019

Kapitel 2

Donnerstag, 02.01.2020

Kapitel 3

Freitag, 03.01.2020

Kapitel 4

Samstag, 04.01.2020

Kapitel 5

Sonntag, 05.01.2020

Kapitel 6

Montag, 06.01.2020

Dienstag, 07.01.2020

Kapitel 7

Kapitel 8

Mittwoch, 08.01.2020

Donnerstag, 09.01.2020

Kapitel 9

Freitag, 10.Januar 2020, 8.00 Uhr

10.30 Uhr

Kapitel 10

Samstag, 11.Januar 2020

Kapitel 11

Sonntag, 12.01.2020

Kapitel 12

Montag, 13.01.2020

Kapitel 13

Dienstag, 14.01.2020

Kapitel 14

Mittwoch, 15.01.2020

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

In eigener Sache…

Kapitel 1

Es war etwas im Gange. Sie hatte die latente Unruhe schon während der letzten Wochen gespürt, auch wenn sie immer versucht hatten, ihre geheimen Pläne vor ihr zu verbergen. Wer wusste schon, ob sie loyal sein würde. In erster Linie war sie einfach eine ehrliche Haut – und das konnte gefährlich sein. Selbst bei einer kleinen Pfarrersköchin.

Sie öffnete mit dem Ellbogen geschickt die schwere Holztür und balancierte das Tablett ins Esszimmer. Umsichtig stellte sie die kleinen, geblümten Porzellanteller auf den Esstisch, platzierte die Tassen darauf und goss Kaffee ein. In die Mitte des Tisches gruppierte sie die dazu passende Zuckerdose und ein Milchkännchen. Die Cognac-Gläser aus wertvollem Bleikristall ließ sie auf dem Tablett stehen, denn sie wusste, dass der Pfarrer es gerne selbst übernahm, seinen Gästen den guten Tropfen zu kredenzen.

Alle waren sie wieder da. Bürgermeister Kieninger, Josef Hüttenrauch, der größte Bauunternehmer in der Gegend, zwei, drei überaus wichtige Geschäftsleute und Konrad Schnapp, der Vater ihres ungeborenen Kindes, der noch nichts von seiner bevorstehenden Vaterschaft ahnte und ihr, als sie vorüberging, einen Klaps auf den Hintern gab. Sie spürte, dass ihre Schleife verrutscht war. Der Bürgermeister und Hüttenrauch lachten verstohlen, der Pfarrer tat, als habe er nichts bemerkt.

Nachdem sie das Zimmer betreten hatte, waren die Männer in gegenseitigem Einvernehmen verstummt, und sie nahmen ihre Gespräche erst wieder auf, als sie sich leise zurückzog. Bewusst ließ sie die Türe nur angelehnt, machte sich im Flur mit einem Staublappen an den Bildern zu schaffen und versuchte zu belauschen, worum es bei der Zusammenkunft ging.

Gedämpfte Stimmen, erregt, bestimmt, zu allem entschlossen. „Er wird uns nicht unser Dorf kaputtmachen.“ „Sie werden hier nicht glücklich werden.“ „Du weißt, was du zu tun hast.“ „Sie stehen fast geschlossen hinter uns.“

„Was machst du hier?“ Die Stimme des Pfarrers traf sie unvorbereitet. Sie schrak zusammen. „Staubwischen“, flüsterte sie. „Geh in die Küche und kümmere dich um das Abendessen. Der Staub kann warten. Wir wollen pünktlich um sechs Uhr essen.“ Sie nickte folgsam und hastete den Flur entlang. Sie sollte sich auf ihren Braten konzentrieren, auf das Blaukraut und die Semmelknödel. Schnell ging sie in der Küche zu Werke, denn der Pfarrer war zwar stets freundlich zu ihr, aber Pünktlichkeit war oberstes Gebot im Pfarrhaus. Da kannte er keine Nachsicht.

Sie begann das Blaukraut zu zerteilen, nach wie vor tief in Gedanken versunken.

„Der Herr Pfarrer sagt, du spionierst uns hinterher. Das tust du doch nicht wirklich, oder?“ Konrad stand plötzlich neben ihr und strich ihr sanft über die Wange. Beinahe hätte sie sich mit dem scharfen Messer in den Zeigefinger geschnitten. Sie sah auf. „Natürlich nicht. Aber was habt ihr neuerdings immer so Geheimnisvolles zu besprechen?“ Er lächelte sie an. „Es geht nur um unser Dorf - um unser Dorf und um wichtige Geschäfte. Mach dir keine Gedanken, es ist alles in bester Ordnung.“ Er ging zur Türe und drehte sich dann nochmals zu ihr um. „Nach dem Essen komme ich dich noch besuchen, ja?“ Sie schüttelte nervös den Kopf. Noch nie hatten sie sich hier im Pfarrhaus getroffen. Es war schon schlimm genug, dass sie schwanger war. Als unverheiratete Frau. Aber hier im Pfarrhaus. Nein, das ging nicht. „Pfarrer Stranzinger hat nach dem Essen noch einen Termin außer Haus. Wir sind ganz allein.“ Er umfasste ihre Hüften und zog sie an sich. Sie sah die Erregung in seinen Augen. Den Reiz des Verbotenen. Sie nickte schicksalsergeben.

Als sie die Hauswirtschaftsschule im letzten Jahr mit Bravour abgeschlossen hatte, war sie so glücklich gewesen, kurz darauf die Stelle im Pfarrhaus von Fürsteneck zu bekommen. Was für eine Chance, als junges Mädchen einen so verantwortungsvollen Posten übernehmen zu dürfen.

Endlich weg von zuhause, eigenes Geld verdienen. Und nach ein paar Wochen der Eingewöhnung hatte sie beim Einkaufen zufällig Konrad Schnapp getroffen. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Er hatte ihr Glück komplett gemacht. Ihm gehörte die Brauerei im Ort und er war um einiges älter und erfahrener als sie, aber was machte das schon.

Ein völlig neues Leben hatte sich aufgetan, nach dem Aufwachsen auf einem Einöd-Bauernhof im Nirgendwo, mit Eltern, die ihr immer zu verstehen gegeben hatten, dass sie zu nichts taugte. Sie wäre gerne länger zur Schule gegangen, schließlich hatten ihr alle Lehrer gesagt, wie leicht sie sich mit dem Lernen tat. Aber ihr Vater hatte bestimmt, dass eine Hauswirtschaftsschule das höchste der Gefühle sei und auch noch den positiven Nebeneffekt habe, zumindest kochen zu lernen, falls doch einmal ein Mann Interesse an ihr finden sollte.

Sie lächelte in sich hinein, als sie den Braten in den Holzofen schob. Ein Brauereibesitzer. Damit hätten ihre Eltern nicht gerechnet.

Dienstag, 31.12.2019

„Kannst du mir nochmal erklären, warum wir unsere Zeit mit dieser unsinnigen Fahrt vergeuden?“ „Weil wir im Moment so gar nichts zu tun haben und weil wir einen schönen, sonnigen Wintertag im Nationalpark verbringen können.“ Wurm zog missmutig die Nase kraus. „Oder weil der Typ am Telefon Hauptkommissar Lederer wollte, und nur den?“ Alexander Lederer sah seinen Kollegen aufmerksam an. „Sag mal, gönnst du mir die Beförderung nicht?“ „Quatsch“, murmelte der Jüngere und schloss geräuschvoll die Autotür. Natürlich gönnte er Alexander den Aufstieg zum Hauptkommissar. Es war nur... er wusste doch auch nicht.

Die Fahrt Richtung Nationalpark hätte nicht beeindruckender sein können. Der in der Nacht gefallene Schnee glitzerte im Sonnenlicht und das tiefe Blau des Himmels kontrastierte perfekt.

Sebastian Wurm steuerte das Auto routiniert, doch die hochgezogenen Schultern verrieten seine innere Anspannung. Und das lange Schweigen passte ebenfalls nicht zu ihm.

„Was ist denn eigentlich los mit dir?“ Lederer hielt, bereits kurz vor dem Ziel angekommen, die Stille im Wagen nicht mehr aus. „Was meinst du? Nichts ist los, gar nichts.“ „Ich kenne dich nun schon so lange und du warst immer ein fröhlicher, freundlicher Zeitgenosse, aber jetzt...“. Wurm bog auf den Parkplatz vor dem Verwaltungsgebäude ein. „Wir sind da“, grummelte er.

Sie betraten den modernen Holzbau, der sich gefällig an die wunderschöne Natur anpasste, und fanden schnell den Mitarbeiter, der sie angerufen hatte. „Das ist aber sehr nett, dass Sie extra hierhergekommen sind. Ich weiß, Sie sind von der Mordkommission, und ich kann Ihnen partout keinen Mord bieten.“ Er hob entschuldigend beide Hände. „Dann erzählen Sie uns doch einfach, warum wir den Weg auf uns genommen haben.“ „Also, einer unserer Mitarbeiter im Tier-Freigelände ist auf mich zugekommen und meinte, ich solle Hauptkommissar Lederer und Oberkommissar Wurm holen. Es sei ein Verbrechen geschehen. Ich dachte erst, er macht einen Witz. Aber er meinte es todernst. Er ist einer unserer besten und fleißigsten Mitarbeiter, müssen Sie wissen, und da wollte ich ihm seine Bitte einfach nicht abschlagen. Und - er kann recht hartnäckig sein.“ Florian Weber, so hieß der Angestellte, machte ein verzagtes Gesicht. „Wie gesagt, schön, dass Sie da sind. Ich bringe Sie zu unserem Tierpfleger, Sie sprechen kurz mit ihm und dann können wir das sicher schnell klären und Sie können sich in Ihre wohlverdiente Freizeit verabschieden. Sie haben sicher auch Silvesterpläne. Ich für meinen Teil schon,“ er grinste verschmitzt.

