Warmland, Feuchtland, Bergland - Richard Villiger - E-Book

Warmland, Feuchtland, Bergland E-Book

Richard Villiger

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Begegnung mit Jasmin sollte Renatos weiteres Leben entscheidend verändern. Sie steht am Anfang vieler kleiner Episoden, mit denen der Autor Begebenheiten aus unterschiedlichen Gesichtspunkten schildert. Menschen aus verschiedenen Kulturen werden mit teilweise ungewohnten Bedingungen konfrontiert. Sei es als Liebespaar, als Eltern, oder auch als Arbeitgeber und Arbeitnehmer bzw. als Freunde. Sprachliche Barrieren müssen überwunden und andere Ansichten müssen toleriert werden. Keine Kultur wird bevorzugt, kein Land wird hervorgehoben. Der Autor "anonymisiert" die Länder auf seine Art: Warmland, Feuchtland, Bergland, aber auch Paßland, mehr gibt es nicht an Konkretisierung. Es bleibt der Fantasie des Lesers überlassen, ob bzw. welche Länder oder Charaktere er bevorzugt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 369

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99146-439-6

ISBN e-book: 978-3-99146-440-2

Lektorat: Leon Haußmann

Umschlag- & Innenabbildung: Richard Villiger

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

PROLOG: Kleinfeld in Bergland, Jahr 1

Renato Kast ließ die Haustür ins Schloss fallen und trat ins Dunkle. Es war kurz nach Mitternacht, und an dem Straßenabschnitt, wo er nun stand, wohnte kein Dorfpolitiker, weshalb die Gemeinde in dieser Gegend auf eine nächtliche Beleuchtung verzichtet hatte.

In Gedanken an Katja versunken, wäre er beinahe gestürzt, weil er die Bordsteinkante nicht erspürt hatte und dadurch ins Straucheln geraten war. Er hatte sich nicht eigentlich verletzt, war aber beim Auftreten im rechten Knöchel eingesackt, und das tat höllisch weh. „Verdammte Schweinerei!“, rief er in die vermeintliche Leere hinaus. Doch er war nicht als einziger im Dunkeln unterwegs.

„Na, Süßer, wie wärs mit uns beiden?“, flötete eine Stimme hinter ihm. Sie gehörte zu einer geschätzten Mittvierzigerin, blond oder mit blonder Perücke, prall um die Hüften und auch, was die Oberweite betraf. Das fehlte gerade noch, schoss es ihm durch den Kopf. Die Fähigkeit zu klaren Gedanken war schlagartig in seinen Schädel zurückgekehrt. „Nein danke, heute nicht. Es dauert noch zehn Tage bis zum Zahltag, und so reich, wie ich vielleicht aussehe, bin ich nun einmal nicht.“ „Schlappschwanz!“ zischte sie, und es ärgerte Renato, dass manche Leute über einen derart beschränkten Wortschatz verfügen.

Seine Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, die Schmerzen im Fuß hatten nachgelassen und er bewegte sich sicheren Schrittes in die nächste Querstraße, stieg in seinen alten Volvo und fuhr nach Hause.

Nach Hause! Konnte man das, was er demnächst ansteuern würde, als ein „Zu-hause“ bezeichnen? Gehörte zu einem Zuhause nicht, dass man dort erwartet wird, wenn man auswärts gewesen ist? In seinem Schlafzimmer hingen dreckige Kleider über der Stuhllehne. Im Spülbecken waren zwei Pfannen und sein ganzes Besteck im abgestandenen Abwaschwasser verteilt, nebst Gläsern, und Tellern. Je sechs waren es, mehr hatte er nicht.

Wenn man die Wohnung mit jemandem teilen konnte, mit Katja beispielsweise, würde es bestimmt leichter fallen, mehr Ordnung zu halten. Überdies könnte man dann auch die Spaghetti mit jemandem teilen. Und den täglichen Abwasch.

Mit jemandem die Wohnung teilen! Noch vor einem Monat war das für ihn keine Option gewesen.

Während er zu seiner Wohnung fuhr, ließ er den vergangenen Abend vor seinem geistigen Auge noch einmal Revue passieren. Er war drei Stunden bei Katja gewesen, einer langjährigen guten Kollegin, die aus Paßland stammte. Sie hatten über Gott und die Welt philosophiert, dabei ziemlich viel Rotwein getrunken und ein paar Häppchen Apéro-Gebäck gegessen.

Renato fand Katja sehr sympathisch. Sie hatte die für die Paßländer typische offene und umgängliche Art. Trotzdem war der Funke der Verliebtheit bisher nicht so richtig auf ihn übergesprungen. Er ertappte sich dabei, wie er am Abwägen war, welche Gründe für und welche gegen eine Vertiefung dieser Freundschaft sprachen. Ein Punkt, der ihn manchmal umtrieb, war Katjas Hang zum Feminismus. Anderseits bewunderte er eigenständige Frauen und traute sich durchaus zu, eine solche Herausforderung anzunehmen.

Erneut mit den Gedanken bei Katja, hatte er nicht bemerkt, wie er mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit unterwegs war, bis ihn ein Blitzkasten jäh in die Realität zurückholte. „Verdammte Schwei …“, war er gerade am Fluchen, als ihm das Flöten der Blondine wieder einfiel und er instinktiv den Kopf nach hinten drehte, um zu kontrollieren, ob er nicht versehentlich noch einen blinden Passagier mitbeförderte. Wenigstens das blieb ihm in dieser Nacht erspart. „Die Polizei, dein Freund und Helfer? Pah, Ausbeuter und Absahner müsste es eigentlich heißen!“

Er durfte nicht vergessen, am nächsten Morgen Esther anzurufen, seine einzige Schwester, zu der er eine starke Bindung hatte, seit sie beide vor 10 Jahren die Eltern durch einen Verkehrsunfall verloren hatten. Normalerweise telefonierten sie jede Woche miteinander. Letztes Wochenende jedoch hatten sie sich verpasst, und bei Renato hatte sich einiges angesammelt, wozu er sich die Außensicht einer unabhängigen, ihm jedoch wohlgesinnten Person wünschte.

Renato hatte die 30 bereits überschritten. In letzter Zeit drehten sich seine Gedanken vermehrt um eine geregelte Partnerschaft. Manchmal traf er sich mit Freunden aus der Schulzeit oder dem Fußball-Club, die geheiratet hatten. Einige waren Väter geworden, wie Michael Inglin, mit dem er seit Jugend an viel Zeit verbracht hatte. Michaels Sohn Jonas war sein Patenkind geworden und Renato wurde sich bewusst, dass er seinen Patenpflichten nicht immer zuverlässig nachkam.

Er bewunderte Michael und seine Frau Ute, war berührt vom stillen Glück der beiden. Sie passten gut zusammen, hier der hochaufgeschossene schlaksige Kerl mit dem Pferdeschwanz, dort die kleingewachsene, leicht untersetzte und stets kurzgeschorene Brünette mit einem Gesicht voller Sommersprossen.

Bei Ute und Michael fühlte er sich zuhause. Hier konnte er seine Seele baumeln lassen, konnte einfach nur sein, ohne sich jemandem beweisen zu müssen. So ein kleines Glück wollte er sich auch aufbauen, das wurde ihm zunehmend bewusst. Mit Katja? Oder vielleicht eher mit Jasmin? Zweifel kamen hoch in ihm.

