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Ein Aufwachsen mit dem Zauber und der Kraft der Musik – und die Geschichte einer Freundschaft, deren Innigkeit zerstörerisch ist. Die Ausnahmemusikerin Sophie Hunger schenkt uns einen so abgründigen wie poetischen, einen tragikomischen und raffinierten Coming-of-Age-Roman, der davon erzählt, was wir verlieren müssen, um etwas zu werden. Ein Mädchen und ihr bester Freund Niemand. Als Kinder von Militärattachés ist ihr Aufwachsen geprägt von ständigen Ortswechseln. Vom Rhythmus der Musik getragen erleben sie Magie und Erschütterungen von Kindheit und Jugend. Am glücklichsten sind sie, wenn sie sich in ihrer Plattensammlung verlieren, wenn sie im Atlas die Welt nach Bandnamen neu kartografieren, wenn sie im Klavierunterricht Dezibelangaben herausbrüllen oder in Songs die Sätze finden, die schon immer in ihnen gelauert haben. Sie verstecken sich in der Musik und werden von ihr versteckt, aber immer haben sie einander. Doch dann bekommt die Freundschaft Risse. Während Niemand eine Obsession für die Volkskunde der Walserinnen entwickelt, von denen die Erzählerin abstammt, und während sie selbst erste eigene Lieder schreibt, bahnt sich eine Katastrophe an. Sophie Hunger gelingt es auf beeindruckende Weise, ihre besonderen Qualitäten als Songwriterin in einen vielschichtigen und bewegenden Roman über das Werden, die Freundschaft und das Elementare der Musik zu verwandeln.
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Seitenzahl: 132
Veröffentlichungsjahr: 2025
Sophie Hunger
Roman
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Über Sophie Hunger
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
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zur Kurzübersicht
Sophie Hunger ist eine Schweizer Musikerin. Sie debütierte 2008 mit ihrem Album »Monday's Ghost« (Universal Jazz France) und spielte 2010 als erste Schweizer Künstlerin beim Glastonbury Festival. In Deutschland erhielt sie 2015 den LEA für die beste Live-Tournee und 2019 den Preis für Popkultur. In Frankreich erhielt sie 2017 den Prix Lumières für ihre Filmmusik des Oscarnominierten Films »Ma Vie de Courgette«.
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Ein Mädchen und ihr bester Freund Niemand. Als Kinder von Militärattachés ist ihr Aufwachsen geprägt von ständigen Ortswechseln. Vom Rhythmus der Musik getragen erleben sie Magie und Erschütterungen von Kindheit und Jugend. Am glücklichsten sind sie, wenn sie sich in ihrer Plattensammlung verlieren, wenn sie im Atlas die Welt nach Bandnamen neu kartografieren, wenn sie im Klavierunterricht Dezibelangaben herausbrüllen oder in Songs die Sätze finden, die schon immer in ihnen gelauert haben. Sie verstecken sich in der Musik und werden von ihr versteckt, aber immer haben sie einander.
Doch dann bekommt die Freundschaft Risse. Während Niemand eine Obsession für die Volkskunde der Walserinnen entwickelt, von denen die Erzählerin abstammt, und während sie selbst erste eigene Lieder schreibt, bahnt sich eine Katastrophe an.
Sophie Hunger gelingt es auf beeindruckende Weise, ihre besonderen Qualitäten als Songwriterin in einen vielschichtigen und bewegenden Roman über das Werden, die Freundschaft und das Elementare der Musik zu verwandeln.
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Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KGBahnhofsvorplatz 150667 Köln
© 2025, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagillustration und -gestaltung: Jérôme Witz
ISBN978-3-462-31030-6
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Hinweis
Als der letzte Ton im Bataclan verstummte
SPIEGELBILD
DER ERSTE MENSCH
CRAZE
NABERSCHACK
NIEMAND
SISTER GLADYS GLASS
DIE ALIG
LOVESONG TO EVERYONE
DIE GANZE WELT
FLUCHT NACH OBEN
DAS BEGEHREN
HOTEL HUNGER
16. Kapitel
BAD MEDICATION
I OPENED A BAR
LOVE IS NOT THE ANSWER TO EVERYTHING
DIE WACHE
GENESIS
THE RULES OF FIRE
PIGEONS
TAKE A TURN
SLIVER LANE
LET IT COME DOWN
AM ZIEL
HALLUZINATIONEN
TOTENTANZ
NÜT
Dieser Roman ist ein Werk der Fiktion, sämtliche Charaktere sind Kunstfiguren, die geschilderten Handlungen, Ereignisse und Situationen sind rein fiktiv.