Weber führte die beiden Kommissare nach draußen und einen schmalen Pfad entlang. Der Schnee knirschte unter den Sohlen ihrer dünnen Schuhe, während die Kälte sich empfindlich die Beine emporschlich. Florian Weber hingegen trug klobige Winterstiefel und schien die Kälte nicht zu bemerken. Übellaunig stapfte Sebastian hinter dem Mann her. Alexander hingegen schaute voller Begeisterung auf die Waldidylle, die sich am heutigen Tag von ihrer besten Seite zeigte.

Laut Beschilderung gingen sie Richtung Wisent-Gehege.

In einiger Entfernung schaufelte ein großer, kräftiger Mann Schnee vom Wanderweg. Gleichzeitig sprach er zu einem riesigen Bison, der ganz nahe an den Zaun herangerückt war und ihn, so meinte man zumindest, vertrauensvoll ansah. Der Mann bewegte sich gleichzeitig geschmeidig und kraftvoll. Lederer lachte und gab Wurm einen kleinen Stoß in die Rippen. „Haha, jetzt hätte ich beinahe gedacht, ich hätte Franz gesehen. Aber es heißt ja immer, jeder Mensch hat einen Doppelgänger.“ Florian Weber drehte sich lächelnd zu ihm. „Ja, Franz heißt unser Mitarbeiter zumindest auch, aber das ist in dieser Region nicht unbedingt ein seltener Name.“

Sie gingen ein paar Meter weiter, bis Wurm die Hand vor den Mund schlug. Er war jetzt stehengeblieben und hatte fassungslos in Richtung des großen Mannes gestarrt. „Das ist er. Das ist er.“ Seine Stimme überschlug sich fast. Lederer schüttelte den Kopf, doch dann erkannte er ihn auch. „Franz“, schrie er laut. „Das gibt es doch nicht.“ Der Angesprochene sah auf und winkte ihnen mit seiner großen Schneeschaufel, die er so lässig über den Kopf schleuderte, als sei es ein Kinderspielzeug. Er lachte fröhlich. Sein wettergegerbtes Gesicht, gerötet von der Kälte, deutete an, dass er seine Tage ausschließlich im Freien verbrachte. Und sein Strahlen verriet, wie sehr er dies genoss. Lederer nahm die letzten Meter im Laufschritt, kam mit seinen glatten Ledersohlen beinahe ins Schlittern und umarmte seinen früheren Kollegen stürmisch. Wurm lief hinterdrein und boxte Hobelsberger gerührt an die Schulter. Tatsächlich lief Sebastian Wurm eine kleine Träne über die Backe.

Florian Weber beobachtete aus der Entfernung, wie drei erwachsene Männer ein kleines, seltsames Tänzchen im Schnee aufführten. Er konnte sich keinen Reim auf die Situation machen. Hatte Franz dies alles inszeniert, um irgendwelche Freunde her zu lotsen?

„Wir brauchen dich nicht zu fragen, wie es dir geht, denn du siehst gut aus - und überaus zufrieden.“ Lederer schlug Hobelsberger auf die andere Schulter. Der rieb sich beide Oberarme und grinste breit. „Ja, es geht mir gut“, entgegnete er schlicht. „Ich habe meinen Traumjob gefunden.“ Er machte eine weit ausholende Bewegung mit dem Arm, die den gesamten Nationalpark und vermutlich noch viel mehr einschloss.

„Warum hast du dich denn nie bei uns gemeldet?“ Hobelsberger machte ein ratloses Gesicht. Ja, warum? Nach seiner Kündigung in der Mordkommission in Passau hatte er erst einmal einige Zeit gebraucht, um sich zu orientieren, um herauszufinden, was er mit seiner neu gewonnen Freiheit anfangen wollte. Und dann hatte er bei einem Ausflug in den Nationalpark, gemeinsam mit Hannah, seiner 7-jährigen Freundin, plötzlich einen Mann beim Ausmisten eines Stalls gesehen. Es war Andreas gewesen, wie er jetzt wusste. Da war es ihm sonnenklar gewesen. Das wollte er auch machen. Eine Arbeit in der Natur, mit Tieren. Eine Arbeit, von der er abends erschöpft – schließlich hatte er die 50 schon hinter sich gelassen - aber glücklich nach Hause zurückkehrte. Keine quälenden Gedanken mehr über ungelöste Fälle, über Täter und Opfer, über Schuld und Sühne. Er wollte eine schwere, körperliche Arbeit, von Tieren umgeben sein und viel Frischluft. Kurz: hier und nirgendwo sonst würde er glücklich sein. Und in all dieser Euphorie hatte er weder einen Gedanken an seinen früheren Beruf noch an seine Kollegen verschwendet. Doch jetzt fühlte er, wie schön es doch war, Alexander Lederer und Sebastian Wurm wiederzutreffen.

Die Beiden erholten sich nur mühsam von ihrer Überraschung. Wurm schüttelte immer wieder fassungslos den Kopf. Hauptkommissar Hobelsberger war Tierpfleger geworden. Und doch, wenn man es sich so recht überlegte, machte es eindeutig Sinn. Vielleicht das Einzige, was für Franz Sinn machte. Lederer schlang fröstelnd die Arme um sich. „Warum sind wir hier, Franz? Du hattest doch nicht plötzlich Sehnsucht nach uns?“ Er sah ihn forschend und ein klein wenig misstrauisch an.

Hobelsberger entledigte sich seiner gefütterten Arbeitshandschuhe, indem er sie einfach auf den Weg fallen ließ, zog umständlich sein Handy aus der dicken Winterjacke und wischte routiniert darauf herum. Wurm und Lederer beobachteten ihn staunend. Ihr Kollege hatte doch immer auf Kriegsfuß mit den technischen Neuerungen gestanden. „Hey, du hast noch immer das Smartphone, das wir dir zum 50. geschenkt haben. Wie schön.“ Hobelsberger nickte abwesend. Dann hatte er endlich gefunden, was er gesucht hatte, und hielt den beiden Kommissaren ein Foto unter die Nase, das allem Anschein nach im Nationalpark aufgenommen worden war. Zu sehen war eine Holzbank, auf der eine Kosmetiktasche und eine durchsichtige Brotzeittüte lagen. In dem Beutel befand sich ein Gebäckstück, das vage an einen Muffin erinnerte. Über der Lehne der Bank hing, scheinbar achtlos hingeworfen, ein dunkelroter Fleece-Pullover.

Die beiden Kommissare warfen sich einen Blick zu. Wurm grinste. „Du hast dich nicht verändert. Du bist noch der gleiche Kauz wie früher. Was willst du mit dem Foto?“ Florian Weber hielt sich nach wie vor im Hintergrund und lächelte in sich hinein. Kauz, ja, das traf es. Genauso hatte auch er Franz kennengelernt.

Hobelsberger vergrößerte das Foto etwas. „Die Bank steht beim Wolfsgehege. Ich habe das alles vorgestern kurz vor Feierabend gefunden. Genau so. Da lag noch kein Schnee und wir hatten 15 Grad plus.“ „Und?“ „Keiner hat nachgefragt. Gestern nicht und heute auch nicht. Wer lässt seine ganzen Sachen auf einer Bank liegen und vermisst sie nicht?“ „Jemand, der zu viele Sachen hat, vielleicht?“ schlug Lederer vor. „Jemand, der sich nicht mehr erinnern konnte, wo er das alles liegenließ“, ergänzte Wurm. „Oder jemand, dessen Urlaub zu Ende war und der jetzt schon wieder im Finanzamt in Wanne-Eickel sitzt.“ Hobelsberger schüttelte entschieden den Kopf. „Entführung oder Mord. Kümmert euch bitte drum“, entgegnete er kurz angebunden.

Lederer klopfte seinem früheren Chef beschwichtigend auf die Schulter. „Kannst du nicht eine kurze Pause machen? Einen Tee trinken? Schließlich haben wir uns eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Und dann könntest du uns genauer erzählen, was dich an dieser Kosmetiktasche so irritiert.“ Franz Hobelsberger warf einen Blick auf seine Uhr. „Schwierig, ich habe noch ein volles Programm. Aber wollen wir uns nach der Arbeit, so um 16.00 Uhr treffen? Bis dahin könnt ihr euch die Sachen ansehen, die ich auf der Bank gefunden habe. Und euch selbst einen Reim darauf machen.“ Er drehte sich unbeirrt um und fuhr fort, mit kräftigen Bewegungen den Schnee vom Weg zu räumen.

Die beiden Kommissare blickten hilfesuchend zu Florian Weber.

„Kommen Sie mit, wir haben die Gegenstände in einem Lagerraum.“ Er hob entschuldigend beide Arme, als wolle er sagen, dass er mit der Sache überhaupt nichts zu tun habe.

Mit schnellen Schritten gingen sie zurück zum Verwaltungsgebäude. Zu frostig war es heute für einen gemütlichen Spaziergang.