Morgen würde er sich mit Jasmin treffen.

In seiner Wohnung angekommen, warf er seine Kleider über die Stuhllehne, hockte sich, nur mit der Unterhose bekleidet, auf die Bettkante und stellte den Wecker. Dann kroch er unter die Decke und hoffte, dass ihm der morgige Tag Gewissheit geben möge, mit welcher Frau an seiner Seite ihm das kleine Glück wohl eher zuteilwerden könnte.

KAPITEL 1: Das kleine Glück

Die Entscheidung

Er wachte mit einem brummenden Schädel auf und schaute auf sein linkes Handgelenk, um die Uhrzeit zu kontrollieren. Dann fiel ihm ein, dass sich seine Uhr gerade in der Reparatur befand. Sie war ihm gestern auf der Toilette der Autobahn-Raststätte auf den Steinboden gefallen. Dabei war das Glas zersprungen und der Stundenzeiger herausgekullert. Renato hatte den Zeiger nicht mehr finden können. Höchst eigenartig!

Dem Gefühl nach musste es ungefähr Mittagszeit sein. Er fand den Wecker auf dem Boden, musste ihn wohl im Schlaf abgestellt haben. Glücklicherweise war der beim Sturz nicht kaputtgegangen.

Viertel nach eins! Er setzte sich auf die Bettkante und rieb sich die Augen.

Was hilft besser gegen einen Brummschädel: Bier oder Kaffee? Er entschied sich für Bier und hatte Glück, denn im Kühlschrank ließ sich genau noch eine letzte Dose der Marke Tuborg finden. Und wirklich: Alkohol muss man mit Alkohol bekämpfen. Die Lebensgeister meldeten sich zurück.

Renato musste neu planen. Joggen lag nicht mehr drin. Auch egal. Er hatte mit Joggen eh nur angefangen, weil Michael aufgefallen war, wie sich bei Renato eine kleine Wampe abzuzeichnen begann. Seither drehte er hin und wieder seine Runden, war aber jeweils nicht traurig, wenn ihm ein halbwegs plausibler Grund einfiel, dieses ungeliebte Herumgehopse ausfallen zu lassen.

Er stellte eine Einkaufsliste zusammen: zwei Kästen Bier, etwas Fleischwaren, Eier und Brot. Und dazu etwas Gemüse für den Fall, dass kulinarisch anspruchsvolle Gäste vorbeikommen würden. Danach wollte er zu Michael gehen und Jonas fragen, ob ihm der Sinn nach einer Partie Billard stehe.

Als Renato nach seinen Einkäufen bei Inglins auftauchte, waren diese ausgeflogen. „Ist mir auch recht“, dachte er. So hatte er ausreichend Zeit, sich auf das Treffen mit Jasmin vorzubereiten. Er schlenderte Richtung Waldrand und pflückte sich gemütlich ohne Zeitdruck an der Straßenböschung einen Strauß Wiesenblumen zusammen. Nach einer knappen halben Stunde war er mit dem Resultat zufrieden und lenkte seine Schritte in Richtung seiner Wohnung.

Er wollte noch ein wenig aufräumen und dann ein Vollbad nehmen.

Es war 19:30 Uhr, als er die Wohnung verließ. Renato hatte sich herausgeputzt. Er trug Markenjeans, ein weißes Hemd und seine Lieblingsweste.

Obwohl die Pizzeria nur sechs Straßenzüge weiter lag, am gegenüberliegenden Dorfrand, hatte Renato vor, mit dem Auto zu fahren. Er wollte nicht verschwitzt ankommen, nicht heute.

Schweigend stand er einen kurzen Moment da und sog die frische Luft zwischen den Zähnen ein. Inzwischen waren weitere drei Minuten verstrichen. Trotzdem würde er rechtzeitig dort sein, was bei ihm nicht selbstverständlich war.

Er lenkte den Volvo auf den Parkplatz hinter der Pizzeria und setzte sich auf die Holzbank vor dem Gebäude, denn es blieben noch fünf Minuten bis zum Zeitpunkt, auf den sie sich verabredet hatten.

Jasmin war die Unpünktlichkeit in Person. Er würde hier auf sie warten.

Als Jasmin auch nach einer Viertelstunde noch nicht aufgetaucht war, ergriff die Ungeduld von ihm Besitz und er begann, an seinem Blumenstrauß herumzuzupfen. Hatte sie ihn vergessen oder bewusst versetzt? Oder war sie einfach mal wieder sehr spät unterwegs. Er fand es ein bisschen ungehörig, dass sich jemand bei einem Date so verspätete und war leicht eingeschnappt, weil es ausgerechnet ihm passierte.

Da drang plötzlich Jasmins Stimme an sein Ohr: „Nanu, wieso sitzt du hier draußen? Ich habe drinnen seit einer halben Stunde auf dich gewartet.“ Renato fühlte sich, als hätte ihm jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gegossen, oder den Nachttopf. Konnte es in diesem Moment irgendwo auf der Welt einen größeren Depp geben als ihn? Wohl kaum. Er wurde puterrot.

„Entschuldige“, stammelte er, „ich bin davon ausgegangen, dass du noch nicht da bist.“

Jasmin strahlte übers ganze Gesicht, was ihrer ohnehin starken Ausstrahlung zusätzlichen Glanz verlieh, und flüsterte: „Einmal im Leben wollte ich nicht zu spät sein.“ Renato fühlte sich in seine Einzelteile zerlegt. Er brauchte einen langen Moment, um sich wieder ganz zu spüren. Dann entgegnete er: „Hast du überhaupt noch Lust, mit mir zu essen?“ Sie schaute ihm in die Augen, ziemlich tief. Dann wisperte sie: „Ja natürlich. Warum denn nicht?“ Renato war erleichtert und ein wenig verwirrt. Er stellte sich die groteske Situation mit der selbstverschuldeten Verspätung mit einigen seiner verflossenen Bekanntschaften vor und kam zur Überzeugung, dass jede von ihnen ihm eine gehörige Szene gemacht hätte.

Übermannt von einer Vielzahl widersprüchlicher Gefühle ließ er den Blumenstrauß auf der Holzbank liegen.

Es wurde ein entspannter Abend, an dem Renato viel über Jasmins bisheriges Leben erfuhr. Sie war in Warmland geboren, jenseits des Großen Teichs.

Von Warmland hatten die meisten Bergländer noch nie etwas gehört. Seine Landsleute waren in ihrer Mehrheit geschäftige Menschen, im Gefühlsleben etwas reserviert, aber korrekt. Was sich außerhalb der Landesgrenzen zutrug, interessierte sie nur am Rand. Renato dagegen war ein Weltenbürger und erstaunte Jasmin wiederholt mit Kenntnissen über ihr Heimatland.

Sie war im gleichen Jahr zur Welt gekommen wie Renato. Er hatte sie deutlich jünger eingeschätzt. Konnte es damit zu tun haben, dass sie so ein sonniges Gemüt hatte und oft lachte? Nannten ihre Freunde sie deshalb Goldie?

Unbeabsichtigt begannen Renatos Gedanken, Vergleiche über seine gegenwärtigen Bekanntschaften anzustellen. Beide Frauen verband ein unverwechselbarer persönlicher Charme. Von der Persönlichkeit her waren sie aber sehr verschieden.

