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Anna und Yvonne, zwei ehemalige Schulfreundinnen, wollen noch einmal in Erinnerung an die gemeinsam erlebte Jugend einige Tage zusammen verbringen. Sie haben dafür Dierhagen im Oktober ausgewählt, einen beschaulichen Ort an der Ostsee. Die eher intuitive, der Spur ihres Herzens folgende Anna und die strukturierte, rationale und urbane Yvonne sind sich nach so vielen Jahren zunächst noch etwas fremd. Jede hat ihren ganz speziellen Lebensweg beschritten, der sie aber zu ähnlichen Erkenntnissen geführt hat, wie sich in langen, sehr offenen und persönlichen Gesprächen herausstellt. Sie genießen dabei die zauberhafte Atmosphäre der Küstenlandschaft mit ihrer typischen Stimmung von Grenzenlosigkeit. In wenigen Tagen gelingt es ihnen aufgrund ihrer gegensätzlichen Charaktere und in Erinnerung an ihre Freundschaft, sich gegenseitig zu inspirieren und gemeinsam zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Ihre Themen sind so vielfältig wie das Leben selbst: Liebe und Partnerschaft, Selbstbestimmung und Freiheit, Lebenssinn und Lebensfülle, aber auch Fragen des Lebensendes. Im Epilog nimmt die Autorin diese Themen nochmals auf und beleuchtet sie von verschiedenen Seiten. Es geht letztendlich um Glück und Zufriedenheit, um das einverstanden sein und die Aussöhnung mit der persönlichen Biografie.
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Seitenzahl: 169
Veröffentlichungsjahr: 2023
Gerda Rosenberger
Warum nicht Dierhagen
oder
Wohin die Reise geht
Copyright: © 2023 Gerda Rosenberger
Lektorat: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Umschlag & Satz: Erik Kinting
Verlag und Druck:
tredition GmbH
An der Strusbek 10
22926 Ahrensburg
Softcover
978-3-347-93552-5
Hardcover
978-3-347-93553-2
E-Book
978-3-347-93554-9
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Erster Tag
Anna blieb stehen, beugte sich hinunter und begann, ihre Schuhe auszuziehen. Yvonne schaute ihr dabei zweifelnd zu: »Was machst du denn da? Du wirst doch nicht etwa barfuß laufen wollen?«
»Wie du siehst, habe ich das vor.« Anna hielt inzwischen Schuhe und Socken in der Hand und hatte sich die Hose hochgekrempelt. »Wir sind schließlich an einem astreinen Sandstrand und da gehört das einfach dazu.«
»Du holst dir nur kalte und schmutzige Füße!« Yvonne zog leicht indigniert die Augenbrauen hoch. Mag sein, dass Barfußlaufen im Sand ein gutes Körpergefühl erzeugte, aber sie scheute die Unbequemlichkeit.
Anna und Yvonne hatten sich auf ein Wagnis eingelassen. Sie kannten sich seit der Schulzeit, waren streckenweise sehr eng befreundet gewesen, sogenannte beste Freundinnen, die sämtliche Geheimnisse miteinander teilten und im täglichen Austausch waren. Sie waren gegensätzlich und ergänzten sich dennoch, sodass jede von der anderen profitieren konnte, keine Rivalinnen um das bessere Aussehen, den größeren Erfolg bei Jungs oder dergleichen, niemals. Sie gingen sehr kameradschaftlich miteinander um und unterstützten sich dabei. Die Rollen waren jedoch eindeutig verteilt.
Anna war eine Spätzünderin, verträumt, unkonzentriert, weitestgehend desinteressiert am Unterrichtsstoff, relativ phlegmatisch, aber jederzeit zu Späßen aufgelegt. Sie lachte oft und herzhaft über alles Mögliche, was bei den Erwachsenen, insbesondere bei den Lehrkräften meist nur verständnisloses Kopfschütteln erzeugte. Sie war unreif und fühlte sich auch so. Die Unbeschwertheit und das Unernste wollte sie lange Zeit nicht aufgeben, selbst als viele ihrer gleichaltrigen Kameradinnen längst nach sexuellen Abenteuern strebten und morgens miniberockt und dramatisch geschminkt das Klassenzimmer betraten. Diese Phase übersprang sie ganz einfach, sie fand definitiv nicht statt. Das Erwachsenwerden begann erst mit voller Wucht, als sie mit 21 Jahren das Elternhaus verließ und ihr Studium in Stuttgart begann.