„Er war früher bei der Polizei, nicht wahr?“ fragte Weber. „In seinem Lebenslauf stand sowas. Was machte er dort? War er Hausmeister? Wir sind sehr froh, dass wir ihn hier haben. Er kann einfach alles. Es gibt keine Reparatur, die er nicht hinkriegt. Aber am meisten beeindruckt uns alle sein Umgang mit den Tieren.“

Lederer nickte. Ja, Tiere, das war schon immer die Leidenschaft von Franz Hobelsberger gewesen. „Er war Hauptkommissar. Der beste Hauptkommissar, den man sich vorstellen kann. Seltsamer Vogel, aber dennoch der Beste. Mit einem untrüglichen Gespür, das können Sie mir glauben.“ Florian Weber blieb der Mund offenstehen. „Sie wollen damit sagen, er war Kriminaler? So richtig? Das hätte ich jetzt nicht gedacht. Warum lässt man denn so einen Job sausen? Da hat er doch ein Vielfaches verdient. Und dann die Pension, die er mal gekriegt hätte. Ist das jetzt alles weg?“ Wurm und Lederer grinsten sich an, während ihnen Weber kopfschüttelnd die Türe ins warme Haus offenhielt. Er führte sie zu einem Raum am Ende des Flures.

„Hier sind wir schon. Wir bewahren hier alle Fundsachen auf. Sie können sich nicht vorstellen, was wir schon alles in diesem Zimmer beherbergt haben. Sogar ein Gebiss war dabei.“ „Und die meisten Sachen werden auch wieder abgeholt?“ „Na ja, vielleicht 60 Prozent, denke ich? Wie Sie schon richtig festgestellt haben, manche wissen einfach nicht mehr, wo sie ihre Sonnenbrille liegengelassen haben, oder sie sind zu faul nachzufragen, kaufen sich lieber eine neue, keine Ahnung.“

Weber ging auf ein Regal zu und suchte darin herum. „Das da sind die Sachen, von denen Franz gesprochen hat.“ Er legte eine leere Papiertüte auf den Tisch. „Den Muffin haben wir natürlich weggeworfen“, meinte er mit leicht verlegenem Lächeln. „Aber die Tüte haben Sie aufgehoben?“ Alexander lachte. „Ja, Franz hat darauf bestanden.“

Lederer und Wurm zogen dünne Handschuhe an. Man wusste ja nie. Obwohl ihnen klar war, dass die Gegenstände mittlerweile schon komplett verunreinigt sein mussten.

Der Pullover in Größe 36 sah sauber und relativ neuwertig aus. Die Kosmetiktasche beherbergte Wimperntusche, Lippenstift und eine Creme für jugendliche Haut. Außerdem eine angebrochene Packung mit Antibabypillen. Lederer sah Wurm an. „Eigentlich sollte man meinen, dass die Besitzerin dieses Täschchen tatsächlich vermisst.“ Sebastian Wurm zog eine Grimasse. „Klar, aber es kann trotzdem alle möglichen Gründe haben, warum sie nicht zurückkam.“ „Und jetzt? Wir haben noch eine halbe Stunde, bis Franz Feierabend hat.“ Lederer drehte sich zu Florian Weber um, der sich dezent im Hintergrund gehalten hatte. „Eine Überwachungskamera wird es hier wohl nicht geben, oder?“ Weber lachte. „Leider nein. Und auch kein Kassenhäuschen. Die Besucher können völlig unbemerkt zu jeder Tages- und Nachtzeit rein und raus.“ „Schade, wäre auch zu schön gewesen. Fällt Ihnen sonst irgendetwas ein, wo sich Besucher eventuell registrieren?“ Weber zog die Nase kraus. „An sich nicht. Außer... wir haben ein Gästebuch, aber das deckt natürlich nicht die wahre Besucherzahl ab. Da schreibt nur rein, wer gerade Lust hat.“ „Ok, könnten Sie uns trotzdem die Seiten kopieren, von den letzten paar Tagen bis heute. Besser als nichts.“ Lederer verdrehte die Augen. Das war mal wieder ein hoffnungsloses Unterfangen. Eine typische Hobelsberger-Aktion. „Danach warten wir einfach auf Franz. Gibt es hier ein Restaurant?“ „Ja, Sie könnten zum Wildnisstüberl gehen. Und ich werde Franz Bescheid geben, dass er nachkommt. Die Gästebuchseiten lasse ich Ihnen dann gleich bringen.“ Er beschrieb ihnen den kürzesten Weg und die beiden marschierten los.

Das besagte Stüberl entpuppte sich als gemütliche Gaststätte mit massivem Holzmobiliar und vielen Fenstern, durch die man die Traumlandschaft draußen auf sich wirken lassen konnte. Es war um diese Jahreszeit nicht sehr stark frequentiert, auch wenn das herrliche Wetter des heutigen Tages sicherlich zu einem Spaziergang mit anschließender Einkehr animieren konnte. Lederer und Wurm suchten sich einen Sitzplatz in einer ruhigen Ecke und bestellten zwei Kännchen Kaffee, die ihnen umgehend von einer älteren Frau serviert wurden.

Sebastian schüttete Milch in seine Tasse und rührte gedankenverloren um. „Das passt, oder?“ grinste er. „Wie die Faust aufs Auge“, bestätigte sein Kollege. „Was für eine steile Karriere.“

Bald tauchte Franz Hobelsberger auf, winkte ihnen mit seinen dicken Lederhandschuhen zu und machte der Bedienung schon von weitem ein Zeichen. „Ein Biokräutertee, wie immer, Franz?“ Alexander Lederer blieb der Mund offen. Hobelsberger wirkte an der ungewohnten Stätte so integriert, als hätte er hier schon sein ganzes Leben verbracht. Er näherte sich dem Tresen und nickte der Frau freundlich zu. „Wie immer, Fanny. Wie geht es dir denn heute?“ „Ach Franz, du weißt ja, die Hüfte schmerzt bei diesen Temperaturen höllisch.“ Er nickte mitfühlend, nahm die große Teetasse in Empfang und näherte sich seinen beiden früheren Kollegen. Mit einem lauten Seufzen ließ er sich auf den Stuhl fallen. Dann schlüpfte er aus seinen Jackenärmeln. Sein Blick war offener geworden, die kleinen Fältchen um seine Augen deuteten eher auf Zufriedenheit denn auf Sorgen.

„Du hast gefunden, was du immer gesucht hast, nicht?“ Wurms Tonfall entging Hobelsberger nicht. Er sah ihn aufmerksam an. „Sei nicht traurig, du bist noch jung. Ich habe auch lange genug gesucht.“ Wurm senkte den Blick auf seine Kaffeetasse. Er fühlte sich ertappt. Hobelsberger hatte seine feinen Antennen für die Stimmungen der Mitmenschen nicht verloren.

„Und du redest viel mehr“, grinste Lederer. „Ja, Tiere schätzen Kommunikation. Und wenn die Hirsche und Auerochsen das mögen...“. Er machte beinahe ein verlegenes Gesicht, als ihm der Sinn seines Satzes bewusst wurde. Lederer lachte noch breiter. „Da hast du dir gedacht, was beim Ochsen funktioniert, kann bei den Menschen auch nicht ganz verkehrt sein? Wie geht es zuhause?“ fragte er mit einem Augenzwinkern. Schließlich hatte sich im Leben des Ex-Kollegen tatsächlich so etwas wie eine Beziehung zu einer Therapeutin mit Namen Ariane Muth angebahnt. „Na ja, alles noch etwas ungewohnt, das Leben zu dritt“, sagte Hobelsberger schlicht, während seinem Kollegen der Unterkiefer nach unten klappte. „Zu dritt?“ stotterte Lederer. Das waren mal bahnbrechende Neuigkeiten. Wurm riss ebenfalls Mund und Augen auf. Unglaublich. Der Ältere nickte. „Wir kriegen das schon hin. Am schwierigsten ist es für Paula.“ „Paula? Deine Katze?“ „Klar. Aber lasst uns über den Fall reden. Was meint ihr dazu?“ „Fall, welcher Fall? Franz, wir können partout keinen Fall erkennen.“ Hobelsberger zog die Stirn in Falten. Dann schenkte er ihnen einen treuherzigen Hundeblick. „Könnt ihr nicht wenigstens die Vermisstenmeldungen der letzten Tage durchgehen? Um der alten Freundschaft willen?“ Sebastian Wurm lachte. „Ja, das können wir. Zurzeit ist sowieso nichts los. Franz, ich freue mich wirklich für dich. Ganz ehrlich.“ Hobelsberger schlürfte seine Tasse leer. „So, ich muss schleunigst nach Hause. Silvester ist der Alptraum für Tiere.“

Alexander Lederer und Sebastian Wurm fuhren schweigend zurück nach Passau, beide in ihre eigenen Gedanken verstrickt, die nicht so weit auseinanderlagen, wie sie vielleicht vermutet hätten. Franz hatte seinen Platz im Leben gefunden. Das war schön für ihren früheren Kollegen und warf gleichzeitig die Frage auf, wie es um den eigenen Platz bestellt war – beruflich und privat. Sebastian quälte sich seit geraumer Zeit mit seinem Liebesleben herum, das hauptsächlich aus gescheiterten Beziehungen bestand. Er hatte ein untrügliches Gespür für Frauen, die sich nicht für eine längerfristige Bindung eigneten. Die Gründe dafür waren vielfältig. Zuletzt hatte er sich gar in eine Mörderin verliebt. Dies hatte ihm den Rest gegeben. Oder war vielleicht er selbst derjenige, der sich nicht für eine Beziehung eignete? Mit seinem Beruf konnte er sich dagegen immer mehr anfreunden. Er hatte damit begonnen, an seinen Schwächen zu arbeiten und seine Stärken gezielt einzusetzen. Alexander dagegen war unglaublich stolz, zum Hauptkommissar aufgestiegen zu sein. Gleichzeitig hatte er jedoch von Zeit zu Zeit Bedenken, dem Druck dieser neuen Verantwortung nicht gewachsen zu sein. Zu schnell war die Beförderung passiert. Wie gut, dass übermorgen zumindest ein neuer Kollege sowie eine Verwaltungskraft ihren Dienst antraten. Lisa, ihre frühere Verwaltungskraft, würde sich die nächsten Jahre ins Privatleben zurückziehen, nachdem sie geheiratet hatte und kurz darauf schwanger geworden war.