Als der letzte Ton im Bataclan verstummte und vereinzelte Gestalten aus dem Dunkel erkennbar wurden, hörte ich auf einmal den Klang der Zange einer lange zurückliegenden Nacht, da man mein verkeiltes Köpflein aus dem aufgespannten Beckenboden meiner Mutter gezogen hatte. Dieses kränkende Geräusch, das in alle Oberflächen hineinrollte, ins Glas im Schrank, ins Wasser im Glas, bis in die feinsten Fasern des lila Wickeltisches des Ospidel Engiadin’Ota, auf dem ich sogleich in tausendsiebenhundert Metern Höhe zu liegen kam wie ein nasser, gelber Fisch. Zum ersten Mal allein.
Das Erschrecken, mit dem alles beginnt, wo es wohl hingeht?
Irgendwann waren wir zu den Tönen vorgestoßen. Ich bin mir nicht sicher, wann genau, es gab so viele Stellen, so viele, die uns in Versuchung führten. Es muss ein Zufall gewesen sein. Uns gefiel die einzelne Stelle viel, viel besser als das große Ganze. Wir mochten keine Geschichten, egal, in welcher Form. Wenn überhaupt ertrugen wir Märchen. Ein schauriges Gefühl erfüllte uns, wenn jemand versuchte, rote Fäden zu spannen, plausible Vergangenheiten und Zukünfte zu konstruieren. Geschichten: was für eine ekelerregende und erstickende Erfahrung. Wie jene, als im Kleintier-Gehege des Crystal Palace Parks ein rohes Ei ganz ohne Schale aus seinem Mutterhuhn auszulaufen begann. Erlösend und erhaben hingegen das Spiel der Nadel auf dem Plattenspieler, wenn sie absetzte oder sich federleicht verschieben ließ. Entweder nach innen oder nach außen. Nicht zurück oder vor. Der Nadelstift glich einem kleinen Mund, nein, einer Ohrmuschel, nein, einer Pupille, unter allen Umständen aber einer sacht geöffneten Körperstelle, empfindlich wie eine frische Wunde. An seiner Spitze ein Splitter aus Kristall, Saphir oder Diamant. Lautlos, spukhaft, glitt der Stift in die offene Spur, um sie dann detailgetreu zu verraten. Judas Iskariot. Dasselbe Lied konnte ohne Weiteres sowohl am Anfang als auch am Ende eines Vormittages stehen, es war frei vom Voranschreiten der Zeit. Es gab kein grauenvolles Voranschreiten der Zeit. Jeder Moment konnte wiederholt oder ignoriert werden. Von der Nadel übersehen, nicht abgespielt, ungeschehen.
Wir hatten uns strengstens verboten, ein Stück vorzeitig anzuhalten oder seinen Lauf zu stören. Wehe Dir. Ein Lied durfte nicht abgebrochen werden, selbst unter größten Qualen nicht. Obwohl wir schon nach wenigen Tönen wussten, ob es uns gefallen würde. Vielleicht hätten wir weniger rigide agiert, hätten wir eine unendliche Anzahl an Platten zur Verfügung gehabt. Doch unsere Sammlung war überschaubar. Sie war von ihren hochgeschossenen Besitzern dort gelagert worden. Wir hingegen waren klein. Wir bewegten uns noch stolpernd, ungezügelt, hemmungslos, also mit jenen maßgebenden Eigenschaften, die wir später ins Innere unserer Gestalten zu verbannen lernten. Unser Maß an Selbstbeherrschung war so unbeträchtlich, dass man uns nicht allein lassen konnte, Niemand, Dich und mich. Erinnerst Du Dich? Wir waren noch nicht schulpflichtig, man nannte uns noch nicht bei unseren Namen. Stattdessen waren wir Mücken, Knöpfe, Schatzebollen, les petits poussins. Bei der Plattensammlung allerdings, da ließ man uns sein, da schien das Risiko einer versehentlichen Selbstvernichtung gebannt, ja, dort waren wir sicher.