Schon rein äußerlich war Jasmins Erscheinung mit ihrer dunklen Hautfarbe ganz anders als die von Katja. Fernab von der Geborgenheit der Großfamilie wirkte Jasmin manchmal etwas verloren, ja fast ein wenig hilflos. Nichtsdestotrotz empfand Renato sie als überaus liebenswert. Sie war ihm in den beiden Jahren, seit sie sich kannten, ans Herz gewachsen.

Renato wusste von Warmland, dass es über keine bedeutenden Bodenschätze verfügte und auch strategisch für keine Großmacht bedeutsam war. Als Standort für Investitionen übte dieser Staat deshalb auf die modernen Industrienationen wenig Anziehungskraft aus. Die meisten Bewohner von Warmland hatten ihr bescheidenes Auskommen. Wer es zu Reichtum und Ansehen bringen wollte, musste sein Glück im Ausland suchen. Deshalb ergoss sich ein ständiger Strom von Menschen aus Warmland weg, vor allem nach Feuchtland, wo mittlerweile beinahe so viele Warmländer wohnten wie im Mutterland selbst. Einige wenige zog es weiter, meist wegen einer Arbeitsstelle oder weil sie irgendwo in der weiten Welt einen Lebenspartner gefunden hatten.

Jasmin hatte im Dorf Kleinfeld eine Arbeitsstelle in einem Inkasso-Büro gefunden. Sie hatte ein gutes Verhältnis zu ihren Mitarbeitern. Doch machte ihr das Abgeschnittensein von ihren Wurzeln zeitweise stark zu schaffen. Nur wer sie gut kannte, entdeckte in ihren glänzenden Augen einen Anflug von Traurigkeit.

Als der Abend ziemlich fortgeschritten und die vierte Stange Bier gekippt war, sagte Jasmin unvermittelt zu Renato: „Weißt du, ihr wohnt hier in einem sehr schönen Land. Aber manchmal ist mir so kalt, innerlich, dass ich es kaum aushalte. Ich werde wahrscheinlich wieder nach Feuchtland zu meiner Familie ziehen.“

Er hatte eben noch das Wohlgefühl leichter Bierseligkeit genossen, als es ihn erschauderte. Hatte er richtig gehört? Er hatte den Hang zum Taktieren, in allen Bereichen des Lebens. Diese Eigenart hatte ihn schon um gute Stellenangebote gebracht, weil er jeweils zu lange unschlüssig gewesen war. Auch sein Liebesleben hätte bedeutend abwechslungsreicher ausfallen können, wenn er doch nur seine Chancen entschlossen gepackt hätte. Seinem Wesen gemäß wäre er unter normalen Umständen in etwa zwei Stunden zu seiner Wohnung gefahren und hätte abgewogen: was spricht für Katja, was für Jasmin? Aber die Zeiten waren ungewöhnlich, die Normalität in Rauch aufgegangen.

Renato stand von seinem Stuhl auf und umrundete zielstrebig den kleinen Tisch, an dem sie saßen. Wie ein mittelalterlicher Knappe beim Ritterschlag kniete er vor Jasmin nieder und fragte sie: „Willst du mich heiraten?“

Jasmin schaute ihn liebevoll an, die Mundwinkel zu einem Lächeln hochgezogen, und sagte: „Das kommt für mich jetzt ein bisschen überraschend. Du musst mir für eine solche Entscheidung ein wenig Zeit geben.“ „Wie lange?“, wollte er wissen. „Ich rufe dich dann an. Eine Nacht darüber schlafen, vielleicht zwei. Aber wenn ich die Entscheidung getroffen habe, werde ich dich nicht im Ungewissen lassen.“

Die folgende Nacht hatte die Besonderheit, dass zwei Menschen, die normalerweise leicht in Schlaf fallen, lange kein Auge zutun konnten.

Nägel mit Köpfen

Am übernächsten Morgen war Klarheit da. Jetzt war nichts mehr wie vorher. Jasmin hatte wirklich mit Ja geantwortet. Zwei Suchende hatten sich gefunden. Sie machten sich an die Planung einer gemeinsamen Zukunft. Renato gab seine Wohnung auf und zog bei Jasmin ein, weil deren Wohnung etwas größer und ihr Haushalt, naja, … etwas praktischer eingerichtet war.

Es war Ende April, und bereits in der ersten Juliwoche sollte die Hochzeitsfeier steigen, ein farbenfrohes Fest, wozu fürs Auge schon die Anwesenheit der dunkelhäutigen Gäste aus Warmland sorgen würde.

Es gab in dieser Zeit viel zu planen und zu bedenken. Weder Jasmin noch Renato hatten reichlich Geld auf der hohen Kante, doch beiden stand der Sinn nach einem unvergesslichen, abwechslungsreichen Festprogramm.

Eine feierliche Zeremonie in einer Kirche durfte ebenso wenig fehlen wie ein Busausflug in die hügelige Umgebung. Das Essen sollte eine Catering-Firma mit einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis übernehmen.

Für die Getränke wollte Renato selbst sorgen und für die Dekoration hatte Jasmin gute Freundinnen, die für besondere Anlässe die passenden Ideen haben und diese mit großem Geschick realisieren würden. Es sollte also auch ohne viel Geld ein unvergesslicher Tag werden können.

Der Lauf der Zeit war jetzt einem Fluss vergleichbar, der jeden Tag einen neuen Seitenarm aufnahm, mächtiger wurde und an Fahrt gewann, bis er sich am ersehnten Tag mit Macht ins Meer ergießen würde.

Renato hätte gerne auch Katja zum Fest eingeladen. Doch nachdem er ihr mitgeteilt hatte, er werde heiraten, war sie augenblicklich verstummt. Sie hatte sich abgewandt, mit Tränen in den Augen. Er hatte sie trösten wollen. Das hatte alles nur noch schlimmer gemacht.

Schließlich war sie heulend davongerannt, und er saß minutenlang allein in ihrer Wohnung. Endlich stahl er sich nach draußen.

Sie tat ihm schrecklich leid. Er war bei ihr immer auf offene Ohren gestoßen, wenn ihn etwas besonders beschäftigt hatte. Er hatte sie verletzt und enttäuscht. Würden sie jemals wieder Freunde sein können?

Renato blieb gar nicht die Zeit zum Grübeln. Die Entscheidung war gefallen, er hatte sie gefällt, und so vieles war zu erledigen.

Trotzdem blieb ein Wermutstropfen. Es hatte ihm an Taktgefühl gemangelt.

Zur Freude der Brautleute hatten es alle zwanzig Hochzeitsgäste, die von Feuchtland angereist waren, geschafft, rechtzeitig in der näheren Umgebung ein geeignetes Schlafquartier zu finden, sodass sie nach dem Fest noch ein paar Tage Zeit hatten, die Sehenswürdigkeiten Berglands zu bestaunen.

Jasmin und Renato hatten gemeinsam die Getränke besorgt und bei Freunden Torten, Cremes und Häppchen bestellt, was jetzt, am Vorabend des Festes, in den beiden großen Kühlschränken der alten Scheune eingelagert wurde. Mit Blumengebinden und Stoffgardinen war die geräumige Lokalität festlich geschmückt worden.

