Warum sie sterben musste - Mindy Mejia - E-Book

Warum sie sterben musste E-Book

Mindy Mejia

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Beschreibung

Sie war eine gute Schülerin. Sie war eine gute Tochter. – Sie war nicht die, für die man sie hielt ... und musste dafür mit dem Leben bezahlen: Für Sheriff Del Goodman bricht eine Welt zusammen, als er in der durch zahlreiche Messerstiche grausam zugerichteten weiblichen Leiche, die in einer verlassenen Scheune gefunden wurde, Henrietta Hoffman erkennt. Hattie, die einzige Tochter seines besten Freundes, die für Del fast wie ein eigenes Kind war. Er schwört, ihren Mörder zur Strecke zu bringen, doch je tiefer Del nachforscht, umso mehr wird alles erschüttert, was er über Hattie zu wissen meinte. Offenbar hatte die junge Frau viele Gesichter, und sie spielte ein gefährliches Spiel – mit einem viel zu hohen Einsatz …

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Buch

Sie war eine gute Schülerin. Sie war eine gute Tochter. Sie war nicht die, für die man sie hielt – und musste dafür mit dem Leben bezahlen …

Für Sheriff Del Goodman bricht eine Welt zusammen, als er in der durch zahlreiche Messerstiche grausam zugerichteten weiblichen Leiche, die in einer verlassenen Scheune gefunden wurde, Henrietta Hoffman erkennt. Hattie, die einzige Tochter seines besten Freundes, die für Del fast wie ein eigenes Kind war. Er schwört, ihren Mörder zur Strecke zu bringen, doch seine Nachfragen stellen alles infrage, was er über Hattie zu wissen meinte. Offenbar hatte die junge Frau viele Gesichter, und sie spielte ein gefährliches Spiel – mit einem viel zu hohen Einsatz.

Autorin

Mindy Mejia ist Autorin, leitende Finanzangestellte, Wochenendjoggerin, Ehefrau und Mutter zweier Kinder. Sie schreibt, was sie selbst am liebsten liest: zeitgemäße Romane mit einem starken Plot, die gleichermaßen unterhalten wie zum Nachdenken anregen. Mejias Großeltern waren Farmer in Minnesota, wo die Autorin auch heute noch mit ihrer Familie lebt.

Mindy Mejia

Warum sie

sterben musste

Roman

Deutsch von

Jörn Ingwersen

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Everything You Want Me to Be« bei Emily Bestler Books/Atria Books. An imprint of Simon & Schuster Inc., New York.
Textnachweise: Die Zitate aus William Shakespeares »Macbeth« stammen aus der Übersetzung von Dorothea Tieck.Das Zitatentstammt dem Roman »V« von Thomas Pynchon.
Copyright © der Originalausgabe 2017 by Mindy Mejia Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München Covermotiv: © Raphaelle Monvoisin/Trevillion Images, FinePic®, München Redaktion: Alexander Groß An · Herstellung: kw Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach ISBN: 978-3-641-17942-7V003 V002
www.goldmann-verlag.de

Für Myron, Blanche, Vic und Hilma,

die das Hügelland im südlichen Minnesota bestellten und eine Tradition von harter Arbeit, Geduld, Lachen und Liebe begründeten. Alle meine Geschichten beginnen mit euch.

Hattie

Samstag, 22. März 2008

So viel zum Weglaufen.

Da stand ich nun genau dort, wo ich mich in meinen Tagträumen im Mathe-Unterricht so oft gesehen hatte, direkt vor der Abflugtafel des Flughafens von Minneapolis, und alles war bis ins Detail genau so, wie ich es mir ausgemalt hatte. Ich trug mein Reise-Outfit – schwarze Leggings, Ballerinas und einen übergroßen cremefarbenen Sweater, in dem meine Hände untergingen und der meinen Hals noch länger und dünner erscheinen ließ, als er ohnehin schon war. Ich hatte meinen hübschen Lederkoffer dabei und genug Geld in der Tasche, um mir aussuchen zu können, wohin die Reise gehen sollte. Ich konnte fliegen, wohin ich wollte. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Warum also kam ich mir vor, als säße ich in der Falle?

Um drei Uhr morgens hatte ich mich aus dem Haus geschlichen und in der Küche einen Zettel hinterlassen, auf dem stand: »Bis später. Liebe Grüße, Hattie.« Mit später war natürlich irgendein Zeitpunkt in ferner Zukunft gemeint. In zehn Jahren oder so. Ich wusste es nicht. Vielleicht würde der Schmerz nie vergehen. Vielleicht würde ich nie genügend Abstand gewinnen. Das mit »Liebe Grüße, Hattie« war etwas dick aufgetragen. In meiner Familie ließ man keine Zettel mit lieben Grüßen im Haus herumliegen, aber selbst wenn sie etwas ahnen sollten, würden sie nie im Leben darauf kommen, dass ich einmal quer durchs ganze Land fliegen wollte.

Ich konnte Moms Stimme förmlich hören: Das sieht Hattie gar nicht ähnlich. Du lieber Himmel, in zwei Monaten macht sie ihren Abschluss, und in der Schulaufführung spielt sie Lady Macbeth. Ich weiß doch, wie aufgeregt sie deswegen ist.

Ich verdrängte die Stimme in meinem Kopf und ging noch mal die Liste der möglichen Flüge durch, in der Hoffnung auf das Hochgefühl, das ich mir von meiner Flucht aus Pine Valley versprochen hatte. Ich war erst einmal mit einem Flugzeug geflogen, als wir Verwandte in Phoenix besucht hatten. Ich wusste noch, dass da viele Knöpfe und Lichter an meinem Sitz gewesen waren und dass die Toilette aussah wie ein Raumschiff. Ich wollte etwas vom Imbisswagen bestellen, aber Mom hatte Weingummi in ihrer Handtasche, und was anderes gab es nicht zu essen, bis auf eine kleine Tüte Erdnüsse, und nicht mal die bekam ich. Greg wusste, dass ich keine Nüsse mochte, und nahm sich meine. Trotzdem war ich für den Rest des Fluges beleidigt, denn Flugzeug-Erdnüsse hätte ich bestimmt gemocht. Das war vor acht Jahren.

Heute nun würde ich zum zweiten Mal im Leben fliegen – in mein zweites Leben.

Allerdings würde ich hier jetzt nicht ratlos und versteinert stehen, wenn auf einem der Flüge zum LaGuardia oder JFK noch ein Platz frei gewesen wäre. Das war das Problem, wenn man sich einen Tag vor Ostern spontan entschied, von zu Hause wegzulaufen. Der Flughafen sah aus wie beim Sommerschlussverkauf, und die Schlangen vor den Sicherheitskontrollen reichten bis nach draußen auf die Straße. Der frühestmögliche Flug nach New York ging am Montagmorgen um 6.00 Uhr, aber so lange konnte ich nicht warten. Ich musste unbedingt heute noch weg.

Ich könnte nach Chicago fliegen, aber das schien mir zu nah. Zu sehr Mittlerer Westen. Mein Gott, wieso konnte denn nicht ein Platz nach New York frei sein? Ich wusste genau, welchen Shuttlebus ich von welchem Flughafen aus nehmen musste, in welchem Hostel ich wohnen würde und was es kostete und wie man von dort zur nächsten U-Bahn kam. Endlose Stunden hatte ich im Internet damit verbracht, mir New York City einzuprägen, bis es mir vorkam, als lebte ich bereits dort, und als ich heute Morgen das Haus verließ, war ich davon ausgegangen, dass ich dort auch landen würde. Nun saß ich hier fest und starrte diese blöde Abflugtafel an, auf der Suche nach einem Ersatzziel. Wenn ich nicht direkt nach New York konnte, wollte ich doch wenigstens in die Richtung. Um 14.20 Uhr ging eine Maschine nach Boston. Wie weit war es von Boston nach New York?

Obwohl ich wusste, dass es dumm war, sah ich doch dauernd zu den Türen hinüber, behielt die Leute im Auge, die ins Flughafengebäude strömten, mit ihren Bergen von Gepäck und ihren Schlüsseln und Brieftaschen und Tickets in Händen. Niemand kam, um mich aufzuhalten. Keiner wusste, dass ich hier war. Und selbst wenn sie es wüssten, wäre es ihnen wohl egal. Außer meinen Eltern liebte mich niemand auf der Welt so sehr, dass er durch diese Türen hereinstürmen und verzweifelt meinen Namen rufen würde, um mich aufzuhalten.

Ich gab mir Mühe, nicht zu weinen, als ich an den Schalter für den Flug nach Boston trat. Eine braun gebrannte, übertrieben liebenswürdige Dame erklärte mir, ein einziger Platz in der Maschine sei noch frei.

»Den nehme ich.«

Das Ticket kostete 760 Dollar. Mehr hatte ich bisher nur für meinen Computer ausgegeben. Ich reichte ihr meinen Führerschein und acht frische Hundert-Dollar-Noten aus dem scheußlichen Umschlag, mit dem das alles überhaupt erst angefangen hatte. Zwei Scheine waren noch übrig. Ich starrte die beiden an, so klein und so allein in der großen weißen Hülle. Ich konnte sie nicht in meine Brieftasche stecken. Jeden Penny darin hatte ich mir verdient, und ich wollte nicht, dass mein Geld mit dem Inhalt dieses Umschlags in Kontakt kam. Abrupt wurde ich aus meinen deprimierenden Gedanken gerissen, als ich merkte, dass die Frau offenbar etwas zu mir gesagt hatte.