Dort, in diesem einen Sideboard, das entlang der kahlen Wand des ansonsten leeren Salons stand, lagen ein paar Dutzend Platten. Wir konnten sie sehen, durch die transparenten Schiebetüren hindurch. Manchmal spielten wir hungrige Rattenwelpen, leckten an den kalten Eisenscharnieren und kratzten am Glas. Manchmal schoben wir die Chaiselongue aus dem Flur in die hinterste Ecke des Salons und spähten von dort mit einem Armee-Feldstecher nach unserer nächsten Wahl. Manchmal löschten wir die Lichter, entkleideten uns, krochen durch die Dunkelheit, tasteten gierig nach den schwarzen Zauberscheiben. Selbst nach langem Betrachten war es unmöglich, von den Hüllen der Platten auf die darin enthaltenen Töne zu schließen. Wir glaubten ohnehin nicht, dass es möglich war, sich ein Bild von Tönen zu machen. Das, was wir sahen, wenn wir die Töne hörten, war ganz gewiss und doch unbeschreiblich. Trotzdem schauten wir uns alle Cover genau an, bevor wir das Vinyl aus dem Papier zogen. Manche Scheiben waren kleiner im Radius, aber verfügten über ein größeres Loch in der Mitte. Jede Platte hatte zwei Seiten. Meistens waren diese mit A und B markiert. Wir gerieten in Bedrängnis. Wir sollten bei A beginnen. Man heuchelte uns die Existenz eines Anfangs vor. Wir fingen bei B an und auch da selten am äußersten, uns nächstgelegenen Rand, lieber in einer Rille dazwischen oder weiter von uns entfernt. Besser weiter entfernt. Es war unverschämt, ja, widerlich, so nah an sich selbst mit etwas zu beginnen. Eine weitere Obszönität in dieser Aneinanderreihung von aufdringlichen Kunstgriffen, mit denen man uns weismachen wollte, das Leben sei eine Geschichte. Wir ließen uns nicht in die Enge treiben. Erinnerst Du Dich, Niemand? Leoncavallo, Seite B, Furche drei, Ridi Pagliaccio, sul tuo amore infranto. E ridi del duol che t’avvelena il cor![1]
Die Töne schwemmten den Salon wie eine nordische Flut. Woher wollten wir das wissen? Wir kannten keine nordische Flut. Doch doch, die Töne schwemmten weiter den Salon wie eine nordische Flut. Manchmal erst einzeln, in Tropfen, manchmal in Schichten, übereinandergestapelt, ineinander verschlungen, sich paarende Wassernattern. Etwas bewegte sich, alles wurde anders, wir wurden andere. Die Töne spülten ganze Landschaften an, sublime Bühnenbilder mitsamt Wetterlage und Fischbestand, nur um wenige Momente später jeden Hinweis auf sich selbst unwiderruflich zu verschlucken. Kaum waren die Töne verhallt, wurde der Sand unter unseren Füßen wieder glasig, unberührt, ausdruckslos. Wir wurden von den Wellen überrollt und im verebbten Sog zurückgelassen. Spülsaum. Mal um Mal. Zur Welt gekommen, von ihr gegangen. Bis uns meine Eltern abends über die Schultern warfen und in die weichen Kojen legten zum Schlaf.
Wir waren fünf oder sechs Jahre alt, da wurden wir vom Vereinigten Königreich in die Eidgenossenschaft versetzt, in eine Siedlung namens Spiegel b. Bern. Wir suchten überall nach unserem Spiegelbild. In den Wasserlachen vorm Garagentor, in den Hologrammaufklebern der Hockeystöcke, an der metallenen Eingangstüre der Primarschule, in den Augen unserer Eltern. Die Blumen auf den Balkonbänken blühten, in Berlin wurde auf eine Mauer eingeschlagen, sie fiel. Wir konnten bereits lesen, schreiben, rechnen. Die anderen Kinder waren gekränkt, sie brachen mir beim ersten Spielen sofort die Elle. Oder sie schlugen uns mit einem vom Hauswart ausgehändigten jungen Ahornzweig grün und blau und bordeauxviolett quer übers Gesicht. Diagonal von oben nach unten. Der Bruch verheilte morphologisch, zurück blieb eine Tendenz zum Versteifen, ausgelöst durch kleine Marknägel aus rostfreiem Titan. Die Flecken verblassten und hinterließen einen physischen Ekel gegenüber allem Hordigen, Rudligen, Sippenhaften, Tribalen. Die Jungen trugen am Hinterkopf dünne Rattenschwänzchen, an denen sie eines Tages von einem einfallenden Heer an Riesen gepackt und gegen die Turnhallenwand geschmettert würden, so wie wir es mit den Schleuderspinnen im Keller taten, dachten wir. Ihre offenen Schädeldecken würden einen schönen Augenblick lang an der Wand haften, und dann kraftlos zu Boden sacken.
