Was aus Liebe geschieht - Anna McPartlin - E-Book
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Was aus Liebe geschieht E-Book

Anna McPartlin

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Beschreibung

In jedem Abschied steckt ein neuer Anfang. Das Licht geht aus, der Fahrstuhl bleibt stecken. Als der Strom wieder da ist, haben sich die Leben von Tom, Ellen, Leslie und Jane für immer verbunden. Seit drei Monaten gilt Toms Frau Alexandra als vermisst. Aber er will die Hoffnung nicht aufgeben, sie doch noch zu finden. Sein Schicksal berührt die drei Frauen zutiefst. Denn sie alle kennen die dunklen Seiten des Lebens: Leslie, die ihre Großmutter, die Eltern und beide Schwestern durch Krebs verloren hat. Ellen mit ihren Depressionen. Und Jane, die als Teenager schwanger wurde und alle Träume für ihre Familie opfern musste. Die drei beschließen, Tom bei seiner Suche zu helfen. Denn das einzig wahre Unglück wäre, die Hoffnung zu verlieren.

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Anna McPartlin

Was aus Liebe geschieht

Roman

Aus dem Englischen von Karolina Fell

Über dieses Buch

In jedem Abschied steckt ein neuer Anfang.

 

Das Licht geht aus, der Fahrstuhl bleibt stecken. Als der Strom wieder da ist, haben sich die Leben von Tom, Ellen, Leslie und Jane für immer verbunden. Seit drei Monaten gilt Toms Frau Alexandra als vermisst. Aber er will die Hoffnung nicht aufgeben, sie doch noch zu finden. Sein Schicksal berührt die drei Frauen zutiefst. Denn sie alle kennen die dunklen Seiten des Lebens: Leslie, die ihre Großmutter, die Eltern und beide Schwestern durch Krebs verloren hat. Ellen mit ihren Depressionen. Und Jane, die als Teenager schwanger wurde und alle Träume für ihre Familie opfern musste. Die drei beschließen, Tom bei seiner Suche zu helfen. Denn das einzig wahre Unglück wäre, die Hoffnung zu verlieren.

Vita

Anna McPartlin wurde 1972 in Dublin geboren und verbrachte dort ihre frühe Kindheit. Wegen einer Krankheit in ihrer engsten Familie zog sie als Teenager nach Kerry, wo Onkel und Tante sie als Pflegekind aufnahmen. Nach der Schule studierte Anna ziemlich unwillig Marketing. Nebenbei stand sie auch als Comedienne auf der Bühne, doch ihre wahre Liebe galt dem Schreiben, das sie bald zum Beruf machte. Bei der künstlerischen Arbeit lernte sie ihren späteren Ehemann Donal kennen. Die beiden leben heute zusammen mit ihren drei Hunden und zwei Katzen in Dublin.

Bereits ihr Debüt «Weil du bei mir bist» war international ein Bestseller. Mit dem Roman «Die letzten Tage von Rabbit Hayes», in dem Anna McPartlin viel von ihrer eigenen Vergangenheit verarbeitet hat, rührte und begeisterte sie unzählige Leserinnen und Leser und landete einen Riesenerfolg.

Für Donal und alle Fans von Jack

1Universe

Oh nothing lasts forever,

you can cry a million rivers,

you can rage it ain’t no sin

but it won’t change a thing,

’cos nothing lasts forever.

Jack L., Universe

Alexandra 21. Juni 2007

Tom,

wenn du einkaufen gehst, kannst du bitte mitbringen:

Brot

Milch 2 ×

Wasser 4 ×

Spaghetti

Hackfleisch (mager! Pass auf, dass es wirklich mager ist und nicht das Zeug, auf das sie mager schreiben und es zum halben Preis verkaufen, weil es nämlich überhaupt nicht mager ist. Ich will mageres Hackfleisch, das vor deinen Augen durch den Wolf gedreht wurde, ganz egal, was es kostet)

Dosentomaten

Basilikum

Wein, falls du nicht noch ein oder zwei Kisten im Büro hast. Und achte darauf, dass es kein Shiraz ist. Ich kann echt keinen Shiraz mehr sehen.

Falls du Nachtisch willst, bring irgendwas mit.