»Miss?« Sie beugte sich vor, versuchte offenbar, mich auf sich aufmerksam zu machen.

Inzwischen stand ein Mann bei ihr, und die beiden starrten mich an wie in einem Albtraum, in dem der Lehrer einen mit Fragen zu einer Hausarbeit löchert, von der man nicht mal wusste, dass man sie hätte machen sollen.

»Was haben Sie in Boston vor?«, fragte der Mann. Er betrachtete meinen kleinen Koffer.

»In Boston? Tee trinken.« Ich fand das ziemlich clever, aber keiner von beiden lachte.

»Hätten Sie eine andere Möglichkeit, sich auszuweisen?«

Ich wühlte in meiner Handtasche herum und holte meinen Schülerausweis hervor. Der Mann warf einen Blick darauf und schaute dann in den Computer.

»Wissen Ihre Eltern, wo Sie sind?«

Da wurde ich etwas panisch, obwohl ich längst volljährig war, aber ich hatte gleich mehrere Ausreden parat. Ich könnte sagen, meine Eltern wären schon in Boston, oder vielleicht auch nur mein Dad. Er lebte getrennt von meiner Mom und hatte mir kurzfristig Geld angewiesen, weil er das Osterfest mit mir verbringen wollte. Oder ich könnte gleich einen auf Waisenkind machen. Leider kamen mir die Tränen. Mein Hals schnürte sich zusammen, und ich wusste, dass ich so eine Lüge nicht durchhalten würde. Nicht, wenn man mir ohnehin schon misstraute. Also ließ ich meinen Emotionen freien Lauf.

»Kümmern Sie sich gefälligst um Ihre eigenen Angelegenheiten!« Empörte Kundin. Der Flughafen schien mir dafür eine gute Bühne zu sein.

Die Wartenden in der Schlange hörten auf zu murmeln und sahen sich die Show an.

»Hören Sie, Miss Hoffman, es gibt gewisse Vorschriften, die wir bei Barzahlung eines Tickets für denselben Tag zu befolgen haben, besonders da es sich hierbei nicht um ein Rückflugticket handelt. Ich muss Sie bitten mitzukommen, damit ich das überprüfen kann.«

Nie im Leben würde ich mich in irgend so ein Büro sperren lassen, während der Typ meine Eltern anrief und mir diesen Tag endgültig zur Hölle machte. Was wäre, wenn er herausfand, wer das Geld aus dem Umschlag abgehoben hatte? War er dazu in der Lage? Ich langte über den Tresen und schnappte mir die Scheine und meine Ausweise.

»Dann muss ich Sie bitten, sich das Ticket in den Arsch zu schieben.«

»Soll ich die Security rufen?« Die Frau hatte mittlerweile nichts Liebenswürdiges mehr an sich. Sie nahm den Hörer und wählte, ohne eine Antwort abzuwarten.

»Das können Sie sich sparen. Ich geh ja schon. Sehen Sie, wie ich gehe?« Ich griff nach meiner Tasche und wischte mir die Tränen mit der Faust weg, in der ich die zerknüllten Scheine hielt.

»Beruhigen Sie sich, Miss Hoffman. Wir könnten …«

»Warum beruhigen Sie sich nicht?«, fuhr ich dem Mann mit wütendem Blick über den Mund. »Ich bin keine Terroristin. Selber schuld, wenn Sie meine achthundert Dollar für Ihren Scheißflug nach Boston nicht haben wollen.«

Jemand in der Schlange feuerte mich an, doch die meisten glotzten nur und überlegten, was für eine Bombe ich wohl ins Flugzeug schmuggeln wollte. Wer weiß, Velma. Man sieht es ihnen ja nicht an, oder?

Ich rannte zu meinem Wagen und hätte nicht sagen können, wie ich das Parkhaus gefunden und ob ich überhaupt bezahlt hatte. Alles war verschwommen. Mein Herz raste. Alle paar Sekunden drehte ich mich um, aus Angst, dass mir vielleicht jemand von der Security folgte. Und als ich dann auf den Freeway kam, ging das Schluchzen los. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich fast einen Minivan gerammt hätte. Es dauerte eine halbe Stunde, bis ich merkte, dass ich zurück nach Pine Valley fuhr. Die Twin Cities waren schon nicht mehr zu sehen. Leere Felder, so weit das Auge reichte.

Das kam dabei heraus, wenn man zuließ, dass man jemanden brauchte.

Man wurde zu einem seelischen Wrack, wenn man sich verliebte.

Ich war so glücklich gewesen, so frei und unbeschwert, als ich im Herbst mein letztes Schuljahr begann. Diese Hattie war bereit gewesen, es mit der ganzen Welt aufzunehmen, und das hätte sie auch getan. Verdammt, sie hätte sonst was schaffen können. Aber jetzt war ich nur noch ein jämmerliches Häufchen Elend. Ich war zu dem Mädchen geworden, das ich nie werden wollte.

Plötzlich ging das Radio aus, und die Lichter am Armaturenbrett fingen an zu flackern. Mist. Ich geriet in Panik, je schneller die anderen Autos an mir vorüberflogen. Da sah ich ein Stück voraus eine Ausfahrt und bog auf einen Kiesweg zwischen zwei Feldern ein, ging vom Gas und ließ den Wagen ausrollen. Als ich anhielt, stotterte der Motor und ging dann aus. Ich drehte am Schlüssel. Nichts. Ich stand irgendwo in der Einsamkeit.

Ich warf mich auf den Beifahrersitz und schluchzte in den kratzigen Stoff, bis ich würgen musste. Ich stolperte aus dem Wagen direkt in einen Graben und spuckte nichts als Kaffee und Magensäure.

Kalter Wind peitschte über die Felder. Er trocknete den Schweiß auf meiner Stirn und half mir halbwegs auf die Beine. Ich kroch weg von dem Erbrochenen und setzte mich an den Rand des Grabens. Die Kälte der feuchten Erde drang durch meine Hosen.

Ich blieb lange dort, bis ich die Kälte nicht mehr spürte. Bis die Tränen aufhörten und etwas Neues begann.

Ich war mutterseelenallein – abgesehen von den vorüberfahrenden Autos auf dem Freeway – und merkte, dass ich zum allerersten Mal in meinem Leben nirgendwo anders auf der Welt sein wollte. Ich wollte nicht in einem engen Flugzeugsitz gefangen sein und in eine fremde Stadt fliegen, in der ich keinen kannte. Ich wollte nicht auf der Bühne im Rampenlicht stehen, vor einem Publikum, das jede meiner Bewegungen beobachtete. Ich wollte nicht allein in meinem Bett liegen, während Mom irgendwas kochte, was ich nicht essen konnte. Das öde Land um mich herum hatte etwas Tröstliches, die leeren Felder gesäumt von kahlen Bäumen und dem letzten Schnee des Winters.

Niemand wusste, dass ich hier war. Mit einem Mal hatte dieser Umstand etwas Wunderbares. Im Grunde fühlte ich mich schon mein Leben lang so, aber hätte ich zu irgendwem gesagt: Niemand weiß, dass ich hier bin, hätte man nur gelacht, mit den Augen gerollt und mir auf die Schulter geklopft. Ach, herrje, hätte man mir geantwortet, aber es stimmte. Mein Leben lang hatte ich Rollen gespielt, tat immer das, was von mir erwartet wurde, konzentrierte mich auf die anderen, während ich mich innerlich genauso fühlte wie jetzt: verloren in der öden, endlosen Prärie, ohne jemanden an meiner Seite. In meiner jetzigen Lage ergab das alles einen Sinn. Das Puzzle setzte sich zusammen, genau wie im Film, wenn die Heldin merkt, dass sie den gutmütigen Tollpatsch liebt oder ihren großen amerikanischen Traum leben wird, und die Musik anschwillt und sie zielstrebig durch eine Tür ins Freie tritt. Genauso war das, nur ohne Musik. Ich saß in einem Graben im Nirgendwo, doch in meinem Inneren änderte sich plötzlich alles.

Ich hörte wieder meine Mutter. Ich erinnerte mich daran, was sie mir gestern Abend gesagt hatte, als ich zu sehr damit beschäftigt war, mich an ihrer Schulter auszuweinen, statt zuzuhören und zu begreifen.

Zeig dein wahres Gesicht, Liebes, sagte sie. Du kannst nicht dein Leben lang schauspielern. Es kostet zu viel Kraft, anderen dauernd etwas vorzumachen. Du musst rausfinden, wer du bist und was du willst. Das kann ich dir nicht abnehmen. Niemand kann das.

In diesem Moment wusste ich genau, wer ich war – vielleicht zum ersten Mal überhaupt –, und auch, was ich wollte und was ich tun musste, um es zu bekommen. Es war wie eine Erleuchtung. Wie wenn man aus einem Traum erwacht, den man für echt gehalten hat, und einem dann die wirkliche Welt wieder bewusst wird. Ich stand auf – bereit, die jämmerliche Heulsuse abzuschütteln. Ein für alle Mal.

