Waren wir nicht schon mal hier? - Dietmar Bittrich - E-Book

Waren wir nicht schon mal hier? E-Book

Dietmar Bittrich

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Beschreibung

Reisegeschichten für Fortgeschrittene Die Pandemie hatte auch ihn ausgebremst, doch jetzt ist Dietmar Bittrich wieder on the road – per Bus, Bahn, Flugzeug, Mietauto, zu Fuß. Mit unvergleichlich trockenem Humor, viel Sinn für Situationskomik und einem liebevoll-ironischen Blick auf die menschlichen Unzulänglichkeiten schreibt er über Sinn und Unsinn des Reisens. Muss man wirklich herausfinden, was sich hinter mythischen Namen wie Palenque und Timbuktu verbirgt? Vielleicht reicht auch der Bummel durch eine unaufregende, aber noch unentdeckte kleine Stadt. Doch am Hauptplatz bleibt man erschrocken stehen: Waren wir nicht schon mal hier?

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Seitenzahl: 229

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Erinnern Sie sich noch? In den Coronajahren sind wir nicht verreist. Später sind wir nur schwerfällig in Gang gekommen. Dann erst so richtig. Es reizt uns wieder herauszufinden, was sich hinter Namen wie Palenque, Titicaca und Timbuktu verbirgt. Oder wir wollen einfach nur in versteckten Buchten oder beim Bummel durch eine verträumte Altstadt entspannen. Herausforderungen gibt es ja noch genug. Fremde Verkehrs-Apps und Fahrscheinautomaten sind noch weniger durchschaubar als die heimischen. Wir landen in Hochzeitsstädtchen, in denen unablässig Glocken bimmeln. Oder stranden auf Airports, von denen wir nicht wussten, dass sie existieren. Liegen nachts wach wegen schauriger Geräusche in der porösen Wand. Tagsüber müssen wir improvisieren, denn nur selten klappt alles wie geplant. Das kostet Nerven. Und dann geschieht es plötzlich, auf einem Platz, in einer Kurve, einem Tal, dass wir erschrocken stehen bleiben: Waren wir nicht schon mal hier?

 

Die Erzählungen Hundi muss zu Hause bleiben und Bei Geistersehern sind unter jeweils anderem Titel bereits in den Bänden Urlaubslesebuch 2019 und Noch mehr Gute-Laune-Geschichten erschienen.

 

Von Dietmar Bittrich sind bei dtv außerdem erschienen:

Müssen wir da auch noch hin?

Zum Niedermähen schön

Grab tiefer!

Wer später kommt, hat länger Zeit

Dietmar Bittrich

Waren wir nicht schon mal hier?

Kurze Geschichten vom Reisen

Wer wird Lösegeld zahlen?

Wer aufbricht, nimmt Abschied. Und meist nicht ungern. Abschied, haben wir mal gehört, sei ein leises Wort, manchmal wohl auch ein scharfes Schwert und mit etwas Pech ein kleiner Tod.

Nicht bei uns. Wir empfinden es als erleichternd, wenn wir endlich die Tür hinter uns zuziehen und den Schreibtisch für eine Weile nicht sehen. Wenn wir uns keine Gedanken machen müssen über fällige Renovierungen und den Wechsel der Putzhilfe. Wenn wir all die unerledigten Angelegenheiten vergessen dürfen. Und wenn wir unsere heiß geliebte Tante Edith eine Zeit lang nicht besuchen müssen.

»Wir sind jetzt drei Wochen weg«, haben wir ihr gesagt. »Du hast es ja zum Glück supergut hier!« Das mochte sie nicht bestätigen. Inmitten der Schar ihrer irritierten Mitbewohnerinnen hat sie uns nachgesehen wie die Hobbits den Helden Frodo und Gandalf, als die ins Abenteuer zogen. Genau so! Denn Reisen ins Abenteuer, darunter machen wir es nicht! »Man entdeckt keine neuen Kontinente, ohne den Mut, alte Küsten zurückzulassen«, habe ich Tante Edith erzählt. »Schade, dass du nicht mitkommen kannst«, ist meiner Frau noch eingefallen. Und die Tante hat genickt.

Manche Abschiede sind unvermeidlich. Es ist einfach tieftraurig, wenn wir verreisen. Nein, nicht für uns. Aber für all die anderen! Unsere Eltern wollen uns zum Bleiben überreden. So wie die liebe Familie damals den süßen E.T., bevor der winkend ins Raumschiff stieg. »Nicht weinen, dass es vorüber«, lassen wir sie wissen, »sondern lächeln, dass es gewesen!« Die Kinder mögen uns gar nicht aus der Tür lassen. Die Nachbarn stehen stumm und mit schwerem Herzen da.

