Was andere Menschen Liebe nennen - David Levithan - E-Book
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Was andere Menschen Liebe nennen E-Book

David Levithan

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Beschreibung

Wie weit gehst du für die Liebe?

Der 16-jährige Stephen ist unsichtbar – und zwar schon von Geburt an. Ein Fluch lastet auf ihm. Ganz allein lebt er in einem Hochhauskomplex mitten in New York City. Eines Tages zieht dort Elizabeth mit ihrer Familie ein und es passiert etwas, womit Stephen nie in seinem Leben gerechnet hätte. Elizabeth kann ihn sehen! Zwischen den beiden entspinnt sich eine Liebesgeschichte, so traumhaft schön wie der Sommer, aber gleichzeitig auch so bedrohlich wie ein nahendes Unwetter. Und dann müssen die beiden eine Entscheidung treffen, die den Unterschied zwischen Liebe und Tod bedeuten kann.

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Seitenzahl: 514

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Andrea CremerDavid Levithan

WAS ANDERE MENSCHEN LIEBE NENNEN

Aus dem Amerikanischen von Bernadette Ott

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2013 by Broken Foot Productions, Inc.

Copyright © 2013 David Levithan

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

This edition published by arrangement with Philomel Books, a division of Penguin Young Readers Group, a member of Penguin Group (USA) Inc.

Titel der Originalausgabe: »Invisibility«

© 2017 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten.

Aus dem Amerikanischen von Bernadette Ott

Umschlaggestaltung: Kathrin Schüler, Berlin

Umschlagmotive: © Plainpicture (Johner/Michael Jonsson), Shutterstock (Antonio Guillem, tugolukof, Robert Kneschke)

MI ∙ Herstellung: eS

Satz: Uhl + Massopoust, Aalen

ISBN 978-3-641-14853-9V003

www.cbt-buecher.de

Für Casey Jarrin(der mich im Dunkeln sieht)– AC

Für Jen Bodner(für mich nie unsichtbar)– DL

Kapitel 1

Ich bin unsichtbar auf die Welt gekommen.

Keine Ahnung, wie das damals abgelaufen ist. Ist meine Mutter ins Krankenhaus gefahren, in der Hoffnung, kurz darauf ein ganz normales, sichtbares Baby im Arm zu halten? Oder war sie davon überzeugt, dass der Fluch wirksam war, wusste sie, was passieren würde, und hat mich heimlich geboren? Es ist so ein befremdliches Bild, sogar für mich: ein unsichtbares Baby, das zur Welt gebracht wird. Wie war das für sie? Was hat sie in dem Moment empfunden, als man mich hochhielt und es da nichts zu sehen gab? Als es da nur etwas zu berühren und zu spüren gab? Sie hat es mir nie erzählt. Für sie war die Vergangenheit so wenig sichtbar, wie ich es war. Einmal hörte ich sie sagen, dass es da einen Fluch gab – wütende Worte, an meinen Vater gerichtet, nicht für meine Ohren bestimmt. Aber mehr nicht. Kein Warum. Kein Wie. Nur dass es eben so war. Und dass es mein Leben war.

Unsichtbar. Ich bin unsichtbar.

Ich möchte meine Eltern immer noch fragen, warum es so ist. Ich möchte sie fragen, wie es dazu gekommen ist. Aber ich kann es nicht mehr. Sie sind beide nicht mehr da.

Mein Vater hat uns verlassen, als ich noch klein war. Er ertrug es nicht.

Meine Mutter hielt so lange durch, wie sie konnte. Fünfzehn Jahre. Dann streikte ihr Körper. Eine Ader platzte in ihrem Gehirn.

Seit fast einem Jahr bin ich jetzt allein.

Ich kann von niemandem gesehen werden, egal wie sehr ich mich anstrenge. Man kann mich berühren, aber nur wenn ich mich darauf konzentriere. Und ich bin zu hören, wenn ich rede. Dies scheinen die Regeln zu sein, die aufgrund des Fluchs für mich gelten. Ich habe mich daran gewöhnt, obwohl ich sie nicht begreife. Als ich ein Baby war, hatte ich automatisch Masse und Gewicht. Meine Mutter konnte mich problemlos im Arm halten. Aber je älter ich wurde – und je deutlicher ich begriff, dass mit mir etwas nicht stimmte –, desto mehr musste ich mich darauf konzentrieren, dass sie meinen Körper auch spürte. Ich verflüchtige mich nicht – ich bin mit meinem Körper anwesend, ich falle nicht durch den Boden oder kann durch Wände gehen. Aber eine Berührung mit einem anderen Menschen, dafür brauche ich viel Kraft. Ich biete der Welt keinen körperlichen Widerstand, aber die Welt mir. Der Fluch ist wie ein fein gesponnenes Netz aus oft widersprüchlichen Regeln. Mit ihm bin ich auf die Welt gekommen. Mehr weiß ich nicht darüber. Nur dass er an mir klebt und ich ihn nicht loswerden kann.

New York ist ein Ort, an dem man erstaunlich leicht unsichtbar sein kann, solange man einen Vater hat, der einem von Zeit zu Zeit das Bankkonto auffüllt. Man kann alles online bestellen – Lebensmittel, Filme, Bücher, Möbel. Man muss nie bar bezahlen, kein Geldschein muss von einer Hand in die andere wandern. Die Pakete lässt man vor der Tür abstellen.

Ich verbringe viel Zeit in der Wohnung, aber nicht den ganzen Tag.

Ich wohne vier Blocks vom Central Park entfernt, wo ich meistens den Nachmittag über bin. Dort lebe ich mein spurenloses, schattenloses Leben. Ich bin Teil der grünen, weiten Fläche. Ich bin da wie die Bäume, die Luft und das Wasser. Manchmal sitze ich stundenlang auf einer Bank. Manchmal streife ich umher. Ich beobachte. Die Touristen und die regelmäßigen Parkbesucher. Die Hundebesitzer und -ausführer, die jeden Tag um genau dieselbe Zeit kommen. Die Horden von Jugendlichen, die immer laut um die Aufmerksamkeit der anderen wetteifern. Die alten Menschen, die wie ich dasitzen und das Geschehen um sich herum beobachten, als hätten sie alle Zeit der Welt, wo sie doch tief im Innern wissen, dass das Gegenteil der Fall ist. Ich nehme alles in mich auf. Ich belausche ihre Unterhaltungen, werde Zeuge ihrer geflüsterten Gespräche. Ich sage nie ein Wort. Die Vögel, die Eichhörnchen und der Wind werden von ihnen deutlicher wahrgenommen als ich.

Ich existiere nicht. Und trotzdem existiere ich.

Ich vermisse meine Mutter. Als Kind brachte sie mir bei, mich zu konzentrieren, meinen Körper schwer zu machen, als mein Instinkt nicht mehr funktionierte. So konnte sie mich weiter auf dem Rücken tragen. Halt dich fest, rief sie mir immer wieder zu. Sie wollte, dass ich die Welt und das Leben kennenlernte. Mich nicht davon absonderte. Sie duldete es nicht, dass ich irgendwelche krummen Dinger drehte. Es kam für sie nicht infrage, dass ich Leute beklaute oder ausspionierte oder meine Situation anders ausnutzte. Auf mir lastete ein Fluch, was aber nicht hieß, dass ich deshalb zum Fluch für andere werden musste. Ich war anders, das ja, aber ich war nicht weniger ein Mensch als alle anderen um mich herum. Deshalb musste ich wie ein Mensch handeln, selbst wenn ich mich überhaupt nicht menschlich anfühlte.

Sie liebte mich, was vielleicht das Erstaunlichste an meiner Geschichte ist. Ihre Liebe zu mir stand nie infrage. Womit ich sagen will: Es gab da natürlich jede Menge Fragen, aber kein einziges Mal fragte ich mich, ob sie mich vielleicht nicht liebte.

Sie brachte mir das Lesen bei, obwohl sie fast die ganze Zeit für mich die Seiten umblättern musste. Und das Schreiben, obwohl mich bereits etwas so Einfaches wie auf einer Tastatur tippen erschöpfen kann. Sie brachte mir bei, nur dann zu reden, wenn niemand außer ihr in der Nähe war. Zu schweigen, sobald irgendjemand anders da war. Sie unterrichtete mich in Physik und Mathematik und Geschichte, und ich lernte von ihr, mir die Haare und die Fingernägel zu schneiden. Sie erzählte mir alles, was in unserer Nachbarschaft passierte und was sie tagsüber erlebt hatte. Sie erzählte mir gerne vom 16. Jahrhundert oder von einer Fernsehserie, die sie irgendwann einmal gesehen hatte. Der einzige Zeitraum, von dem sie mir überhaupt nichts erzählte, war das Jahr meiner Geburt. Oder irgendwelche Ereignisse unmittelbar davor. Oder unmittelbar danach.