Geralds alter Camcorder lag obenauf in meinem Koffer. Ich nahm ihn heraus und stellte ihn auf die Ladefläche des Pick-ups, legte eine neue Kassette ein, drückte die Aufnahmetaste und setzte mich direkt vor die Kamera.

»Okay, hi.« Ich wischte mir die Augen und atmete tief ins Zwerchfell, wie Gerald es mir beigebracht hatte. »Hier ist mein neues Ich. Ich bin Henrietta Sue Hoffman.«

Wenn ich erst mit Pine Valley fertig wäre, würde niemand je vergessen, wer ich war.

Del

Samstag, 12. April 2008

Das tote Mädchen lag auf dem Rücken, ganz hinten in einer Ecke von Ericksons verlassener Scheune, trieb halb im Wasser, weil der See den tiefer gelegenen Boden geflutet hatte. Ihre Hände lagen auf dem Oberkörper, auf blutverschmiertem Rüschenstoff, der vermutlich mal ein Kleid gewesen war, und unter dem Saum streckten sich ihre Beine nackt ins Wasser, aufgedunsen dümpelten sie wie weiße Seekühe in der schmutzigen Lagune.

Die obere Hälfte ihres Körpers schien mit diesen Beinen nichts zu tun zu haben. Ich hatte schon aufgeschlitzte Mordopfer gesehen und auch ein paar Wasserleichen, aber noch nie beides gleichzeitig. Ihr Gesicht war zu entstellt, um sie identifizieren zu können, doch im ganzen County wurde nur ein einziges Mädchen offiziell vermisst.

»Muss Hattie sein.« Das kam von Jake, meinem Chief Deputy.

Der jüngste von den Sanders-Jungen hatte in der Zentrale angerufen. Er hatte sich mit irgendeinem Mädchen hier hereingeschlichen und war dabei auf die Leiche gestoßen. Dem Haufen von Erbrochenen entnahm ich, dass sich einer von den beiden übergeben hatte, bevor sie weggerannt waren. Ich weiß nicht, ob es an diesem Haufen oder am schneidenden Gestank gelegen hatte, dass Jake würgen musste, als wir hereingekommen waren. Normalerweise hätte ich ihn damit aufgezogen, aber nicht jetzt. Nicht bei diesem Anblick.

Ich löste die Kamera von meinem Gürtel und machte Fotos, versuchte, die Tote von allen Seiten aufzunehmen, ohne neben ihr ins Wasser zu rutschen.

»Noch wissen wir nicht, ob es Hattie ist.« So schwer es mir auch fiel, durften wir doch keine voreiligen Schlüsse ziehen.

Gleich nach unserer Ankunft hatte ich beim Kriminallabor drüben in der Stadt angerufen und ein Tatort-Team angefordert, das jedes noch so kleine Beweisstück eintüten und beschriften sollte. Somit blieb uns eine gute Stunde mit ihr allein.

»Wer sollte es sonst sein?« Jake trat um ihren Kopf herum, achtete auf seine Schritte, denn die Bohlen ächzten unter dem Gewicht des Ex-Footballspielers. Er beugte sich herab und war jetzt ganz der Ermittler.

»Beim Zustand ihres Gesichts ist sie unmöglich zu identifizieren, auch weil sie schon so aufgedunsen ist. Keine Ringe, kein Schmuck. Keine sichtbaren Tätowierungen.«

»Wo ist ihre Handtasche? Ich kenne kein Mädchen, das ohne Handtasche vor die Tür geht.«

»Vielleicht gestohlen.«

»Was für ein Ort für einen Raubmord.«

»Nicht vorgreifen. Erst identifizieren.« Ich ging neben ihr in die Hocke, streifte einen Handschuh über, schob ihre Lippe hoch und sah, dass ihre Zähne intakt waren. »Schaut so aus, als könnte uns ihr Gebiss weiterhelfen.«

Jake suchte das Kleid nach Taschen ab, konnte jedoch nichts finden.

»Todesursache: höchstwahrscheinlich erstochen.« Ich hob ihre Hand an und sah eine Stichwunde direkt im oder kurz über dem Herzen.

»Höchstwahrscheinlich?« Jake schnaubte.

Ich ignorierte ihn und hob ihren Arm noch etwas weiter an, um die Stelle freizulegen, an der sich die weiße Haut oben von der roten Haut darunter absetzte.

»Siehst du das?« Ich deutete auf die Linie zwischen den beiden Farben. »Das sind Totenflecken. Wenn das Herz nicht mehr pumpt, zieht die Schwerkraft das Blut nach unten, wo es sich sammelt. Wenn eine Leiche bewegt wurde, erkennt man es daran, dass das Rote nicht da ist, wo es sein sollte.«

Wir überprüften es noch einmal an anderer Stelle. »Scheint zu stimmen. Das hier ist vermutlich unser Tatort.«

Ich gab mir Mühe, die Tote als eine Leiche unter vielen zu betrachten. Ich hatte schon Hunderte gesehen, vor allem natürlich in Vietnam, und in diesem Augenblick wäre ich lieber wieder dort gewesen, als darüber nachzudenken, um wen es sich bei dieser verstümmelten Leiche handeln mochte.

Ich zeigte Jake den Drucktest. »Wenn du die helle Haut drückst und sie sich rötet, ist es noch keinen halben Tag her.«

»Das Blut setzt sich also innerhalb von zwölf Stunden.«

»Genau.« Die Haut unter meiner Fingerspitze blieb weiß. Darunter sammelte sich kein Blut. Also lag die Tote mindestens schon seit dem frühen Morgen hier.

Der Scheunenboden knarrte bedrohlich, und wir wichen beide zurück.

»Dieser Schuppen wird noch über uns zusammenbrechen.«

»Das möchte ich bezweifeln. Der sieht schon seit mindestens zehn Jahren so aus.«

Im Sommer kam ich fast jedes Wochenende an dieser Scheune vorbei, vom Beginn der Angelsaison bis zum ersten Frost, und sah, wie sie sich über das Ostufer des Lake Crosby beugte, als beobachtete sie die Barsche, die unter der Wasseroberfläche umherzuckten. »Sehen« war vermutlich übertrieben. Klar, ich wusste, dass sie dort stand, ein ebenso guter Orientierungspunkt zum Angeln wie der öffentliche Strand am Ufer gegenüber, aber ich hatte mir schon wer weiß wie lange nicht mehr die Zeit genommen, mir die alte Erickson-Scheune genauer anzusehen. So geht es einem oft mit den Dingen um einen herum. Schon zwanzig Jahre nutzte Lars Erickson die Scheune nicht mehr, seit er den Großteil des Seeufers an die Stadt verkauft und eine gute Meile entfernt, am anderen Ende seines Anwesens, mehrere neue Scheunen direkt neben seinem Fertighaus errichtet hatte. Besuch bekam diese alte Dame am See – abgesehen vom See selbst – nur noch von Teenagern wie dem jungen Sanders, die irgendwo allein sein wollten, um Sex zu haben und Joints zu rauchen.

Hier war man absolut ungestört. Die Scheune bestand aus einem großen Raum, acht mal zehn Meter, mit leeren Sparren, abgesehen von einem Heuboden an dem Ende, wo der Bau ins Wasser ragte. Das breite Scheunentor lag am anderen Ende, und es gab ein Loch in der Wand, das wohl mal ein Fenster gewesen war.

Nach den schweren Regenfällen und der ungewöhnlich frühen Schneeschmelze in diesem Frühling war das Wasser angestiegen, sodass es nun ein Viertel des Scheunenbodens bedeckte und haufenweise Kippen und leere Päckchen von Zigarettenpapier darin herumschwammen, außerdem etwas, das aussah wie ein Plastikbeutel oder ein Kondom.

Jake folgte meinem Blick. »Glaubst du, unsere Mordwaffe ist da drin?«

»Die Leute von der Spurensicherung werden es schon rausfinden. Die sind gründlich.« Manche Countys hatten ihre eigenen Kriminallabore, ganze Abteilungen von Forensikern und Ermittlern, aber wir nicht. Hier gab es keine schweren Verbrechen. Meist ging es um Drogen und häusliche Gewalt, nichts, was die zusätzlichen Lohnkosten gerechtfertigt hätte. Es war schon über ein Jahr her, seit ich die Jungs aus Minneapolis wegen irgendwas herbestellt hatte.

»Wenn das nicht Hattie ist, dann muss das Mädchen auf der Durchreise gewesen sein. In fünf Countys wird niemand vermisst.«

»Beziehst du Rochester in deine Schlussfolgerung mit ein?«

»Hmm.« Darüber dachte er nach.

»Guck mal, ob du draußen vor dem Eingang was findest.« Ich reichte ihm die Kamera und trat vorsichtig wieder ans Wasser. Ohne Jake knarrten die Bohlen kaum noch – verglichen mit ihm bin ich eher klein. Dreißig Jahre im Job haben ihre Spuren hinterlassen. Ich ging neben dem Mädchen in die Hocke und hielt mir die Hand vor den Mund, suchte etwas, das ich nicht finden konnte. Totenbleich war sie, das Gesicht leicht zur Seite gewandt. In ihrem blutverkrusteten Gesicht klebten ein paar Haare. Augen und Wangen waren von Stichen übersät, und ein langer, diagonaler Schnitt zog sich von ihrer Schläfe bis zum Unterkiefer. Ein Statement. Abgesehen von der Stichwunde in der Brust war der Rest der Leiche mehr oder weniger unversehrt. Irgendjemand wollte dieses Gesicht auslöschen.