Ich treffe mich um fünf kurz mit Sherri in Dalkey. Sie hat die Karten für das Jack-Lukeman-Konzert. Ich bezahle sie mit Geld aus der Haushaltskasse. Ich bringe dir auch eine Karte mit, wenn du nicht mitwillst, schreib mir eine SMS. Ich bin ungefähr um halb acht wieder zu Hause. Übrigens hat deine Tante angerufen, sie denkt darüber nach, nächstes Wochenende nach Dublin zu kommen. Versuch ihr das auszureden, ja? Ich bin völlig fertig und schaffe es nicht, 48 Stunden pausenlos mit ihr durch die Gegend zu rennen. Deine Tante ist auf Kokain. Das ist kein Witz. Die muss zum Entzug.

Oh, und Spülmittel. Wir brauchen unbedingt Spülmittel, und könntest du bitte jemanden bestellen, der die Spülmaschine repariert?

O.k., bis später,

ich liebe dich

 

Alexandra

 

PS: Wenn dein Nebenmann stirbt: einen Platz aufrücken. Echt, dieser Jimmy Carr ist unübertroffen.

Alexandra lachte in sich hinein und klemmte den Zettel am Kühlschrank fest, mit ihrem Lieblingsmagneten, einem fetten, grinsenden Schwein, das sich den Wanst rieb. Sie schwitzte noch von ihrem Fünf-Meilen-Lauf. Das war Rekord, und Alexandra war extrem zufrieden. Sie zog den Clip mit ihrem iPod vom Bund der Trainingshose, legte ihn auf die Küchentheke und ging nach oben unter die Dusche. Dort sang sie Rihannas «Umbrella» und tanzte ein bisschen in der Duschkabine herum, bevor sie sich das Shampoo aus dem Haar spülte. Eine Dreiviertelstunde später ging sie wieder die Treppe hinunter, das schulterlange, glänzende, kastanienbraune Haar perfekt frisiert. Sie trug ihre schwarze Lieblingshose und eine passende schwarze Bluse mit einer großen Kragenschleife. Vor dem Flurspiegel blieb sie stehen, zog sich die Lippen nach, kramte in ihrer Handtasche nach dem Lipgloss und trug ihn über dem Lippenstift auf. Ein paar Augenblicke betrachtete sie sich im Spiegel, seufzte und murmelte so etwas wie dass sich Angelina Jolie besser warm anziehen sollte. Sie lächelte über ihren eigenen Witz, während sie in die Jacke schlüpfte. Dann nahm sie ihre Handtasche und verließ das Haus.

Alexandra ging die Straße entlang und winkte Mrs. Murphy von Nr. 14 zu. Mrs. Murphy kehrte gerade die Treppe, aber sie winkte trotzdem zurück und rief: «Schönes Wetter heute, oder?» Alexandra gab ihr recht. An der DART-Station wartete sie auf die Vorortbahn, während sie sich anhörte, was ein Anrufer dem Moderator Joe Duffy in der Radiosendung Liveline über Tierquälerei zu sagen hatte. Es war dermaßen schrecklich, dass sie vom Radio auf ihre gespeicherte Musik umschaltete und erst damit aufhörte, bei James Morrisons ‹The Last Goodbye› mitzusummen, als sie mitbekam, dass sie von drei pickligen Teenagern ausgelacht wurde. Sie streckte ihnen die Zunge heraus und grinste sie dann an, und sie lachten wieder. In der Bahn setzte sie sich neben einen Mann Mitte fünfzig. Er bat sie darum, ihn an der Tara Street Station zu wecken, falls er einschliefe, und erklärte, dass er in fahrenden Zügen aus irgendeinem Grund immer einschlief. Alexandra versicherte ihm, dass sie ihn rechtzeitig wecken würde, und tatsächlich war der Mann in weniger als fünf Minuten weggeschnarcht. Kurz vor der Tara Station klopfte sie ihm sanft auf den Arm, und er fuhr erschreckt aus dem Schlaf hoch. Er dankte ihr und stieg hastig aus. Dabei vergaß er seine Tasche, weshalb Alexandra hinter ihm her eilte. Er wollte ihr überschwänglich danken, doch sie hatte es eilig, wieder in den Zug zu kommen, und rannte winkend los.

Die Frau ihr gegenüber nickte und sagte grinsend: «Mein eigener Dad würde glatt seinen Kopf vergessen.»

Alexandra lächelte sie an. «Er war sehr nett.»