Hauptverantwortlich für die Dekoration war Denise, Jasmins beste Freundin. Deren Augen waren rot gerändert, denn sie hatte in den letzten beiden Wochen mehrere Nachtschichten eingelegt. Als Letztes in der Planung sollten morgen hellblaue und weiße Ballons mit Gas gefüllt werden, die teils freischwebend, teils an Stuhllehnen angebunden, der wuchtigen Scheune eine gewisse Leichtigkeit verleihen sollten.

Esther hatte mit geschicktem Verhandeln erreicht, dass zwei stattliche Reisebusse, mit Blumen verziert, zu einem Sondertarif für eine zweistündige Rundfahrt in die Berge zur Verfügung standen.

Das Fest

So versammelte sich an einem Julitag bei strahlendem Sonnenschein eine 90-köpfige Hochzeitsgesellschaft in der schlichten Kirche des kleinen Dorfes Hügelingen, um die Eheschließung von Jasmin Dupont und Renato Kast mitzuerleben. Es tat der Stimmung keinen Abbruch, dass der Kirchturm seit zwei Tagen vollkommen eingerüstet war, da ausgerechnet jetzt die Naturholz-Schindeln des Dachs ersetzt werden mussten.

Jasmin hütete ein Geheimnis. Seit gestern wusste sie, dass sie schwanger war. Ein neuer kleiner Erdenbürger würde unbemerkt dem Fest beiwohnen. Sie würde es Renato als erstem verraten, aber erst nachdem er ihr in der Kirche sein Ja-Wort gegeben haben würde. So lange wollte sie die Neuigkeit für sich behalten.

Die Nerven von Renato wurden an diesem Tag mehrmals arg strapaziert.

Zuerst wollte Jasmin ausgerechnet heute ihrem Ruf der Unpünktlichkeit die Ehre erweisen und war vor innerer Anspannung fast nicht aus ihrer Wohnung zu bringen.

Und an der Kirche angelangt, fand Renato den Ehering nicht mehr. Der hatte in seiner Hosentasche gelegen und war nicht mehr auffindbar. Am Ende kam der Ring doch rechtzeitig zum Vorschein, neben dem Fahrersitz in Renatos Auto. Puh, nochmal gut gegangen!

Der Festakt in der Kirche war feierlich und ausgesprochen persönlich. Die Brautleute hatten das Eheversprechen in der Landessprache des jeweils anderen selber aufgesetzt, etwas schlicht in der Wortwahl, aber beide hatten ihr Bestes gegeben.

Nachdem Renato seinen Text unter Aufbietung all seiner Möglichkeiten einigermaßen verständlich vorgetragen hatte und sich nun mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte, kramte Jasmin nun ihren Zettel hervor. Den ersten Satz brachte sie noch stotternd zustande, danach begann sie zu schluchzen und der dritte Satz blieb ihr auch nach mehreren Anläufen im Halse stecken. Jasmin verstummte und weinte.

Trotz dieser Panne war sich Renato bewusst, wieviel Mut seine Braut in den letzten Wochen bewiesen hatte. Sie war sozusagen auf einen fahrenden Zug mit ungewissem Ziel aufgesprungen. Renato ging auf seine Jasmin zu und schloss sie fest in die Arme. Schließlich hatte er sie zur Heirat gedrängt und sie hatte sich darauf eingelassen. Tapfere Jasmin, er war stolz auf sie.

Mehrere Hochzeitsgäste äußerten, dass sie selten eine so berührende Trauzeremonie erlebt hatten. Als sich am Ende des Gottesdienstes die Hintertür der Kirche öffnete, um die Gästeschar zu entlassen, durchdrang ein blendender Sonnenstrahl das Gebäude. Ein gutes Omen, dachte Renato.

Er hatte im Vorfeld des Festes nicht alles so regeln können, wie er es als notwendig erachtet hatte, und doch hatte bisher alles geklappt, was wichtig war. Die einzelnen Rädchen hatten ineinandergegriffen. „Gott steht uns bei“, sagte er zu Jasmin und küsste sie überschwänglich auf den Mund.

Nach dem obligaten Fototermin vor dem eingerüsteten Kirchturm und dem anschließenden Apéro begab sich die Hochzeitsgesellschaft in die beiden Busse, die auf dem Parkplatz vor der Kirche warteten.

Am meisten freuten sich die Gäste aus Feuchtland auf den Ausflug in die Berge. Auch die Schwestern und der Bruder von Jasmin, denn in Feuchtland gab es keine nennenswerten Berge, weshalb dieser Ausflug für sie etwas ganz Besonderes darstellte.

Renato hatte von Jasmins Geschwistern erst die umtriebige Gloria Vermeer, sowie Louis Dupont, ihren Bruder, kennengelernt. Er betrachtete nun aufmerksam das bisher unbekannte Gesicht von Sandy, die ihm direkt gegenübersaß, während sich die beiden vollbesetzten Busse in gemächlichem Tempo die ersten Serpentinen hochschraubten.

Sandy hatte eine füllige Figur. Renato fiel außerdem auf, dass ihr Teint heller war als der von Jasmin und Louis. Und Sandy wirkte seltsam steif.

Als der Bus schwungvoll ausholte, um die nächste Haarnadel zu nehmen, hatte Sandy etwa die gleiche Gesichtsfarbe wie Renato. Sie gab nun würgende Geräusche von sich, und als Renato die Zusammenhänge bewusst wurden, war es bereits zu spät.

Ein übelriechender Schwall von wenig verdauten Apéro-Bestandteilen ergoss sich über den Schoß von Michael, der rechts neben Renato saß. Dieser verzog angewidert das Gesicht und hielt sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu, während er mit dem anderen Arm wild gestikulierte. Ute stand sofort auf und ging zum Fahrer, der das Gefährt an den Straßenrand lenkte und anhielt.

Ute übernahm die Organisation beim Saubermachen, legte selber Hand an und verteilte kleinere Putzaufträge an mehrere Mitreisende, sodass der saure Geruch bald merklich abnahm. Sandys Zustand normalisierte sich zunehmend. Renato war nicht entgangen, dass die Unglückliche minutenlang den strengen Blicken ihrer Schwester Gloria ausgesetzt gewesen war.

Der Bus blieb noch eine Weile stehen. Die Gäste nutzten die Zeit für Gespräche und ein paar Feuchtländer, denen sich auch Louis angeschlossen hatte, zogen zum nahen Wäldchen, um sich in freier Natur zu erleichtern.

Als der Bus wieder in Fahrt kam, war der Säuregehalt der Luft auf ein erträgliches Maß gesunken, und außer ein paar Flecken auf Michaels Kleidern und einem erkennbar schlechten Gewissen von Sandy nahmen die Dinge wieder den geplanten Lauf.

Nach dem Ausflug traf die Hochzeitsgesellschaft bei der alten Scheune ein.

Denise und Esther hatten den Ausflug ausgelassen, damit sie sich um die Ballons kümmern konnten. Sie hatten diese so im Raum verteilt, dass die Scheune ein wenig wie eine Disco wirkte.

Die Catering-Firma hatte Tische beim Eingang zusammengestellt und ein reichhaltiges Salatbuffet lud die Gäste dazu ein, nach dem Herzen nun dem Magen erste Nahrung zuzuführen. Es sollten gemäß Speiseplan Kalbs-, Schwein- und Lammbraten mit verschiedenen Beilagen und Gemüsesorten folgen.