Ich sah zu Jake hinüber, um sicherzugehen, dass er mich nicht hören konnte, bevor ich mich zu ihr hinunterbeugte. »Henrietta?« Sie ärgerte sich immer, wenn ich sie bei ihrem richtigen Namen nannte, was auch der Grund war, weshalb ich es in den vergangenen achtzehn Jahren oft genug getan hatte. Alle nannten sie Hattie, seit dem Tag, an dem sie aus dem Krankenhaus gekommen war, mit einer hübschen Schleife um ihr süßes, kahles Köpfchen. Der Gedanke daran war mir unerträglich. Ich räusperte mich und sah nach, ob Jake noch draußen war, bevor ich sie bei dem Namen nannte, den ich ihr zu Lebzeiten verweigert hatte. »Hattie?«

Ich erwartete keine Reaktion und auch nicht, dass eine Taube vom Himmel herabschweben würde oder irgendetwas in der Art, aber manchmal muss man Worte laut aussprechen, um herauszufinden, wie sie wirken, ob sie einem auf den Magen schlagen. Diese Worte waren scharf wie Dolche. Ich betrachtete die Tote, die langen braunen Haare, das leichte Kleid, zu dünn für diese Jahreszeit. Egal was ich zu Jake gesagt haben mochte – in dem Moment, in dem wir die Scheune betreten hatten, wusste ich, wer dort lag.

Als Bud heute Morgen in mein Büro gekommen war und mir erklärt hatte, er müsste eine Vermisstenanzeige für Hattie aufgeben, waren wir beide sicher gewesen, dass sie weggelaufen war. Nichts hatte sich dieses Mädchen jemals mehr gewünscht, als von hier wegzukommen. Buds Frau war da jedoch nicht so sicher. Hattie sollte am Wochenende in einem Theaterstück an der Highschool auftreten, und Mona konnte sich nicht vorstellen, dass Hattie die Stadt vorher verlassen würde. Irgendwas von Shakespeare. Außerdem meinte Mona, Hattie würde nie im Leben zwei Monate vor ihrem Schulabschluss weglaufen. Das klang so weit vernünftig, und doch war ich nicht bereit, auf den gesunden Menschenverstand eines Teenagers zu bauen. Ich gab die übliche Vermisstenmeldung raus und dachte, Bud und Mona würden sicher nächste Woche eine E-Mail bekommen, in der stand, dass Hattie in Minneapolis oder Chicago war.

Während ich nun vor dem stand, was sehr wahrscheinlich die sterblichen Überreste der einzigen Tochter meines Angelfreundes waren, nagte eine dunkle Frage an mir, eine Frage, die Buds Leben mit einem Schlag zerstören würde, ganz so wie wir die Barsche und Karpfen mit einem einzigen Schlag töteten, kaum fünfhundert Meter von genau dieser Stelle entfernt.

Wer hatte Hattie Hoffman ermordet?

Bis die Spurensicherung eintraf und der Krankenwagen sich über den zugewucherten Weg gekämpft hatte, der zur Scheune führte, hatte ich schon zwei Dutzend Anrufe bekommen. Ich nahm nur den von Brian Haeffner an, dem Bürgermeister von Pine Valley.

»Stimmt es, Del?«

Ich trat ein Stück beiseite, während die Leute von der Spurensicherung sich über die Scheune hermachten wie Ameisen über ein Picknick.

»Ja, es stimmt.«

»Unfall?« Hoffnung sprach aus Brians Stimme.

»Nein.«

»Willst du damit sagen, bei uns läuft ein Mörder frei herum?«

Ich trat vor die Tür und spuckte neben der Scheune aus, um den toten Geschmack im Mund loszuwerden. Das Gras wehte in der leichten Brise zum See hin.

»Ich sage, wir haben es mit einem ungelösten Mord an einem bisher nicht identifizierten Opfer zu tun. Und mehr kann ich im Moment dazu nicht sagen.«

»Du wirst eine Erklärung abgeben müssen. Nachrichtensender aus dem ganzen Staat werden sich bei uns melden.«

Brian musste immer alles übertreiben. Wahrscheinlich würde er ein paar Anrufe von der County Gazette bekommen. In Wahrheit wollte wahrscheinlich seine Frau alle Einzelheiten wissen, um sie in Sally’s Café unter die Leute zu bringen, wo sie jeden Morgen Muffins machte. Ich kannte Brian schon ewig, da wir beide altgediente Staatsdiener waren. Wir unterstützten uns jedes Mal gegenseitig, wenn Wahlen bevorstanden, und er war ein guter Bürgermeister – aber ich brachte es nie fertig, mehr als ein Glas mit ihm zu trinken. Er beklagte sich über jede Kleinigkeit und fragte dauernd nach meinen Fällen und »neuen kriminellen Trends«. Manchmal erinnerte er mich an einen dieser aufgedrehten Hunde, die nicht aufhörten, einem die Hand zu lecken.

»Meine Erklärung hast du eben bekommen, Brian. Wir werden die Identität des Opfers veröffentlichen, sobald sie uns bestätigt wurde.«

»Ich muss wissen, ob die Stadt in Gefahr ist.«

»Ich auch, Brian.« Ich legte auf und steckte gerade mein Handy weg, als eine Sanitäterin zu mir herüberkam.

»Sheriff, wir wären jetzt so weit, sie mitzunehmen.«

»Okay. Ich komme später nach. Ich muss vorher noch was klären.«

»Irgendwelche Indizien?« Das Mädchen sah mich hoffnungsvoll an. Ich hatte sie noch nie gesehen – sie war nicht von hier.

»Ach was, Indizien …« Ich ging wieder zurück in die Scheune. »Entweder man kriegt den Kerl oder nicht.«

Die Leute von der Spurensicherung tüteten alles ein, was nicht niet- und nagelfest war. Sie durchsiebten jeden Kubikzentimeter Wasser in der Scheune und fanden eine leere Weinflasche, eine Petroleumlampe, fünf leere Zigarettenschachteln, ein paar unbeschriftete Streichholzheftchen und drei gebrauchte Kondome.

Ich sah mir an, wie sie am Scheunentor und am Fensterloch Absperrband anbrachten.

Jake trat neben mich. »Keine Tatwaffe.«

»Nein.« Wir warteten, bis das Team fertig war und wieder abfuhr. Sie hatten ein paar Haare gefunden und wollten auch die Kondome auf DNA-Spuren untersuchen lassen. Den Rest würden sie aufbewahren, bis wir ihnen entweder sagten, was wir brauchten, oder der Fall abgeschlossen war.

Als die Autos hinterm Horizont verschwunden waren, blieben nur das Rauschen des Windes, der die Felder trocknete, und das gelegentliche Zwitschern der Spatzen zurück. So ließ es sich leichter denken.

»Sie lag in der hintersten Ecke, weit weg vom Tor.«

»Also wurde sie entweder in die Ecke gedrängt, oder jemand hat sie dort gefunden.« Jake dachte ähnlich wie ich. Deshalb hatte ich ihn zum Chief Deputy gemacht.

»Keine sichtbaren Wunden oder Spuren an den Händen, also hat sie sich vermutlich nicht gewehrt.« Ich trat zum Scheunentor hinaus und sah mich um, stellte mir vor, ich wollte weglaufen. Hügeliges Farmland bis zum Horizont, leere Äcker in allen Himmelsrichtungen, noch mit letzten Spuren des Winters. Kein einziges Haus in Sichtweite der Scheune. »Er bringt sie um und geht. Lässt sein Messer nicht liegen. Er will schnell weg, um die Waffe und seine Kleidung loszuwerden.«

Jake deutete auf den Pfad, der um den See herum führte, zur Bootsrampe und zum Badestrand. »Das wäre das Naheliegendste. Er hat da drüben geparkt und ist denselben Weg wieder zurückgelaufen.«

»Entweder das oder aber querfeldein zum Highway oder an Ericksons Haus vorbei zur Route 7. Beides wäre ungefähr eine Meile zu laufen.«

»Warum sollte er so weit weg parken? Klingt wenig sinnvoll.«

»Stimmt. Aber die meisten Mörder sind dumm. Und die wenigsten nehmen sich vor, jemanden umzubringen, also denken sie nicht an solche Details wie den besten Fluchtweg.«

Jake brummte, was mir sagen sollte, dass er eine Flucht querfeldein für unwahrscheinlich hielt.