Sie sagte es keiner Menschenseele. Und deshalb war sie auch allein – allein mit mir. Wie die Mutter, so der Sohn. Es gab ein paar Kinder, mit denen ich zusammen aufgewachsen bin, aber nur weil ich sie vom Sehen kannte, weil ich sie eben oft beobachtet habe. Vor allem die Kinder in unserem Haus. Alex aus 7A kenne ich am längsten – vielleicht erinnere ich mich wegen seiner roten Haare so gut an ihn, vielleicht aber auch, weil er sich dauernd über irgendetwas beklagt. Mit sechs wollte er immer die neuesten Spielsachen, mit sechzehn will er abends lang ausgehen und dass seine Eltern ihm mehr Geld geben und dass sie ihn in Ruhe lassen. Ich habe von ihm die Nase ziemlich voll, genauso wie von Greta in 6C, die immer schon fies war, und von Sean in 5C, der immer schon schüchtern war. Ich glaube, er würde mich um meine Unsichtbarkeit beneiden, wenn er wüsste, dass es so etwas gibt. Aber er weiß es nicht, und deshalb verlegt er sich auf andere Lösungen, die freiwilligeren Möglichkeiten, für andere unsichtbar zu sein. Er vergräbt sich in Bücher. Er vermeidet jeden Blickkontakt, sodass die Welt für ihn indirekt wird. Er nuschelt sich seinen Weg durchs Leben.

Und dann gab es da Ben, der weggezogen ist. Ben, den einzigen Freund, den ich fast einmal hatte. Als er fünf war und ich zehn, beschloss er, einen eingebildeten Freund zu haben. Er nannte ihn Steffen, was nahe genug an meinem eigenen Namen – Stephen – war, um mir damit ein kleines Spielchen zu erlauben. Er lud mich zum Abendessen ein und ich kam. Er griff im Park nach meiner Hand und ich gab sie ihm und hielt seine Hand fest. Er nahm mich am Mitbring-Tag mit in den Kindergarten, und ich stand da, während der Erzieher ihn für seinen witzigen Einfall lobte, und nickte zu allem, was Ben über mich sagte. Nur reden konnte ich nicht mit ihm, denn wenn er meine Stimme gehört hätte, das wusste ich, dann hätte das die Illusion zerstört. Ein einziges Mal, als ich mir sicher war, dass er nicht hinhörte, flüsterte ich seinen Namen. Bloß um ihn zu hören. Er hat es nicht bemerkt. Als er dann sechs war, brauchte er mich nicht mehr. Er war eben älter geworden, dafür konnte er nichts. Aber als er später mit seinen Eltern weggezogen ist, war ich trotzdem traurig.

Meine Tage gleichen einander ziemlich. Ich schlafe, so lange ich will. Ich gehe unter die Dusche, obwohl ich eigentlich nie schmutzig bin. Das mit dem Duschen mache ich vor allem deshalb, um mich ganz darauf zu konzentrieren, dass ich einen Körper habe, und dann zu spüren, wie das Wasser auf meine Haut prasselt. Dieses Gefühl hat etwas sehr Menschliches, es ist für mich eine Begegnung mit dem normalen Leben, die ich jeden Morgen brauche. Abtrocknen muss ich mich nicht; ich verflüchtige mich einfach, und wenn noch etwas Wasser auf meinem Körper ist, dann tropft es direkt in die Duschwanne. Dann gehe ich zurück in mein Zimmer und ziehe mich an, damit ich nicht friere. Die Kleidungsstücke werden ebenfalls unsichtbar, sobald ich sie angezogen habe – ein weiteres Detail der praktischen Umsetzung des Fluchs. Danach höre ich Musik und lese ein paar Stunden lang. Mittags nehme ich meine Hauptmahlzeit zu mir. Der Fluch erstreckt sich auch auf alles, was ich mir in den Mund stecke, deshalb wird alles, was ich esse, unsichtbar, sobald es meine Lippen berührt hat. Wenn ich mit dem Mittagessen fertig bin, gehe ich hinaus in den Park. Ich drücke den Knopf im Aufzug und muss dann unten in der Lobby warten, bis der Portier die Tür des Apartmentgebäudes für jemand anders öffnet, bevor ich das Haus verlassen kann. Wenn niemand in der Nähe ist, öffne ich die Tür auch selbst und vertraue darauf, falls es doch jemand bemerken sollte, dass ein Windstoß oder einfach nur die Tür selbst dafür verantwortlich gemacht wird. Im Park suche ich mir eine schattige Bank, auf die sich niemand setzen will – weil die Vögel daraufgekackt haben oder weil ein Brett fehlt. Oder ich spaziere auf verwunschenen Pfaden durch den naturbelassenen Teil. Komme ich an einen Teich, spiegele ich mich nicht darin. Bleibe ich beim Musikpavillon stehen, kann ich mich zum Rhythmus wiegen, ohne dass es jemand bemerkt. Wenn ich erneut an einem Teich vorbeikomme, stoße ich manchmal überraschend einen Schrei aus, sodass die Enten erschrocken auffliegen und sich die anderen Spaziergänger wundern, was da gerade passiert ist.

Wenn es dunkel wird, gehe ich nach Hause und lese wieder. Hocke mich vor den Fernseher. Surfe im Internet. Das Tippen fällt mir zwar schwer, trotzdem setze ich dort ab und zu ein paar Sätze von mir in die Welt. Das ist für mich der einzige Weg, wie ich an der Sprache lebendig Anteil haben kann. Ich kann mit Fremden chatten. Ich kann irgendwo einen Kommentar hinterlassen. Ich kann meine Worte zur Verfügung stellen, wenn sie gebraucht werden. Keiner muss wissen, dass vor dem Bildschirm auf der anderen Seite unsichtbare Hände die Buchstaben eingeben. Keiner muss meine große Wahrheit erfahren. Stattdessen biete ich viele kleine Wahrheiten an.

Und so vergeht die Zeit. Ich gehe nicht in die Schule. Ich habe keine weiteren Angehörigen. Der Vermieter weiß, dass meine Mutter gestorben ist – ich musste den Rettungsdienst rufen, ich musste zusehen, wie sie fortgebracht wurde –, aber er glaubt, dass mein Vater noch da ist. Das muss ich meinem Vater lassen: Er hat mich nicht verstoßen. Er will nur nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich weiß nicht mal, wo er wohnt. Er ist für mich eine E-Mail-Adresse. Eine Handynummer.

Als meine Mutter starb, kehrten all die Fragen nach dem Wie und dem Warum zurück. Durch meinen Kummer erhielten sie neue Nahrung. Die Ungewissheit ließ mich rückwärtsschauen. Ohne den Puffer ihrer Liebe hatte ich das erste Mal in meinem Leben wirklich das Gefühl, dass ein Fluch auf mir lastete. Ich hatte nur zwei Möglichkeiten: entweder ihr nachzufolgen oder zu bleiben. Ich blieb, allerdings widerwillig. Ich tauchte in die Worte der anderen Menschen ein, belauschte ihre Gespräche im Park, webte mir aus den losen Fäden meines Lebens, die ich in der Hand hielt, meine eigene Gegenwart. Baute mir mein eigenes kleines Nest für die Zukunft. Nach einer Weile hörte ich auf, mich nach dem Warum zu fragen. Ich hörte auf, das Wie erforschen zu wollen. Hörte auf, ununterbrochen das Was und das Was-Nicht wahrzunehmen. Übrig geblieben ist mein Leben, nicht mehr und nicht weniger, und ich lebe es einfach.

Ich bin wie ein Geist, der nie sterben durfte.

Alles fängt mit Bens altem Apartment an, Nummer 3B. Zwei Türen von meiner Wohnung, Nummer 3D, entfernt. Als ich zwölf war, ist Ben mit seinen Eltern fortgezogen. Seither haben in der Wohnung drei Mietparteien gewohnt.

Die Cranes waren ein widerwärtiges Paar, das nur eine einzige Beschäftigung kannte, nämlich einander widerwärtige Dinge ins Gesicht zu sagen. Ihnen selbst machte das viel zu viel Spaß, um sich scheiden zu lassen, aber für alle anderen um sie herum war es überhaupt nicht lustig.

Danach kamen die Tates, die vier Kinder hatten und kurz vor Ankunft des fünften feststellten, dass eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern in Zukunft wohl nicht mehr groß genug war.

Sukie Maxwell hatte von vornherein vorgehabt, nur ein Jahr in New York zu bleiben. Sie hatte nämlich nur ein Jahr Zeit, um für einen Kunden dessen neues Apartment in Manhattan einzurichten, bevor sie für denselben Kunden dessen Haus in Südfrankreich umgestalten sollte. Sie hat in meinem Universum so wenig Spuren hinterlassen, dass ich mich noch nicht einmal daran erinnern kann, wann sie eigentlich ausgezogen ist. Erst als ich jetzt zwei Umzugsmänner ein abgewetztes altes Sofa durch den Flur tragen sehe – ein Sofa, das nie und nimmer Sukie Maxwells Zustimmung gefunden hätte –, weiß ich, dass wir sie hier nie mehr wiedersehen werden und dass nun neue Mieter die Wohnung übernehmen.