Die Frau nickte erneut. In Dalkey stieg Alexandra aus der Bahn. Die Frau stieg ebenfalls dort aus.

Alexandra durchquerte das Stationsgebäude und trat in den Sonnenschein hinaus. Sie ging die Hauptstraße weiter bis zum Ende, wo sie nach links abbog. Dann nahm sie eine Querstraße links, dann wieder eine rechts, und dann war Alexandra verschwunden.

Elle Sonntag, 31. Dezember 1989

Liebes Universum,

bitte schick uns kein höllisches Feuerkugel-Kometending, das uns alle tötet. Ich bin erst acht, und wenn ich jetzt sterbe, kann ich überhaupt nichts von dem machen, was ich eigentlich vorhabe. Miss Sullivan glaubt, ich könnte Künstlerin werden. Wenn ich tot bin, kann ich aber nicht malen, und ich male und lebe unheimlich gerne. Margaret Nolan behauptet, auch wenn alle sagen, wir werden erst 1999 atomisiert, wird in Wahrheit heute Schlag Mitternacht die Flammenkugel des Todes auf der Erde einschlagen. Sie sitzt in der Schule neben mir und müffelt manchmal ziemlich. Ihr Dad ist Wissenschaftler, und der hat es ihr erzählt, also kann es gut sein, dass sie recht hat. Sie hat schon ihr ganzes Taschengeld den Armen gespendet und meint, ich sollte das auch tun, denn wenn unsere letzte Stunde geschlagen hat und wir Gott begegnen, wird er denken, dass wir in Ordnung sind, und uns in den Himmel reinlassen. Ich habe vergessen, in die Kirche zu gehen und Geld in die Spendenkasse zu werfen, weil ich alles um mich herum vergessen habe, während ich ein Bild von meiner Familie gezeichnet habe, wie sie in den lodernden Flammen umkommt. Jane sagt, ich wäre eine deprimierende kleine Ziege. Sie hat in letzter Zeit ständig schlechte Laune. Mum sagt, das liegt daran, dass sie in der Pubertät ist, dass sie sich mit ihrem Freund rumstreitet und dass sie fett geworden ist. Sie denkt, wenn man acht Jahre alt ist, wäre man automatisch auch beschränkt, aber ich weiß, dass Jane schwanger ist, weil Mum und sie sich nämlich die ganze Zeit deswegen anschreien. Ich bin nicht beschränkt, und taub bin ich auch nicht. Das Baby tut mir leid, weil wenn wir alle heute Nacht sterben, wird es das Leben nie gekannt haben, andererseits ist das ja vielleicht das Beste.

Also gut. Hier kommen meine Versprechen an dich, wenn wir nach Mitternacht noch leben.

Ich werde brav sein.

Ich werde tun, was meine Mum mir sagt.

Ich werde nicht fluchen.

Ich werde nicht lügen, es sei denn, meine Mum verlangt es von mir (siehe Versprechen Nr. 2).

Ich werde netter zu Jane sein.

Ich werde jeden Tag malen.

Ich werde Jane mehr mit Mum helfen. (Ich kann aber nicht ständig helfen – siehe Versprechen Nr. 6)

Ich werde morgen früh mein Taschengeld an die Armen spenden.

Ich werde nett zu Janes Baby sein, weil ich so ein Gefühl habe, als wäre ich da die Einzige.

Ab jetzt höre ich weg, wenn Margaret Nolan irgendwas behauptet.

Und, Universum, falls wir heute Nacht alle im Feuer sterben: Danke für gar nichts.

Deine

Elle Moore

Das war der erste Brief, den Elle Moore ans Universum schrieb, und nachdem sie fertig war, faltete sie ihn zusammen und legte ihn in eine alte Keksdose. Nach dem Abendessen steckte sie sich ihr langes braunes Haar zusammen und zog ihren nagelneuen Weihnachtsmantel, die Mütze, Handschuhe und den Lieblings-Batikfransenschal ihrer Schwester Jane an. Dann ging sie auf der rechten Seite des langgestreckten Gartens bis zu den Rosen ihrer Mutter. Zwischen den Rosen und den Gräbern vierer Rennmäuse – Jimmy, Jessica, Judy und Jeffrey – grub sie ein Loch, legte die Keksdose hinein, häufte die Erde wieder darüber und klopfte sie fest. Als sie damit fertig war, versprach sie sich selbst, dass sie, wenn sie nach Mitternacht an diesem 31. Dezember 1989 noch lebte, ihren Brief in einem Jahr wieder ausgraben und durch einen neuen ersetzen würde. Damals konnte sie es nicht ahnen, aber Elle Moore würde die nächsten achtzehn Jahre lang an jedem Silvestertag einen Brief ans Universum schreiben.