Freunde von Renato hatten als Überraschung eine kleine Blaskapelle organisiert, die erst zum zweiten Mal ein Fest musikalisch begleitete, nicht immer ganz stilsicher, dafür mit umso mehr Inbrunst.

Renato gefiel, dass sich bei seinem Fest ganz unterschiedliche Menschen begegneten. Die meisten waren nur mit der Sprache ihrer Landsleute vertraut. So mussten beim Reden Hände und Füße zu Hilfe genommen werden. Renato erging es nicht anders. Der Stimmung tat dies keinen Abbruch, im Gegenteil. Die Mutigeren der Gäste setzten sich in Szene, während die Ängstlicheren still genossen oder auf eine Chance warteten, im kleineren Kreis etwas vorzutragen.

Als die Musikanten eine Pause einlegten, stand Jonas auf und eilte in die Garderobe, wo er sein Saxophon verstaut hatte. Er schnappte sich zusätzlich einen Notenständer und schmetterte dann mit seinem Instrument einige Blues-Rhythmen in den großen Raum. Renato staunte, wie talentiert sein Patensohn war.

Die Klänge hatten ihre Wirkung auch auf die Gäste aus Feuchtland. Kaum hatte Jonas unter Applaus mit vor Stolz strahlendem Gesicht die Bühne verlassen, stand bereits Louis mit drei Kollegen vorne und gestikulierte mit den Armen, worauf an verschiedenen Orten Aktivität entstand und schließlich eine Gitarre, ein Banjo und ein Elektrobass den Weg zum bereitstehenden Quartett fand. Louis hatte einen erstaunlichen Bariton, und dass er die Töne nicht immer genau traf, kompensierte er mit seinem Charme, und indem er, wenn ihm der Text entfiel, mitten in einer Liedpassage seine Darbietung unterbrach und dem Publikum die persönlichen Vorzüge seiner Kollegen pries.

Jetzt war der Bann endgültig gebrochen, und eine Darbietung folgte auf die andere.

Es war morgens um halb drei, ehe die ersten Gäste sich entschieden, den Heimweg anzutreten. Von den ganz Kleinen waren die meisten inzwischen eingeschlafen. So lichteten sich die Reihen der Gäste zunehmend.

Denise hatte bereits begonnen, das benutzte Essgeschirr einzusammeln und zerrissene Deko-Fetzen zu entsorgen. Jasmin und Renato schwangen hin und wieder das Tanzbein, obwohl ihnen Michael versichert hatte, dass sie in dieser Disziplin nie auch nur einen Trostpreis gewinnen würden, wenn die Meinung eines Kenners den Ausschlag gäbe.

Renato hörte die Worte seines Freundes, und sie kümmerten ihn nicht. Er genoss es, so viele tolle Menschen um sich zu haben. Es zählte der Mut zum Wagnis. So wie bei Renatos Tanzkünsten. Er war ein miserabler Tänzer. Spielte das eine Rolle?

Als das Zwielicht der Morgendämmerung begann, die Dunkelheit der Nacht abzulösen, war das Fest zu Ende. Nur noch engste Freunde und Familienmitglieder hatten ausgeharrt.

Es ging nun darum, die gröbsten Spuren des Festes zu beseitigen, die die feuchtfröhliche Ausgelassenheit hinterlassen hatte.

Jasmin konnte kaum noch aufrecht stehen, und auch Renato gähnte andauernd. Trotzdem durften sie sich jetzt nicht gehen lassen und mussten noch zweieinhalb Stunden ausharren. Das Fest hatte in dieser Form nur stattfinden können, weil ihre besten Freunde unermüdlich geschuftet und ihre ganze freie Zeit geopfert hatten.

Konkret war jetzt angesagt: Besteck, Teller, Schalen abräumen, den Geschirrspüler füllen, laufen lassen und ausräumen, die verbliebenen Luftballons aufstechen und entsorgen, das Dekorationsmaterial ordnen, Servietten und Essensreste entsorgen, Tische und Plastikstühle reinigen, den Fußboden wischen und feucht aufnehmen.

Als dies gemeinsam geschafft war, ließen sich die Brautleute von Denise nach Hause fahren. Die war noch immer voller Energie und schwatzte wie ein Buch.

Denise hatte ohne Partner am Fest teilgenommen. Sie hatte sehr jung geheiratet, aber ihre Ehe hatte nicht lange gehalten. Jetzt war sie alleinerziehende Mutter von drei Mädchen. Sie vor allem hatte mit ihrem Einsatz ihren Freunden ein tolles Fest ermöglicht und sich selbst dabei ziemlich einsam gefühlt.

Zuhause angekommen, standen Jasmin und Renato abwechselnd kurz unter die Dusche und ließen sich danach todmüde in die Decken fallen. Sie waren glücklich und erleichtert, aber nicht mehr in der Lage, das zu tun, was man gemeinhin „Vollzug der Ehe“ nennt.

Der nächste Morgen fühlte sich fantastisch an. Es standen keine Verpflichtungen auf dem Programm. In drei Tagen wollten sie aufbrechen, um für zehn Tage das südliche Nachbarland zu bereisen. Renato und Jasmin hatten eng umschlungen geschlafen. Irgendwann in der Frühe hatte er sie aufstöhnen hören: „Verflixt, mein Arm!“, und er hatte still wahrgenommen, wie sie sich den linken Arm massierte, den sie unter seinem Nacken eingeklemmt hatte. Bald war aus ihrer Richtung nur noch ein Schlafgeräusch zu hören gewesen, das ganz entfernt an das Schnurren einer Katze erinnerte.

Es hatte sich bisher nie ergeben, dass sie tagsüber miteinander im Bett liegen konnten. Heute war das anders. Jasmin, die früher aufgewacht war, hatte aus der Küche ein Tablett mitgebracht mit Kaffee, Orangensaft, Brötchen und Marmelade. Nachdem Renato seiner Überraschung einen Moment lang nur mit ungläubigem Staunen hatte Ausdruck verleihen können, aßen sie zusammen eine Wenigkeit und beschlossen, danach auch sich gegenseitig im Bett noch etwas zu genießen.

Renato zog Jasmin nah an sich heran und küsste sie zärtlich mehrmals auf den Hals.

Da klingelte Jasmins Handy. Gloria war am Apparat. Jasmin war bewusst, dass es an Majestätsbeleidigung grenzen würde, ihre Schwester auf später zu vertrösten. Und Renato wusste mittlerweile, dass diese Gespräche mindestens eine Stunde dauerten. Also wand er sich aus den Laken, warf sich den Bademantel über und schlurfte zum Briefkasten, um die Zeitung zu holen.

Wenn zwei eine Reise tun, …

Renato überprüfte zum dritten Mal sein Reisegepäck. Er wollte sicher sein, nichts vergessen zu haben. Zwei Zugtickets für die Reise bis zur Grenze, zwei Zugtickets zum Herumreisen im Urlaubsland, Pass, Bargeld und Checks, dazu der Reisekoffer mit den Kleidern und der kleine Rucksack für den Reiseproviant bei Ausflügen, alles paletti!

Jasmin hatte die entsprechende Ausrüstung für weibliche Reisende, ohne Rucksack, dafür mit einer kleinen Brusttasche für ihre Dokumente und Wertsachen.