Ich gehe an den Umzugsmännern vorbei und mache mich in Richtung Park auf. Kaum bin ich draußen, habe ich die neuen Nachbarn auch schon wieder vergessen. Stattdessen bin ich in Gedanken bei Ivan, meinem Lieblingshundesitter, der am Nachmittag immer mit Tigger und Eeyore (einem Dackel und einem Basset) seine Runde dreht. Aus seinen Gesprächen mit anderen Gassigehern weiß ich, dass er vor drei Jahren aus Russland nach New York gekommen ist und sich an der Lower East Side mit drei weiteren Russen, die er übers Internet kennengelernt hat, ein Zimmer teilt. Was sich als Fehler herausgestellt hat, vor allem deshalb, weil Ivan ein Auge auf Karen geworfen hat, das Kindermädchen der jüngeren Mitglieder der Hundehalterfamilie von Tigger und Eeyore. Ich habe Karen und Ivan im Park beobachtet und finde, dass sie ein gutes Paar abgeben würden, und sei es auch nur deswegen, weil er die Hunde freundlich und humorvoll behandelt und sie auf dieselbe Weise mit den Kindern umgeht. Karen wohnt auch bei der Familie, und es ist absolut undenkbar, dass Ivan bei ihr einmal eine Nacht verbringen könnte. Genauso wenig aber kommt es für ihn infrage, sie mit zu sich nach Hause zu seinen fragwürdigen Mitbewohnern zu nehmen. Es ist eine verfahrene Situation, und manchmal habe ich das Gefühl, fast noch gespannter als Ivan zu sein, welche Lösung sich finden wird.

Trotzdem gibt es kleine Fortschritte zu beobachten. Heute kommt Karen bereits zehn Minuten nach Ivan mit den Kindern in den Park. Die beiden scheinen sich gegenseitig zu beäugen, zögern aber wegen der Kinder. Ich folge ihnen, als sie sich in Richtung der Alice-in-Wonderland-Statue bewegen. Die Kinder stürmen davon, um zu spielen, und ich rücke näher. Jetzt sind nur noch Tigger und Eeyore bei ihnen. Aber weder Karen noch Ivan macht den ersten Schritt.

Ich kann nicht anders. Ich bücke mich, konzentriere mich und schiebe die beiden Hunde in unterschiedliche Richtungen. Plötzlich schießen sie im Kreis herum und Ivan und Karen stehen mit den sich verheddernden Leinen in der Mitte. Sie straucheln und fallen einander in die Arme, was für beide zunächst ein Schock ist, aber einer, der in Lächeln und Gelächter endet. Die Hunde bellen und kläffen hysterisch; die Kinder rennen herbei, um zu sehen, was los ist; Ivan und Karen stehen eng umschlungen da und versuchen, die Leinen zu entwirren.

Ich muss auch lächeln. Ich habe keine Ahnung, wie es wohl aussieht, wenn ich lächle. Aber ich spüre mich lächeln.

Es ist überhaupt nicht sicher, dass der kleine Funke dieses Augenblicks, den ich Ivan und Karen geschenkt habe, jemals zu etwas führen wird, das mehr ist als … eben dieser Moment. Trotzdem fühle ich mich beschwingt, als ich zu unserem Apartmentgebäude zurückgehe. Ich warte, bis Mrs Wylie (aus Nummer 4A) kommt und husche hastig hinter ihr durch die Tür. Gemeinsam fahren wir im Aufzug bis in den vierten Stock hoch und ich drücke danach den Knopf für den dritten. Als ich den Aufzug verlasse, steht vor der Tür zur Wohnung 3B ein Mädchen mit drei großen Ikea-Tüten, die alle auf den Boden fallen, als sie nach ihrem Haustürschlüssel herumzuwühlen beginnt. Ich schleiche mich vorsichtig an ihr vorbei und bleibe dann vor meinem Apartment stehen – meinen Schlüssel kann ich erst dann herausziehen, wenn sie verschwunden ist. Und so stehe ich da und beobachte, wie sie zwei Buchstützen und ein paar billige Bilderrahmen in eine der Tüten zurückschaufelt. Ich höre sie fluchen, entweder schimpft sie auf sich selbst oder auf die Tüten, keine Ahnung, was von beidem. Sukie Maxwell würde noch im Nachhinein schlecht werden, wenn sie wüsste, dass in ihr perfektes Apartment Sachen von Ikea einziehen, denke ich, als das neue Mädchen auf einmal direkt zu der Stelle hinsieht, wo ich mich befinde.

»Hast du jetzt ernsthaft vor, da wie angewurzelt stehen zu bleiben?«, fragt sie. »Findest du das komisch, oder was?«

Meinen Körper durchfährt es wie ein Blitz, noch nie war mein Bewusstsein wacher als in diesem Moment. Ich drehe mich um, um zu sehen, wer hinter mir steht.

Aber da ist niemand.

»Ja, du«, sagt das Mädchen.

Ich kann es nicht glauben.

Sie sieht mich.

Kapitel 2

In New York würde alles anders werden, hatte ich geglaubt. Und kaum bin ich hier, was passiert? Aus meinem Mund schießen die Worte wie vergiftete Pfeile hervor. Genau wie zu Hause und wie jeden anderen Tag auch. Obwohl dieser Junge es nicht verdient hat. Nicht wirklich. Er war ja schließlich nicht schuld daran, dass ich die Tüten fallen gelassen habe.

Und, okay, er ist auch nicht mehr wirklich ein Junge. Er ist so alt wie ich. Jemand, den meine Mutter sofort als potenzielles Mitglied meiner »Peergroup« identifizieren würde. Während unserer langen Autofahrt hierher an die Ostküste hat sie mich mindestens einmal pro Stunde daran erinnert, dass ich mich unbedingt mit Jugendlichen in meinem Alter anfreunden soll, so als wären Sechzehnjährige eine bedrohte Gattung, die man mühsam ausfindig machen muss. Elizabeth, die große Teenager-Forscherin, der es endlich gelingt, Kontakt zu ihresgleichen aufzunehmen. Und die sich damit vor dem eigenen Untergang rettet, dem sie aufgrund des Umzugs ihrer Familie in diesen merkwürdigen Landstrich geweiht ist.

Tatsächlich habe ich mir angewöhnt, im Geist zu meinem eigenen Alter immer zehn Jahre hinzuzufügen. Nicht dass ich mir groß was einbilde, wie reif ich innerlich schon bin oder so was, aber meine Mutter hat schon recht. Ich habe mich seit einer ganzen Weile nicht mehr mit Leuten in meinem Alter angefreundet. Der Junge ist wahrscheinlich ganz »normal« sechzehn, wie alle anderen auch. Während ich mich immer fühle, als sei ich auf eine Das-Leben-kann-und-wird-dich-total-anschmieren-Weise sechzehn.

Und obwohl ich nicht der Idee anhänge, dass jedes menschliche Wesen, das einen Penis hat, für mich die Tür aufhalten oder seinen Mantel während eines verregneten Spaziergangs für mich über die Pfützen breiten sollte, könnte er wenigstens »Oh, wie blöd« murmeln oder die Färm-Vase zu mir zurückkicken. Schließlich ist sie in seine Richtung gerollt und liegt jetzt direkt vor seinem rechten Fuß.

Ich bin schon versucht »Na gut, wenn du willst, behalt sie doch!« zu zischen und den Rest, der in den Tüten ist, in unsere neue Wohnung zu schmeißen, um dann die Szene mit einem prächtigen Türknallen zu beenden. Doch der Plan lässt sich leider nicht umsetzen, denn ich knie immer noch inmitten dieses Chaos aus Bilderrahmen, Kissenbezügen und Wassergläsern mit Namen wie Flukta und Varmt, höchstwahrscheinlich üble Schimpfwörter, mit denen sich die Schweden über uns lustig machen wollen. Ich taste auf dem Teppichboden in alle Richtungen und versuche herauszufinden, wohin meine Schlüssel gefallen sind.

Ein Stechen in meiner Brust teilt mir mit, dass mein reflexartiger Wutausbruch verflogen ist, und ich fühle mich jetzt schlecht, weil ich den Jungen so angebrüllt habe, ganz zu schweigen von meiner verdammten Ungeschicklichkeit.

Er steht einfach nur da und schaut mich an.

Schuldgefühl und Verlegenheit steigen in mir hoch, ich spüre einen Kloß im Hals und wünsche mir, ich wäre überall sonst auf der Welt, nur nicht in diesem Haus, das sich nicht wie mein Zuhause anfühlt, es aber trotzdem irgendwie ist. Ich bin hier in der Falle. Wie festgenagelt verharre ich in diesem klaustrophobischen Korridor.

Mir fehlt Luft, die nicht von Abgasen geschwängert ist. Mir fehlt der weite Horizont. Wie kann man an einem Ort leben, der keinen Horizont hat? Der Mensch hat sich auf einer Kugel entwickelt, die sich in einem sich stetig ausdehnenden Universum um sich selbst dreht und ihre Kreise zieht. Der Horizont ist einfach eine Tatsache. Genauso wie die Schwerkraft. Doch irgendwie haben die Bewohner dieser merkwürdigen Insel es geschafft, so viel Stahl und Beton aufeinanderzuhäufen, dass die Stelle ausgelöscht wurde, an der der Himmel die Erde berührt. Als wollten sie damit signalisieren, dass die Gesetze, die für den Rest der Welt gelten, hier außer Kraft gesetzt sind. Wenn ich genauer hingucken würde, dann würde ich vielleicht auch bemerken, dass sie alle eine Handbreit über dem Bürgersteig schweben.