Jane 5. Mai 1990

Liebe Mrs. Moore,

ich schreibe Ihnen heute wegen der Sorgen, die ich mir um Ihre Tochter Jane mache. Ich habe Jane in letzter Zeit einige Gesprächsangebote gemacht, doch sie hat nicht reagiert. Wie Sie wissen, habe ich auch versucht, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen, doch das hat sich als schwierig beziehungsweise unmöglich erwiesen. Deshalb bleibt mir jetzt keine andere Möglichkeit mehr, als diesen Brief zu schreiben.

Es ist dem Lehrerkollegium ebenso wie den Schülern klar, dass Jane ein Kind erwartet, und eben deshalb ist es dringend nötig, dass wir miteinander sprechen. Janes Leistungen haben in den vergangenen Monaten schwer gelitten, und als Schülerin des Abschlussjahrgangs muss sie nun ihre Probeklausuren unvorbereitet und im Gedanken an ihre unmittelbar bevorstehende Mutterschaft schreiben. Jane scheint von ihrer Situation überfordert zu sein, und auch wenn Sie es offenbar können – wir im St. Peter können nicht einfach untätig zusehen, wenn ein siebzehnjähriges Mädchen in dieser Lage ist.

Ich bitte Sie dringend, Mrs. Moore, mich anzurufen oder zu jeder Zeit, die Ihnen passt, zu einem Gespräch in die Schule zu kommen. Ich kann dieses Totschweigen nicht länger zulassen, und sofern wir innerhalb der kommenden Woche nichts von Ihnen hören, sehen wir uns leider gezwungen, Ihre Tochter so lange um die Unterbrechung des Schulbesuchs zu bitten, bis wir mit Ihnen gesprochen haben.

In all den Jahren haben Jane und ich unsere Meinungsverschiedenheiten gehabt. Ihre offene Missachtung der Schulordnung, was beispielsweise das Rauchen auf dem Schulgelände angeht, oder der Irish-Stew-Vorfall, der zu einem Brand im Hauswirtschaftsraum geführt hat – das sind nur zwei der Beispiele, die ich nennen könnte. Wie Sie wissen, sind wir auch bei sehr vielen anderen Gelegenheiten aneinandergeraten, als Jane mit lila gefärbtem Haar in die Schule kam oder während ihrer dankenswert kurzen von The Cure inspirierten Gothic-Phase. An dieser Schule herrscht eine Null-Toleranz-Politik, wenn es um die Aufmachung der Schüler geht, aber obwohl mich Janes Trotz und die sinnlosen Debatten mit ihr zur Verzweiflung getrieben haben, so muss ich doch einräumen, dass sie ihre Argumente klug und mit großem Engagement vertreten hat. Das erwähne ich, weil ich – auch wenn unser Verhältnis als Direktorin und Schülerin reichlich durchwachsen ist – betonen will, was für ein ungewöhnlich intelligentes und redegewandtes Mädchen Jane ist. Ich habe oft gedacht, dass dieses Mädchen alles erreichen kann, was es sich vornimmt, und so etwas habe ich in meiner zwanzigjährigen Berufslaufbahn erst vier- oder fünfmal gedacht. Ich mache mir Sorgen um Jane, Mrs. Moore. Sie hat ihre Lebhaftigkeit und ihren Kampfgeist verloren. Das Mädchen, das ich kannte und das ich, trotz aller Differenzen, sehr mochte, scheint nicht mehr zu existieren.

Teenagerschwangerschaften sind schrecklich und dürfen auf keinen Fall verharmlost werden, doch das Problem zu verharmlosen bedeutet nicht, es zu lösen. Wenn wir ihr helfen, könnte Jane ihre Ausbildung fortsetzen und ihre Ziele erreichen. Diese Situation darf doch für ein Mädchen wie Jane nicht zur Endstation werden, oder?

Bitte kommen Sie um Janes willen zu einem Gespräch mit mir. Zwingen Sie mich nicht dazu, ein so talentiertes junges Mädchen aus unserer Schule auszuschließen.