Freunde kommen, als könnten sie uns noch zur Umkehr bewegen. Ohne euch ist alles so trübsinnig!, klagen sie. Tja, denken wir, da seht ihr es mal! Ein letzter rührender Blick zurück: überall in den Fenstern verweinte Gesichter. Gardinen werden zugezogen, Rollos heruntergelassen. Für die Zurückbleibenden beginnt die Zeit der Depression. Der anatolische Gemüsemann macht eine stumme Geste, als wolle er uns zurückhalten. Der Postbote auf seinem E-Rad winkt resigniert unserem Wagen nach. Ein dunkler Schleier legt sich über die Stadt. So ist es, wenn wir verreisen.

Aber nein, verflixt, so sollte es sein! So gehört es sich doch! Wenigstens ein Hauch von Staatstrauer müsste doch zu schaffen sein! Wie schön wäre unsere Abreise, wenn irgendwo eine Träne glitzern würde, ach, eine einzige nur! Aber geschäftige Gleichgültigkeit begleitet unseren Abschied. Die Leute kriegen nicht mal mit, dass wir weg sind. Wo bleibt die Achtsamkeit? Liegt es an der Regierung, an den sozialen Medien, dem Klimawandel? In was für einer abgestumpften Welt leben wir eigentlich?

Keiner malt sich aus, dass wir womöglich nicht zurückkehren könnten. Die Ferne ist gefährlich! Schlecht gewartete Flugzeuge, Busse in engen Serpentinen, gewiefte Betrüger, Straßenräuber, Halsabschneider. Und nicht nur gierige Spitzbuben erwarten uns, dazu kommt eine ausgehungerte Fauna. Mücken in Sondergrößen schwärmen aus, um uns mit Malaria vertraut zu machen. Im Sand des Strandes langweilen sich Hakenwürmer, bis wir endlich barfuß angestapft kommen. Einmal übers dunkle Wasser des Sees geschwommen, und die Bilharziose frisst sich in unsere Eingeweide. Exotische Viren haben die Nachricht von unserer Abreise bekommen und mutieren in die perfekt auf uns passende Form. Und da hat niemand Mitleid?

Frau Schwarz, der wir auf der Straße von unseren Plänen erzählen, samt den gefahrvollen Einzelheiten, findet das alles echt total interessant, muss aber doch rasch zum Einkaufen. Herr Petri runzelt die Stirn, statt uns aufzubauen: »Oh, da würde ich aber nicht hinfahren; haben Sie mal an El Niño gedacht?« Wie bitte? Ja, wir haben mal davon gehört. Aber noch nicht im Zusammenhang mit unserer Reise. Bergers nutzen unsere Urlaubsaussichten, um sich in eigenen Erinnerungen zu verlieren; sie sind vor zwanzig Jahren dort gewesen, als alles noch unberührt war. Das sei es ja nun leider nicht mehr, im Gegenteil. Unsere Cousine empört sich: »Dann seid ihr ja zu meinem Geburtstag nicht da!« Das trifft zu und hat unsere Reiseplanung maßgeblich beeinflusst.

Niemand trauert angemessen. Niemand gönnt uns Zuspruch und Trost. Vor einem langen Flug ist es immer noch wie damals bei der ersten Klassenreise, als unsere Mutter uns mit vielen falschen Versprechungen (»Es wird bestimmt ganz toll!«) zum Bus brachte. Und genau wie damals benötigen wir Ermutigung. Jetzt sogar noch mehr, weil wir inzwischen wissen, was alles passieren kann. Augenscheinlich schert es niemanden, dass unser Bus von einer dieser Schotterkurven in die Schlucht stürzen könnte. Oder dass der Heißluftballon Feuer fängt und nur eine flammende Pirouette auf einem TikTok-Clip hinterlässt. Unsere klapprige Passagiermaschine ist bereits ins Visier militanter Weltverbesserer geraten. Lediglich die Blackbox wird noch Zeugnis ablegen von unserer Reise. Und da schlägt niemand Alarm? Nein. Man überlässt uns ungerührt unserem Schicksal.

»Habt ihr da gebucht, wo ich es empfohlen habe?«, will unser Schwager wissen. Haben wir nicht. Damit ist sein Interesse erloschen. Und wenn wir als Geiseln genommen werden? Wenn Kidnapper Lösegeld fordern? Würde er zahlen? Bestimmt nicht. Wer sonst? Uns fällt niemand ein. All diese Geizhälse unter unseren sogenannten Freunden! Da zeigt sich ihre wahre Natur. Würde die klamme Republik uns auslösen? Wir haben einigermaßen brav unsere Steuern gezahlt. Wie viel dürfen die Entführer höchstens fordern? Das fragen wir uns angesichts all der schnöden Herzlosigkeit.