Man hätte meinen sollen, dass Mom das in ihrer ganzen Du-wirst-schon-sehen-New-York-ist-viel-besser-als-Minnesota-und-du-willst-ja-auch-Künstlerin-werden-und-bla-bla-bla-Predigt auch mal hätte erwähnen können. Aber hat sie natürlich nicht. Nicht dass die Predigt unbedingt notwendig gewesen wäre. Nachdem passiert war, was passiert war, wollte ich nur noch weg. Wir alle wollten nur noch weg. Wir drei – meine Mutter, mein Bruder und ich. Und da war New York für uns erst einmal der willkommene Notausstieg. Trotzdem fiel es uns nicht leicht, fortzugehen. Seit wir hier sind, knirsche ich permanent mit den Zähnen, was wohl mit dem dauernden Lärm zu tun hat. Nichts riecht mehr so, wie es riechen sollte, und ich fühle mich ständig, als würde ich gleich Kopfweh kriegen.

Ich schiele auf meine Bluse hinunter. Das letzte Mal, als ein Junge mich so angestarrt hat, waren mir beim Herumhieven der Umzugskartons, die Mom im Wohnzimmer gestapelt hatte, aus Versehen drei Knöpfe aufgegangen, sodass meine Brüste vollkommen schamlos zu aller Welt Hallo gesagt hatten.

Aber als mein Blick nach unten wandert, stelle ich fest, dass mit meiner Bluse alles in Ordnung ist, also kein Exhibitionismus. Vielleicht haben die Mädchen, mit denen er normalerweise zu tun hat, auch einen anderen Ton drauf als ich. In Blaine war es jedenfalls so. Da haben die anderen Mädchen anders geredet als ich. Nett zu sein war wichtiger, als ehrlich zu sein. Nur dass ihre Definition von nett auch einschloss, dir mit ihren Lästergeschichten ein Messer in den Rücken zu rammen.

Ich hatte eigentlich gehofft, dass meine raue, kantige Art nach New York besser passen würde. Aber offensichtlich scheint sich meine New-Yorker-Mädchen-sind-tough-Theorie nicht zu bewahrheiten. Ich kann schon die tadelnde Stimme meiner Mutter hören: »Kein Grund, so kratzbürstig zu sein, Elizabeth.«

Das ist der Eindruck, den meine Mutter von mir hat. Ihre Tochter: die Scheuerbürste.

Ich strecke ihm meine Hand entgegen. »Tut mir leid. Hat wohl damit zu tun, dass es in der U-Bahn so heiß wie in der Sauna war, und dann war der Aufzug hier besetzt, deshalb hab ich die Treppe genommen, was die falsche Entscheidung war. Je mehr ich schwitze, desto unhöflicher werde ich.«

Er mustert meine Finger, als hätte ich eine ansteckende Hautkrankheit, und ich ziehe meine Hand hastig zurück. Er zuckt zusammen, schaut mir in die Augen. Dann beugt er sehr vorsichtig seinen Oberkörper nach unten und legt einen Finger nach dem anderen um die Vase. Er macht mehrere, sorgfältig ausbalancierte Schritte auf mich zu.

»Tut mir leid … ich … tut mir leid.« Er spricht noch langsamer, als er geht.

Ich blicke ihn fragend an. Kann es sein, dass er Schwierigkeiten mit dem Englischen hat? Aber er wirkt auf mich wie ein Amerikaner. Und was soll das bitte schön sein? Kann jemand amerikanisch aussehen? Ich glaube, es ist eher so, dass er genau so aussieht, wie ich mir New York immer vorgestellt habe. Alle möglichen unterschiedlichen Orte und Zeiten im Körper einer Person zusammengemischt. Weltläufig – ich glaube, das ist das richtige Wort dafür. In Blaine sehen die Menschen alle so aus, als hätten sie Blaine nie verlassen. Und würden es auch nie tun wollen.

Ich habe immer noch einen Kloß im Hals und schlucke ein paarmal. »Nein. Ich war unhöflich.«

Ich starre auf das idiotische kleine Keramikteil, das er mir jetzt sorgsam auf die Hand legt. Zu ihm hochzuschauen traue ich mich nicht, weil ich mich nach meinem kleinen inneren Monolog darüber, wie ein »richtiger« Amerikaner auszusehen hat, wie eine Hinterwäldlerin, Idiotin und potenzielle Rassistin fühle. Die Vase, die er mir überreicht hat, ähnelt einem grauen Ei, dem ein Hals gewachsen ist. Ich hatte sie aus einer plötzlichen Laune heraus in meinen Einkaufswagen gelegt und meiner imaginären Liste von kruden Aufgaben, wie ich meine neue Inselheimat erforschen wollte, eine weitere hinzugefügt:

Finde eine Blume, die in diese Vase passt. Wichtig: eine Blume aus der freien Natur – keine rausgerupfte Gartenblume, keine Blume aus einem Blumengeschäft. Wildwuchs aus Gehwegritzen erlaubt.

Ich zwinge mich jetzt, ihn anzusehen. »Diesen Balanceakt mit den Tüten hätte ich besser gelassen. Für so was gibt es schließlich Profis. Ich bin kein Tellerjongleur.«

Lahm. Total lahm. Außerdem kriege ich einen roten Kopf, was es noch schlimmer macht. Wenn ich rot werde, dann ist das nie vorteilhaft. Bei mir wirkt es nicht schüchtern und süß, sondern nur fleckig und unattraktiv.

Er lächelt, und auf einmal bricht hinter der Maske aus ungläubigem Staunen, hinter der er sich bis zu diesem Moment versteckt hat, ein echter Mensch hervor. Er ist hübsch. Auf diese lockere, coole Art hübsch, mit dunklen, zerzausten Haaren, die ich ihm am liebsten aus den Augen streichen würde, und übervorsichtigen Bewegungen, als würde es ihm einen Stromstoß versetzen, wenn er zufällig irgendetwas berührt. Und seine Augen … sie sind eigenartig, aber anziehend. Sie haben eine Farbe, die von einem Maler stammen könnte. Aber der müsste sich dafür mächtig anstrengen und mit unendlich vielen Farbtönen herumexperimentieren. Sie sind blau. Und auch wieder nicht. Bläulich grün. Genau die Schattierung, die der Himmel am Abend annimmt, bevor er sich beim Sonnenuntergang rosa und rötlich verfärbt. Blau wie der Horizont, den ich seit unserer Ankunft im Wolkenkratzerdickicht von Manhattan nicht mehr gesehen habe.

Innerlich male ich bereits seine Augen und muss mich zwingen, auch noch den Rest genauer zu betrachten. Nichts mehr, was genauso ungewöhnlich wäre. Aber mehr als in Ordnung. Er hat Jeans und ein einfaches weißes T-Shirt an und sieht darin auf eine Art gut aus, wie es nur wenige Jungs können. Erleichtert stelle ich fest, dass er bei dem Wetter genauso viel schwitzen muss wie ich.

»Nein. Du hast recht. Ich hab mich dumm verhalten.« Es scheint ihm wirklich leidzutun. Und er klingt etwas nervös.

Ich schiele wieder nach unten. Na toll. Meine Brüste poppen zwar nicht aus der Bluse, aber ich bin so nass geschwitzt, dass sich auch so alles überdeutlich abzeichnet.

Es sind nur seine Hormone. Sind für diese Entschuldigung verantwortlich. Das ist wieder mal typisch. So läuft es bei mir immer.

Ich spüre, wie sich meine Kiefermuskeln verkrampfen, und höre förmlich die Stimme meiner Mutter, so als würde sie jetzt ständig mein Bewusstsein steuern. Wie sie mir sagt, dass ich nett sein soll. Mich mit Jugendlichen in meinem Alter anfreunden soll. Unsere Nachbarn kennenlernen soll. Gute Nachbarschaft ist in New York so wichtig.

Seit dem Beschluss, hierher umzuziehen – das war vor einem Monat –, hat sie uns mit ihren Weisheiten über New York gefüttert. Keine Ahnung, woher sie das alles hat. Ihre Eltern sind mit ihr aus der Stadt weggezogen, als sie fünf war. Ich hab so den Verdacht, dass ihr Wissen aus Wiederholungen von Friends und Seinfeld stammt, was nichts Gutes verheißt. Aber immer noch besser als Law & Order, wovon sie sich die Folgen ebenfalls gern in Marathonsitzungen reinzieht. Wenn das nämlich ihre Informationsquelle wäre, dann müssten Laurie und ich uns wahrscheinlich jedes Mal, wenn wir die Wohnung verlassen, riesengroße GPS-Tracker umbinden.

Der Junge schaut mich weiter an, nagt an seiner Unterlippe. Es wirkt so, als würden sich hinter seinen blaugrünen Aquarellaugen tausend Fragen drängen. Ehrlich, so interessant kann ich gar nicht sein.

Seine Nervosität nimmt zu. Ich kann hören, wie er schnell und flach atmet. Verzweifelt blickt er mich an. Er wirkt wie gelähmt, unentschlossen. Dann macht er auf einmal einen Satz nach vorn und fällt vor mir auf die Knie.