 

Mit den besten Grüßen

Amanda Reynolds

Direktorin Amanda Reynolds

Jane hatte den Brief laut vorgelesen und blies sich nun ihr blondes Pony aus den Augen, während sie auf die Reaktion ihrer besten Freundin wartete. Alexandra drehte eine kastanienbraune Haarsträhne um den Finger und starrte sie schweigend an.

Nach ein paar Sekunden zuckte sie mit den Schultern. «Wer hätte gedacht, dass die Reynolds ein Herz hat, was?»

Jane hätte am liebsten geweint, weil die Direktorin ihrer Schule mit viel mehr Anteilnahme und Verständnis auf diese katastrophale Schwangerschaft reagierte als ihre eigene Mutter, die bloß einen Wutanfall nach dem anderen bekam, seit sie vor Monaten mitbekommen hatte, dass Jane schwanger war. Während ihres jüngsten Anfalls hatte sie gebrüllt, wie viel Geld sie zum Fenster hinausgeworfen hatte, indem sie Jane auf eine Privatschule schickte, und unmissverständlich klargestellt, dass ihre Ausbildung vorbei war, und nur eine dumme, kinderlose alte Jungfer wie Amanda Reynolds glauben konnte, dass man sich den Traum von der Uni nicht an den Hut stecken konnte, wenn man mit siebzehn ein Baby bekam. Darauf verließ sie türenknallend das Zimmer.

An diesem Nachmittag erkannte Jane zum ersten Mal, dass sie so richtig in der Klemme steckte und in ihrem Leben einiges schiefgelaufen war. Ihr wurde klar, dass sie die Direktorin vermissen würde und dass sie nicht aufs College gehen würde. Sie würde ihre Freunde vermissen, die sich mit Ausnahme von Alexandra alle während der Schwangerschaft von ihr distanziert hatten, und sie würde Dominic vermissen, auch wenn er ihr aus dem Weg ging und einfach so tat, als würde sie nicht gerade ein Kind von ihm bekommen. Sie durchschaute seine Schulhof-Angeberei und sah seinen gequälten und gehetzten Blick, und sie liebte ihn.

Nach einem Streit mit Dominics Eltern, die es gewagt hatten, Jane eine kleine Hure zu nennen, hatte ihre Mutter klargestellt, dass sie Dominic eins mit dem Spaten überziehen würde, falls er sich irgendwo auf dem Grundstück blicken ließe. Nachdem Jane mehrfach mitbekommen hatte, wie ihre Mutter mit Handelsvertretern an der Haustür umgesprungen war, wusste sie, dass dies nicht nur so dahingesagt war.

Nachdem Alexandra den Brief noch einmal gelesen und übereinstimmend mit Jane zu dem Schluss gekommen war, dass ihre Mutter ein schlimmeres Biest war als Alexis in Denver Clan, öffnete sie die erste Bierdose aus einem Sixpack. Später, als Jane nach einer Dose betrunken war und Alexandra gerade ihre dritte leerte, verglich Jane ihre und Dominics Misere mit der von Romeo und Julia. Doch Alexandra machte diese schöne Theorie augenblicklich zunichte.

«Aber es ist doch so, Janey», sagte sie. «Romeo hat Julia nicht erst einen Braten in die Röhre geschoben, um dann in der Disco mit ihr Schluss zu machen.»

«Ich weiß, aber es waren seine Eltern, die ihn dazu gebracht haben, sich von mir zu trennen und …»

«Und außerdem», sagte Alexandra mit der Autorität Betrunkener, «so schlimm deine Situation mit Dominic auch ist, du willst garantiert nicht, dass es so wie bei Romeo und Julia wird, weil Romeo und Julia eine Scheiß-Liebesgeschichte ist. Romeo war ein oberflächlicher Mistkerl, Julia eine unselbständige Heulsuse, ihre Familien haben sich gegenseitig umgebracht, und ihre Liebe hat genau einen Tag gehalten, bevor sie verheiratet waren und dann gleich gestorben sind. Die Liebe von Romeo und Julia hat nicht unter einem schlechten Stern gestanden, die waren einfach nur bescheuert.»

«So kann man es auch sehen», sagte Jane niedergeschlagen.