Sebastian klemmte sich an seinen Computer, kaum dass sie das Büro betreten hatten. Er tippte voller Eifer auf seiner Tastatur herum und Alexander lächelte leicht. Er war froh, dass Sebastian seine schlechte Laune vorübergehend eingestellt hatte. Wie um dies zu demonstrieren, kicherte Sebastian nun fröhlich in sich hinein und deutete mit dem Zeigefinger auf den Bildschirm. Alexander runzelte fragend die Augenbrauen. „Hier, wir haben tatsächlich eine Vermisstenmeldung. Sie ist heute reingekommen. Ein Jens Miller aus Bielefeld. Er wollte zum Wandern in den Bayerischen Wald und hat sich nicht mehr bei seiner Familie und seiner Verlobten gemeldet. Sein Handy ist abgestellt. Das Hotelpersonal weiß auch nichts. Glaubst du, dass diesem Typen die Creme für jugendliche Haut und die Antibabypille gehört hat?“ Alexander grinste nun auch. „Wer weiß? Zumindest das Pflegeprodukt könnte ihm doch tatsächlich gehören. Schließlich sollen Frauen auf gepflegte Männer stehen.“ Er fuhr sich über seine Bartstoppeln. „Keine verschwundenen Frauen?“ „Keine!“ „Gut, dann schreiben wir Franz einfach eine Nachricht und hoffen, dass wir ihn damit zufriedenstellen.“

Sebastian teilte Franz umgehend mit, was er herausgefunden hatte. Hobelsberger tippte ebenso schnell eine Antwort. „Gib mir alles, was du zu dem jungen Mann hast.“ „Datenschutz?“ konterte Wurm. „Um der alten Freundschaft willen?“ war die Antwort.

Sebastian hob den Kopf und informierte Alexander über den Schriftwechsel. Dieser kniff die Lippen zusammen. „Dieser Sturkopf. Was will er denn damit? Er bringt uns in Teufelsküche, wenn das rauskommt. Lass mal, ich rufe ihn an.“ Er wählte die Nummer und redete mit Engelszungen auf seinen früheren Kollegen ein. Dann hörte er eine Weile zu. „Okay, wir schicken dir alles. Aber wehe, wir geraten in Schwierigkeiten. Servus.“ Sebastian war der Mund offen stehengeblieben. „Was hat er denn gesagt?“ „Ob uns das nicht komisch vorkommt, dass in diesen Tagen in exakt dieser Gegend noch jemand verschwunden ist. Vielleicht hat Jens Miller das Mädchen entführt. Oder was auch immer. Er ist sowieso vorsichtig, ich bekomme ganz gewiss keinen Ärger und dann hat er noch sein Zauberwort benützt.“ „Intuition“, murmelte Wurm. Lederer nickte. Ja, was sollte man dagegen machen?

Franz Hobelsberger hatte gerade gelesen, als die Nachricht von Sebastian auf seinem Handy angekommen war. E.T.A. Hofmann. Er hatte in einem sogenannten öffentlichen Bücherschrank eine alte, sehr gewichtige Gesamtausgabe entdeckt und im Gegenzug eines seiner vielzähligen Werke in dem Regal hinterlassen. Was für eine schöne Idee, Bücher einfach zu tauschen. Auch wenn er einen halben Tag damit verbracht hatte, ein Buch auszuwählen, von dem er sich zu trennen vermochte.

Nun knabberte er nachdenklich an einem Fingernagel und ging in seinem kleinen Wohnzimmer hin und her. Paula blieb allein im Ohrensessel liegen, ein Privileg, das sie auch nach Einzug des kleinen Katers Paul vehement verteidigt hatte, und dieser hatte es sich auf einem Holzstuhl mit Kissen bequem gemacht. Sie befanden sich in gebührendem Abstand zueinander, doch Hobelsberger war zufrieden, dass sich die beiden mittlerweile zumindest tolerierten. Er achtete genau darauf, Paula besonders viele Streicheleinheiten zukommen zu lassen. Sie sollte sich nicht zurückgesetzt fühlen. Sicherlich war es für sie ein herber Schlag gewesen, als Paul urplötzlich vor der Haustüre aufgetaucht war und sich stur weigerte, den Vorgarten jemals wieder zu verlassen. Hobelsberger hatte es nicht übers Herz gebracht, das kleine Wesen in ein Tierheim zu bringen. Also musste Paula da durch. Nun strich er beiden liebevoll über den Kopf – Paula etwas länger – flüsterte „Bin bald wieder hier“ und machte sich auf den Weg. Sein Ziel war das Wellness-Hotel Gruberwirt in Neuschönau, in dem sich Jens Miller seit dem 25.12. einquartiert hatte.

In den letzten Jahren waren die gehobenen Unterkünfte im Bayerischen Wald regelrecht aus dem Boden geschossen, je luxuriöser, umso besser. Die Hallenbäder waren zu Infinity-Pools mutiert, die Saunen zu Wellness-Oasen und Sinneslandschaften. Natürlich war den Hotelbesitzern nicht entgangen, dass die Schneesicherheit in diesen Höhenlagen längst nicht mehr gegeben war, und dass es gleichzeitig eine Klientel gab, die Ruhe und Erholung um jeden Preis suchte. Im wahrsten Sinne um jeden Preis. Hobelsberger dachte wehmütig an seine Kindheit zurück, als die Schneemassen noch so gigantisch waren, dass jeden Winter die Gemeindemitarbeiter den Schnee per Lastwagen auf leerstehende Grundstücke bringen mussten, damit der Verkehr in den Orten einigermaßen ungehindert weiterrollen konnte. Mittlerweile waren so starke Schneefälle wie in der letzten Nacht beinahe zur Ausnahme geworden.

Er parkte seinen betagten Renault zwischen den Nobelschlitten und betrat das Foyer des Hotels. Mit seiner abgetragenen Winterjacke, der braunen Cordhose und den klobigen Schnürschuhen wollte er so gar nicht in das Ambiente passen. Blitzschnell versuchte er, sich eine Strategie zurechtzulegen.

Am Tresen schenkte ihm eine junge Frau mit blauer Uniform ein professionelles, wenngleich unterkühltes Lächeln. „Wie kann ich Ihnen helfen?“ „Jens Miller. Wie ist denn seine Zimmernummer?“ Die Angestellte tat, als würde sie in ihrem Computer nachforschen. „Herr Miller ist gerade nicht da.“ „Wann kommt er denn wieder?“ Die Frau hob entschuldigend beide Arme. „Tut mir leid, das weiß ich nicht.“ Hobelsberger dachte nach. So ging das nicht. Früher hatte er seinen Dienstausweis gezückt und einfach abgewartet. Jetzt mussten seine neu erworbenen kommunikativen Fähigkeiten herhalten. „Wissen Sie, wir haben uns beim Wandern kennengelernt und er hat versehentlich mein Handy eingesteckt.“ „Tut mir wirklich leid.“

Er drehte sich nach hinten zu einer bequemen Sitzgruppe. „Ich warte einfach ab. Irgendwann wird er doch sicher kommen.“ Die Rezeptionistin biss sich auf die Unterlippe. Es war ihr deutlich anzusehen, dass sie nicht wusste, was sie mit dem seltsamen Herrn anfangen sollte. Jens Miller war seit Tagen nicht mehr im Hotel gewesen, weder beim Frühstücksbuffet noch bei den mehrgängigen Abendessen. Auch sein Zimmer wirkte verlassen, so hatten die Reinigungskräfte berichtet. Zumindest war es im Voraus bezahlt, und wo Herr Miller seine Zeit verbrachte, war letztendlich nicht das Problem des Hotels. Nur die Anrufe seiner Angehörigen nervten.

Die Angestellte murmelte etwas in ein Telefon und zehn Sekunden später erschien ein eleganter Herr von vielleicht 25 bis 30 Jahren in einem feinen, gutsitzenden Anzug und polierten Schuhen. Die Frau deutete mit hochgezogenen Augenbrauen in seine Richtung, was den jungen Mann, vielleicht war es sogar der Besitzer der noblen Unterkunft, veranlasste auf Hobelsberger zuzugehen. „Sie suchen Herrn Miller?“ Hobelsberger nickte. „Und mein Handy“, ergänzte er. „Nun, er ist gerade nicht da. Aber heute Nachmittag ist seine Verlobte gekommen, vielleicht kann sie Ihnen ja weiterhelfen. Ich werde kurz bei ihr nachfragen.“ Er ging zur Rezeption und tippte geschäftig auf der Tastatur des Computers herum. Der akkurate Herr sprach in gedämpftem Ton in die Telefonanlage und nickte dann Hobelsberger erleichtert zu. „Frau Weigand wird sofort in die Lobby kommen.“

Fünf Minuten später kam sie auf ihn zugerauscht – mit dem typischen abwesenden und unsteten Blick eines Menschen, dem plötzlich alle Sicherheiten im Leben entzogen wurden. Ihr elfenbeinfarbenes Kostüm war unzweifelhaft teuer, ihre blonden Haare zu einer kunstvollen Hochsteckfrisur gestylt. Dennoch spürte Hobelsberger, dass die junge Frau die sonst vermutlich perfektionierte Sorgfalt derzeit nicht aufbringen konnte. Eine Haarsträhne hatte sich gelöst und fiel ihr ins Gesicht, ohne dass man davon ausgehen konnte, dass diese Wirkung beabsichtigt war. Natascha Weigand setzte sich ungefragt zu ihm.