Im Vereinigten Königreich wird man im Alter von vier Jahren eingeschult. Dort lernten wir lesen, schreiben, rechnen, noch bevor wir sauber waren. Zum ersten Mal machte ich mir im British National History Museum vor der berühmten sechsundzwanzig Meter langen Gips-Replica des Diplodocus-Sauriers in die Schuluniform. Erinnerst Du Dich? Als es geschah, merkte ich es nicht, erst auf dem Rückweg durch den St. James Park in händchenhaltende Zweiergrüppchen gereiht, spürte ich das Unglück. Wie das Ei aus dem Huhn. Unkontrollierte Offenbarungen. Viel schlimmer aber war das andere Mal beim Vorlesen auf dem Schoß meiner Lehrerin Adelaide Shelley. Jeden Freitag durfte das Mädchen mit den meisten gesammelten Leistungssternen an jenem besonderen Ort Platz nehmen, während Miss Shelley uns aus »The Lion, the Witch and the Wardrobe« vorlas. Miss Shelleys Schoß, »happy and glorious, long to reign over us«, eine persönliche Audienz, während der der Geruch lauwarmen, nassen Kots unaufhaltsam zwischen ihren porzellanweißen Armen und meinem Faltenjupe emporstieg. Sie war in ihrer Rolle als Beschützerin so gefestigt, dass sie jeder Reaktion widerstand. Ließ sich nichts anmerken, las die Geschichte mit offenem, der Klasse zugewandtem Gesicht zu Ende, während sich in ihrem Hüftrock eine Kloake bildete. Wenige Wochen später durfte ich in der Theater-Vorführung zum Weihnachtsfest Gott spielen. Meine erste Bühnenerfahrung: »And Lo, I am God.« Ich schaute durch die Aula-Decke hindurch in den darüber liegenden Himmel, als ich es sagte, und spürte dabei Dein maliziöses Lächeln. »And Lo, Niemand, I am God.«
Es gab keine Götter in Spiegel b. Bern. Wir verschanzten uns im neuen Wohnzimmer der flachdachigen Reihenhaussiedlung, unsere Bühne der kakirote Perserteppich meiner iranischen Großmutter, ich drückte am Klavier zufällige Intervalle mit durchgestrecktem Pedal, während Du ausdruckslos, aber diszipliniert durch die Fenster auf die Wasseroberfläche des Swimmingpools starrtest. Oder hast Du Dich darin gespiegelt? Es ist von außen nicht zu erkennen, wer sich selbst anschaut und wer durchs Glas hindurch nach draußen. Immer und ewig würden wir versuchen, das bei anderen zu entziffern.
Wir waren da zu Hause, wo die Plattensammlung lag. Wir schlüpften in die Papierschlitze und kamen als neue Wesen aus ihnen hervor. Dort war das ganze Leben. Das andere Leben war nur ein Traum. Man musste durch ihn hindurchschlafen mit offenen Lidern. Man musste sich totstellen. Unser Leben war bei den kreisenden Tönen. Sie hoben uns auf und entführten uns, fliegende Teppiche. Die Schallwellen rollten auf uns zu und von uns weg. Kamen die Töne näher, hielten wir uns an ihnen fest. Ein Perpendikel, das uns verlässlich durch die Wirrnis wiegte. Verstummten sie, fielen wir zurück ins Nichts.