Unsere Nachbarn freuen sich unverhohlen auf unseren Parkplatz und dass sie mal drei Wochen nichts von uns hören. Wie üblich werden sie dann genau an dem Tag aufbrechen, an dem wir zurückkehren. »So haben wir zweimal Urlaub«, frohlocken sie frech. Wer wird uns vermissen, seit unser geliebter Golden Retriever in das Sternbild des Großen Hundes aufgestiegen ist?

Unseren Eltern versichern wir: Wir melden uns zwischendurch! »Das ist nicht nötig«, winken sie ab. Unsere Kinder müssten eigentlich mit hängenden Köpfen durchs Haus schleichen. Stattdessen können sie unsere Abreise kaum erwarten. Wir fangen Anfragen ihrer Freunde ab, ob die Bude schon sturmfrei sei. Die Menge an Cannabis, die sie da horten, sei legal, haben sie uns wissen lassen. Die Alkoholika sind bereits kalt gestellt. Steht uns noch die Zeit zur Verfügung, sie mit einem Federstrich zu enterben? Haben wir überhaupt schon ein Testament gemacht?

Vor einer Reise suchen uns solche Gedanken heim. Wie wird die Doppelkopfrunde in der langen Zeit ohne uns zurechtkommen? Haben wir Vorkehrungen getroffen, dass der Literaturkreis nicht zu sehr an Niveau verliert? »Wir kommen bestens zurecht«, versichern alle gnadenlos. »Macht euch keine Sorgen.« Wieso wir? Sie sollen sich doch Sorgen machen!

Aber es ist ja wahr. Statt ihrer kommen wir ins Grübeln. Letzte Fragen pochen an die Pforten unserer Schlaflosigkeit. Gibt es ein Weiterleben nach dem Tode? Wer bezahlt den Rücktransport unserer sogenannten sterblichen Überreste nach Hause? Und wenn die unsterblichen Überreste in den Himmel aufsteigen: Wen würden wir an unserem Grab weinen sehen? Würde uns jemand vermissen?

Die Reise ist der beste Test. Und leider kennen wir schon das Ergebnis. Wenn wir heimkehren und erzählen wollen, wundern sich alle, dass wir überhaupt weg waren. Und so richtig hören will auch keiner von unseren gefahrvollen Abenteuern. Einige werden sogar enttäuscht sein, dass wir gesund zurückgekehrt sind. An den Scheidepunkten der Reise, bei Abfahrt und Rückkehr, ahnen wir etwas Ungeheuerliches: Wir sind gar nicht so wichtig.

Angesichts dieser Erkenntnis sind wir die Einzigen, denen beim Abschied die Tränen kommen. Und auf einmal sind die anderen gerührt von der Tiefe unserer Empfindungen. Sie denken, wir vermissen sie schon. Na, wartet, wenn ihr verreist!

Da müsst ihr unbedingt hin!

Und in Lissabon empfehle ich euch – aber jetzt gut zuhören! –, da empfehle ich euch die Tram 28!«, tönt Onkel Michael. »Elétrico vinte e oito. Schreibt euch das auf.« Klaro, tun wir sofort. Die Tram 28 wird zwar auf jeder Lissabon-Website ganz oben gelistet und in jedem Reiseführer auf Seite eins. Aber wir notieren gehorsam. Denn Onkel Michael hat uns vor Jahren mal seinen Schlagbohrer geliehen. Der ist allmählich in unseren Besitz übergegangen, und das soll so bleiben. Wir sichern die Verhältnisse durch Zustimmung. »Super Tipp, Onkel Michael!« – »Acht-und-zwanzig! Die fährt euch für ein paar müde Euro durch die komplette Altstadt.« – »Ist das irre.« – »Allerdings! Was wollt ihr noch wissen?«

Gar nichts. Wir entdecken fremde Orte lieber auf eigene Faust. »Ach, da ist noch so ein Fahrstuhl«, fällt ihm ein. »Riesending, von der Unterstadt zur Oberstadt. Elevador de oder da – Moment, fällt mir gleich ein.« Oje. Wie kommen wir hier wieder weg? Indem wir den Schlagbohrer rausrücken? »Ja, Santa Justa! Damit müsst ihr fahren! Absolutes Muss!« – Stand auch auf jeder Liste. »Okay, das machen wir. Ist ja echt toll, was du alles parat hast.« – »Alles Geheimtipps! Und unten am Hafen, also Tejo Richtung Atlantik, da steht ein Denkmal für die Seefahrer, für die Entdecker – das kennt kaum jemand!« – Kennt jeder, aber wir lassen ihn mal in dem Glauben. »Notieren wir. Fantastisch, nun kann nichts mehr schiefgehen!«