Hobelsberger ließ es ihr durchgehen, schließlich befand sie sich in einem emotionalen Ausnahmezustand. „Sie sind der Mann...“, sie wusste nicht weiter. Sah mit leeren Augen an ihm vorbei, konnte so auch nicht das leise Nicken ihres Gegenübers bemerken. „Sie kennen Jens?“ Ein neuer Vorstoß, ohne recht zu wissen, worauf sie hinauswollte. „Wann haben Sie ihn getroffen?“ Hobelsberger überlegte, was er in Sebastians Notizen gelesen hatte. Jens Miller war seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen worden. „Vor ungefähr drei oder vier Tagen“, murmelte er unbestimmt. „Wie war er?“ „Was meinen Sie?“ „Ging es ihm gut? Wirkte er glücklich? Hat er was von mir erzählt?“ Wir kommen der Sache näher, dachte er. Jetzt nur nichts kaputt machen. „Wir haben uns hauptsächlich über die Natur unterhalten, über den Bayerischen Wald...“. „Natur? Jens?“ sie lachte gekünstelt auf. „Was ist nur los mit ihm?“ Natascha Weigand schien es mehr zu sich selbst zu sagen. Fahrig rieb sie sich mit den Händen über das Gesicht, betrachtete dann ungläubig ihre Finger, an denen Puderspuren klebten. Sie atmete durch und fasste einen Entschluss. „Ich bin seine Verlobte. Und er verschwindet am ersten Weihnachtsfeiertag einfach. Wir wollten im Mai heiraten. Jetzt scheint er Panik zu bekommen. Man kennt das doch bei Männern.“ Die junge Frau sah ihn prüfend an, Bestätigung einfordernd. Hobelsberger zog fragend die Augenbrauen hoch. Sie sah wieder weg. „Er wollte ein paar Tage für sich sein. Nachdenken. Wir hatten vereinbart, dass ich mich nicht bei ihm melde, ihm die Zeit gebe, die er braucht. Ich fand das unglaublich bescheuert, aber was sollte ich machen?“ Natascha Weigand schlug die Beine übereinander, vielleicht ein Zeichen dafür, dass sie sich auf ein längeres Gespräch oder einen Monolog einstellen würde. Hobelsberger konnte das nur recht sein. „Letzten Sonntag wollte ich nur mal nachfragen, wie es ihm geht. Das wird doch noch erlaubt sein. Aber das Handy war abgeschaltet, Und im Hotel hatte ihn auch schon ein, zwei Tage niemand mehr gesehen. So, und jetzt sind Sie dran. Was hat er Ihnen erzählt? Wo ist er? Und erzählen Sie mir nichts von Ihrem verlorenen Handy, den Schwachsinn glaube ich Ihnen nicht.“ Er hatte plötzlich das Gefühl, diesen Jens zu kennen. Der sich von Nataschas Schönheit und Selbstsicherheit hatte blenden lassen, vielleicht auch von ihrem Geld. Und jetzt war ihm klar geworden, dass er sich in ein paar Monaten mit dieser dominant wirkenden Frau vermählen würde. Zweifel tauchten auf. Er brauchte Abstand.

Oder kannte er in seiner überbordenden Fantasie einen ganz anderen Jens?

Hobelsberger räusperte sich. „Wir haben uns auf einer Hütte getroffen, auf dem Falkenstein“, sagte er vorsichtig. „Er wirkte nachdenklich. Er hat mir aber nichts erzählt. Wir sind dann ein Stück gemeinsam den Weg bergab gegangen. Er sagte, dass er die Ruhe genießt.“ Hobelsberger wusste nicht mehr weiter. „Die Ruhe, das ist nicht der Jens, den ich kenne. Jens braucht Action. Er ist ein Workaholic.“ „Vielleicht ist ihm das alles zu viel geworden.“ „Quatsch, nicht Jens. Wo wollte er danach hin?“ Er zuckte ratlos die Schultern. „Ich denke, ins Hotel.“

Unvermittelt spannte sich Natascha Weigands Körper an. Eine Idee war ihr gerade gekommen. Der Zug um den Mund wurde noch eine Spur härter. „Vielleicht waren Sie der Letzte, der ihn gesehen hat. Vielleicht haben Sie ihm was angetan? Waren Sie auf sein Geld aus?“ Ungeniert musterte sie seine Kleidung. Nicht die Spur von Angst in ihrem Gesicht, eher ein Anflug von Gewissheit. „Haben Sie sich eigentlich schon bei der Polizei gemeldet? Denen mitgeteilt, dass Sie ihn getroffen haben?“ „Ich habe doch eben erst erfahren, dass er weg ist“, entrüstete sich Hobelsberger. „Und warum sollte ich in sein Hotel kommen, wenn ich ihm was angetan hätte?“ Sie seufzte. „Da haben Sie auch wieder recht. Was kann nur mit ihm passiert sein?“ Er dachte nach, wollte nicht ganz ausschließen, dass sich Jens klammheimlich aus seinem früheren Leben gestohlen hatte. Die Beweismittel auf der Holzbank fielen ihm ein. Hatte er eine andere Frau kennengelernt, mit der er durchgebrannt war? Aber warum hatte sie alles liegengelassen? „Sind seine Sachen noch da?“ Natascha Weigand nickte. „Scheint nichts zu fehlen, bis auf seine Wanderkleidung, sein Handy und seine Brieftasche. Er hat sich in Luft aufgelöst. Einfach so.“ Wie die Holzbank-Frau, dachte er. Und die wurde nicht einmal vermisst. Warum wurde ein junger Mensch nicht vermisst?

„Hören Sie mir überhaupt zu?“ Hobelsberger riss seinen Kopf herum. Nein, er hatte nicht zugehört. Er war sich auch sicher, dass ihm die junge Frau nicht mehr weiterhelfen konnte. Er musste einen anderen Ansatz finden, einen ganz anderen. „Ich habe Sie gefragt, ob Sie mir helfen können, seine Sachen zum Auto zu bringen?“ Er nickte und stand auf. „Was haben Sie denn jetzt vor?“ fragte er Natascha Weigand, während sie mit dem Lift in den ersten Stock fuhren. „Keine Ahnung, erst einmal das Zimmer stornieren. Ist nicht nötig, dass wir das umsonst zahlen. Ist nicht ganz billig. Dann nach Hause fahren.“ Sie stöhnte laut auf. „Heute ist Silvester. Verdammt. Im Haus meiner Eltern findet eine große Party statt. Und ich fahre wie eine Bekloppte durch die Nacht.“ Sie verdrehte theatralisch die Augen. „Vielleicht werde ich einen Privatdetektiv beauftragen. Ich weiß es nicht. Die Polizei hier ist nicht sonderlich kooperativ. Sie haben eine Vermisstenmeldung aufgenommen und sich sogar kurz im Zimmer umgesehen, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass sie sich vor Elan überschlagen. Er könnte mich verlassen haben, meinten sie. Schauen Sie mich an: verlässt man eine Frau wie mich so einfach?“ Plötzlich war die Unsicherheit in ihrem Blick unverhohlenem Ärger gewichen.

„Ich kann mich umhören“, meinte Hobelsberger, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Ich kenne mich gut in der Gegend aus. Kann ich Ihre Handynummer haben? Ich informiere Sie, wenn ich was herausfinde.“ Sie sah ihn etwas herablassend an. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das erfolgversprechend ist. Aber schaden kann es ja auch nicht. Oder wollen Sie Geld dafür?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich fand ihn einfach nett. Irgendwie fühle ich mich verpflichtet zu helfen.“ Natascha Weigand warf ihm einen misstrauischen Blick zu. In ihrer Welt schien es Gefallen ohne Gegenleistung nicht zu geben. Sie drückte ihm vor der Türe ihre Visitenkarte in die Hand, anschließend im Zimmer einen schweren Koffer. Hobelsberger scannte in Windeseile das Zimmer, versuchte sich einzuprägen, wo eigentlich nichts war, was des Einprägens wert gewesen wäre. Beachtlich fand er lediglich die Größe des Zimmers. Man hätte Walzer tanzen können. Wenn man denn Walzer tanzte.

Auf dem Parkplatz wuchtete er die Gepäckstücke in den Kofferraum ihres BMW. „Wo hat er denn gearbeitet?“ „Wir haben beide Wirtschaftswissenschaften studiert, arbeiten in der Maschinenbaufirma meines Vaters. Wir wollen mal gemeinsam die Geschäftsführung übernehmen. Mein Vater ist nicht gesund. Er will bald übergeben. Also höchste Zeit, dass sich Jens wieder auf die wichtigen Dinge im Leben besinnt und seine Eskapaden sein lässt.“ „Welche wichtigen Dinge?“ erkundigte sich Hobelsberger beiläufig. Sie starrte ihm ins Gesicht und schüttelte verständnislos den Kopf. Als ob das nicht selbsterklärend wäre. „Melden Sie sich, wenn Sie was von ihm hören. Meine Karte haben Sie ja.“ Sie schlug die Autotür zu und fuhr los, ohne sich von ihm zu verabschieden. Ihr Auto geriet auf der schneeglatten Straße leicht ins Schlingern, während Hobelsberger zu seinem eigenen Wagen schlurfte. Wenn das mal gut ging. Schnee war in Bielefeld vermutlich nicht an der Tagesordnung.