»Wir werden Hunde brauchen, um die Felder zu durchkämmen. Eine Meile im Umkreis. Ruf Mick in Rochester an. Und schick das Boot mit einem Metalldetektor raus auf den See. Möglicherweise hat der Mörder das Messer auf dem Rückweg zum Wagen ins Wasser geworfen.«

»Das sehe ich genauso. Ich werde den See und das Ufer absuchen lassen.«

Wir verließen den Tatort und schaukelten mit unseren Streifenwagen über die Felder zurück zu Winifred Ericksons Haus. Jake fuhr weiter in die Stadt, aber ich wollte zuerst bei ihr anklopfen. Keine Antwort. Was nicht bedeutete, dass sie nicht da war. Die meisten Leute hier in der Gegend warfen ihre Fliegentüren auf, sobald sie auch nur eine Staubfahne am Horizont bemerkten, doch Winifred hatte ihren eigenen Kopf. Manchmal vergingen Wochen, ohne dass sie sich im Ort blicken ließ, und mehr als einmal war ich hergeschickt worden, um nachzusehen, ob sie tot in ihrer Küche lag. Sie reagierte nie auf mein Klopfen, bis ich einmal schon so weit war, ihr die Tür einzutreten, doch dann stand sie plötzlich mit Lockenwicklern in den dünnen grauen Haaren und Lars’ alter Pfeife im Mundwinkel vor mir und fragte, ob ich eigentlich wüsste, was so eine Tür kostete, und ob ich ihr denn auch eine neue kaufen würde. Ein paar Tage später traf ich sie auf der Main Street, die Freundlichkeit in Person. Sie war sonderbar geworden, seit sie ihren Mann getötet hatte.

Ich ließ ihr eine Nachricht wegen der Suche mit den Hunden da und machte mich auf den Weg zurück in die Stadt.

Die Telefone liefen heiß, als ich ins Büro kam. Nancy saß nicht an ihrem Schreibtisch. Ich fand sie im Pausenraum, wo sie sich gerade einen Kaffee kochte. Jake schlang ein Sandwich herunter, während er gleichzeitig sein Handy am Ohr hatte.

»Bin in der Warteschleife von Rochester«, presste er zwischen zwei Bissen hervor. Gut zu wissen, dass ihm selbst eine verstümmelte Leiche nicht den Appetit verderben konnte.

»Wärst du so nett, mir einen Kaffee mitzubringen, Nance?«

»Es will einfach nicht aufhören, Del. Du warst gerade zwanzig Minuten weg, da fingen sie an, über uns herzufallen.«

»Wer?«, fragte Jake.

»So ziemlich alle, die ich kenne. Ich sage ihnen, sie sollen sich um ihren eigenen Kram kümmern. Aber auch die Zeitungen melden sich, und Shel hat angerufen, um zu fragen, ob du möchtest, dass er herkommt.«

Shel war einer unserer vier Vollzeit-Deputys. Mit zwölf Leuten im Büro waren wir für Ermittlungen in einem Mordfall etwas unterbesetzt.

»Woher hat er so schnell davon erfahren?«

»Sanders ist sein Cousin. Die Familie hat gleich bei ihm angerufen, als der Junge nach Hause kam.«

»Nein, sag ihm, wir kommen zurecht. Jake kann Notfälle von hier aus erledigen.«

»Aber ich sollte mich doch um den neuen Fall kümmern«, protestierte Jake.

»Ich werde diesen Fall übernehmen.«

»Ich bin Leiter des Ermittlungsteams, Del.«

»Und ich bin der Sheriff in diesem County.«

Ich kehrte ihm gegenüber nicht oft den Vorgesetzten heraus, und er wirkte nicht allzu glücklich darüber, dass ich es in diesem Moment tat. Egal. Das hier war mein Fall. Nancy folgte mir mit dem Kaffee in mein Büro.

»In den nächsten zwanzig Minuten keine Anrufe. Und wir müssen diesen Fall unter Verschluss halten. Kein Wort zu irgendwem, bevor ich es dir sage. Bestätigen können wir eine weibliche Leiche mit Stichwunden. Das ist alles.«

»Du kennst mich, Del. Ich kann schweigen wie ein Grab.«

Sie war schon im Gehen, als sie sich noch mal umdrehte. »War es schlimm?«

Seufzend suchte ich nach einer Nummer in meinem Handy. »Es wird noch schlimmer.«

»Tut mir leid, Del. Ich bereite die Pressemeldung vor, damit sie fertig ist, sobald die Identität bestätigt wird.«

Nancy zog die Tür hinter sich zu. Ich seufzte erneut und betrachtete das Foto von mir an der Wand, das mich auf dem Lake Michigan zeigte, mit einem dreißig Pfund schweren Musky am Haken, dem größten Süßwasserfisch, den ich je gefangen hatte. Bud hatte ihn mein »Monster« getauft und mich dann am nächsten Tag mit einem Sechsundzwanzigpfünder beinahe übertroffen. Oh, Mann. Ich drückte die Anruftaste, bevor ich es mir anders überlegen konnte.

Er antwortete beim ersten Klingelton. »Ist sie es?«

Ich biss die Zähne zusammen, holte Luft. »Du hast davon gehört.«

»Mona ist außer sich vor Sorge. Was weißt du?«

»Kann noch nicht sagen, wer es ist.«

»Kannst du nicht, oder willst du nicht?« Buds Stimme blieb ganz ruhig, doch in den fünfundzwanzig Jahren, die wir nun befreundet waren, hatte ich noch nie erlebt, dass er mir eine solche Frage stellte.

»Ich kann es nicht, Bud. Sie hat schwere … Verletzungen … im Gesicht, weshalb sich die Identität nicht zweifelsfrei ermitteln lässt.« Dazu sagte er nichts, aber ich wusste, dass seine Vorstellung von der Toten, die möglicherweise seine Tochter war, dadurch um einiges grässlicher wurde.

Buds Aussage zufolge war Hattie zuletzt am Freitagabend nach ihrer Vorstellung in der Schule gesehen worden. Bud und Mona waren dort gewesen und hatten Hattie hinterher noch umarmt und gesagt, sie sollte es nicht zu spät werden lassen, aber Hattie war nicht mehr nach Hause gekommen.

»Kannst du dich erinnern, was Hattie gestern Abend anhatte, Bud?«

»Ihr Kostüm. Es war ein Kleid.«

»Ein Sommerkleid?«

»Nein, ein weißes Kleid voller Blut. Theaterblut. Sie trug eine Krone.«

»Hätte sie sich umgezogen, bevor sie ging?«

»Schätze schon.«

»Hat sie ein gelbes Sommerkleid mit Rüschen dran?«

»Wenn ich das wüsste …« Bud fragte bei Mona nach. Ich konnte ihre Stimmen hören, leise und angespannt.

»Nein, hat sie nicht, sagt Mona.« Er klang fast erleichtert. Das Gefühl konnte ich nicht teilen.

»Hmm. Immer noch keine Idee, wer sie mitgenommen haben könnte?«

»Mona und ich hatten ja gedacht, es wäre Portia gewesen. Sie spielt auch in dem Stück mit, meinte aber, sie hätte Hattie hinterher gar nicht mehr zu Gesicht bekommen.«

»Okay, Bud. Hör zu, du müsstest dein Einverständnis geben, dass wir Hatties Zahnprofil anfordern dürfen. Ich schick dir Nancy mit dem Formular vorbei, und du wirst als Erster erfahren, wer dieses Mädchen ist, so oder so. Das verspreche ich dir.«

Er gab einen Laut von sich, der wie eine vage Zustimmung klang, und legte auf.

Bevor ich allzu lange darüber nachdachte, worum ich meinen besten Freund gerade gebeten hatte, rief ich in Rochester an und ließ mir bestätigen, dass man die Autopsie gleich morgen früh durchführen würde. Dass Sonntag war, tat nichts zur Sache. Leichenhallen kennen keine Öffnungszeiten.

Während Nancy sich um den Papierkram und die Fotos kümmerte, öffnete ich eine Datei mit Jakes ausgeklügelter neuer Software, die es einem unmöglich machte, seine Arbeit zu tun. Meinen Ärger darüber verschob ich auf später und trug in die verfluchte Datei das wenige ein, was wir wussten. Es war erschreckend wenig, so gut wie nichts.

Weiblich.

Hellhäutig.

Stichwunden, vermutlich Schädeltrauma.

Leiche von zwei ortsansässigen Jugendlichen in der alten Erickson-Scheune gefunden, am Samstag, den 12. April 2008 um 16.32 Uhr.

Ich schluckte und kratzte mich am Kinn, während ich die vielen leeren Kästchen betrachtete. Zum ersten Mal in meinem Leben machte ich mir Sorgen, wenn ich daran dachte, was ich möglicherweise dort würde eintragen müssen. Mädchen wurden nicht grundlos ermordet, nicht in Wabash County. Hier gab es keine Schießereien auf offener Straße, keine zornigen Teenager, die mit einem ganzen Waffenarsenal in der Highschool um sich schossen. Dieser Großstadtwahnsinn war eine völlig andere Welt, und das war genau der Grund, weshalb viele von den Leuten, die hier wohnten, auch blieben. Sicher, die Läden in Pine Valley standen zur Hälfte leer. Wenn die Getreidepreise in den Keller gingen, brachten die Leute kaum noch ihre Hypothekenraten zusammen, aber hier gab es eine Gemeinschaft. In diesem Ort hielt man an der Überzeugung fest, dass Menschen noch etwas bedeuteten. Irgendetwas war allerdings so bedeutend gewesen, dass man dieses Mädchen dafür in die einsame Erickson-Scheune gelockt hatte. Dass man sie dafür ermordet hatte.