Jetzt aber ganz schnell weg. Falls wir nach Athen gereist wären, hätte Michael uns hinter vorgehaltener Hand die Akropolis empfohlen – aber keinem weitersagen! –, und in Paris den Eiffelturm und als speziellen und hochgeheimen Insidertipp den Louvre. Er ist nicht der Erste mit solchen Sonderkenntnissen. Als ich in Studentenjahren trampend in die Toskana aufbrach, gab meine Großmutter mir auf den Weg: »Und in Pisa musst du dir unbedingt einen Kirchturm angucken, der steht schief, da darfst du aber nicht rauf, versprich mir das!« Den Tipp fand ich beleidigend. Aus purem Trotz bin ich dann in Pisa emsig herumgelaufen, habe aber den Domplatz boshaft gemieden. Jahre später habe ich die Besichtigung zerknirscht nachgeholt.

So geht es nun mal. Reiseziele gehören zu den wenigen erfreulichen Gesprächsthemen, die uns geblieben sind. Wo wart ihr zuletzt? Ah! Und wo wollt ihr jetzt hin? Oh, toll! Und was sind danach eure Ziele? Fantastisch! Unsere Freunde machen es vor. Wir versuchen mitzuhalten. Und müssen feststellen, dass unsere originellen Pläne auch schon von anderen geschmiedet und sogar verwirklicht wurden. Unsere Freunde haben uns etliches voraus. Und das lassen sie uns spüren. »Wenn ihr in Budapest seid, geht ins Gellért-Bad, das ist das Wichtigste!« Na schön. »In Vancouver dürft ihr auf keinen Fall Vancouver Island auslassen, sonst hat sich die ganze Reise nicht gelohnt!« Alles klar. »Am Hafen von Helsinki nehmt ihr bitte die Straßenbahn Nr. 3, die fährt euch rund um die Stadt, nicht vergessen!«

Schon wieder so eine Straßenbahn. Die ebenfalls von jedem dummen Tripadvisor empfohlen wird. Aber mitunter werden die Tipps noch geheimer und dann geradezu beschwerlich. Für Positano bekommen wir die handgeschriebene Anschrift einer Terrasse, auf der wir einen Limoncello trinken sollen, und zwar bei Sonnuntergang. Wenn wir auf die Kykladen kommen, ist es unerlässlich, dass wir nach Amorgos übersetzen, weil uns da ein Pater Nikolaos durch sein Kloster führt. Jedenfalls dann, wenn wir den wohlklingenden Namen unserer Freunde erwähnen. In Brügge sollen wir – »das ist das absolut Coolste!« – am Groenplaats ins Hilton gehen und an der Bar nach Steve fragen. Der gibt uns einen Drink aus, sobald wir von Kathrin und Stefan erzählen.

»Da müsst ihr unbedingt hin«, »der Abstecher lohnt sich«, »das ist ein wunderbar einsamer Strand«, »geht nicht zum Vordereingang, sondern zur Seitentür«, »nur da dürft ihr Muscheln essen«, »und grüßt den Winzer«: Unsere Freunde geben uns jede Menge Empfehlungen und Geheimtipps mit auf die Reise. Nicht nur, wenn wir sie bitten. Es reicht schon, wenn wir vage andeuten, wohin es uns zieht. Gleich kramen sie die Bilder eigener Aufenthalte aus dem Gedächtnis oder belästigen uns mit dem Link zu ihrem traumhaften Album, das sie online gestellt haben. Sie erinnern sich an Restaurants, versteckte Winkel, originelle Menschen und an spezielle Tricks, die Kurtaxe zu umgehen oder nach Kassenschluss ins Amphitheater zu klettern. Sie wünschen, dass wir ihrer Route von damals folgen. Wir sollen wenigstens schattenhaft nachempfinden, was ihnen damals Großartiges widerfuhr. Sie bimsen uns ihre Ratschläge ein wie Vokabeln, die sie nach unserer Rückkehr abfragen werden. Und wir machen untertänig Notizen.

Den Tipps zu folgen, erweist sich jedoch vor Ort als schwierig. Die Jahre haben eine verfälschende Patina über die Erlebnisse unserer Freunde gelegt. Wir sind guten Willens. Aber da geht gar keine Fähre über den Sund, wo sie uns eine unvergessliche Fahrt versprochen haben. Der Delikatessenladen in den Tuchhallen – »wer da nicht Piroggen probiert, weiß nichts von Krakau« – serviert schalen Plunder. Und der spezielle elsässische Winzer – »ganz lieber Kerl, mit dem könnt ihr abends stundenlang zusammensitzen« – riecht muffig und erinnert sich nicht an sie. Der Glorienschein, mit dem sie einstige Ausflüge verbrämen, erleuchtet uns nicht. Im Gegenteil. Der kleine Abstecher an den Weststrand von Vancouver Island entpuppt sich als fünfstündige Fahrt durch einen Nadelwald bis zu einer windgepeitschten Bucht. Also, das fanden Sophie und Dirk schön, registrieren wir leicht verbittert, bevor wir die Rückfahrt antreten.