Dann fuhr er schleunigst nach Hause. Seine beiden Katzen brauchten dringend Unterstützung. Die ersten Silvesterraketen stiegen bereits zum Himmel.

Kapitel 2

Konrad lag dicht neben ihr. Das Bett in ihrem spartanischen Zimmer war schmal und nicht für zwei Menschen vorgesehen. Natürlich nicht. Im Pfarrhaus. Sie spürte seinen ruhiger werdenden Atem. Bald würde er einschlafen. Sie rüttelte ihn sanft an der Schulter. „Steh auf, der Pfarrer wird bald nach Hause kommen. Er darf dich hier nicht sehen.“ Widerwillig erhob er sich und suchte seine Kleidungsstücke zusammen.

Nachdem er in Hose und Hemd geschlüpft war und seine Schuhe angezogen hatte, gab ihr Konrad einen Kuss auf die Stirn. Dann hob er mit einem Finger ihr Kinn an und beugte sich so nah zu ihr, dass sich ihre Gesichter fast berührten. „Und denk daran, niemand darf erfahren, was ich dir heute erzählt habe. Ich verlasse mich vollkommen auf dich.“

Dann war er fort. Sie lag regungslos da, wagte kaum zu atmen. Sie hatte ihm heute sagen wollen, dass sie ihre Blutung seit drei Monaten nicht mehr bekommen hatte und dass sie glaubte, nein, wusste, dass sie ein Kind von ihm erwartete. Schon öfter hatten sie darüber gesprochen, irgendwann einmal zu heiraten, aber es war immer ein unverfängliches Geplauder gewesen - ohne Ernst und Verbindlichkeit. Aber nun war es vorbei mit dem Spiel. Sie sollten so bald wie möglich heiraten, wenn sie nicht beide in eine schwierige Situation geraten wollten.

Doch gerade, als sie all ihren Mut zusammengenommen hatte, hatte er ihr sein Geheimnis erzählt. Hatte ihr mitgeteilt, was sie bei ihren konspirativen Treffen besprachen.

Die Fürstenecker hatten große Pläne, was den Tourismus betraf. Die Lage des Dorfes an der Ilz, die Nähe zu Passau, das bezaubernde Schloss und die vielen Wanderwege. So viel Potential hatte kaum ein Ort hier im Bayerischen Wald. Wenn man es geschickt anstellte, dann würde Fürsteneck ein Touristenmagnet werden. Er würde als Brauereibesitzer unglaublich profitieren von einem wirtschaftlichen Aufschwung. Eine rosige Zukunft lag vor ihm. Eine rosige Zukunft, die auch ihr zugutekommen würde. Und genau in diesem Moment der Aufbruchsstimmung, nein, es war schon beinahe eine Goldgräberstimmung, war ein Arzt in Fürsteneck aufgetaucht, der die Aumühle gekauft hatte und dort geistig behinderte Kinder unterbringen wollte. Geistig behinderte Kinder. Die Fürstenecker - und damit meinte er fast alle Bürger - und vor allem die wichtigen Persönlichkeiten im Ort, hatten beschlossen, sich dagegen zu wehren. Mit allen Mitteln. Sie hatte ihn gefragt, was er damit meine. Sein Blick war hart geworden. „Wenn ein Fürstenecker sagt, mit allen Mitteln, dann meint er auch alle Mittel. Wir lassen uns unsere Pläne von keinem durchkreuzen.“ „Aber diese Kinder, sie müssen doch auch irgendwo wohnen“, hatte sie vorsichtig eingewandt. „Sie können überall wohnen, aber sie dürfen nicht unsere Touristen vergraulen. Keiner will in seinem Urlaub ständig diese armen Teufel sehen. Das verstehst du doch? Es geht auch um mich, um uns. Wenn niemand mein Bier trinkt, glaubst du, wir können von deinen paar Mark leben?“ Dann hatte er sie an sich gezogen, geküsst und das Kapitel für beendet erklärt.

Als sie danach nebeneinander im Bett lagen, hatte er gefragt: „Wolltest du mir nicht auch was erzählen?“ Sie hatte nach einer Ausrede gesucht. Jetzt war nicht der Zeitpunkt, ihm ihre Schwangerschaft zu beichten. Erst einmal wollte sie in Ruhe über das nachdenken, was sie soeben erfahren hatte. Es fühlte sich nicht gut an.

Donnerstag, 02.01.2020

„Guten Morgen, sind Sie Hauptkommissar Lederer?“ Eine junge Frau war nach vernehmlichem Klopfen mitten ins Zimmer marschiert. „Und Sie sind...?“ „Elisabeth Leitner, die Personalstelle wird mich ja sicher angekündigt haben. Wo ist mein Schreibtisch?“ Alexander wirkte ein wenig ratlos. Sicher, er wusste, dass heute sowohl ein neuer Kollege als auch eine Verwaltungskraft ihre Arbeit aufnehmen würden. Aber die Namen hatte man ihm vorenthalten. Das Team erfuhr wie üblich wieder einmal alles zuletzt. „Tut mir leid, Frau Leitner, kommen Sie mit, ich zeige Ihnen das Büro von Lisa, ich meine Ihr künftiges Büro.“ „Lisa?“ „Ja, Ihre Vorgängerin.“ „Ach, man sagte mir, ich sei die erste Kommissarin hier in der Abteilung?“ Lederer lief rot an. Oh mein Gott, was für ein Fauxpas. Wenn das die Gleichstellungsbeauftragte erfuhr. „Ich meine, hier drüben ist natürlich Ihr Schreibtisch.“ Er deutete auf einen Platz gegenüber von Sebastians Tisch. Die beiden Oberkommissare saßen schon immer im gleichen Büro, der Hauptkommissar hatte dagegen ein eigenes Zimmer. Elisabeth Leitner runzelte die Stirn. Wusste der Typ nicht einmal, wo ihr Arbeitsplatz war?

„Woher kommen Sie denn, Frau Leitner?“ „Direkt von der Hochschule in Fürstenfeldbruck.“ Sie sah, dass Lederer eine Augenbraue hochzog. „Jahrgangsbeste“, fügte sie kühl hinzu und hängte ihre Daunenjacke an die Garderobe.

„Sind Sie unsere neue Lisa?“ Sebastian war unbemerkt ins Zimmer gekommen und hielt ihr lächelnd die ausgestreckte Hand entgegen. „Weder die alte noch die neue Lisa. Elisabeth Leitner, Diplom-Verwaltungswirtin.“ Sie packte kurz und fest zu, als sie ihm die Hand schüttelte, und setzte sich an den Schreibtisch.

Sebastian suchte Alexanders Blick. Dieser zog hilflos die Schultern nach oben.

„Ok, können Sie mir dann mal die aktuellen Fälle geben? Ich würde mich gerne ein wenig einlesen.“ Alexander schüttelte den Kopf.

„Nein, so geht das nicht. Ich mache jetzt erst einmal Kaffee und dann setzen wir uns zu mir ins Büro.“ Er ging in die Kaffeeküche, während Wurm unauffällig, zumindest war er dieser Meinung, die neue Kollegin in Augenschein nahm. Sie war sehr jung, nicht besonders groß, vermutlich hatte sie die Einstellungsvoraussetzung von 1,65 Metern nur knapp erreicht, kurze, blonde Haare, schlank und durchtrainiert. Er tippte auf ausgiebiges Training im Fitness-Studio. Hätte er sie in einer Kneipe getroffen, er hätte sicherlich sofort versucht, mit ihr zu flirten. Aber hier im Büro, eine Kollegin, das war sicherlich nicht die beste Idee. „Und, wie ist Ihr Urteil?“ Sie starrte geradewegs in sein Gesicht, das einen ebenso roten Ton annahm wie gerade noch Alexanders Backen.

Lederer kam mit einem verzagten Lächeln zurück und rettete Sebastian vorläufig aus der überaus peinlichen Situation. „Eine gute und eine schlechte Nachricht. Der Kaffee läuft, aber unsere neue Mitarbeiterin in der Verwaltung hatte auf der Fahrt hierher einen Autounfall. Sie wird wohl vorläufig nicht zum Dienst antreten. Hoffen wir, es ist nicht allzu schlimm.“

Sebastian Wurm und Elisabeth Leitner folgten ihm in sein Büro.

Leitner setzte sich in einen Sessel und schlug die Beine übereinander. Sie war sportlich gekleidet, Jeans, Sweatshirt und dick gefütterte Winterstiefel. In den Händen hielt sie ein Klemmbrett mit ein paar weißen Blättern und einen Kugelschreiber.

„Woran arbeiten Sie gerade?“ Lederer atmete aus. „Vielleicht sollten wir uns erst ein wenig kennenlernen“, schlug er vorsichtig vor. „Ich heiße Alexander. Wir haben bisher alle Du zueinander gesagt und ich würde das, ehrlich gesagt, auch gerne beibehalten.“ Sie schwieg einen Moment, so als müsste sie dieses Angebot erst sorgfältig abwägen, schenkte ihm dann einen sehr ernsthaften, prüfenden Blick, und nickte. „Elisabeth.“ „Ich heiße Sebastian, herzlich willkommen“, murmelte Wurm, auch wenn er das nicht ganz ehrlich meinte. Die junge, selbstbewusste Dame verstörte ihn.