Michael hatte darauf bestanden, die Jungvermählten in die Stadt zu fahren, wo sie in einen Nachtzug mit Speisewagen steigen sollten. Sie hatten vor, im Zug erst gemütlich zu essen, um sich dann gestärkt für die Nacht in ihren Liegen zusammenzukuscheln und nach einigen Stunden Schlaf zu entscheiden, an welchem Ort sie erstmals aussteigen und ihr erstes gemeinsames Urlaubsabenteuer bestehen würden.

Michael fand auf Anhieb einen Parkplatz und begleitete seine Freunde zum Perron. Sie waren pünktlich angekommen, der Zug jedoch hatte eine halbe Stunde Verspätung. So hatte Michael Gelegenheit, noch einige praktische Urlaubstipps zu geben. Dann schlenderte er zurück zu seinem Auto.

Renato half Jasmin beim Einsteigen. Sein Magen knurrte. Er hatte seine letzte Mahlzeit bewusst klein ausfallen lassen, um das bevorstehende Mahl in vollen Zügen genießen zu können. Das war nicht Jasmins Art, denn Essen gehörte zu ihren Lieblingsbeschäftigungen.

Da sie während des Wartens ins Gespräch mit Michael vertieft gewesen waren, hatten sie beide nicht darauf geachtet, in welchem Waggon der Speisewagen war. Jasmin fragte deshalb einen Mitreisenden, und der geriet ob der Frage in Rage. „Es gab eine Zugskollision. Sie mussten einen Ersatzzug organisieren. Und der hat keinen Speisewagen. Super, oder? Ich liebe es, wenn meine Ferien so beginnen, und wer weiß, was sonst noch alles passieren wird.“

Diese Aussage bewirkte, dass auch bei Renato die Stimmung in den Keller sackte. Erst jedoch musste er den Mund wieder schließen, denn die Kinnlade war ihm heruntergefallen.

Zum Glück hatte ihnen der gute Michael zum Abschied eine Flasche Rotwein mitgegeben, und Jasmin hatte etwas Salat dabei, der von ihrer letzten Mahlzeit übrig war.

Sie kuschelten sich nachher wie geplant in ihre Liegen. Doch es war definitiv nicht der Ferienstart, den sich Renato erträumt hatte.

Diese Nacht hatte für Renato keinen großen Erholungswert. Jasmin und er waren Rücken an Rücken eingeschlafen, wie sie es gerne taten. Renato war jedoch ständig wieder aufgewacht, erst mit saurem Aufstoßen, weil er etwas zu viel Wein intus hatte, dann mit leichten Rückenschmerzen, dann wegen der Kombination beider Ursachen. Schließlich setzte er sich aufrecht hin, und als Jasmin fröhlich aufwachte, dauerte es noch anderthalb Stunden, bis der Zug im Hauptbahnhof der Metropole einfuhr, wo sie aussteigen wollten.

Dann war es geschafft! Endlich klappte mal wieder etwas. Es tat gut, in einem Café einen starken Espresso zu trinken und dann eine ordentliche Menge Brötchen, belegt mit Käse und Salami, zu verdrücken.

Draußen schien die Sonne, und Renato überblickte durch das halb geöffnete Fenster eine Parkanlage mit Hibiskussträuchern und haushohen Fächerpalmen, in deren Kronen sich ein Schwarm lautstark schreiender Vögel tummelte.

Auf einer Bank saß ein junger Einheimischer mit wettergegerbtem Gesicht und Gelfrisur, in teuren Stoff gewandet. Neben ihm stand eine Frau, ebenfalls jung und elegant gekleidet, und gestikulierte mit beiden Armen.

Renato versuchte, etwas von dieser Unterhaltung mitzukriegen, begriff aber nur, dass die beiden ihre Körpersprache gezielt einzusetzen vermochten. Er sah auch, wie eine schmierige weiße Ladung sich vom Vogelschwarm löste und auf ein Schulterteil des teuren Anzugs des Parkbesuchers niedersauste.

Er war froh, drinnen zu sein und bestellte Brötchen und Kaffee nach.

Jasmin war bis jetzt mit Essen beschäftigt gewesen. Sie folgte nun dem Blick von Renato auf die Szenerie draußen und biss plötzlich ins Leere, weil sie eine aufregende Entdeckung machte.

„Schau mal, die Kinder!“ Eine Gruppe halbwüchsiger Kids hatte das junge Paar im Park in ein Gespräch verwickelt, während sich von der Hinterseite der Bank weitere Kinder unbemerkt nach vorne schlichen.

Jetzt kam unerwartet ein Taxifahrer in hohem Tempo herangebraust, machte mit lautem Quietschen eine Vollbremsung und drehte die Scheibe auf der Fahrerseite nach unten. Er fluchte laut, worauf die Kinderschar aufschreckte und sich in Windeseile in die umliegenden Häuserschluchten verdrückte.

„Scheint noch mal gut gegangen zu sein. Das sollte uns auch als Warnung dienen, die Augen stets offen zu halten.“

Jasmins Blick war in die Ferne gerichtet, auf nichts Bestimmtes, und Renato konnte beinahe hören, wie ihr Gehirn auf Hochtouren arbeitete.

Die Stadt hatte einiges zu bieten. Die frisch Verheirateten hatten im Zentrum für vier Tage eine günstige Hotelsuite gebucht.

Sie blieben am Morgen jeweils lange liegen, bevor sie das reich ausgestattete Frühstücksbuffet aufsuchten.

Danach ging es in ein Museum, ins Kino oder ans Konzert, und einmal machten sie dem Stadtschloss ihre Aufwartung, samt der großzügigen Gartenanlage, die auch viele andere Verliebte anzog.

Abends wählten sie ein Restaurant in Zentrumsnähe aus, wo sie schlemmten, bis sie bei Einbruch der Dunkelheit leicht angesäuselt und glücklich ihre Hotelanlage erreichten und sich dann auf ihre Suite zurückzogen, um noch ein wenig die Zweisamkeit zu genießen.

Jasmin hätte ihren ganzen Urlaub so zubringen mögen, aber am Morgen des vierten Tages sagte Renato, er wolle noch mehr von Land und Leuten kennen lernen. Deshalb schlenderten sie am frühen Nachmittag bei drückender Hitze über den Marktplatz – Jasmin leicht schmollend – und zur Bank, wo Renato Checks zu Geld wechseln wollte, um die Hotelrechnung zu bezahlen. Es klappte beim vierten Geldinstitut und nach drei Kilometern Fußmarsch, aber es klappte, auch wenn die Leichtigkeit des Seins verflogen war und Jasmin eine Blase an der linken Fußsohle hatte.

Weil sie dem Zimmermädchen im Hotel nicht traute, hatte Jasmin sämtliche Wertsachen und Dokumente in ihre Brusttasche gesteckt, welche mit einer Schnalle gesichert war.

Renato hatte ihr den Arm um die Schulter gelegt und sie näherten sich langsam wieder dem Marktplatz. Jasmins Magen knurrte, und auch Renatos Gedanken drehten sich um die nächste Mahlzeit.

Da fiel beiden eine unscheinbare Frau auf, die vor ihnen heftig mit den Armen fuchtelte und unverständliche Worte sprach. Erst jetzt bemerkte Renato, dass die Schnalle von Jasmins Brusttasche offenstand. Auch Jasmin wurde sich dieser Tatsache schlagartig bewusst. Ihr stand der Mund offen, aber sie brachte keinen Ton heraus.

Für einen Moment stand die Zeit still, die Umgebung existierte nicht mehr.