Yvonne dagegen war pragmatisch, vielseitig interessiert, fest auf dem Boden stehend und gut strukturiert. Regeln, die sie akzeptieren konnte und die sie überzeugten, waren ihr wichtig. Sie bildeten das Rüstzeug für ihre Überlegungen, Entscheidungen und für ihr Handeln. Sexuelle Abenteuer gehörten für lange Zeit definitiv nicht dazu. In diesem Punkt waren sie sich sehr ähnlich.
Anna war im Schlepptau von Yvonne. Yvonne plante, machte Vorschläge, hatte Ideen und Anna machte mit, denn sie alleine hätte nichts zustande gebracht, das war ihr sehr wohl bewusst. Sie hatte durchaus Abenteuerlust, es fehlte jedoch der Wille zur Umsetzung. Die beiden Freundinnen hielten zusammen wie Pech und Schwefel, sehr zum Ärger von Annas Mutter, die ihre mütterliche Autorität gefährdet sah. Wenn Anna jedoch von etwas überzeugt war – und das war sie bezüglich Yvonne – war sie eine uneinnehmbare Festung.
Nach beendeter Schulzeit hatten sie noch einige Jahre engeren Kontakt, doch dann trennten sich ihre Wege. Annas Entwicklung nahm einen völlig anderen Verlauf als Yvonnes. Viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, sahen sie sich äußerst selten und erinnerten sich nur noch an den jeweiligen Geburtstagen aneinander. Sie hatten sich nie gestritten, hatten kaum diskutiert über ihre Lebensentscheidungen, aber sie stellten irgendwann fest, dass sie sich nicht mehr allzu viel zu sagen hatten. Trotz allem blieb ein kleiner Rest der grundsätzlichen Übereinkünfte von einst bestehen. Jede bewahrte für sich diese kostbare Erinnerung an vergangene Zeiten – es war der unveränderliche Kern einer Freundschaft am Beginn des Abenteuers des Erwachsenwerdens.
Das Wagnis, das beide nun eingingen, war der Entschluss, einige Tage zusammen zu verbringen, in Erinnerung an früher, als sie gemeinsam verreisten, um die Welt kennenzulernen. Sie übernachteten in Jugendherbergen, lernten junge Leute aus anderen Ländern kennen und erlebten gemeinsam größere und kleinere Abenteuer. Das war jetzt gute 50 Jahre her und wann, wenn nicht jetzt, sollten sie den Versuch einer Erinnerungsreise starten? Das Alter klopfte bereits leise mit seinen Beschwernissen an die Tür und erinnerte sie daran, dass die Lebenszeit, zumal die gute, doch auch ihre Grenzen hatte. Sie waren neugierig aufeinander und gleichzeitig unsicher, ob die Begegnung nicht in einer Enttäuschung enden könnte. Letztendlich siegte jedoch bei beiden die Neugier aufeinander und die Erinnerung an die vielen gemeinsamen Erlebnisse.
Anna, als Fan der Ostsee, hatte den Vorschlag gemacht, einige Tage in Dierhagen zu verbringen, einem Ort, den sie ob seiner Ruhe und Abgeschiedenheit sehr schätzte. Hier konnte man bei Spaziergängen an den endlos langen Sandstränden zu sich kommen und abschalten. Yvonne ließ sich überzeugen, obwohl ihr eine Städtetour lieber gewesen wäre.
Während sie gemächlich den Strand Richtung Nordosten entlangliefen, dort wo Strand, Meer Himmel und vereinzelte Sandinseln eine Stimmung grenzenloser Weite und Ewigkeit erzeugten, war es Anna, die das Laufen dicht am Ufer, wo der Sand feucht und fest war, zutiefst genoss, während Yvonne ein wenig verloren in ihrer todschicken Freizeitmontur neben ihr herlief. Es war offensichtlich niemand da, dessen Blicke sie auf sich hätte lenken können, außer dem Strand und Anna. Anna bemerkte es und lächelte still in sich hinein. Sie wusste, dass Yvonnes Stimmung langsam zu schwanken begann, sie konnte ihre Enttäuschung förmlich spüren.