»Hey …«, rufe ich. Aber da streckt er den Arm aus und befördert langsam und vorsichtig das Einrichtungsschnickschnacksammelsurium in die Ikea-Tüten zurück. Er fasst jeden Gegenstand so zaghaft und behutsam an, als würde ihn das alles unendlich faszinieren. Als bereite es ihm eine riesige Freude, jedes Objekt in die Hand zu nehmen und genau zu untersuchen, bevor er es wieder weglegt.

Merkwürdig. Aber wahrscheinlich merkt er nur, dass ich immer noch total angepisst bin, weil ich das ganze Zeugs habe fallen lassen – und hat Angst, dass ich ihn anbrülle, falls er aus Versehen irgendetwas kaputt macht, während er mir zu helfen versucht.

Mürrisch klaube ich die restlichen Teile zusammen. Als ich meine Tüte voll habe und mich aufrichte, steht er mit den beiden anderen Tüten in den Händen vor mir. Er schaut mich unverwandt an. Fast ohne zu blinzeln. Seine Augen strahlen, als hätte ihm noch nie etwas mehr Spaß gemacht, als für mich die Einkäufe zu tragen.

Ich zögere, blicke verlegen erst zu ihm und dann zum Schlüsselbund in meiner Hand. War meine Entschuldigung ausreichend? Soll ich ihn noch hereinbitten? Kann ich einen Fremden in unsere Wohnung lassen? Aber er ist kein Fremder, wenn er unser Nachbar ist, oder? Und er muss hier wohnen. Mom hat dieses Apartmentgebäude wegen seiner Lage und seines Sicherheitsstandards ausgesucht. Ich vermute mal, dass Law & Order da doch seine Spuren hinterlassen hat. Sie ist bereits im Krankenhaus, wo sie eine Doppelschicht übernommen hat, und das obwohl wir erst gestern hier eingezogen sind. »Jemand muss ja schließlich das Geld für dieses Luxus-Apartment verdienen«, sagte sie, als sie um halb fünf morgens lächelnd bei mir den Kopf durch die Tür steckte. Obwohl ich noch fix und fertig war, musste ich über ihren Witz laut lachen. Die Wohnung ist voll in Ordnung, aber ich hatte die Nacht auf einer Luftmatratze geschlafen. Einer Luftmatratze mit Loch.

»Willst du vielleicht mit reinkommen und mit mir eine eisgekühlte Zitronenlimonade trinken?«, frage ich. Eisgekühlte Zitronenlimonade ist für mich das ultimative Friedensangebot an einem so heißen Tag. Da fällt mir ein, dass wir gar keine Limonade im Kühlschrank haben. Ich will es gerade sagen, aber dann sage ich es doch nicht, weil er in dem Moment so blass wird wie jemand, dem kotzübel ist.

Er schließt die Augen, und als er es tut, geschieht etwas sehr Seltsames. Es ist, als hätte ich für einen Augenblick ebenfalls die Augen geschlossen. Nur dass ich weiß, ich habe es nicht getan. Er verschwindet. So wie jemand aus dem Gesichtsfeld verschwindet, wenn man den Kopf dreht. Aber ich habe den Kopf nicht gedreht. Er steht mir direkt gegenüber.

Ich will jetzt nur noch in die Wohnung, weil ich mir sicher bin, dass ich einen Hitzschlag habe. Wenn er wenigstens etwas sagen würde. Dann könnte ich sein Nein akzeptieren und reingehen. Da fällt mir ein, dass ich mich ihm noch gar nicht vorgestellt habe.

»Ich bin Elizabeth«, sage ich, während ich es immerhin schaffe, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. »Aber ich überlege, ob ich mich nicht Jo nennen soll.«

»Elizabeth und Jo.« Er neigt den Kopf und in sein Gesicht kehrt wieder etwas Farbe zurück. Er spricht sehr leise. »Gefällt dir Elizabeth nicht?«

Oje. Die Schwärmerei meiner Mutter für Little Women wird mich noch bis an mein Lebensende verfolgen. Ich habe keine Lust, jetzt lang und breit zu erklären, dass Mom in den Geburtsurkunden ihrer Kinder ihrem Lieblingsbuch ein Denkmal setzen wollte. Und genauso wenig habe ich Lust darauf, mit diesem merkwürdigen Jungen darüber zu diskutieren, warum sie mich ausgerechnet nach dem Mädchen genannt hat, das früh stirbt, und die starke, überlebenstüchtige Schwester nur für den zweiten Vornamen herhalten durfte. Überleben als Nebensache. Allmählich habe ich das Gefühl zu zerfließen, wenn ich nicht in den nächsten dreißig Sekunden ein Glas kaltes Wasser in mich hineinschütte.

»Josephine ist mein zweiter Vorname.« Ich schließe die Tür auf und mache ihm ein Zeichen, dass er vor mir reingehen soll. »Und Jo ist mein Pseudonym.«

Er dreht sich um und geht rückwärts in die Wohnung, als könne er auf keinen Fall den Blick von mir wenden. Vielleicht sollte ich besser eine andere Bluse anziehen, bevor ich ihm mitteile, dass er statt Limonade nur Wasser bekommen kann.

»Ein Pseudonym? Warum? Bist du Schriftstellerin?«

»Na ja, ich hab noch nichts veröffentlicht«, sage ich. »Aber da, wo ich hinwill, tummeln sich bisher fast nur Jungs.«

»Journalismus?«, fragt er.

Das macht mir jetzt richtig Spaß. »Comics.«

»Du willst Comics schreiben?« Er ist total verblüfft … so wirkt es jedenfalls auf mich. Vielleicht glaubt er auch, dass ich ihm was vorflunkere. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Junge darauf so reagiert.

»Nicht nur schreiben. Skript, Entwurf, Ausführung. Alles.« Um mich nicht innerlich in die Defensive gedrängt zu fühlen, frage ich ihn hastig: »Und willst du ihn mir jetzt sagen?«

»Was sagen?«

»Deinen Namen.«

Er macht es noch einmal. Er schließt die Augen. Und wieder fühle ich mich, als würde ich plötzlich nichts mehr sehen. Dann schaut er mich wieder an. Schaut mir so fest in die Augen, dass ich nichts anderes tun kann, als seinen Blick zu erwidern.

»Stephen.«

Ich muss mich vorbeugen, um ihn zu hören. Als er seinen Namen flüstert, spüre ich seinen Atem auf meinem Gesicht. Er fühlt sich merkwürdig kühl an, jedenfalls verglichen mit der stickigen Hitze in der Wohnung.

»Schön, dass du wieder da bist!«

Stephen zuckt erschrocken zusammen und lässt die Tüten fallen und gleich darauf sieht es in der Wohnung exakt so aus wie eben draußen auf dem Korridor. Er bückt sich nicht, um irgendetwas aufzuheben. Er starrt meinen Bruder an. Was ich ihm kaum übelnehmen kann.

Laurie liegt auf dem Parkettboden, umgeben von lauter Tischventilatoren. Sein Oberkörper ist nackt, er hat die Arme unter dem Kopf verschränkt und schaut zur Decke hoch.

»Wie war’s in der U-Bahn? Ist die Luft da so schlecht, wie ich mir’s vorstelle? Die Kosmetikfirmen sollten aufhören, ihre Parfümproben in den Kaufhäusern zu verteilen, sondern lieber die Fahrgäste damit besprühen. Großartige Idee von mir, was? Ich sag dir, eines Tages werde ich über diese Stadt herrschen.«

Das Kühlaggregat der Klimaanlage befindet sich immer noch in dem Karton hinter ihm und den surrenden Ventilatoren. Die ganze Anordnung wirkt wie ein bizarres Opferritual, bei dem mein kleiner Bruder dem Gott der Klimaanlagen dargebracht werden soll.

Ich will ihn schon anbrüllen, warum er das Gerät noch nicht am Fenster installiert hat, aber dann bemerke ich das Glas Zitronenlimonade neben ihm. Und da möchte ich meinem Bruder nur noch zurufen, wie sehr ich ihn liebe.

»Ich häng sie ans Fenster, sobald die Sonne untergegangen ist«, sagt er. Meine erste Reaktion scheint ihm nicht entgangen zu sein und er will offensichtlich einem Wutausbruch von mir zuvorkommen.

»Ja, ja, schon gut.« Ich gehe auf seine Entschuldigung nicht weiter ein. »Ist für mich und Stephen auch Limonade da? Und schreib mir genau auf, wo der Laden ist, damit ich später noch alles einkaufen kann, was du vergessen hast.«

Laurie setzt sich auf. Macht ein Gesicht, wie ich es von niemand anders kenne, so als würde er gleichzeitig grinsen und die Stirn runzeln – eine Mischung aus Amüsement und Sorge.

»Wer?«, fragt er.

»Stephen«, sage ich. »Er hat mir mit den Tüten geholfen. Er ist mit so was genauso geschickt wie ich.«

Ich lächle in Stephens Richtung und hoffe, dass er es als Zeichen einer beginnenden Freundschaft auffasst, wenn ich einen kleinen Witz über unsere gemeinsame Fähigkeit, Tüten fallen zu lassen, mache. Aber er starrt bloß auf meinen Bruder und seine Hände zittern.