«Kannst du dir vorstellen, dass mir Miss Hobbs in Englisch nur ein C gegeben hat? Vielleicht kann ich ja nicht Apotheker richtig schreiben, aber ich habe Sprachverständnis. Diese Frau kann ja nicht mal ihren Hintern von ihrem Ellbogen unterscheiden.»

Und dann übergab sich Alexandra in Janes Papierkorb.

Danach redeten sie darüber, wie es Jane schaffen könnte, Dominic zurückzugewinnen, aber alle Ideen erwiesen sich bei näherem Hinsehen als nicht praktikabel, also beschlossen sie, dass Jane erst einmal abwarten sollte.

«Wenn du mich fragst, ist er nichts weiter als ein schwanzgesteuerter Mistkerl, aber ich weiß, dass du ihn liebst, also wird es schon noch gut ausgehen», sagte Alexandra.

«Er ist mehr als ein schwanzgesteuerter Mistkerl», sagte Jane.

«Finde ich nicht», sagte Alexandra und rülpste.

«Er ist der Mann meines Lebens», sagte Jane.

Alexandra trommelte mit den Fingern an ihre Bierdose. «Er kommt zu dir zurück, Janey. Er sieht dich jeden Tag in der Schule, und du fehlst ihm, lass ihm einfach ein bisschen Zeit.» Sie unterbrach sich rechtzeitig, bevor sie sich erneut übergeben musste, wischte sich den Mund ab und seufzte. «Geht schon wieder. Wo war ich gerade?»

«Lass ihm einfach ein bisschen Zeit», sagte Jane.

«Genau. Und abgesehen davon hast du immer noch mich.»

«Ich weiß.»

«Ich werde immer deine Freundin bleiben.»

«Ich weiß.»

«Sogar wenn ich nach Cork aufs College gehe, weil – machen wir uns nichts vor – meine Noten reichen nicht für die Uni in Dublin, bleibe ich trotzdem deine Freundin.»

«Ich werde dich vermissen», sagte Jane.

«Das brauchst du nicht», versprach Alexandra. «Ich komme jedes zweite Wochenende nach Hause, und du kannst mich auch besuchen.»

«Dann habe ich ein Baby.»

«Das kannst du doch bei deiner Mum lassen.»

«Sie hat gesagt, dass sie keine Babysitterin ist.»

«Sie ist echt gemein.»

«Ja, das ist sie.»

«Du bist die Allerbeste, Jane.»

«Du auch, Alex.»

Dann wurden sie von Janes Mutter unterbrochen, die sogar noch betrunkener als Alexandra und noch dazu auf Streit aus war.

«Geh nach Hause, Alexandra.»

«Ich gehe ja nach Hause.»

«Dann geh!»

«Bin ja schon dabei.»

«Raus jetzt!»

«Meine Güte, was ist denn mit Ihnen los? Sehen Sie nicht, dass ich gerade versuche hochzukommen?»

Jane half ihrer Freundin auf.

«Sehen Sie», sagte Alexandra und streckte die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten, «bin schon weg!» Sie schwankte durch den Korridor und trat aus der Haustür. Dann drehte sie sich um, weil sie sich verabschieden wollte, doch Janes Mutter schlug ihr die Tür vor der Nase zu.

«Ich will sie hier nicht mehr sehen», knurrte Janes Mutter.

«Aber sie ist meine beste Freundin.»

«Tja, diese Freundschaft ist jetzt vorbei.»

Das war das letzte Mal, dass Alexandra bei Jane zu Hause war. Zwei Wochen später brachte Jane einen Jungen zur Welt, und obwohl sie noch ein paar Monate Freundinnen waren, verloren sie bald den Kontakt, da ihre Leben, Jane als Mutter und Alexandra als Studentin in Cork, so unterschiedlich waren. Während der folgenden siebzehn Jahre dachte Jane oft an ihre Freundin, und sie fehlte ihr.

Leslie 5. Juni 1996

Lieber Jim,

es wird Zeit, einmal über Leslie zu reden. Wir wissen beide, dass sie stur und ruppig ist, und wir wissen beide, weshalb. Wenn ich gestorben bin, wirst du der einzige Mensch sein, den sie auf dieser Welt noch hat. Ich weiß, dass das jetzt eine sehr große Bitte ist, aber bitte, kümmere dich ein bisschen um sie.