Es war nicht wie bei einem Glücksmoment, wo Wärme ganz langsam den Körper durchströmt. Nein, ganz anders.

Es war wie das langsame Erwachen aus einer Ohnmacht, mit einer Orientierungslosigkeit, die mit der Frage beginnt, ob sich der Körper in der Horizontalen befindet oder in der Vertikalen.

Nachdem diese Frage mit halbwegs zuverlässiger Sicherheit beantwortet werden konnte, kehrten ganz langsam die Geräusche zurück.

Jasmin stand noch immer reglos da, geschockt, und Renato nahm sie einen langen Moment in die Arme. Sie hatte den Atem angehalten und stieß jetzt einen tiefen Seufzer aus.

Dann trennte sie sich mit Vehemenz aus der Umklammerung, riss sich die Brusttasche vom Hals und kontrollierte deren Inhalt.

Natürlich leer! Geld weg, Tickets weg, Kontokarte, Pass …

Sie stierte mit leerem Blick auf einen Punkt zwei Meter vor ihr auf dem Asphalt.

Die Geräusche verstummten erneut. Dann sagte sie, langsam, mit ruhiger Stimme: „Ich will nach Hause. Sofort!“

… der Reise zweiter Teil

Renato erwachte schwitzend aus einem lächerlichen, aber beängstigenden Traum.

Ein kleiner Junge mit fettigen Haaren wollte ihm gerade mit einem rostigen Messer den Penis abschneiden.

Er stellte erschrocken fest, dass er ohne Hosen mitten auf dem Marktplatz stand und die Blicke aller Passanten auf ihn gerichtet waren … Zum Glück nur ein Traum!

„Alles in Ordnung bei dir?“, fragte eine Stimme aus dem Badezimmer nebenan.

Er brauchte eine Weile, bis er wieder wusste, wo er war. In Bergland, in der Ferienwohnung von Utes Onkel Walter, wo sie den Rest ihrer freien Tage verbrachten, nachdem sie ihren Auslandurlaub Hals über Kopf abgebrochen hatten.

Stundenlang hatten sie auf dem Polizeiposten herumhocken müssen für ein Protokoll, ohne Aussicht auf Entschädigung für ihre Verluste. Danach waren sie wieder losmarschiert, um erneut Checks zu wechseln.

Aber jetzt hatten sie ihr Leben wieder im Griff. Ihr Domizil lag verkehrsabgewandt an einem kleinen Hang am Rand eines Kiefernwäldchens.

Mein Gott, wenn sie Ute und Michael nicht hätten!

Die Frage von Jasmin kam ihm wieder in den Sinn. „Ja. Ich denke schon. Warum fragst du?“ „Du hast geschrien. Ziemlich laut!“

Die Sache mit der Geduld

Er befand sich im Eingangsbereich des Discountgeschäfts und wartete.

Nach ihren ersten gemeinsamen Ferien waren sie beide wieder arbeiten gegangen, Jasmin ins Büro, Renato auf den Bau.

Und bereits war eine Arbeitswoche geschafft. Samstagmorgen, den Kühlschrank füllen!

Sie hatten an der Kasse bezahlt. Dann war Jasmin nochmals zurückgegangen, weil sie etwas vergessen hatte.

Renato stand mit dem prall gefüllten Einkaufswagen da, aber er verzichtete lieber auf die Begleitung, als sich ein zweites Mal durch die Menschenmenge zu zwängen.

Nach einer Weile schob er den Wagen in die Parkgarage und verstaute die Einkäufe im Auto.

Erneut stand er da, neben den Toiletten, am Warten, und musste von Zeit zu Zeit zur Seite treten, um den anderen Kunden nicht im Weg zu stehen.

Bisher hatte er wenig Zeit mit Einkaufen vergeudet, aber er liebte Jasmin, und sie liebte es, dass er in ihrer Nähe war.

Was ihm nicht gefiel, war ihre Unschlüssigkeit, das Abwägen, etwas zu kaufen oder doch eher nicht, am Schluss aber doch. Oder doch nicht, aber etwas Ähnliches. Er wollte sie deswegen nicht kritisieren.

Renato konnte einfach nicht nachvollziehen, wie jemand so viel Zeit darauf verwandte, banale Dinge zu tun, wo doch der Tag nur eine begrenzte Anzahl Stunden hatte.

Diese Zeit würde irgendwann im Verlauf des Tages fehlen.

Jasmin würde es später so begründen, dass Einkaufen in ihrem Leben etwas Spannendes sei und ihr die Gelegenheit zum Knüpfen von Kontakten gebe.

Und so stand sich Renato die Füße in den Bauch und wartete.

Irgendwann kam sie dann zurück, ein Strahlen auf dem Gesicht, einen weiteren prall gefüllten Einkaufswagen vor sich her stoßend.

Grauer Alltag

Mitte November. Der Tag begann mit Nieselregen. Leichter Nebel hüllte die Landschaft ein und erweckte den Anschein, das Land sei eine spärlich bewohnte Ebene.

Jasmin musste heute nicht zur Arbeit. Renato hatte verschlafen. Da er sich mittlerweile nach ihrem lauteren Wecker richtete, hatte er das Geläut seines eigenen überhört.

Die Verspätung war nicht gravierend. Mit einer Temposteigerung und etwas Glück sollte die verlorene Zeit aufzuholen sein.

Gleichwohl trübte es seine Laune, den Kaffee hastig herunterstürzen und die morgendlichen Abläufe im Zeitraffer bewältigen zu müssen.

Dazu kam, dass er in dieser Woche von seiner Firma dazu eingeteilt war, im Eiltempo eine Metallfassade hochzuziehen und das hohe Arbeitstempo ließ bereits bei einigen Mitarbeitern die Nerven blank liegen. Nun machte auch noch das Wetter Kapriolen, und er würde bei dieser Ausgangslage mit seinem Volvo nur langsam vorankommen, würde es möglicherweise all seinen Bemühungen zum Trotz nicht rechtzeitig schaffen.

Hastig verabschiedete er sich von Jasmin, gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und eilte aus der Tür. Der Volvo sprang gleich an, gute alte Kiste!

Renato konzentrierte sich vollkommen auf den zähfließenden Verkehr. Je später man unterwegs war, desto langsamer kam man vorwärts.

Sein Chef würde ihn anschnauzen. Sollte er doch. Dann würde er grad seine Stelle kündigen. Sei nicht kindisch, rief er sich selber zur Ordnung und entspannte sich ein wenig. Was war nur los mit ihm? Wo war die Gelassenheit geblieben, die ihn normalerweise auszeichnete?

Als er auf der Baustelle auftauchte, hatten seine Kollegen bereits die Arbeitsmaterialien auf dem Gerüst platziert. Die innere Alu-Verschalung hatten sie gestern fertiggestellt. Heute musste die Isolation aufgeklebt werden, damit anschließend die Außen-Verschalung angeschraubt werden konnte.

Das Arbeitsgerüst bestand aus mehreren aufrechten Metallstreben, auf denen im Höhen-Abstand von zwei Metern drei Lagen Schaltafeln lagen. Auf jeder Arbeitshöhe war ein Arbeiter eingeteilt, der einen Kessel Kontaktkleber hatte, dazu einen groben Pinsel und einen Stapel Isolationsplatten aus Glasfasern.