Es wurde spät, also lief ich nach Hause. Keine Ahnung, warum. Die meisten Mahlzeiten nahm ich im Revier zu mir, und schlafen konnte ich ohnehin kaum noch. Früher ging es mir nur bei größeren Fällen so, doch in letzter Zeit kam ich kaum noch auf vier Stunden pro Nacht. Mir gehörte die obere Wohnung eines Hauses einen Block abseits der Main Street. Unten wohnten die Nguyens, die neuerdings den Spirituosenladen betrieben. Sie waren so ziemlich die einzigen Asiaten im ganzen County, und so beißend es auch stinken mochte, wenn sie kochten – kein bisschen wie im chinesischen Restaurant –, waren sie doch ruhige Nachbarn und klopften nie an die Heizungsrohre, um mir mitzuteilen, dass ich leiser sein sollte, so wie die alte Frau, die vorher dort gewohnt hatte, bis sie an einem Schlaganfall gestorben war. Ich passte trotzdem auf, dass ich nicht zu laut war, vor allem nachts, wenn ich nicht schlafen konnte. Manchmal legte ich mir Platten auf, aber den Fernseher stellte ich überhaupt nicht mehr an. Wenn ich davorsaß, fühlte ich mich wie tot. Meine Nachrichten bekam ich aus der Zeitung, und die Spiele hörte ich im Radio, sodass es eigentlich keinen Grund gab, die Kiste zu behalten, nur dass der Kater der Nguyens gern durchs Fenster hereinsprang und sich darauf legte. Eigentlich konnte ich Katzen nicht leiden, aber dieser Kater war okay. Er stolzierte nicht herum, wollte nicht gefüttert werden und verteilte nicht überall seine Haare. Solange er auf dem Fernseher lag und ich auf der Couch, kamen wir miteinander aus.

Ich war die ganze Nacht wach und dachte über diese Leiche nach. Wenn ich eingedöst sein sollte, konnte ich mich nicht daran erinnern. Ich machte mir Notizen, legte eine Liste von Leuten an, mit denen ich sprechen wollte, und behielt den Wecker im Auge, der langsam auf sieben Uhr zusteuerte, während der Kater dalag und mit seiner Schwanzspitze zuckte.

»Und wessen sterblichen Überresten habe ich Ihren Besuch nun zu verdanken, Sheriff Goodman?«

Dr. Frances Okada hatte sich nicht verändert. Gut, inzwischen war ihr Dutt leicht silbrig und ihr Rücken krummer als vorher, und doch schritt sie nach wie vor wie die unheilige Königin der Toten durchs Leichenschauhaus, und noch immer sagte sie meinen Namen, als bestünde dieser aus zwei Worten – »Good man« –, als wollte sie einen Scherz machen, über den jedoch außer ihr niemand lachen konnte.

»Seit einer Stunde sitze ich da draußen und warte darauf, eine Antwort auf diese Frage zu bekommen, Fran.«

»Tja, zu dumm, dass dieser junge Mann hier« – sie deutete in die Ecke auf eine Leiche, mit der einer ihrer Assistenten beschäftigt war – »sich erdreistet hat, beim Baseballtraining ein Aneurysma zu erleiden. Vielleicht hätte er sich vorher mit Ihrem Dienstplan abstimmen sollen.«

Wortlos trat ich an den Tisch. Meine Mutter hatte meinen Schwestern und mir beigebracht, dass Schweigen einen Streit schneller beendete als noch so viele Worte. Das wirkte auch bei hochnäsigen Gerichtsmedizinerinnen, und so anstrengend sie auch sein mochte, würde ich von Fran doch erfahren, wer das Mädchen war. Bud und Mona warteten.

Die Tote hatte sich verändert. Im Laborlicht wirkte sie grau und noch aufgeschwemmter. Sie sah überhaupt nicht mehr wie ein Mensch aus, von Hattie ganz zu schweigen.

»Ich habe Ihre Kleine gleich runter in die Radiologie bringen lassen, als sie reinkam. Das hier sind ihre Zähne.« Sie schob die Bilder in den Schaukasten. »Und hier sind die Fotos, die zu Ihrem Opfer – Henrietta – gehören.«

»Hattie«, verbesserte ich und beugte mich vor, um besser sehen zu können.

»Sehen Sie die Löcher hier und hier …« Sie deutete auf beide Bilder. »Die Füllungen stimmen hundertprozentig überein. Auch im Profil sind sie identisch.« Fran zeigte mit dem Finger auf einen schiefen Zahn im Unterkiefer. »Die DNA-Analyse können Sie sich sparen. Das ist Henrietta.«

»Sie heißt Hattie.« Es kam aggressiver heraus, als ich es gemeint hatte.

»Dem Stadium der Verwesung nach zu urteilen, gehe ich davon aus, dass sie etwa zwölf bis achtzehn Stunden tot war, als sie gefunden wurde.« Fran streifte ein Paar neue Handschuhe über und fragte fast schon mitfühlend: »Sie kannten sie?«

»Das nützt ihr jetzt auch nichts mehr, oder? Ich brauche das volle Programm. Fremdes Blut, Haare, alles, was sie an sich hat und das auf irgendetwas hindeuten könnte. Und ich brauche das Ergebnis so schnell wie möglich. Rufen Sie mich an, wenn Sie so weit sind.« Ich war schon auf dem halben Weg zur Tür.

»Warum bleiben Sie nicht hier und sehen sich die Autopsie an?«

Ich wandte mich um. Zum ersten Mal blickte sie mir in die Augen, während sie dort stand, wie eine Wächterin vor der entstellten Leiche, die vor zwei Tagen noch Hattie gewesen war.

»Ich hab noch was zu erledigen.«

Als ich vor Buds Haus hielt, sah ich seinen Truck in der Einfahrt stehen, obwohl der Sonntagsgottesdienst bestimmt noch nicht vorbei war. Bear, sein schwarzer Labrador, hechelte an meinem Bein, um sich wie üblich hinter den Ohren kraulen zu lassen, während ich zum Haus ging. Ich sah ihn nicht einmal an. Ich war noch mitten auf dem Weg, da riss Mona schon die Tür auf.

Sie trug eine lange geblümte Schürze, und ihre Haare waren mit einem Tuch zurückgebunden. Sie war die einzige Frau in ihrem Alter, die lange Haare hatte, und es verlieh ihr etwas Zeitloses. Ihr normalerweise ruhiges, ausdrucksstarkes Gesicht spiegelte ihr Wesen wider, doch heute sprachen ihre Augen eine andere Sprache.

»Also?«, presste sie hervor.

»Mona.« Ich nahm meinen Hut ab. »Ist Bud auch da?«

»Sag es einfach, Del.« Unrhythmisch tippten ihre Finger an ihr Bein, während sie dastand, starr wie ein Baum. Es war, als gehörten diese Finger nicht zu ihr, und für einen kurzen Moment sah ich Hattie vor meinem inneren Auge, wie sie dagelegen hatte, halb im Wasser, ihr seltsamer Leichnam, der irgendwie auch nicht zu ihr gehörte.

»Darf ich reinkommen?«

»Natürlich, Del.« Bud erschien hinter Mona und machte die Tür weit auf. Er nahm seine Frau bei den Schultern und zog sie ins Haus, damit ich eintreten konnte. Sie schüttelte ihn ab und ging voraus ins Wohnzimmer.

Der Duft von Butter und Schokolade im Haus war überwältigend. In der Küche stapelte sich das Gebäck – überall lagen glasierte Cupcakes, Muffins und Schokoladenkekse.

Bud bemerkte meinen Blick. »Sie war gestern gerade dabei, für den Kirchenbasar zu backen, als dieser Anruf wegen des toten Mädchens kam, und dann« – er zuckte hilflos mit den Schultern – »konnte sie einfach nicht mehr damit aufhören. Sie wollte nicht zur Kirche, und ich weiß gar nicht, ob sie heute Nacht überhaupt ein Auge zugetan hat.«

Plötzlich klang seine Stimme so weit weg, als stünde ich nicht neben ihm, und ich konnte nicht einmal sagen, ob diese Distanz von mir oder von ihm ausging.

Ich trat ins Wohnzimmer und blieb beim Kamin stehen, wo über dem Sims goldgerahmte Highschool-Fotos von Hattie und Greg hingen. Hattie lehnte mit verschränkten Armen an einem Baum, mit weißer Bluse, an der eine Blume steckte, und einem leisen Lächeln in den Mundwinkeln. Sie sah glücklich aus. Nein, nicht wirklich glücklich. Zufrieden. Sie sah aus wie ein Mädchen, das wusste, was es wollte und wie es das bekommen konnte. Sie war das Kind, dem alles gelingen würde, das sich ein neues Leben weit weg von Pine Valley aufbauen, irgendeinen aufstrebenden Anwalt heiraten und nur noch zum Weihnachtsfest mit den Kindern nach Hause kommen würde, um allen im Ort vorzuführen, dass sie es geschafft hatte. Sie war nicht das Kind, das sterben würde. Ich sah mir Gregs Foto an, auf dem er mit Bear und einer Schrotflinte posierte. Er trug schon immer einen Bürstenschnitt, lange bevor er sich bei der Army verpflichtet hatte, und er konnte es kaum erwarten, nach Afghanistan ausgeschifft zu werden, sobald er seinen Abschluss in der Tasche hatte. Wenn jemand sterben würde, dann er. Er war das Kind, bei dem Bud und Mona fürchten mussten, dass sie eines Tages vielleicht eine schreckliche Nachricht bekommen würden.