»Ihr müsst unbedingt meine Lieblingskirche ansehen, San Miniato al Monte!«, hat Astrid uns auf den Weg nach Florenz mitgegeben. Während wir den Monte emporsteigen, bleibt uns leider das Bild der plumpen Astrid beharrlich im Gedächtnis. Mag die Marmorfassade der Kirche auch Anmut und Charme haben, der Zauber ist verdorben. Muss das nun ausgerechnet Astrids Kirche sein?

Die Zeitangaben unserer Freunde stimmen nicht. Die Wegbeschreibungen, die sie mit einem prahlerischen »könnt ihr gar nicht verfehlen« in die Luft skizzieren, führen in die Irre. Die Wanderempfehlungen – Hellandsnuten, Toggenburg, Ridnauntal – erweisen sich als Folter. Und das wenige, was sie zu Recht anpreisen, verliert durch ihren erklärten Besitzanspruch jede Romantik. »Wir waren vor euch da«, sagen sie mit ihren beschwörenden Ratschlägen. »Folgt uns, wir sind die Experten, am besten seht ihr alles mit unseren Augen!«

Aber das wollen wir nicht. Und das tun wir auch nicht. Wir erkämpfen uns unsere Selbstständigkeit. »Euer Hotel ist ja ziemlich abgewrackt«, sagen wir mitfühlend nach unserer Heimkehr. »Wir haben zum Glück gleich ein besseres gefunden.« Und »im Getty Museum hängt kein einziger Botticelli, schon gar keine ganze Wand voll, da habt ihr wieder was durcheinander gekriegt«. Noch besser: »In Brügge gibt es weder einen Groenplaats noch ein Hilton, das gibt es nur in Antwerpen, und da mixt zwar tatsächlich ein Steve Drinks, aber als wir euer Foto gezeigt haben, meinte er, ihr habt noch Schulden bei ihm.«

Und dann verraten wir ihnen, wo die Botticellis tatsächlich hängen, wie das wirklich gute Hotel heißt und wo ein Barkeeper Cocktails serviert, »bei dem ihr euch noch sehen lassen könnt«. Und sonst – »wenn ihr noch Empfehlungen braucht, dürft ihr gern fragen!«

Ach so, Onkel Michael existiert ja noch. »Seid ihr in Lissabon mit meiner Tram gefahren?«, verlangt er zu wissen. – »Sind wir, Onkel Michael, wir haben auch ein Foto gemacht, das war ein ganz toller origineller Tipp!« – »Na, also! Dann kriege ich vielleicht endlich auch meinen Schlagbohrer zurück?«

Falsch abgebogen

Jetzt ist es Zeit, dass ich Ihnen danke. Dafür, dass Sie mir damals zu Hilfe kamen. In Venedig. Sie erinnern sich? Wie von einem heiligen Dogen gesandt tauchten Sie auf, als ich mich heillos verlaufen hatte. Ihre charmante Reisegruppe erschien mir wie eine Schar lichter Engel. Es war längst dämmerig, und in meiner schmalen Seitengasse herrschte schon Nacht. Ich war durch Gänge, Gassen, über schiefe Brücken geirrt und stand nun am Ende einer nicht mal meterbreiten sogenannten Calle, die zwischen fensterlosen Hauswänden an einem Kanal endete. Schwarzes Wasser. Mehr sah ich nicht. Und dann kamen Sie. Sie erinnern sich?

Sonst erzähle ich gern von Anfang an. Grundsätzlich hing und hängt es damit zusammen, dass nicht nur mir, sondern uns allen der Orientierungssinn allmählich abhandenkommt. Man kann ihn sich wieder antrainieren, heißt es. Aber das tun wir nicht. Wir sind keine steinzeitlichen Jägerinnen und Sammler. Wir sind auch keine neuzeitlichen Entdecker, die verwaschene Karten enträtseln. Wir sind digitale Nomaden und verfügen über kalibrierte Navigationssysteme. Auf die verlassen wir uns. Und sind prompt aufgeschmissen, wenn sie mal nicht funktionieren.