»Ist das alles, was Dierhagen zu bieten hat?«, fragte Yvonne in die leicht angespannte Atmosphäre hinein.
»Du bekommst hier Innerlichkeit, Konzentration und kreatives Denken geschenkt. Deine Fantasie fängt an, dir neue Blickwinkel zu eröffnen. Die Farbigkeit des Denkens und Wahrnehmens wird intensiver. Was soll ich sagen? Du bekommst etwas Immaterielles – lass dich einfach darauf ein.« Anna hatte dies mit einer gewissen Ernsthaftigkeit gesagt. Sie sah Yvonne dabei von der Seite an, aber Yvonne zeigte keine Reaktion.
»Die paar Buden und Restaurants haben wir auch schon gesehen. Die Speisekarten geben nicht allzu viel her. Es gibt doch an der Ostsee ganz andere Orte, wo was geboten wird, wo es was zu sehen gibt. Ich finde die wenigen Leute, die hier rumlaufen, sehen auch total langweilig aus. Lass uns doch morgen einen Ausflug machen!« Yvonnes Laune war tatsächlich an einem Tiefpunkt angelangt.
Anna kannte das von früher. Yvonne konnte bei Aussicht auf Events vor Begeisterung sprühen. Das war vor allem dann der Fall, wenn diese sie in Kontakt mit interessanten Leuten brachten. Dann gingen Fantasie und Temperament mit ihr durch und steigerten sich oft zu einer übertrieben freudigen Erwartungshaltung, die im Prinzip nur mit einer Enttäuschung enden konnte. Anna hatte dabei immer schon die Aufgabe übernommen zu mäßigen, die anfängliche Euphorie zu dämpfen und die spätere Enttäuschung abzufedern. Sie machte es auf ihre typische spöttische, manchmal auch zynische Weise. Sie brachte die möglichen Unzulänglichkeiten und Risiken eines Unterfangens auf den Punkt, ließ es manchmal sogar in einem fragwürdigen bis kritischen Licht erscheinen und ergötzte sich bei der Vorstellung gewisser Situationskomiken. Hier trafen sie sich dann: Bei Humor und Lachen. Meistens waren die Dinge nicht so großartig, wie Yvonne sie beschrieb, aber auch nicht so düster, wie sich Anna das vorstellte.
Anna fiel eine denkwürdige vierwöchige Reise nach Schottland ein mit einem dafür typischen Erlebnis: Sie hatten sich in einer Jugendherberge eingerichtet, als Yvonne mit einem verschwörerischen Blick auf sie zukam. Ob sie denn den jungen Mann aus Kanada schon bemerkt hätte? Sie lächelte vielsagend, denn sie wollte ihn unbedingt kennenlernen. Sie wusste bereits, dass er Mark hieß, aus Toronto stammte und Sinologie studierte. Yvonne hatte die grandiose Idee zu kochen und ihn zu fragen, ob er mitessen wollte. Sie stellte sich ein bayrisches Essen vor und zauberte zu Annas Überraschung eine Flasche Bier aus dem Koffer, die sie – vorausschauend wie sie war – genau für eine solche Gelegenheit mitgenommen hatte. Anna ahnte bereits, wer kochen und die Zutaten besorgen sollte. Das Bier würde ihrer Meinung nach zwar durchaus genügen, aber Yvonne hatte bereits einen Plan, nämlich dass es Fleischpflanzerl mit Kartoffelsalat geben sollte. Sie wusste auch, wo ein Laden war, und selbst Annas Einwand, dass es sich doch um einen Vegetarier handeln könnte, nutzte nichts. »Dann isst er halt nur den Kartoffelsalat«, war die lakonische Antwort. Yvonne war in einem Modus, der jeden Einwand im Keim erstickte. Anna sah sich im Rückblick in der spartanisch eingerichteten Küche mit der uralten Pfanne auf dem vorsintflutlichen Gasherd hantieren und sie wusste auch noch, dass sie ziemlich schlechte Laune hatte. Yvonne lief zu großer Form auf, während Mark scheu lächelnd und relativ einsilbig der Einladung zustimmte. Er war groß, hatte dunkle Locken und war sehr sympathisch, aber auch ziemlich schüchtern, also ganz Yvonnes Typ. Sie bequatschte ihn und versuchte, irgendwie Stimmung zu erzeugen, aber es wollte nicht so recht gelingen. »Der interessiert sich doch gar nicht für dich«, raunte ihr Anna mit einer gewissen Giftigkeit zu. »Bist wohl eifersüchtig?