Bud saß auf dem Sofa neben Mona, hielt ihre Hand und wartete. Wie oft war ich schon in diesem Wohnzimmer gewesen? Hunderte Male, und immer hatte Bud mir das Gefühl gegeben, es wäre mein eigenes Wohnzimmer, und an der Wand dort hingen meine Familienfotos. Ich holte tief Luft und sah ihn an. Seine Haare wurden grau, und sein Hemd spannte mehr als früher. Er blickte mir offen in die Augen, und ich sagte es ihm.

»Der Zahnarzt hat Hatties Daten rüber nach Rochester geschickt, wo der Leichnam des Mädchens untersucht wird, und sie haben Hatties Zähne mit denen des Opfers verglichen. Sie stimmen überein. Es ist Hattie.«

Mona sank nach vorn, als hätte sie einen Stoß bekommen, und Bud ließ ihre Hand los, doch keiner von beiden gab einen Laut von sich.

»Es tut mir so leid, Bud.« Meine Kehle war wie zugeschnürt, aber ich zwang die Worte hervor. »Mona, ich kann dir gar nicht sagen, wie schrecklich ich mich fühle. Ich verspreche dir, ich werde diesen Scheißkerl finden.«

Mona starrte den ausgeblichenen grünen Teppich an. »Zähne?«

Bud blickte durch mich hindurch zu den Fotos an der Wand. »Was ist passiert? Wie ist sie …?«

»Sie wurde in der alten Erickson-Scheune unten am See gefunden, und anscheinend ist es da auch passiert. Jemand hat sie mit einem Messer angegriffen. Sie starb an einer Stichverletzung.«

Während meiner Beschreibung hatte Bud regungslos dagesessen, während Mona am ganzen Leib zitterte.

»Du hast gesagt, ihr konntet ihr Gesicht nicht identifizieren.«

Hätte ich bloß die Klappe gehalten. Ich wollte mich doch möglichst vage ausdrücken, um ihnen das alles zu ersparen.

»Der Täter hat mit dem Messer auch auf ihr Gesicht eingestochen, aber möglicherweise war sie da schon tot. Das wissen wir allerdings erst, wenn die Autopsie abgeschlossen ist.«

Mona gab ein leises Wimmern von sich. Bud schreckte aus seiner Erstarrung hoch und nahm ihre Hand, doch sie stieß ihn von sich.

»Fass mich nicht an!«

Taumelnd stand sie auf und wankte in die Küche, stieß schluchzend gegen Wände. Je weiter sie sich von uns entfernte, desto lauter brach die Trauer aus ihr hervor. Mona war keine hartherzige Frau, aber ausgesprochen unsentimental. Ich konnte mich nicht erinnern, in all den Jahren, die ich sie nun kannte, auch nur eine einzige Träne bei ihr gesehen zu haben. Dieses erbarmungswürdige Schluchzen von einer Frau wie Mona war für mich so ziemlich das Schlimmste, was ich je gehört hatte.

Ich beugte mich zu Bud vor, der wieder wie versteinert auf dem Sofa saß.

»Bud, was hatte Hattie am Freitagabend nach der Aufführung noch vor? Du musst mir über diesen Abend alles erzählen, was du weißt.«

Er machte nicht den Eindruck, als hätte er mich überhaupt gehört, doch nach einer Minute wischte er sich mit einer rauen Hand übers Gesicht und räusperte sich mit gesenktem Blick.

»Sie meinte, sie wollte ausgehen. Um noch mit ein paar von den anderen Kids die Premiere zu feiern.«

»Hat sie gesagt, mit wem genau?«

»Nein. Wir dachten uns, wahrscheinlich wohl mit der ganzen Truppe. Sie waren auch schon am Wochenende vorher alle gemeinsam ausgegangen, nachdem sie die Bühne aufgebaut hatten.«

»Stand sie an dem Abend vielleicht öfter mit irgendwem zusammen?«

»Sie stand bei uns.« Seine Stimme brach, und er schluckte. »Sie stand die ganze Zeit bei uns.«

Ein Krachen ließ uns beide zusammenzucken. Ich rannte durch die Küche ins hintere Schlafzimmer, das Bud und Mona miteinander teilten. Mona lag seitlich auf den Trümmern eines kleinen Tischchens. Es sah aus, als hätten ihre Beine einfach nachgegeben. Bebend lag sie in dem Durcheinander von Tischdecke, Holz und Büchern. Als ich mich vergewissern wollte, ob sie sich verletzt hatte, fing sie an, wild auf mich einzuschlagen, und ihr Schluchzen wurde zu einem hohen Kreischen. Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück. Bud hatte sich nicht vom Fleck bewegt. Seine Hände lagen schlaff und offen auf dem Sofa.

»Bud.«

Er antwortete nicht. Seine Augen blickten ins Leere. Sein Arm war voller Mehl, wo Mona ihn von sich gestoßen hatte.

»Bud.«

Hölzern stand er auf und ging ins Schlafzimmer. Er beugte sich über die schluchzende Mona und nahm sie fest in die Arme. Ich wischte mir übers Gesicht und ließ die beiden allein.

Die Pine Valley Highschool war ein einstöckiger Klinkerbau südlich der Innenstadt, wo die Ladenzeilen an der Main Street endeten und von Wohnhäusern und Tankstellen abgelöst wurden. Seit in den Sechzigern eine neue Turnhalle angebaut worden war, hatte sich hier nichts verändert.

Ich stellte den Wagen auf dem halb vollen Parkplatz ab, traf mich am Eingang mit Jake, und wir folgten den Schildern mit der Aufschrift »Neue Turnhalle«, wo die Aufführung bereits lief. Vor drei Wochen und einer halben Ewigkeit hatte ich Hattie versprochen, ich würde zur Sonntagsmatinee kommen. Da war ich nun.

Jake überflog das Programm. »Hier steht, Hattie sollte Lady Macbeth spielen.«

Wir schlichen hinein und nahmen uns ganz hinten zwei leere Stühle. Zwei Jugendliche standen auf der Bühne, beide trugen weiße Kostüme und spielten vor einer Burgkulisse. Ich kannte das asiatische Mädchen, Portia Nguyen, den Jungen aber nicht. Sie redeten in dieser blumigen Shakespeare-Sprache, die noch nie so mein Fall war, doch schließlich bekam ich mit, worum es ging. Sie wollte ihn überreden, jemanden zu ermorden, und er schien dazu bereit zu sein. Am Ende der Szene planten sie gemeinsam, wie sie sich nach dem Mord verhalten wollten.

»Wer darf was anders glauben, wenn unsers Grames lauter Schrei ertönt bei seinem Tode?«

Er nahm ihre Hand. »Ich bin fest; gespannt zu dieser Schreckenstat ist jeder Nerv. Komm, täuschen wir mit heiterm Blick die Stunde.«

Er führte sie von der Bühne und sprach ins Dunkle.

»Birg, falscher Schein, des falschen Herzens Kunde!«

Danach nahm ich den zuständigen Lehrer beiseite und erklärte ihm, ich müsste die gesamte Theatergruppe sprechen. Er wurde blass, fragte jedoch nicht nach. Er hieß Peter Lund, ein junger Mann mit Brille und sauberen Fingernägeln.

Lund sagte allen, sie sollten noch für eine kurze Manöverkritik in den Musikraum kommen. Als die Tür zu war, wurde es totenstill. Die Kinder warteten.

»Tolle Aufführung – alle eigentlich. Portia, du … du warst gut. Wir bauen gleich gemeinsam ab, aber vorher hat Sheriff Goodman uns allen etwas zu sagen.«

Er trat zurück und ließ Jake und mich allein vorne stehen. Einige der Mädchen weinten bereits. Pine Valley war eine typische Kleinstadt, und ich wusste, dass sie alle schon von dem Leichenfund gehört hatten.

Ich redete nicht um den heißen Brei herum. Ich sagte es rundheraus, und sie reagierten ungefähr so, wie man es von Teenagern erwarten würde, wenn einer von ihnen erstochen wurde und sie zum ersten Mal ein Gefühl dafür bekamen, dass sie sterblich waren. Sie waren schockiert, und es flossen reichlich Tränen. Die meisten Jungen saßen stocksteif da, wie versteinert. Die meisten Mädchen klammerten sich aneinander. Lund hockte hinten im Klassenzimmer, den Kopf in die Hände gestützt.

Ich ließ ihnen etwas Zeit zu realisieren, was sie eben gehört hatten, kam dann aber auf den Anlass meines Besuchs zu sprechen, bevor die Trauer sie übermannte.

»Sie wurde am Freitagabend nach der Vorstellung ermordet. Jeder von euch muss jetzt gut nachdenken. Tut es für Hattie. Mit wem ist sie am Abend weggegangen? Hat sich von euch jemand danach mit ihr getroffen, zum Feiern oder so?«

»Ein paar von uns sind runter ins Dairy Queen, aber da ist sie nicht aufgetaucht«, sagte der Junge, der Macbeth gespielt hatte. Inzwischen sah er tatsächlich so aus, als würde er gleich den Verstand verlieren.