Bekanntlich versagen sie in asturischen Nationalparks, in der Ägäis und in Südanatolien. Zuweilen auch in gut erschlossenen Alpentälern und ostfriesischen Moorlandschaften. Und da sind wir gerade, meine Frau und ich, ganz nah an einem renaturierten Moor, und beinahe schon mittendrin. Sicherheitshalber haben wir angehalten. Die Strecke, die uns das Navi vorschlägt, führt geradewegs in morastige Tiefen. Das Wasser gluckst schon unter den Vorderrädern unseres Kompaktwagens. Wir besitzen kein Amphibienfahrzeug. Unser konventionelles Auto sinkt ein. Immer geradeaus!, beharrt das Navi.

Von wegen. Wir sind glücklich, wenn wir zurücksetzen können, um belastbaren Grund zu erreichen. Dort entfalten wir nun unsere zerknitterte Antiquität von einer Landkarte. Und müssen erst mal überlegen, wo Norden ist. Kurzer Blick rundum. Der Himmel ist einheitlich grau. Dürfen wir dem Kompass unseres Smartphones vertrauen? Der Sensor reagiert, wie man neuerdings weiß, auch auf fremde Magnetfelder, am liebsten auf Hochspannungsleitungen. Die nächste solche Leitung suggeriert also unserem Handy, sie und niemand anderes als sie sei der Nordpol. Das geht schon mal gar nicht. Überdies haben wir vernommen, das Erdmagnetfeld kehre sich um. Etwa ausgerechnet heute?

Nun rächt sich, dass wir unser Orientierungsvermögen haben einschlummern lassen. Um es wieder fit zu machen, wird von Neurologen empfohlen, jedes Navi strikt nach Norden auszurichten. Das schule den Ortssinn. Ach ja? Unser Navi folgt bislang komfortabel der Fahrtrichtung. Es dreht sich automatisch mit, sodass wir auf der Displaykarte – egal welche Himmelsrichtung – immer nach oben fahren, immer vorwärts, wie es sich für Optimisten gehört. Die pädagogische Einstellung mit Norden stur am oberen Rand würde lästiges Mitdenken erfordern. Wenn wir auf einem nordwärts getunten Display nach Süden fahren, also nach unten, und dann von der Straße rechts abbiegen wollen, also nach Westen, dann weist der Pfeil auf dem Navi nach links. Für das Nord-Navi bleibt Westen immer links. An der Ampel sieht’s anders aus.

Na gut. Mich stört so etwas nicht. Aber ich denke an meine Frau. Sie hat, wie früher meine Mutter, die Rolle der Karten lesenden und zum Anraunzen freigegebenen Beifahrerin inne.

An wie vielen Abzweigungen auf fremden Autobahnen sind wir trotz HereWeGo oder OpenStreetMap schon heillos vorbeigetrieben! In wie vielen Städten haben wir entdeckt, dass wir dank gehorsamer Befolgung von Maps und Waze auf dem falschen Ufer des Flusses dahinrollten! Alle Sehenswürdigkeiten lagen drüben, aber wir konnten nicht rüber, weil es zwar Brücken gab, aber die waren für Autos gesperrt. »Na, dann lassen wir den bröckeligen alten Dom eben weg«, sagt meine Frau in solchen Fällen. »Wir haben schon so viele Dome gesehen.« Ja, aber nicht diesen, und ausgerechnet der soll der grandioseste sein! Echtheitssiegel vom Weltkulturerbe, Punktesieger beim Idealo-Preisvergleich!

Am Steuer erkenne ich meinen Vater in mir. Wir Kinder saßen hinten, wenn meine Mutter so grausame Auskünfte gab wie: »Ich glaube, die übernächste Ausfahrt müsste es sein – genau. Natürlich hätten wir auch die vorige nehmen können. Das wäre sogar noch besser gewesen. Doch, ja, eindeutig. Die nächste ist falsch, aber vielleicht können wir zurück.« Als mein Vater dann schnaubend höchstpersönlich Beifahrersitz und Karte übernahm, vermochte auch er nur ganz kurz zu glänzen. Bald begann er verwundert, das Blatt auf den Knien zu drehen und die Namen und Linien mit der Wirklichkeit draußen in Einklang zu bringen. »Die Sonne ist ja links«, stellte er verblüfft fest. Ja, so was kam vor.