« Yvonne hatte ihr überlegenes Gesicht aufgesetzt und Anna kam sich wie ein Lakai vor. Das Essen verlief ziemlich schweigsam und auch das Bier vermochte nichts daran zu ändern. Mark bedankte sich schließlich höflich für die Einladung, es hätte ihm gut geschmeckt. Der nun zu erwartende gemütliche Teil des Abends fiel allerdings aus, denn Mark erhob sich und meinte entschuldigend, er müsse noch mit seiner Freundin in Toronto telefonieren. Yvonne war wie vom Donner gerührt und sprachlos, während sich Anna ein Lächeln nicht verkneifen konnte und auch nicht den Satz: Ich hab’s dir ja gleich gesagt. Am andern Tag war alles vergessen und Yvonne meinte nur noch, dass es zum einen doch ein ganz netter Abend und zum anderen Mark immerhin einen Versuch wert war. Dem konnte Anna durchaus zustimmen.
Auf ihren zahlreichen Reisen erlebten sie von daher viele kleine Abenteuer, die sie eben nur gemeinsam bestreiten konnten. Yvonne hatte für alles einen durchdachten Plan, Anna nie. Sie äußerte höchstens Wünsche, die Yvonne versuchte zu erfüllen. Sie war da recht solidarisch. Ansonsten ließ sie sich von Yvonne die Zeit gestalten, die vor allem mit Besichtigungen von irgendwelchen geschichtlichen beziehungsweise kulturellen Einrichtungen gefüllt wurde. Yvonne las dabei an Ort und Stelle Wissenswertes aus dem Reiseführer vor. Anna fand das ganz amüsant, konnte sich allerdings nichts merken. Wozu auch. Während Yvonne unter jeden Programmpunkt ein Häkchen setzte (erledigt), jeden Abend ihr Reisetagebuch führte oder endlos Postkarten an Bekannte und Freunde schrieb – sie hatte eine Liste mit Adressen bei sich, die sie durchstrich, wenn die Karte versandt war –, ließ sich Anna durch den Tag treiben, nahm Stimmungen, Gerüche und Farben auf, beobachtete Menschen, gerne stundenlang in einem Café auf einem belebten Platz sitzend, und hing ihren Gedanken nach.
Anna kam sich im Rückblick unendlich jung vor. Das Leben hatte sie später ziemlich gebeutelt. Von der Beschaulichkeit dieser zauberhaften Zeit, als alles neu und besonders war, blieb nicht allzu viel übrig. Es gab aus heutiger Sicht ein damals und ein später dann, wobei das damals eine sehr kurze Zeit umfasste und das später dann vergleichsweise lange dauerte. In der Erinnerung allerdings war es genau umgekehrt: Die Zeit des Erwachsenwerdens und Staunens nahm einen viel breiteren und farbigeren Raum ein als das spätere Leben. Sie wusste auch noch ganz genau, wann diese Zeit des Suchens und Umherstreifens zu Ende war. Sie war 26 Jahre alt, das Studium beendet und sie wollte eine Reise in den Tessin machen. Zwei Wochen mit dem Rucksack unterwegs zu sein mit Bus und Eisenbahn, in alter Tradition von einer Jugendherberge in die andere ziehend, stellte sie sich als schönen Abschluss dieser Zeit vor. Sie war damals fasziniert von Hermann Hesse, hatte all seine Werke gelesen und war auf Spurensuche. Sie besuchte das Grab in Montagnola, das Papageienhaus in Carona aus Klingsors letzter Sommer und durchstreifte die umliegenden Wälder. Sie kehrte auf einem einsamen Gehöft ein, das von studentischen Aussteigern betrieben wurde, und überlegte sich kurzfristig, dort eine Zeit zu verbringen. Sie trank Rotwein aus Tassen – wie Hesse es beschrieben hatte – und fühlte sich so frei wie nie mehr in ihrem Leben. Sie sah sich im Garten der Luganer Jugendherberge sitzend folgende Zeilen notieren: Hier gehts mir gut, hier möchte ich bleiben. Ich fürchte nicht die Einsamkeit. Doch andere Winde werden wehen und treiben mich fort und fort und weit … Es war Juni 1979 und sie wusste, dass die Zeit der grenzenlosen Offenheit und Neugierde zu Ende gehen würde.