Laurie blickt auf die Stelle rechts von mir, wo Stephen wie eingefroren dasteht. Dann runzelt er die Stirn und schaut wieder zu mir. »Okay, Josie, was ist los?«

»Jedes Mal, wenn du mich ›Josie‹ nennst, hab ich ganz stark das Gefühl, dass damit der Sinn meines Pseudonyms ausgehebelt wird.«

»Wie du meinst, Betty.«

Ich hebe warnend den Zeigefinger. »Jetzt stell dich nicht so an, Bruder. Als Erstgeborene habe ich das Recht, nein, die Pflicht, dich herumzukommandieren. Zwei Limonaden bitte. Sofort.«

»Warum zwei? Bist du nicht ein bisschen zu alt, um einen eingebildeten Freund zu haben?« Er grinst. »Ich weiß, dass du davon träumst, für deinen kleinen Bruder einen Seelenverwandten zu finden, jetzt wo wir in dieser als schwulenfreundlich gepriesenen Metropole gelandet sind, aber so verzweifelt bin ich noch nicht … Außerdem kann ich mich da immer noch auf meine eigene Fantasie verlassen. Aber ich halte dich auf dem Laufenden.«

Ich verstehe nicht, was er meint. Meine Augen wandern von Laurie zu Stephen und wieder zurück. In dem stickigen Apartment könnte es gar nicht schwüler sein, aber mir ist auf einmal, als hätte mir jemand einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf geschüttet.

»Werd nicht frech.« Ich beiße mir auf die Lippen, weil ich mich wie meine Mutter anhöre.

»Ähm –« Laurie wirkt allmählich ernsthaft besorgt. »Wie lang bist du denn draußen in der Hitze gewesen?« Er springt auf. »Ich hol dir eine Limonade.«

Mein Herz klopft gegen meine Rippen, während Laurie in die Küche trottet.

Neben mir flüstert Stephen: »Schon in Ordnung. Ich gehe.«

Kapitel 3

Die ersten paar Minuten versuche ich mir einzureden, dass der Fluch durchbrochen ist. Vielleicht war er ja zeitlich begrenzt und ich habe das Ende dieser Zeitspanne jetzt erreicht. Genauso einfach, wie ich aus der Welt verschwunden bin, tauche ich wieder auf. Niemand hat mir gesagt, dass es eines Tages so sein würde. Vielleicht wusste es ja keiner. Aber hier, im Korridor, ist es geschehen. Es hat mich das erste Mal jemand gesehen.

Wie aufregend und erschreckend und absolut umwerfend das ist. Sie kann mich sehen und von jetzt an wird es mir mit allen Menschen so gehen. Alle werden mich sehen können. Zufälligerweise war sie die Erste.

Mein Fluch ist aufgehoben, ich habe die Strafe, die über mich verhängt wurde, abgeleistet.

Ich versuche, ruhig zu bleiben. Was ich in diesem Augenblick fühle, kann ich nicht in Worten ausdrücken. Vielleicht würde ich vor einem Fremden, von dem ich wüsste, dass ich ihn nie wiedersehe, damit herausplatzen, was mir gerade widerfahren ist. Aber das da ist ein Mädchen, das jetzt auf demselben Stock wie ich wohnen wird. Ich muss mich so verhalten, als wäre alles ganz normal. Nicht was in meinem Leben normal heißt, sondern was für alle anderen Menschen in ihrem Leben normal ist, jedenfalls soweit ich es mitbekommen habe.

Ja, denke ich, so muss es sein.

Der Fluch ist gebannt.

Ich bin sichtbar.

Während das alles allmählich in mich einsickert, vereinen sich die Aufregung und der Schrecken und die absolut umwerfende Normalität von all dem, was ich da gerade tue, zu einer heftigen Gefühlsmischung. Elizabeth scheint davon nichts mitzubekommen. Für sie bin ich einfach nur der Junge aus der Wohnung zwei Türen weiter.

Absolut unglaublich.

Irgendwie schaffe ich es, mit ihr ein Gespräch zu führen. Überhaupt zu reden.

Sie sieht mein Gesicht, das ich selbst noch nie gesehen habe, weil kein Spiegel mich bisher jemals eingefangen hat.

Sie lädt mich auf ein Glas Limonade ein. Ich will herausfinden, wie weit ich gehen kann. Ich habe das Gefühl, dass ich so weit gehen kann, wie ich will.

Allerdings macht es mir immer noch Mühe, die Tüten für sie aufzuheben. Ich muss mich konzentrieren, meinen Körper dabei anwesend sein zu lassen. Vielleicht kommt ja nicht alles auf einmal zurück. Es muss für das ganze System ein Schock sein. Eine komplette Umorientierung. Das braucht seine Zeit. Ich hebe die Tüten auf und folge ihr in die Wohnung.

Ich stelle mir vor, dass wir dort allein sein werden. Wir können uns weiter unterhalten. Ich kann mich weiter daran gewöhnen, sichtbar zu sein. Und dann entdecke ich Elizabeths Bruder. Er liegt auf dem Boden. Noch ein Mensch.

Ich bereite mich innerlich darauf vor.

Ich bin darauf vorbereitet, von ihm gesehen zu werden.

Ich bin bereit.

Aber es passiert nicht.

Er sieht mich nicht.

Jetzt erfüllt die Gefühlsmischung, die ich empfunden habe, den ganzen Raum, die ganze Welt. Ich bemerke die Überraschung auf Elizabeths Gesicht, was aber nichts ist verglichen mit den Gedanken, die gerade auf mich einpeitschen.

Er sieht mich nicht.

Aber sie. Sie sieht mich.

»Bist du nicht schon ein bisschen zu alt, um einen eingebildeten Freund zu haben?«, fragt er sie.

So fühlt es sich also an. Ich bin in der Einbildungskraft von jemand anders gefangen. Ich bin ein Traum dieses Mädchens. Und dieses Mädchen wird gleich aufwachen.

Irgendwie bringe ich ein paar Worte über die Lippen. »Schon in Ordnung«, sage ich. »Ich gehe.« Zum Glück hat sie die Tür offen gelassen. Zum Glück ist sie zu verwirrt, um mir nachzugehen. Ich laufe hastig zu meiner Wohnungstür. Meine Füße setzen lautlos auf dem Boden auf. Aber vielleicht hört sie ja ein Geräusch. Keine Ahnung. Ich habe überhaupt keine Ahnung mehr von irgendwas. Normalerweise spähe ich mindestens viermal nach rechts und nach links, bevor ich den Schlüssel ins Loch stecke. Aber jetzt ist mir alles egal. Ich will nur noch in meine Wohnung. Die Tür hinter mir schließen. Den Schlüssel von innen umdrehen. Atmen. Schreien. Atmen.

Neben der Garderobe hängt bei uns in der Wohnung ein Spiegel. Die ganzen Jahre hindurch scheint meine Mutter nie kapiert zu haben, was das für mich bedeutet hat. Oder vielleicht wollte sie auch, dass ich tagtäglich daran erinnert werde, wie es um mich steht. Und wollte nicht, dass sie es immer tun musste.

Ich schaue in den Spiegel.

Ich kann die Wand hinter mir sehen. Das Bücherregal in der Ecke. Das Licht, das seitlich hereinfällt.

Das ist alles.

Es muss an ihr liegen.

In den folgenden Minuten wird mir allmählich klar, dass der Fluch nicht gebannt ist. Daran liegt es nicht. Sie hat einen Weg gefunden, den Fluch zu umgehen. Es liegt an ihr, nicht an mir.

Ich muss diese Theorie unbedingt überprüfen. Ich warte, bis es spät in der Nacht ist, weil ich sicher sein will, dass sie schläft. Ich lausche auf die Stille draußen im Korridor, auf die Stille des Hauses. Dann schleiche ich mich hinaus.

Vielleicht ist es ja nicht nur bei ihr so. Das muss ich wissen.

Ich verlasse das Haus. Der Portier ist so in das nächtliche Fernsehprogramm versunken, dass er nicht bemerkt, wie die Tür kurz aufgeht und wieder zufällt.

Es ist eine kühle Spätsommernacht. An der Upper West Side sind noch ein paar Fußgänger unterwegs, aber nicht viele. Ich mache mich zur U-Bahn-Station auf und springe leichtfüßig über das Drehkreuz. Niemand will mich aufhalten.

Als ich den Bahnsteig erreiche, fährt gerade die U-Bahn ein. Die Türen gehen auf und ich betrete einen halb vollen Wagen. Ich blicke um mich. Warte darauf, dass jemand, egal wer, meinen Blick erwidert. Nichts. Deshalb fange ich an, mich zu bewegen. Hüpfe auf und ab. Mache den Hampelmann. Lasse mich um einen Stab kreiseln. Verhalte mich verrückt. Richtig durchgeknallt. Die Art von Verhalten, bei dem die Leute entweder hingucken müssen oder demonstrativ wegblicken.

Nichts.