„Ok, können wir jetzt anfangen?“ Lederer räusperte sich. „Im Moment ist es recht ruhig. Lediglich eine Vermisstenanzeige ist frisch eingetrudelt.“ „Name, Alter, etc.“ sie schrieb emsig auf das weiße Papier auf ihrem Klemmbrett. „Jens Miller, 31 Jahre, aus Bielefeld.“ Dann fasste er sich etwas. Routiniert referierte er die wenigen Informationen, die sie schon hatten.

„Gut, wer fährt mit? Ich hole nur schnell meine Jacke.“ Lederer und Wurm warfen sich wieder hilflose Blicke zu. Es war ihnen deutlich anzusehen, dass sie sich im Moment nichts sehnlicher wünschten, als dass der kauzige Franz Hobelsberger zurückkäme.

Lederer nahm achselzuckend seine Winterjacke vom Haken und folgte Elisabeth Leitner nach draußen. Dann drehte er sich nochmals zu seinem Kollegen um. „Kannst du mal schauen, was du am Computer über den Mann herausfindest? Beruf, Umfeld, Soziale Kanäle, etc. Du weißt schon.“ Wurm grinste. „Mit dem allergrößten Vergnügen.“

Die Fahrt in den Bayerischen Wald verlief weitgehend schweigend. Elisabeth Leitner schien weder gewillt zu sein, Smalltalk zu betreiben noch irgendetwas Persönliches preiszugeben, Alexander Lederer hingegen sah sich nur veranlasst, ihr einige notwendige Basisinformationen zu Fahrtkostenabrechnungen, Urlaubsanträgen etc. mitzuteilen. Er hatte seinerseits auch keine Lust auf Konversation. Das forsche Benehmen der jungen Frau nervte ihn, wie er sich eingestehen musste, und das weckte keinerlei Vorfreude auf die Zusammenarbeit mit der neuen Kollegin.

Endlich, nach einer schier nicht enden wollenden Autofahrt, parkte Alexander vor der Polizeiinspektion in Grafenau.

Der diensthabende Polizeibeamte kramte mit rotgeränderten, müden Augen in seinen Unterlagen. Er schien noch an den Nachwirkungen einer turbulenten und wohl auch feuchtfröhlichen Silvesterfeier zu leiden. „Ah ja, hier haben wir es. Vor ein paar Tagen hat sie angerufen.“ „Wer?“ mischte sich Elisabeth Leitner ein.

Der Mann blätterte geräuschvoll weiter. „Eine gewisse Natascha Weigand. Sie sagte, sie sei die Verlobte, und dieser Jens Miller hatte sich wohl schon einige Zeit nicht mehr bei ihr gemeldet.“ „Wie lange genau?“ Der Polizeibeamte runzelte leicht missbilligend die Stirn. „Drei Tage, oder so. Sie bringen mich ganz durcheinander. Nun, wir haben im Hotel nachgefragt, aber die wussten auch nichts, und so haben wir das Ganze nach Passau weitergeleitet.“ Er lehnte sich zurück und faltete die Hände vor dem Bauch. „Euer Fall“, grinste er zufrieden.

Elisabeth Leitner packte die Notizzettel in ihre Umhängetasche und nickte Lederer zu. „Na, dann mal los zum Hotel, was?“ Der Beamte grinste noch breiter und zwinkerte Alexander Lederer verschwörerisch zu. „Na, dann mal los!“

Im Hotel Gruberwirt sprachen sie mit mehreren Angestellten, die Jens Miller während seines kurzen Aufenthaltes kennenglernt hatten. Sie beschrieben in unisono als ruhigen Gast, mit dem es keinerlei Probleme gab. Er hatte zu niemandem Kontakt gesucht, war für sich geblieben und nach einem Bier an der Bar sehr früh auf sein Zimmer gegangen. Erwähnenswert war lediglich die Tatsache, dass ein großer, ein sehr großer Mann nach Jens Miller gefragt hatte, weil er wohl sein Handy verloren hatte und es bei diesem vermutete. Natascha Weigand hatte auf ihrer Rückfahrt nach Bielefeld telefonisch das gebuchte Zimmer storniert und man hatte ihr sofort zugesagt, dass sie das Geld auf Grund der besonderen Vorkommnisse erstattet bekommen würde. Die Hotelleitung legte großen Wert darauf, dass man sich in solchen Fällen auf die Kulanz des Hauses verlassen könne.

„Wir müssen mit der Verlobten reden und vor allem aber den großen Mann ausfindig machen.“ Elisabeth Leitners Augen blitzten. Sie strotzte vor Arbeitseifer, während Lederer krampfhaft versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken. Er konnte sich gut vorstellen, um wen es sich bei dem großen, dem sehr großen Mann gehandelt haben mochte.

Als sie das Hotel durch die Eingangshalle verließen, entdeckte Elisabeth Leitner ein passendes Exemplar, das suchend auf dem Parkplatz herumschlenderte. Sie stieß Alexander ihren Ellbogen in die Rippen. „Das ist er.“ Ja, das war Franz Hobelsberger. Lederer sog die Luft ein. Was sollte er tun? Leitner mitteilen, dass sich Hobelsberger ohne jegliche Befugnisse in den Fall einmischte? Nein, das ging auf keinen Fall. Außerdem musste er sich eingestehen, dass er die Situation ein ganz klein wenig genoss.

„Mach nur,“ murmelte er daher, „ich gehe schon mal zum Auto.“ Leitner schüttelte mit zusammengekniffenen Lippen den Kopf und stapfte dann wild entschlossen auf Hobelsberger zu.

„Sie haben an der Rezeption nach Jens Miller gefragt, nicht wahr?“ Hobelsberger riss die Augen auf. „Hmhm“, machte er. „Kann schon sein, aber mit wem habe ich denn das Vergnügen?“ Sie riss ihren nagelneuen Dienstausweis aus der Tasche. „Elisabeth Leitner, Kripo Passau.“ Er staunte. Alexander und Sebastian hatten ihm gar nicht erzählt, dass in der Inspektion eine neue Kollegin arbeitete. „Schön“ brummelte er. Sie sah ihn streng an. „Woher kennen Sie Jens Miller?“ Hobelsberger freute sich wie ein kleines Kind, endlich einmal die andere Seite seines früheren Berufes kennenzulernen. „Wieso, was ist denn mit ihm? Ist ihm was zugestoßen?“ „Ich stelle hier die Fragen.“ Er biss sich auf die Unterlippe. Fast wie in seinen Krimis, die er mit allergrößtem Vergnügen las. „Entschuldigung, ich war nur neugierig. Wir haben uns beim Wandern kennengelernt und ich dachte, er hätte versehentlich mein Handy eingesteckt. Hat er aber wohl nicht. Seine Verlobte hat zumindest nichts in seinem Zimmer gefunden. Weder mein Handy noch ihn.“ „Ach, dann wissen Sie wohl schon, dass er verschwunden ist.“ „Seine Verlobte hat sowas angedeutet.“ „Vielleicht waren Sie der letzte, der ihn gesehen hat. Bitte geben Sie mir jetzt Ihre Personalien.“ Er zog seinen Personalausweis aus der Tasche und reichte ihn ihr. Sie verzog keine Miene. Offensichtlich sagte ihr der Name nichts. Feinsäuberlich notierte sie die Angaben, die ihr der Ausweis verriet. Dann reichte sie ihn zurück. „Und jetzt? Bin ich verdächtig? Muss ich aufs Revier?“ Hobelsberger sah sie unschuldig an. „Vorläufig nicht, aber halten Sie sich zu unserer Verfügung.“

Sie ging zu Lederers Auto und setzte sich auf den Beifahrersitz.

Alexander hatte in der Zwischenzeit einen Entschluss gefasst. Als sie auf der Hauptstraße waren, schluckte er geräuschvoll. „Also, ein paar Dinge für die weitere Zusammenarbeit. Ich bin Hauptkommissar. Lege aber keinerlei Wert auf irgendein Kompetenzgerangel. Ich möchte mit allen im Team gut zusammenarbeiten und poche auch sicher nicht auf meinem Status, aber es geht nicht, dass du das Heft an dich reißt und niemand anderen zu Wort kommen lässt. Gut, du kommst von der Hochschule und du warst Jahrgangsbeste, aber Sebastian und ich haben praktische Erfahrung und sind auch nicht ganz doof. Zusammen können wir viel erreichen, aber nur zusammen. Dass du am ersten Tag vielleicht etwas übermotiviert bist, kann ich verstehen, aber auf Dauer ist das unerträglich. Also, schalte einfach einen Gang zurück. Und der Typ am Parkplatz war der frühere Hauptkommissar. Franz Hobelsberger. Es war nicht fair, dich da so auflaufen zu lassen, aber ich wusste gerade nicht weiter. Tut mir leid.“

Elisabeth Leitner starrte geradeaus durch die Windschutzscheibe. Sie zuckte nicht mit der Wimper und sagte kein Wort mehr, bis sie in Passau angekommen waren, ging schweigend in das Büro, das sie von nun an gemeinsam mit Sebastian teilen würde und schaltete ihren Computer an. Sebastian hob kurz den Kopf, sah das versteinerte Gesicht seiner neuen Kollegin und beugte sich sofort wieder über die Tastatur.

Als es Zeit für die Mittagspause war, verließ Wurm ohne ein Wort das Zimmer. Er wollte erst von Alexander hören, was passiert war, bevor er munter in sämtlichen Fettnäpfchen plantschte.

Leitner blieb an ihrem Platz, bis Sebastian die Bürotür geschlossen hatte, dann umkreiste sie die aneinander geschobenen Schreibtische und studierte ausgiebig die Erkenntnisse ihres neuen Kollegen.