»Warum überhaupt Dierhagen?« Platzte Yvonne in Annas Gedankenwelt hinein. Sie ließ nicht locker und fing an, sich in etwas Enttäuschendes hineinzudenken.
Dabei waren sie gerade erst angekommen und es lag eine ganze Woche vor ihnen. Eine Zeit ohne Plan, frei zur individuellen Gestaltung – ein wahrer Horror für Yvonne. Sie spürte, wie sich in ihr ein Abgrund an Ödnis und Langeweile auftat und bereute bereits ihren Entschluss, dem gemeinsamen Vorhaben zugestimmt zu haben. War es tatsächlich eine gute Entscheidung gewesen, nach Jahrzehnten wieder einen gemeinsamen Urlaub zu verbringen? Hatten sie sich denn noch etwas zu sagen außer dem Beschwören vergangener und im Rückblick verklärter Episoden? Dieses entsetzliche Weißt du noch?, das ältere Herrschaften gerne pflegten. Anna war allerdings entschieden der Ansicht gewesen, dass eine gemeinsam verbrachte Zeit für sie beide eine große Bereicherung sein würde. Das aktive Leben – Berufstätigkeit, Kindererziehung, Partnerschaftsthemen, Hausbau, Betreuung der Eltern et cetera – lag bei beiden weit zurück. Die Perspektive auf das Leben hatte eine andere Färbung erhalten und Anna fand, dass sie sich doch viel zu erzählen hätten auf der Basis der gemeinsam verbrachten Jugendzeit. Ganz bewusst hatte sie kein Programm gestaltet, sondern nur Zeit und Ort gewählt: Dierhagen im Oktober. Sie war sich sehr wohl bewusst gewesen, dass Yvonne Schwierigkeiten mit der unstrukturierten Zeitmenge bekommen würde, aber das Risiko nahm sie in Kauf.
Plötzlich spurtete Yvonne neben ihr los und rannte 100 Meter den Strand entlang, kam zurück, stoppte vor Anna und begann einige Meter auf den Händen zu laufen.
»Das ist das Ergebnis meiner Yogaübungen, die ich seit dreißig Jahren mache«, sagte Yvonne schwer atmend, als sie wieder auf den Füßen stand.
Anna war erstaunt, aber auch belustigt: »So eine akrobatische Einlage kann ich nicht bieten«, meinte sie.
Yvonne war tatsächlich immer schon die Sportlichere von beiden gewesen. Sie konnte exzellent Ski fahren und war eine sehr gute Leichtathletin und Turnerin gewesen. In der Schule erhielt sie immer Bestnoten. Anna sah sie im Rückblick hochelegant und wagemutig am Reck turnen, während sie sich allenfalls blaue Flecken zuzog. Sie war eher bequem gewesen und kam sich schwerfällig vor. Im Fach Leibesübungen kam sie über ein befriedigend nicht hinaus. Später entdeckte sie den Reitsport für sich, den sie immer noch betrieb und der ihrem Naturell sehr entgegenkam. Man konnte die Sportmenge doch sehr gut selbst steuern und wenn man sich nur durch den Wald tragen lassen wollte, dann war es ihrem Pferd gerade recht. In mancher Hinsicht waren sie sich eben treu geblieben, Anna und Yvonne.