Herr Geißdörfer, der Disponent, suchte gleich den Augenkontakt mit dem heranstürmenden Renato, die Stirn leicht gekräuselt. Bevor er etwas sagen konnte, polterte Renato los: „Sag jetzt einfach nichts, oder ich gehe gleich wieder!“ „Ist ja gut, wir haben alle mal einen schlechten Tag. Wäre einfach schön, den Tag mit einer Begrüßung anzufangen.“ „Entschuldigung Hans, ich kenne meine Verantwortung, ich möchte jetzt einfach mit der Arbeit anfangen. Schönen Tag auch.“ „Guten Morgen, Renato. Du weißt ja, wie’s läuft. Du arbeitest heute ganz oben. Das Material für dich liegt bereit.“ Hans wendete sich ab und machte beim Materialcontainer einige Notizen. Renato war ihm dankbar, dass er so souverän auf seine Bemerkungen reagiert hatte. „Ich muss mich endlich in den Griff kriegen“, wurde ihm bewusst. War ja nicht anderer Leute Fehler, dass er so spät dran war.

Renato holte seine Arbeitsschuhe aus dem Container und machte mit den Nesteln einen Doppelknoten. Sicher ist sicher. Dann kraxelte er auf das Gerüst. Ganz oben natürlich. Wer als letzter kommt, kann nicht mehr wählen.

Er legte eine Isolationsplatte griffbereit und stellte den Kübel mit dem Kleber neben sich.

Er befand sich am rechten Rand des Gerüsts und musste sich nach links durcharbeiten. Die Innenverschalung bestand aus Elementen von 50 cm Breite, die mit einer abstehenden Lamelle endeten und übereinander verschraubt waren. Er musste zuerst die unterste Lage Isolation aufkleben, 25 Platten von je einem Meter Länge. Nachher kamen drei weitere Lagen, sodass er bis zum Abend genau 100 Platten geklebt hätte. Das war an einem Arbeitstag locker zu schaffen.

Für die unterste Lage musste er sitzend arbeiten. Und schon begann er sich wieder zu ärgern. Denn die Schaltafeln waren völlig nass. Zwar hatte sich der Nebel etwas gelichtet, aber die Feuchtigkeit war allgegenwärtig. Verdammt, was bist du doch für ein Nörgler. Mit dir ist es ja nicht auszuhalten, redete er leise mit sich und war froh, dass er seine Arbeit heute allein verrichten konnte. Er wäre momentan wahrlich kein guter Gesprächspartner.

Dann nahm er den Deckel vom Kübel und eine starke Welle Lösungsmittel schwappte ihm entgegen. Er atmete tief ein und fühlte sich gleich ein wenig berauscht.

Renato tunkte den Pinsel in den Kleber und bestrich das Alu-Element. Danach legte er die Glasfaserplatte auf die bestrichene Stelle und drückte sie fest. Er holte den Kübel und eine neue Platte und setzte sich einen Meter weiter links auf die Schaltafel, um die nächste Platte zu kleben. Langsam fand er seinen Arbeitsrhythmus. Seine Stimmung hellte sich auf und er fühlte sich wieder eins mit sich.

Bis zur Mittagspause hatte er die Hälfte seines Tagespensums geschafft. Sandwich und Bier schmeckten ihm, und er beteiligte sich an den belanglosen Gesprächen mit seinen Kollegen, auch mit Eugen, der heute auf der Baustelle direkt unter ihm arbeitete und den er nicht sonderlich gut mochte. Er empfand Eugen als Aufschneider und Schwätzer.

Zu schnell war die Mittagspause vorbei und es ging wieder an die Arbeit. Renato arbeitete mechanisch, ohne mit dem Kopf recht bei der Sache zu sein. Dann wurde ihm plötzlich bewusst, dass Eugen unter ihm sich etwa vier Meter weiter links befand. Er schaute auf die Armbanduhr, die inzwischen repariert war, und stellte fest, dass in einer Dreiviertelstunde Feierabend sein würde. Er war stark in Verzug.

Renato sputete sich und erhöhte sein Arbeitstempo. Es gelang ihm, Zentimeter um Zentimeter aufzuholen, und als Eugen bei Arbeitsschluss die letzte Platte geklebt hatte, war für Renato noch eine einzige Platte zu setzen. Er grub den Pinsel tief in den Kleber und holte mit Schwung aus, um den Kleber auf das Element zu bringen, als ein leichter Windstoß den Kleber vom Pinsel löste und nach unten verfrachtete, genau auf Eugens Haarschopf.

Renatos Puls setzte für einen Schlag aus, dann hörte er von unten: „Du verdammtes Arschloch! Das war Absicht!“ Und schon erschien Eugens Kopf mit wutentbranntem Blick auf der Anhöhe von Renato. Der blonde Haarschopf triefte goldfarben vom Kleber.

In dieser Situation bleibt nur die Flucht, rauschte es Renato durch den Kopf, und er rannte nach rechts zum entgegengesetzten Ende des Gerüsts. So schnell ihn die Beine trugen, kletterte er abwärts. Er huschte um die Ecke und wollte erst mal sehen, was weiter passieren würde.

Aus einiger Entfernung hörte er Eugen fluchen, dann heulte ein Motor auf und er sah das Gefährt von Eugen samt seinem Besitzer wegflitzen.

Renato stieg nochmals auf das Gerüst, klebte seine letzte Platte und räumte seine Arbeitsstelle auf. Nachher klaubte er auch das Material von Eugen zusammen. Kleinlaut verabschiedete er sich von seinen Kollegen und fuhr nach Hause.

Jasmin hatte den freien Tag genossen. Sie hatte ausgeschlafen, ein wenig in einem Magazin gelesen und lange mit Gloria telefoniert. Dann eine Kleinigkeit gegessen und mit der betagten Nachbarin Kaffee getrunken.

Gestern war ihr letzter Arbeitstag gewesen vor ihrer Babypause. In zwei Monaten sollte es so weit sein. Sie würde ein Kind zur Welt bringen, Mutter sein, in einer neuen Rolle aufgehen.

Renato und sie würden Eltern werden. Wie würde er sich als Vater machen?

Sie zweifelte nicht daran, dass er ein guter Vater sein werde, denn sie hatte ihn mit Jonas beobachtet. Renato hatte einen sehr schönen Draht zu seinem Patenkind, und Jonas fühlte sich ebenfalls wohl in Renatos Gegenwart.

Renato hatte die Schwangerschaft mit großer Begeisterung aufgenommen. Er sehnte sich das Kind von Herzen herbei.

Das war die schöne Seite an der Geschichte. Weniger schön war, dass die Beziehung zu ihrem Mann sich in letzter Zeit verändert hatte.

Er war im Moment wie ein Bruder zu ihr, zwar vertraut, aber auch distanziert. Er hatte längere Zeit nicht mehr mit ihr geschlafen, und die Zärtlichkeiten, die sie so genossen hatte, blieben häufig aus.

Es waren diese Aufmerksamkeiten gewesen, die ihr Trost gespendet hatten für den Verzicht auf ihre Familie. Sie hatten ihr das Heimweh gemildert. Und jetzt spürte sie wieder, wie ihr die Wärme fehlte, ausgerechnet jetzt, da sie ein Kind zur Welt bringen würde. Und sie wollte eine gute Mutter sein.

An diesem Abend kam Renato später nach Hause als gewohnt.