Ich wechsle von einem Wagen in den nächsten. Die Tür öffnet und schließt sich – das bemerken die Passagiere. Der letzte Wagen ist kaum besetzt. Nur ein paar Leute, dicht nebeneinanderhockende Pärchen und ein einzelner Mann. Ich steuere auf ihn zu. Er trägt einen Anzug. Muss ungefähr dreißig sein. Hat die Krawatte gelockert. Zu seinen Füßen hat er in einer Packpapiertüte eine Bierdose stehen, daneben seine Laptoptasche. Jeder Zentimeter seines Körpers verkündet Es war ein langer Tag.

Jetzt stehe ich direkt vor ihm. Ich winke. Ich beuge mich so weit vor, dass ich nur noch einen Zentimeter von seinem Gesicht entfernt bin. Ich atme aus. Er weicht etwas zurück.

»Kannst du mich sehen?«, frage ich laut.

Er reagiert verwirrt.

»Bin ich hier?«, frage ich.

Er schaut in jede Richtung. Die Pärchen sind zu weit weg. Er hat keine Ahnung, woher die Stimme gekommen sein könnte.

»Du kannst mich nicht sehen, oder?«

»Hey, verdammt noch mal?«, brummt er und blickt immer noch verwirrt um sich.

»Dabei stehe ich direkt vor dir«, sage ich. Dann lege ich meine Hand auf seine Schulter. Konzentriere mich.

Er schreit auf.

Ich ziehe die Hand zurück. Er ist aufgesprungen. Alle starren ihn an.

»Tut mir leid«, flüstere ich. Wir sind bei der Haltestelle angekommen, zu der ich will.

Ich steige aus.

Ich befinde mich auf dem Times Square, der so hell erleuchtet ist, als wäre man mitten in einem Videospiel. Hier sind deutlich mehr Menschen unterwegs – Paare, aber auch Gruppen von zwölf, zwanzig, dreißig Leuten. Sogar jetzt noch, nach Mitternacht. Teenager rumpeln im Spaß ineinander. Väter tragen schlafende Töchter auf den Armen. Kamerablitze flammen auf.

Ich will, dass ein einziger Mensch mich sieht. Einer von vielen Hundert Menschen. Einer unter den Tausenden von Menschen. Ich hätte gerne, dass einer von ihnen mich nach der Zeit fragt. Mich fragt, was ich so treibe. Mir in die Augen schaut. Einen Schritt zur Seite macht, wenn es so aussieht, als würde ich ihm gleich im Weg stehen.

Ich strecke die Arme aus. Drehe mich um mich selbst. Sprinte die rot beleuchtete Treppe hoch. Platze in ein Foto nach dem anderen rein. Stelle mich direkt neben die Touristen. Laufe ins Bild. Ich versperre ihnen die Sicht, aber sie merken es nicht. Ich stehe ihnen im Weg, ohne dass ich für sie ein Hindernis bin. Ich bin da und auch wieder nicht.

Meine Gedanken halten mich fast die ganze Nacht wach.

Hat sie mich wirklich gesehen?

Wenn es so war, was hat sie gesehen?

Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Kleidung anhatte. Und dass ich so ausgesehen habe, wie es meinem Alter entspricht. Aber trotzdem.

Hat sie etwas gesehen, das sie gern gesehen hat?

Hat sie etwas gesehen, das auch mir gefallen würde?

Ist sie wirklich die Einzige?

Tagelang vermeide ich jede Begegnung mit ihr. Ich höre, wie noch mehr Möbel in ihre Wohnung gebracht werden. Ich höre sie und ihren Bruder auf dem Korridor. Sie und ihre Mutter. Ich trau mich nicht aus der Wohnung.

Was, wenn sie mich wieder sieht?

Was, wenn nicht?

Alle meine Geheimnisse fangen mit dem ersten an. Mein ganzes Leben ist um Geheimnisse herum errichtet.

Ich will mein Leben mit all seinen Geheimnissen nicht aufs Spiel setzen. Ich will das Wagnis noch nicht auf mich nehmen, zu sehen, was als Nächstes passiert. Denn es kann sein, dass nichts passiert, und daran könnte ich zerbrechen.

Ich erinnere mich an die Tage, nachdem meine Mutter gestorben war. Wie ich mich damals vor der Welt verstecken musste. Wie ich so tief ins Schweigen hinabgerutscht war, dass ich den Klang meiner eigenen Stimme vergessen hatte, genauso wie den Klang von ihrer. Wie es mir total sinnlos vorgekommen war, eine eigene Stimme zu haben, wenn ich ihre nicht mehr hören konnte.

Aber irgendwann muss ich mal raus aus der Wohnung. Ich fühle mich allmählich wie in einem Käfig. Ich gehe in den Park. Halte nach Ivan und Karen Ausschau. Nach anderen regelmäßigen Spaziergängern dort. Aber der Tag ist heißer als normal und alle haben es eilig.

Ich gehe wieder nach Hause. Als gerade niemand hinschaut, hole ich die Post heraus und sehe sie durch. Ich werfe alles weg, sodass ich nichts tragen muss.

Mit dem Aufzug fahre ich zurück auf mein Stockwerk. Als die Tür aufgeht, steht sie direkt vor mir.

Keine Frage: Sie sieht mich. Der Ausdruck in ihrem Gesicht ist halb neugierig, halb amüsiert.

»Wenn das nicht der sich verdünnisierende Junge ist«, sagt sie. »Ich hab mich schon gefragt, ob du tatsächlich hier wohnst.«

Ich schaue ihr in die Augen. Suche darin nach meinem Spiegelbild. Versuche zu entdecken, wie ich aussehe.

Aber alles, was ich sehe, sind ihre Pupillen. Das Licht aus dem Aufzug. Die Rückwand.

Die Türen schließen sich wieder und ich stehe immer noch im Aufzug. Sie hält ihre Hand dazwischen, damit sie wieder aufgehen.

»Danke«, sage ich.

»Kleinen Spaziergang gemacht?«, fragt sie.

»Ja. Ziemlich heiß heute.«

»Hab so was sagen hören.«

Ich fühle mich total unbehaglich. Es gibt ungefähr tausend Dinge, die ich sie gern fragen möchte, aber keine einzige der Fragen wäre eine normale Frage.

Ich verlasse den Aufzug und sie betritt ihn.

»Man sieht sich«, sagt sie.

»Ja«, antworte ich.

Die Türen schließen sich.

Sie ist verschwunden.

Ich weiß nicht, ob ich es ertragen kann. Alles war unter Kontrolle. Alles funktionierte. Und jetzt das. Ich vergesse zu essen. Ich kann nichts lesen, ohne dass die Sätze sich irgendwie alle gegen mich wenden. Das Fernsehprogramm ist flach und unwirklich.

Der Schlüssel zum Umgang mit einem unlösbaren Problem besteht darin, nicht die ganze Zeit darüber nachzudenken.

Aber jetzt denke ich die ganze Zeit darüber nach.

Am siebten Tag, nachdem sie mich das erste Mal gesehen hatte, breche ich den Eid, den ich mir selber geschworen habe.

Ich schreibe eine E-Mail an meinen Vater.

Bei mir im Haus wohnt jetzt ein Mädchen, das mich sehen kann, schreibe ich. Wie ist so was möglich?

Das ist alles, was ich ihm zu sagen habe. Ich will nichts über sein Leben erfahren. Ich will nicht, dass er etwas über mein Leben erfährt.

Ich will nur eine Antwort.

Erzähl mir mehr über den Fluch, habe ich meine Mutter immer wieder angefleht. Es ist mein Leben. Ich habe ein Recht darauf, mehr darüber zu wissen.

Ich kann dir nichts darüber erzählen, hat sie jedes Mal geantwortet. Wenn ich es täte, würde das alles nur noch schlimmer machen. Viel, viel schlimmer.

Was kann denn noch schlimmer sein als jetzt?, rief ich. Sag mir, was noch schlimmer ist?

Sie konnte mich nicht einfach so umarmen, wenn ihr danach war. Sie konnte mir nicht einfach einen Kuss geben, wenn sie es gerade wollte. Aber wenn das alles wegfällt, wie soll man dann überhaupt lernen, was Liebe ist? Sie musste ihre ganze Liebe zu mir in ihre Stimme legen, die ganze Freude, die sie an mir hatte, in den Blick, mit dem sie mich anschaute.

Es kann noch viel schlimmer sein, antwortete sie. Du hast ja keine Ahnung. Und solange ich lebe, sollst du davon auch keine Ahnung haben.

Auf diesen Satz folgte kein weiterer. Keine Fortsetzung der Geschichte. Jedenfalls keine, die sie mir erzählen wollte.

Einmal in der Woche bestelle ich mir online Lebensmittel. Normalerweise dauert es vier oder fünf Stunden, bis sie geliefert werden, aber diesmal klopft es schon nach zwei Stunden bei mir an der Tür. Das ist seltsam – ich weise immer ausdrücklich darauf hin, dass die Sachen ohne Anklopfen vor der Tür abgestellt werden sollen.

»Stellen Sie einfach alles vor der Tür ab!«, brülle ich.

»Was abstellen?«, ruft eine Stimme zurück.

Ihre Stimme.