Und es kommt heute noch vor. Die Beschilderungen in der Fremde sind nie so, wie wir sie benötigen. Da wird großspurig auf geistlose Orte verwiesen, nicht auf die erlesenen, in die wir reisen wollen. Und vor die berühmtesten Sehnsuchtsziele sind irreführende Vorstädte gestellt worden, vollgerümpelt mit Fabriken, Lagerhallen, Deponien, mit Industrieruinen, Tankstellen, Brachflächen. Und ausgerechnet in diesen Gewerbegebieten landen wir, während wir dem Navi vertrauen, dass es uns punktgenau zum historischen Zentrum lotst. Immerhin, in der betonierten Hässlichkeit gibt es ein Fast-Food-Restaurant. Na denn. Sie haben Ihr Ziel erreicht. »Wir wollen ja auch die alltäglichen Seiten kennenlernen.«

Es gehört zwangsläufig zum Urlaub: dieses Gefühl, dass wir eine Richtung nicht gewollt haben, aber eine höhere Macht, etwa in Gestalt eines Navis, hat entschieden, dass wir da hinsollen, und jetzt müssen wir damit zurechtkommen. Sind die elektronischen Kartendienste womöglich mit dem Förderungsministerium für benachteiligte Regionen verbunden? Und lenken uns deshalb zu Outlets und in Businessquartiere, um derentwillen wir die Reise bestimmt nicht angetreten haben? Der Verdacht drängt sich auf. Und dann haben wir nicht die Kraft umzukehren und versichern einander, das hier sei ja auch sehr schön oder zumindest sehr interessant. »Umwege erhöhen die Ortskenntnis«, sagt man. »Und es gibt keinen falschen Weg für den, der zu wachsen bereit ist.«

Eigentlich haben wir keine Lust mehr zu wachsen. In Metropolen fühlen wir uns bis zu einem bestimmten Punkt ausreichend flügge und selbstständig, bis wir die U-Bahn-Station erreicht haben, an der wir aussteigen sollen. Treppauf zu steigen, bewältigen wir ebenfalls mit der uns angeborenen Urbanität. Oben erweist sich die Stadt dann als verblüffend unübersichtlich. Die Gebäude ragen höher auf, als die Darstellung auf dem Display ahnen ließ. Und die Straßen sind viel chaotischer. Beschildert sind sie nie. Das Konsultieren von Passanten verheißt keinen Erfolg. Entweder wir verstehen ihre Sprache nicht. Oder wir können uns ihre sadistischen Wegbeschreibungen nicht merken.

Und manchmal ist schlicht niemand da. Etwa wenn wir im Skigebiet die richtige Spur verpasst haben oder nicht wussten, dass pista nera keineswegs »nähere Piste« bedeutet. Orientierung ade. Bretter abschnallen und in der Einsamkeit abwärts stapfen, kann nicht völlig verkehrt sein. Die Bergwacht können wir immer noch rufen, nur vor Einbruch der Dunkelheit wäre es peinlich.

Und wie steht es mit den Wanderkarten, die eine ypsilonhafte Verzweigung vorsehen, und dann kreuzen sich da sternförmig sechs Wege? Die Elektronik ist in Feld und Wald völlig verloren. Und nun auch wir. Die hilfreichen händischen Markierungen ins Grab gesunkener Heimatvereine – Raute, Hütchen, Kreuz und Kreis, rot und grün und gelb und blau, gestreift, bestirnt, gepunktet –, die werden wir frühestens entdecken, wenn wir zwei Kilometer gewandert sind. Mit denjenigen auf der Karte stimmen sie eh nie überein. »Es sieht alles gleich aus«, stellen wir zu unserer Entlastung fest. Auch die Spuren im hellen Sand. »Waren wir etwa schon mal hier?« Ja, und vermutlich bald wieder.

Ach, und die Dünendurchquerungen, die uns nach einer Stunde immer noch nicht ans Meer bringen, die Kanäle, in denen wir entkräftet die Paddel sinken lassen, die Canyons, die Wälder, die Tropfsteinhöhlen. Und die Gassen von Venedig. Das Labyrinth, in dem Sie zu meiner Rettung auftauchten.

Damals wollte ich das Venedig der Venezianer erkunden und mich dort aufhalten, wo alle sich aufhalten wollen: »abseits der Touristenströme«. Es war in dem Jahr, in dem erstmals Eintritt erhoben wurde von Tagestouristen. Der Bürgermeister hatte eine hohe Strafe verhängt für jeden, der den Begriff »morbider Charme« zu benutzen wagte, egal in welcher Sprache. Ich sprach nicht. Ich war allein unterwegs. Ich hatte mich so weit wie möglich von dem Trichter entfernt, der die Enthusiasten vom Markusplatz gen Rialto saugt. In meiner Wahnvorstellung, das wahre Venedig zu erkunden, war ich so weit gelangt, dass ich nicht mehr wusste, in welchem Sestiere ich mich befand, Dorsoduro, Santa Croce, San Polo.

Es gab reichlich einander widersprechende Wegweiser und einige Schilder, auf denen »Calle« stand mit ein paar Ziffern dahinter. Eine Übereinstimmung mit meinem Stadtplan ergab sich nie. Die Nebenkanäle ähneln einander zum Verwechseln, selbst die darüber gespannten Leinen sind überall mit derselben alten Unterwäsche behängt.