Wenig später lernten wir zu posen. Das Fernsehen übertrug die Fußball-Weltmeisterschaften aus Amerika, wo der Walliser Georges Bregy im Auftaktspiel gegen den Gastgeber einen Freistoß aus siebzehn Metern ins Latteneck donnerte. Zu manchen Liedern übten wir nun Sieges- und Verliererposen. À la Bebeto in der zweiundsechzigsten Minute Brasilien gegen Holland wiegten wir unsere ungeborenen Kinder zu Gal Costas »Baby« den bebenden Tribünen entgegen. Oder Nina Simone, »stars they come and go« – das ganze Römische Reich geschultert, drehten wir uns ab vom Tor und taumelten Roberto Baggio gleich für immer gedemütigt die hundert Schritte hinunter in die Stadion-Katakomben – der Leere entgegen. Völler zu Klinsmann, Achtelfinale, Götterdämmerung, Tor! Wir rissen die Arme auseinander, stürzten vor Freude, während Brünnhilde in die Flammen schoss: Richard-Antisemit-Wagner. Andere Töne wiederum erforderten vollständiges Erstarren. Delia Derbyshire, »Time On Our Hands«. Wir standen am rotierenden Plattendeck und legten die Nadel hundertfach zurück zur ersten Rille. Es gelang uns dabei, mit bloßen Augen die Nervatur der Blätter am Ahornbaum im Garten bis zu ihren im Erdreich verworrenen Wurzeln zurückzuverfolgen. Uns erfüllen übernatürliche Kräfte, während wir Musik hören, sagtest Du. Ich sagte, nein, nein, unsere ursprünglichen, natürlichen Kräfte kehren erst dann zu uns zurück. Es gab auch ganz schlimme Töne, solche, die uns ängstigten: »Study for voice and tape«, Alice Shields. Wir verschanzten uns unter dem Küchen-Taburette wie im Luftschutzkeller und zogen die Kniescheiben unters Kinn; es nützte nichts.
Wir würden noch einige Male umsiedeln, aber immer, wenn ich an unsere Freundschaft denke, dann ist mir diese Zeit im Spiegel b. Bern als jene in Erinnerung, in der wir uns am nächsten standen, untrennbar waren. Es war auch die Zeit, in der Du begannst, Dich für die Walser Geschichtskunde zu interessieren. Jaja, Historie war erlaubt, Erinnerung ohne Schmerz, dachten wir. Hatten wir das irgendwo gehört? Wer hatte uns das beigebracht? Sie stellen Ötzi aus, oder, haben wir gedacht. Nackt, wie er ist, in seinen über die Jahrtausende eingewachsenen Stofffetzen, vom Gletscher aufbewahrt. Wie lange muss man da unten liegen, bis man keine Totenruhe mehr verdient? Zu welchem Zeitpunkt endet die Unantastbarkeit unserer Würde? Endet sie? Ich entspränge einer Walser Familie, dem Geschlecht der Hunger, hast Du gesagt. The House of Hunger. Du machtest es Dir zur Aufgabe, mein Schicksal zu erforschen, während ich Deinem Forschen ein Schicksal gab.
In den kommenden Jahren würdest Du Dir ein beträchtliches Fachwissen über die Walserinnen aneignen und mit eigenen Forschungsergebnissen ergänzen. Die Walserinnen, jenes alpine Urvolk, das nur in höchster Höhe seine Heimat fand. Dort, wo die Luft so dünn ist, dass das Atmen schmerzt, wo jedes Wort, jeder ausgestoßene Stimmenlaut einem Kraftakt gleichkommt. Jenes Urvolk, welches nicht Feuer, sondern Eis verehrte. Weil das Eis bewahrt und das Feuer verbrennt. Diese Notizen und Beiträge sind bis heute bei mir aufbewahrt. Sie sind, nachdem Deine Mutter alles andere abholen ließ, das Einzige, was mir in materieller Form von Dir geblieben ist. Obwohl sie durchnummeriert sind, ist die Anordnung nicht folgerichtig. Oder sie folgt einem Muster, das zu entziffern mir noch nicht gelingt. Was aber quälender bleibt, ist die Frage des Motivs. Was wolltest Du mit dieser Recherche bezwecken? Kann ein Interesse ziellos sein? Oder war es eine affektive Reaktion? Ja, vielleicht geschah es aus einer Art Eifersucht auf die nahende Wirklichkeit, vielleicht war es der Beginn Deines Kampfes um mich und gleichzeitig das erste Anzeichen für eine Trennung. Wenn mir die Zukunft gehören würde, dann musstest Du Herr des Vergangenen sein. Deine