»Tommy war in der Vorstellung, oder? Ist sie nicht mit ihm weggefahren, Portia?«

Portia Nguyen löste sich von einem weinenden Mädchen und blickte auf, mit ausdruckslosem, tränenüberströmtem Gesicht. Ihre Krone saß schief. »Vielleicht, ich weiß nicht. Ich habe nicht viel mit ihr gesprochen. Ich habe ihr nicht mal gratuliert.«

»Tommy hätte sie nach Hause gefahren. Sie brauchte ihn nur zu fragen. Er hätte alles für sie getan.«

»Welcher Tommy?«, fragte Jake.

»Tommy Kinakis«, antwortete ich. Wenn ich mich recht erinnerte, war Hattie schon fast ein Jahr mit ihm zusammen. Ich hatte ihn im letzten Herbst als Linebacker im Uni-Team spielen sehen. Er war ein Schrank, schwer zu umgehen, und hatte in keinem der Spiele, bei denen ich gewesen war, seinen Quarterback im Stich gelassen. Wenn so ein Junge jemanden abstechen wollte, könnte man nicht viel dagegen unternehmen.

»Ich weiß, was ihr zum Verhängnis wurde.« Portia stand auf und sah mich an, als wollte sie einen dieser endlosen Monologe aus dem Stück aufsagen. »Es war der Fluch.«

»Was sagst du da?«

Einige Kinder hielten hörbar die Luft an und schlugen die Hand vor den Mund.

»Der Fluch hat Hattie umgebracht. Der Fluch von Macbeth.«

Peter

Freitag, 17. August 2007

Herzinsuffizienz würde mich ins Grab bringen.

Ich war sechsundzwanzig Jahre alt und in der Form meines Lebens. Zugegebenermaßen hatte es ohnehin nur aufwärts gehen können. Aus dem mageren Highschool-Nerd war jemand geworden, der gut und gern seine fünfzehn Meilen in der Woche lief. Wahrscheinlich hätte ich sogar Gewichte stemmen können, wenn ich mich in einen dieser Krafträume voll schwitzender Schwachköpfe getraut hätte. Ich ernährte mich vegetarisch und rauchte nicht – dennoch hatte ich unter Herzinsuffizienz zu leiden.

»Was möchtest du zum Nachtisch?«

Ich betrachtete Mary über den Tisch hinweg. Sie hatte seit der Vorspeise kaum etwas gesagt und blickte dauernd auf ihre Uhr, als müssten wir eine Sperrstunde beachten.

»Mousse au Chocolat?«, fragte ich und lächelte sie an. Nach sieben gemeinsamen Jahren wusste ich, dass sie nicht widerstehen konnte, wenn es irgendwo Schokolade gab. Bestimmt konnten das viele Männer über ihre Frauen sagen, aber einmal war ich doch tatsächlich Zeuge geworden, wie Mary auf dem Jahrmarkt Schokospeck gegessen hatte – ausgelassene Speckstreifen mit Schokolade überzogen. Und sie hatte gelacht, als ich grün im Gesicht wurde, und behauptet, das Zeug wäre gar nicht übel.

»Meinetwegen.« Sie zuckte die Achseln.

Ich winkte dem Kellner und bestellte zu der Mousse noch einen Kaffee. Wir waren in einem dieser Restaurants, in denen man den Kellner diskret heranwinkte, um einen caffè americano zu bestellen, und er einem dann höflich zunickte. Über den Tischen hingen Lampen, deren Licht die Pärchen umhüllte wie Kokons. Es wirkte modern und doch romantisch. Vermutlich kamen viele Mediziner aus der Mayo-Klinik hierher. Mary hatte nicht bis nach Rochester fahren wollen, aber die Auswahl an Restaurants in Pine Valley beschränkte sich auf das Dairy Queen und ein Café, das um 19.00 Uhr schloss. Außerdem hatten wir in Pine Valley kein Kino, und heute war unser traditioneller Kinoabend, der bei uns allerdings anders ablief als bei den meisten Pärchen. Bei uns kam zuerst der Film und dann das Essen, um dabei zu diskutieren, was wir gesehen hatten. So war es auch bei unserem allerersten Date gewesen, als wir American Beauty gesehen und darüber gestritten hatten, wie die einzelnen Figuren moralisch einzuschätzen waren, bis die Kellnerin uns bat zu gehen, damit sie die Stühle hochstellen konnten. Das Problem hätten wir heute sicher nicht.

Der Kaffee kam, und ich nippte daran, verbrannte mir die Zunge. Es war mir egal. Ich nippte weiter, beobachtete Mary und versuchte herauszufinden, was ich falsch gemacht hatte.

Ihre Haare trug sie heute offen, ein leuchtend goldener Heiligenschein im Licht, das auf ihr Gesicht fiel, während sie den Tisch betrachtete, die anderen Gäste, die Erkerfenster, alles, nur nicht mich. Marys Gesicht besaß die Form eines Apfels, mit runden Wangen, die wunderbar leuchteten, wenn sie glücklich war, doch heute strahlte sie keine Freude aus.

Sie trug ihr blaues Hemdblusenkleid im Fünfziger-Jahre-Stil, und ich hatte sie umarmt, als sie die Treppe heruntergekommen war, hatte sie auf die Wange geküsst und »Hallo, meine Schöne« geflüstert. Sie hatte gelächelt und war mir ausgewichen. Ich nahm an, es hätte damit zu tun, dass Elsa auf der Couch saß und uns im Auge hatte, doch Mary benahm sich auch den Rest des Abends so. Höflich. Distanziert. Als wäre ihr dieser Abend eine größere Last als das Ausmisten von Elsas Hühnerstall. Der Film machte es leider auch nicht besser, was mein Fehler war. Ich hatte Beim ersten Mal ausgesucht, weil Mary romantische Komödien mochte und der Film gute Kritiken bekommen hatte, aber wir konnten beide nicht so recht darüber lachen. Seit unserer Hochzeitsnacht hatten wir nicht mehr verhütet, und nachdem wir drei Jahre lang vergeblich versucht hatten, ein Kind zu zeugen, war sie nun gezwungen, dazusitzen und mit anzusehen, wie zwei Idioten so taten, als wäre ihnen eben das bei einem einzigen One-Night-Stand gelungen.

»Das mit dem Film tut mir leid.«

Endlich blickte sie auf und sah mich an. »Ist schon okay.«

»Ich hätte es bedenken sollen.«

»Nein, wirklich, Peter.« Mary setzte sich auf, als jemand kam und das Dessert zwischen uns auf den Tisch stellte. »Ans Kinderkriegen habe ich in letzter Zeit kaum noch gedacht.«

»Das ist schade. Ich hatte gehofft, wir könnten noch irgendwo parken und ein bisschen schmusen. Oder mehr.« Ich zwinkerte ihr zu. Darauf sagte sie nichts, also fuhr ich fort, hoffnungsvoll. »Es kommt mir vor, als wären wir noch im Studentenwohnheim und müssten warten, bis unsere Zimmergenossen weg sind, oder uns einen stillen Park suchen. Erinnerst du dich noch ans Obergeschoss von dem Parkhaus in der Fourth Street? Auf der Seite, wo das Licht nicht ging?«

Sie nahm einen Löffel Schokolade und schüttelte den Kopf. »Wir müssen zurück. Wir sind jetzt schon zu lange weg.«

»Elsa ist dreiundsiebzig Jahre lang gut allein zurechtgekommen. Sie wird bestimmt auch eine Stunde länger aushalten.«

Mary aß noch etwas mehr, ignorierte mich. Dann legte sie abrupt den Löffel weg und verschränkte die Arme.

»Was ist?«

»Zehn Dollar für eine Mousse au Chocolat. Die sind doch verrückt.«

»Noch verrückter wäre es, sie zu bestellen und dann nicht zu essen.« Ich löffelte los. Das Zeug war verdammt gut. Locker und schokoladig, nicht zu süß.

»Probier doch noch mal. Das hier ist der Zehn-Dollar-Happen.« Ich ließ den vollen Löffel vor ihrer Nase tanzen, und seufzend gab sie nach.

Sie aß weiter, wenn auch schweigend, wollte nicht auf mich eingehen. Ich trank meinen Kaffee und wartete, um sie aus der Reserve zu locken. Nichts passierte.

Als die Rechnung kam, riss Mary diese sofort an sich. Sie zahlte und nahm ihre Handtasche. »Bist du so weit?«

»Elsa geht es gut«, sagte ich und streichelte ihren Arm, als wir zum Wagen liefen.

»Ich weiß«, antwortete sie, obwohl wir beide wussten, dass es ihrer Mutter nicht gut ging.

»Was ist dann das Problem?«

»Achtundsechzig Dollar für das Essen, Peter. Und noch zwanzig Dollar für den Film. Was glaubst du, wer das alles bezahlt?«

»Ich habe einen Job. Bald müssen wir uns um Geld keine Sorgen mehr machen.« Langsam färbte ihr Ärger auf mich ab.

»Du hast noch nicht mal angefangen zu arbeiten und wirfst das Geld schon zum Fenster raus.«

»Ich wollte nur, dass wir mal wieder zusammen weggehen und uns amüsieren«, sagte ich über das Autodach hinweg, bevor wir beide einstiegen und die Türen zuknallten.