Es dämmerte. Die Einheimischen, falls es überhaupt welche gab, hatten sich zurückgezogen. Ich rastete erschöpft auf einer Stufe in einer Gasse ohne Anschluss, am brackigen Seitenarm eines der zweihundert kleinen Canali. Überraschend kam jemand suchend um die Ecke. Ich sah gleich, dass er keine Auskunft geben konnte. Denn er legte sich einen geschäftsmäßigen Schritt zu, um nicht als fremder Depp zu gelten, marschierte zielstrebig an mir vorbei, bog ab und kehrte gleich wieder beschämt zurück, denn da ging es nicht weiter. »Nach San Marco vorn links, dann die dritte rechts und dem dortigen Hinweis folgen«, habe ich ihm lässig hingeworfen. Das stimmte zwar nicht. Aber die Einheimischen geben auch keine besseren Ratschläge.

Andere menschliche Lebewesen traf ich nicht mehr. Irritierenderweise wurden auch die Fenster nicht hell. In den meisten alten Häusern sind nur noch die Dachgeschosse bewohnt. Aber auch da oben regte sich nichts. Und unten war alles schaurig und leer. Auf fernen Brücken glaubte ich Schlafwandler auszumachen, die mit hochgehaltenem Handy ein Signal zu erhaschen versuchten. Die Irrlichter ihrer Displays schimmerten gespenstisch, doch Signale nützen nichts in Venedig. Das GPS ist für das Netz der parallel und winklig geführten Gassen nicht präzise genug. Damit jedenfalls habe ich mich getröstet, als mein Akku endgültig aufgab. Jetzt war es richtig dunkel und mir war nicht heimelig zumute.

Und dann kamen Sie. Mit Ihren Gefährtinnen. Erst war es nur ein fernes Summen, dann ein Gemurmel. Dann sah ich die Heiligenscheine vorbeiziehen am offenen Eingang meiner Sackgasse, zehn, zwölf helle Schöpfe schwebten vorbei, lauter weiße Frisuren, die das letzte sterbende Licht reflektierten. Eine Reisegruppe! Eine kultivierte womöglich! Ondulierte Damen, vitale Witwen, glücklich ihre Erbschaft verprassend! Ich sprang auf und eilte Ihnen nach. Erinnern Sie sich? Sie schauten einmal zurück, und da müssen Sie mich gesehen haben, denn Sie begannen, etwas rascher zu gehen, und trieben Ihre Freundinnen unaufdringlich zur Eile an. »Bleibt zusammen!«

Gewiss, es gibt verdächtige Gestalten in der Depressissima, wie es der Beiname Venezias besagt. Ruhelose Untote, mit Beilen bewaffnete Zwerge und dunkle Vaganten, die auch in epidemiefreier Zeit Pestmasken tragen. Aber zu denen gehörte ich nicht. Ich sah ein wenig verwahrlost aus, ja, aber ich wollte einfach zurück in die Zivilisation. Und Sie haben mich geführt. Unwillentlich, vielleicht aber auch von einer freundlichen Macht dazu berufen.

Ich blieb zehn Meter hinter Ihnen, ganz unaufdringlich, diskret. Immer so weit, dass mir das Flirren der Silberfrisuren leuchtete wie der Stern einer alten orientalischen Religion. Sie folgten einer Ortskundigen, das war eindeutig. Denn Sie gingen rasch und festen Schritts, und bald wurden die Gassen heller, das Gemurmel anderer Stimmen mischte sich ein, und dann öffnete sich plötzlich der Markusplatz, gewöhnlich von mir gemieden und nun die Rettung. Ich winkte Ihnen dankbar zu, bevor Ihre Gruppe vom Gewimmel abendlicher Ausflügler aufgenommen wurde. Haben Sie mein Winken bemerkt? Wissen Sie jetzt? Genau. Ich war das. Danke!

Noch drei Tage bis zur Endreinigung

Hilton, Hyatt, Marriot, Radisson – sicher, ja, da kann man wohnen. Auch einige inhabergeführte Hotels haben uns gut gefallen. Aber nun mal im Ernst – brauchen wir wirklich eine marmorne Eingangshalle mit rieselnder Musik und lächelnden Genderfluiden an der Rezeption? Eher nicht. Und das Frühstück ist selten das Geld wert, das uns dafür abgeknöpft wird.

Schluss mit Hotels. Wir mieten ein Apartment. Da sind wir für uns und bleiben unbehelligt von klopfenden Putzkolonnen. Wir können es als unser Zuhause einrichten.