Ich sitze in der Falle. Sie weiß, dass ich hier drinnen bin. Ich weiß, dass sie da draußen ist.

Ich spähe durch den Spion. Sie ist allein.

»Ich kann dich hören«, sagt sie. »Machst du mir auf? Ich will nicht laut werden müssen. Ich kann nämlich ziemlich ungemütlich werden.«

Ich treffe eine Entscheidung: Ich werde sie zu mir in die Wohnung lassen. Ich werde so tun, als ob alles ganz normal wäre. Sie kommt einfach nur mal kurz vorbei. Natürlich kann sie mich sehen. Alle können mich sehen. Das ist nur ein kleiner Nachbarschaftsbesuch. Ich werde also ein freundlicher Nachbar sein. Vor allem weil ich sowieso keine andere Wahl habe.

Ich konzentriere mich auf meine Hand, damit sie den Türknauf drehen kann.

Dann mache ich die Tür auf.

Kapitel 4

Ich sollte nicht hier sein. Ich habe so etwas noch nie gemacht. Das zählt zu den Dingen, die verzweifelte, in sich selbst verstrickte Menschen machen. Ich will nicht zu diesen Menschen gehören.

Aber ich bin wütend und frustriert … und ich bin einsam. Ich bin schon eine ganze Weile allein. Das kommt davon, wenn man jedes »Hallo, Liz« mit einem feindseligen Blick beantwortet und nur darauf wartet, welcher Witz auf deine Kosten wohl dieses Mal folgt. Der dann auch nie lang auf sich warten lässt.

Die meisten meiner Freundschaften haben sich im Lauf des vergangenen Jahres in Luft aufgelöst. Als die ersten Gerüchte über Laurie aufkamen, machten sich die »Freundinnen«, die keine wirklichen Freundinnen waren, mit der Schnelligkeit und Wucht einer Lawine auf und davon. Das hatte mich nicht besonders überrascht.

Das langsame Wegdriften der anderen, denen ich wirklich vertraut hatte – das war es, was mich verletzte. Zwei meiner allerbesten Freundinnen versuchten, weiter zu mir zu halten, aber am Ende kappte ich die Verbindung zu ihnen und sah zu, wie sie davontrieben. Ich konnte ihre mitleidigen, verständnisvollen Blicke und ihre gut gemeinten Anrufe nicht mehr ertragen. Ich wollte kein Mitleid. Ich wollte, dass die anderen genauso wütend waren wie ich selbst.

Als meine Freundinnen alle verschwunden waren, hatte ich nur noch Laurie und Mom. Und nachdem es geschehen war, nur noch Mom. Gemeinsam pendelten wir zwischen Krankenhaus und zu Hause hin und her und planten dabei unsere Flucht. Aber unsere Planung erstreckte sich nie über die Flucht hinaus. Und inzwischen hat sich herausgestellt, dass ich in unserem neuen Zuhause fast die ganze Zeit allein bin. Mom ist bei der Arbeit. Laurie besucht seine Sommerkurse, denn nachdem es passiert war, hat er die letzten acht Wochen des Schuljahrs verpasst. Sie wirken beide recht zufrieden.

Moms Rezept, mit Stress umzugehen, war es immer schon, sich in ihre Arbeit zu flüchten. Und Laurie schwört mir auch noch nach einer Woche Unterricht, er sei sich sicher, dass zwei Drittel seiner Klassenkameraden zehnmal schwuler seien als er. Ich habe keine Ahnung, wie er diese Berechnungen anstellt. Meine Vermutung ist, dass seine Begeisterung für die Sommerkurse weniger mit dem Schwulenquotienten zu tun hat als vielmehr mit (a) der Tatsache, dass seine Schule eine funktionierende Klimaanlage hat, während das winzige Kühlaggregat am Fenster unserer Wohnung mehr spuckt und stottert als kühlt, und damit, dass er (b) hier keine Sommerschule besucht wie zu Hause in Minnesota, die vor allem als Bestrafung gedacht ist, sondern an einem Förderprogramm für künstlerisch begabte Jugendliche teilnimmt. Musik, Theater, Literatur, lauter solche Sachen werden da unterrichtet – und Laurie ist restlos begeistert. Wäre das alles nicht deshalb gewesen, weil er davor wochenlang in einem Ganzkörpergips auf dem Rücken liegen und danach noch in eine Rehaklinik musste – er wäre wahrscheinlich überglücklich gewesen, dass er das Schuljahresende verpasst hatte. Schließlich durfte er dafür so etwas wie sein ganz persönliches Hogwarts besuchen.

Ich wünschte, ich könnte mit ihm da hingehen. Das Kunstprogramm an der Schule ist großartig und würde mir wahnsinnig weiterhelfen, meine Bewerbungsmappe fürs College zusammenzustellen. Aber Mom kann es sich nicht leisten, uns beide hinzuschicken, und ich hab ja schließlich das Schuljahr beendet – mit Blicken, die wie Dolche blitzten, und ständig zur Faust geballten Händen.

Das mache ich auch jetzt. Die Hände zu Fäusten ballen. Und dabei wird mir klar, dass ich nicht nur deswegen vor Stephens Tür stehe, weil ich einsam bin. Ich habe mich verhalten, wie Mom es sich von mir gewünscht hat. Ich war höflich. Ich habe versucht, mich mit einem Jugendlichen meines Alters anzufreunden. Wie man das eben ganz normal so macht. Ich habe Stephen sogar auf ein Glas Limonade eingeladen, um ihn vor dem Hitzschlag zu retten. Völlig unwichtig, ob ich wirklich Limonade dahatte oder nicht, es war jedenfalls ein Freundschaftsangebot. Aber er ist wie der Blitz davongerannt und hat mich mit Laurie zurückgelassen, der mich dann stundenlang mit meinem unsichtbaren Freund aufgezogen hat, so wie nur kleine Brüder das können. Und daran ist Stephen schuld, weil er so schnell verschwunden ist. Ich stehe hier vor seiner Wohnungstür, weil ich frustriert bin und niemanden habe, den ich anschreien kann.

Er braucht ewig, bis er an die Tür kommt. Als ich endlich sein Gesicht vor mir sehe, zuckt es um seine Mundwinkel, als hätte er Angst oder Kummer oder wäre sauer. Was auch immer, es verheißt nichts Gutes. Nicht dass ich erwartet hätte, er würde vor Freude einen Luftsprung machen, wenn er mich sieht. Er ist mir aus dem Weg gegangen und das setzt meinem bereits überstrapazierten Nervenkostüm ungefähr so schlimm zu wie ein ständiger nervender Summton im Ohr. Aber als ich den Mund öffne, um ihn anzublaffen, bleibt mir die Stimme in der Kehle stecken. Stattdessen kommt nur ein erbärmliches Krächzen heraus. Ein trauriger, jämmerlicher Laut. Sein Gesicht verzieht sich. Er blickt auf den Boden.

Ich versuche es noch einmal. Diesmal bringe ich ein »Hallo« hervor.

Er murmelt etwas, das ich nicht verstehen kann. Aber ich nehme an, es handelt sich um eine Begrüßung, weil er ja ein Mensch ist.

»Also …«

Er murmelt noch einmal etwas. Meine Wut kommt wieder.

»Machst du das immer so?«

Die Frage bringt ihn dazu, mich anzuschauen.

Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »So unhöflich sein?«

Er schaut mich mit großen Augen an, was mir ziemlich gut gefällt.

»Nein«, sagt er. Weiter nichts, nur: »Nein.«

Wir schauen uns gegenseitig an. Allmählich wird es richtig ungemütlich.

»Was willst du?«, fragt er.

»Erklär mir, wie ich das hier jetzt nicht unhöflich finden soll«, sage ich.

Er seufzt. Ein tiefer und schrecklich erschöpfter Seufzer für diese Tageszeit. Vielleicht leidet er unter Schlaflosigkeit.

»Du hast recht. Tut mir leid.«

Darauf war ich nicht gefasst. Ich dachte, er blafft jetzt zurück oder schmeißt mir die Tür vor der Nase zu.

»Willst du reinkommen?« Er stellt die Frage in einem Tonfall, als hätte er sich gerade danach erkundigt, ob ich ihn für eine Rückenmarksspende brauche.

Plötzlich fühle ich mich unwohl. Was will ich hier überhaupt? Mir wird klar, dass ich eigentlich mit einem kurzen, heftigen Wortwechsel an der Tür gerechnet hatte, der dann damit geendet hätte, dass ich in unsere eigene Wohnung zurückgestapft wäre. Um den Nachmittag schimpfend und fluchend auf dem Sofa zu sitzen, weil alle Menschen immer so grässlich zu mir sind. Stattdessen muss ich mich jetzt entscheiden: Ich kann unhöflich sein und leicht durchgeknallt reagieren, weil ich ja schließlich bei ihm geklopft habe. Oder ich kann seine Einladung annehmen.

»Okay«, sage ich. Er tritt einen Schritt zur Seite und ich gehe an ihm vorbei. In seiner Wohnung ist es kühl, beinahe Gefriertemperatur, und ich reibe mir die Arme, weil ich auf einmal Gänsehaut habe.