Nach einer Stunde kehrten die beiden Männer zurück. Sie hatten sich ausgetauscht, beraten und schlussendlich vereinbart, ihrer Kollegin einen Vertrauensvorschuss zu geben. Keiner war an einem miesen Arbeitsklima interessiert.

Auf Lederers Schreibtisch lag eine Nachricht. Mit der Bankkarte von Jens Miller war am 29.12. in Neuschönau der Betrag von 500,00 € abgehoben worden. Alexander ging in das Büro von Wurm und Leitner und nickte Elisabeth zu. „Gute Arbeit, auch wenn du an deinen Absprachen mit uns schon noch ein wenig feilen könntest. Aber lassen wir das. Wir sollten überprüfen, ob es eine Kamera in der Bank gibt. Ich rufe dort gleich mal an.“ „Ja, sie haben eine Kamera und sie übermitteln uns die Daten noch heute Nachmittag.“ Sie machte eine Kunstpause. „An deine E-Mail-Adresse. Ich will mir nicht zu viel anmaßen.“

Lederer kehrte zurück an seinen Schreibtisch, rief am Computer das E-Mail-Programm auf und öffnete die Datei, die vor einer Viertelstunde geschickt worden war. „Wollt ihr es euch auch ansehen“, rief er durch die geöffnete Türe. Sebastian und Elisabeth kamen zu ihm und blickten ihm über die Schulter.

Die Bilder zeigten einen großen Mann mit Jeans, einer dunklen Jacke und Kapuze. Das Gesicht war nicht zu erkennen. Es wirkte, als würde er gezielt vermeiden, in die Kamera zu schauen.

Alexander holte sich den Ausdruck von Millers Personalausweis. Der Mann war 185 cm groß. Konnte hinkommen. Das Passbild war nicht von Nutzen, denn zu keinem Zeitpunkt der kurzen Sequenz gelang es ihnen, einen Ausschnitt auf sein Gesicht zu erhaschen.

„Er könnte es sein“, konstatierte Elisabeth Leitner. „Vielleicht will er tatsächlich untertauchen. Er hat das Hotel verlassen, Geld abgehoben und sich aus dem Staub gemacht.“ „Es kann aber auch jeder andere große Mann sein, der an Millers Brieftasche gelangt ist. Die Bilder beweisen erst mal gar nichts“, hielt Sebastian entgegen und kratzte sich am Kopf. „Außerdem kann man mit 500 Euro kein neues Leben anfangen. Das reicht gerade mal für eine kleine Auszeit.“

„Okay, ich denke seine Eltern oder seine Verlobte werden erkennen, ob es tatsächlich Jens Miller oder jemand anderer ist. Wer übernimmt es?“ Lederer hatte sich zu den beiden umgedreht.

Elisabeth und Sebastian warfen sich unsichere Blicke zu. Dann ergriff Wurm die Initiative. „Ich recherchiere gerade noch sein Umfeld, bin da vielleicht auf was Interessantes gestoßen. Mach du das doch.“ Leitner zeigte ein zaghaftes Lächeln. „Gerne. Ich setze mich sofort dran.“ Sie ging an ihren Schreibtisch zurück und machte sich an die Arbeit. Wurm nahm Blickkontakt zu Lederer auf und zog einen Mundwinkel leicht nach oben. Vertrauensvorschuss.

Während Sebastian Wurm sich mit dem Leben von Jens Miller näher vertraut machte, studierte Lederer nochmals die Vermisstenmeldungen. Schließlich war da noch diese Holzbank-Frau, die zumindest Hobelsberger vermisste.

Da erschien Elisabeth Leitner wieder bei ihm im Büro. „Ich habe den Eltern und der Verlobten die Datei geschickt und alle drei sind sich völlig sicher, dass es sich bei dem Mann, der das Geld abhebt, auf keinen Fall um Jens Miller handelt. Die Figur, der Gang, die Gesten – nichts passt. Natascha Weigand war völlig aufgelöst. Sie hat allergrößte Bedenken, dass sich irgendein Betrüger das Geld ihres Verlobten unter den Nagel reißen könnte. Das schien sie mehr aufzuregen wie die Tatsache, dass es noch keine Spur von Miller gibt.“ Wurm war auch ins Zimmer gekommen. „Okay, was haben wir also? Einen vermissten Mann und einen Fremden, der mit seiner Bankkarte Geld abhebt. Was bedeutet das? Hat der Unbekannte seine Brieftasche gefunden und die Gunst der Stunde genutzt? Ist er ein Dieb, ein Mörder, ein Entführer?“ Elisabeth hatte schon wieder leuchtende Wangen vor Aufregung. Lederer schüttelte den Kopf. „Ich verstehe das alles nicht. Irgendwas läuft hier komplett falsch. Wenn wir mal davon ausgehen, dass sich Jens Miller aus dem Staub gemacht hat, dann würde er doch mit seiner Brieftasche vorsichtiger umgehen.“ „Oder er wirft bewusst alles weg, um einen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben zu ziehen“, warf Leitner ein, die es sich in einem Besucherstuhl bequem gemacht hatte. Sie schrieb wieder emsig auf ihren Block.

„Und was ist mit Franz und seiner unbekannten Frau?“ entfuhr es Wurm. Lederer warf ihm einen warnenden Blick zu. Doch es war schon zu spät. „Welcher Franz? Welche Frau?“ Die beiden Männer schwiegen. Lederer kritzelte nervös auf seiner Schreibtischunterlage herum. „Ihr wollt mir doch nichts vorenthalten, oder? Was soll das? Ich dachte, Teamarbeit wird hier so großgeschrieben?“ Sie sah ihre neuen Kollegen böse an.

„Nein, ich meine, natürlich, aber das hat alles gar nichts mit unseren Ermittlungen zu tun. Also beruhige dich. Das ist...mehr eine Privatangelegenheit.“ „Franz, so hieß doch euer früherer Kollege. Dieser Hobelsberger. Was machte der eigentlich bei diesem Hotel? Schnüffelt der in eurem Auftrag rum?“ Alexander machte ein verzweifeltes Gesicht. Dann stöhnte er. „Also pass auf, ich erzähle es dir.“ Und er schilderte in kurzen Zügen die Beobachtungen Hobelsbergers.

Elisabeth Leitner riss die Augen auf. „Und du willst mir weismachen, dass das nichts mit unserem Fall zu tun hat? Zwei Menschen, die in der gleichen Gegend zur gleichen Zeit verschwinden? Wenn wir Pech haben, ist ein Serienmörder im Bayerischen Wald unterwegs.“ Wurm grinste. „Soweit ich weiß, gibt es bei Serienmördern Muster. Sie töten nicht wahllos mal Frauen, mal Männer. Hast du das an der Hochschule nicht gelernt?“ Er sah sie provozierend an.

Elisabeth erhob sich, schnappte sich ihre Jacke und verließ wortlos das Zimmer. Wurm und Lederer blieben konsterniert zurück. Was war nur los? Nach harmonischem Team sah das im Moment noch nicht aus.

Hobelsberger wischte achtlos den Schnee weg und setzte sich auf die kalte, nasse Holzbank. Genau hier war vor ein paar Tagen eine junge Frau gewesen. Was hatte sie hier gemacht? Vermutlich auf das Auftauchen der Wölfe gewartet. Aber warum sollte sie dann all ihre Sachen hier vergessen? Kein Mensch war so schusselig, dass er all seine Habseligkeiten einfach zurückließ. Das ergab keinen Sinn. Es musste sich um ein Verbrechen handeln. Aber warum gab es dann keine Vermisstenmeldung? Welche Menschen wurden nicht vermisst?

„Was war Ihr erster Gedanke, als Sie die Sachen auf der Bank sahen, Herr Hobelsberger?“ Eine weibliche Stimme direkt hinter ihm. Er erkannte sie sofort. „Franz, ich heiße Franz. Und es tut mir leid, diese Szene am Hotelparkplatz. Manchmal bin ich ein wenig seltsam. Also: mein erster Gedanke war, dass hier jemand gegen seinen Willen verschwand, warum auch immer.“ Elisabeth Leitner kam um die Bank herum und setzte sich neben ihn, ebenso wenig auf den ungemütlichen Untergrund achtend wie der Mann neben ihr. Sie stützte ihr Kinn auf die Hände. „Hmhm, dann sollten wir hier weitermachen. Es scheint sich um eine junge Frau oder ein Mädchen zu handeln, den Utensilien in dem Schminktäschchen nach zu urteilen. Aber warum wird sie von niemandem vermisst?“ Hobelsberger nickte. Genau dasselbe war ihm auch durch den Kopf gegangen. Er sah sie an. „Weiter“ murmelte er. Elisabeth Leitner runzelte die Stirn. „Jemand ohne soziale Kontakte, keine Eltern, die sich kümmern, kein Freundeskreis, keine Arbeitskollegen. Aber halt, das Verhütungsmittel, also hatte sie zu einem Mann Kontakt, oder nicht?“ Er zuckte die Schultern, bedeutete ihr mit einem Kopfnicken, fortzufahren. „Entweder hat sie keine geregelte Arbeit, oder länger Urlaub, oder sie ist selbstständig? Eine Prostituierte?“ Er hob interessiert den Kopf. Sie war nicht dumm, diese Elisabeth Leitner. „Aber kann sie jemand unbemerkt hier weggebracht haben? Ich meine, wenn sie aus freien Stücken mit jemandem mitgegangen wäre, zum Beispiel mit diesem Jens Miller, dann hätte sie ja wohl ihre Sachen mitgenommen, oder?

Also ist meine Arbeitshypothese, dass sie unfreiwillig verschwand.