»Wir könnten heute in der Abenddämmerung in den Norden fahren, dorthin wo das Land ganz allmählich ins Meer übergeht. Wenn man den Horizont betrachtet, weiß man nicht, wo der Himmel beginnt und das Wasser endet, traumhaft. Und das Beste: Dann kommen die Kraniche mit lautem Geschrei vom Land, wo sie tagsüber gefressen haben, und lassen sich zum Schlafen im Wasser nieder.« Annas Stimme hatte etwas Schwärmerisches. Sie sah vor sich bereits die Vögel vor dem pastellfarbenen Abendhimmel und hörte ihr lautes Rufen. Sie hatte deshalb extra ein Fernglas mitgenommen. Die in Formation fliegenden großen Vögel lösten in ihr ein Gefühl des Fernwehs, der Unendlichkeit und des Einsseins aus. Eins mit der Natur, mit der Situation, mit etwas Größerem, als sie es war.
Yvonne schwieg. Sie spürte Annas Ergriffenheit und wollte nicht mit einer trockenen Bemerkung stören. Tatsächlich fand sie die Vorstellung, sich ein steifes Genick zu holen, bei der Betrachtung der anfliegenden Kraniche und der in ihren Augen einsilbigen Landschaft, nicht besonders attraktiv. Sie hatte Annas Welt nie so wirklich verstanden. Im Gegensatz zu früher ließ sie sich heute aber inspirieren, weg vom Nützlichkeitsdenken, hin zum Träumen. Sie waren eben nicht nur gegensätzlich, sondern ergänzten sich in einer gewissen Hinsicht. »Ich freue mich auf den kleinen Ausflug«, hörte sich Yvonne sagen, »und überlasse dir gerne die Führung dabei. Mach dir keine Gedanken, dass ich mich langweilen könnte. Ich lasse mich gerne mal auf was ein, was mir alleine nicht in den Sinn käme.«
Anna schwieg überrascht. »Komm«, sagte sie dann, »kaufen wir da vorne an der Bude eines dieser köstlichen Heringsbrötchen und was zu trinken. Wir haben Zeit in Hülle und Fülle. Wenn wir es tatsächlich nicht mehr aushalten miteinander, können wir auch vorzeitig wieder abreisen, das verspreche ich dir.«
»Kannst du denn Gedanken lesen?« Yvonne lächelte.
»Nicht generell, aber ich kenne dich eben schon sehr lange«, lachte Anna.
Die anfangs etwas verkrampfte Stimmung begann sich zu lösen und zu entspannen.
»Mein Weg ging vom Fühlen zum Rationalisieren«, fuhr Anna fort, »und deiner umgekehrt. In der Mitte treffen wir uns dann. Wir haben uns beide viel gegeben, es war uns nur nicht so wirklich klar. Es dauert auch lange, bis man lernt das, was man fühlt, denkerisch zu erfassen und dann auch noch zu kommunizieren. Ich liebe diese Art von Gesprächen. Viele Menschen machen jedoch aus ihrem Herzen eine Mördergrube. Niemand darf hineinschauen. Tatsächlich haben wir doch alle unsere Stärken und Schwächen, machen Fehler und täuschen uns. Das macht doch unsere individuelle Eigenart aus. Wozu denn die ganze Show um Persönlichkeit und Performance? Es ist doch so mühsam, ständig die Oberfläche glatt zu polieren und zum Glänzen zu bringen! Was uns Menschen verbindet, ist unsere Ähnlichkeit, nicht die Unterschiedlichkeit. Was uns aneinander fasziniert, ist jedoch die Unterschiedlichkeit im Ähnlichen, die unterschiedliche Wahrnehmung des Gehörten, Gesehenen und Erlebten. Stell dir vor, wie langweilig die Welt wäre, wenn es diese Unterschiedlichkeit nicht gäbe. Man muss halt ein bisschen wegkommen von den Normen und Hierarchien, ein bisschen unabhängig werden vom Zeitgeist und das fällt wohl vielen schwer.«
Yvonne blieb überrascht stehen und musterte Anna genau. »Was redest du da? So kenne ich dich wirklich nicht! In den vielen Jahren, in denen wir wenig miteinander zu tun hatten, hast du eine regelrechte Metamorphose gemacht. Du hast auch einen völlig anderen