Wir haben darüber gesprochen, dass du vielleicht eines Tages wieder heiratest, und ich möchte so gern, dass du einen Menschen findest, den du lieben kannst und der dich liebt. Ich wünsche dir ein wunderschönes neues Leben ohne überfüllte Krankenhäuser, respektlose Ärzte, überarbeitete Krankenschwestern und ohne Krebs. Ich wünsche dir eine starke und gesunde Partnerin, eine, mit der du Pferde stehlen kannst, eine, mit der du schlafen kannst, eine, die keine Ängste und kein Leiden in dein Leben bringt. Es tut mir jedes Mal weh, wenn ich dich ansehe, denn jetzt erst sehe ich, dass es egoistisch von mir war, dich zu lieben, und ich verstehe, warum Leslie so ist, wie sie ist.

Leslie ist ein besserer Mensch als ich. Wahrscheinlich lachst du schallend, wenn du das liest, aber es stimmt. Sie hat ihre ganze Familie an Krebs sterben sehen, und als nach Noras Tod bei uns beiden das verdächtige Gen gefunden wurde, hat sie beschlossen, anderen kein solches Leid zuzufügen, wie es Nora John und Sarah zugefügt hat und wie ich es dir zufüge. Vor dem Krebs war sie so lebhaft und fröhlich und mitfühlend und fürsorglich, und mir gegenüber ist sie das immer noch. Ohne ihre Zuwendung hätte ich das nicht bewältigt. Ich weiß, dass sie dich manchmal ziemlich wüst beschimpft, aber glaub mir, sie meint es nicht so.

Ich habe sie für eine Schwarzmalerin gehalten. Ich habe geglaubt, dass unsere Familie genug gelitten hat und dass wir beide überleben würden. Also habe ich Pläne gemacht und mich verliebt, und eine Zeitlang hatten wir ein sehr schönes Leben, aber dann ist dieses Gen aktiv geworden. Und jetzt siehst du beinahe genauso krank aus, wie ich mich fühle, und mir wird klar, dass meine Schwester Leslie genau wusste, was sie tat, als sie sich von Simon getrennt hat und sich praktisch von allen Menschen abschottete. Ich habe mitangesehen, wie sie sich aus ihrem eigenen Leben davongemacht hat. Damals habe ich sie für irre gehalten, aber jetzt wirkt das alles sehr vernünftig. Sie hat das Leiden der anderen über ihr eigenes gestellt. Sie hat John und Sarah nach dem Tod Noras leiden sehen, und sie wird dich leiden sehen, und obwohl sie so tut, als könnte sie dich nicht ausstehen, mag sie dich doch, und es wird sie schmerzen, dich so zu sehen, und abgesehen davon wird es sie darin bestärken, dass es richtig ist, allein zu bleiben und auf eine Diagnose zu warten, die vielleicht nie kommt.

Ich bin ihr letztes Familienmitglied und ihre letzte Vertraute. Sie hat sich sogar geweigert, ihre Nichte kennenzulernen, und deshalb wird sie niemanden haben, wenn ich gestorben bin, das quält mich. Ich möchte, dass du dein Leben lebst, ich bitte dich nur darum, ab und zu bei ihr anzurufen, ganz gleich, wie grob oder abweisend sie ist, und mit ihr zu reden. Ihr ein Freund zu sein, auch wenn sie dir keine Freundin ist, weil sie für mich da war, für Mum, für Dad und für Nora, und ich kann die Vorstellung nicht ertragen, dass sie, nach allem, was sie durchgemacht hat, allein leben oder allein sterben muss.

Ich weiß, dass ich es oft sage und es dir in meinen sämtlichen Briefe an dich schreibe, aber die Zeit wird knapp, und ich will unbedingt, dass du weißt, wie wundervoll es war, deine Frau zu sein, und auch wenn ich Schuldgefühle habe wegen all des Kummers, den ich dir mache, weiß ich, dass ich dich auch glücklich gemacht habe, also denke an diese Zeiten und verzeih mir, denn auch heute würde ich mich wieder in dich verlieben und dich wieder heiraten. Ich vermute, Leslie würde mich ein selbstsüchtiges Trüffelschwein nennen, aber damit kann ich sterben.

Deine

Imelda

Imelda Sheehan starb am zwölften Juli 1996 um acht Uhr morgens. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt. Ihr Ehemann Jim hielt ihre rechte Hand, und auf der anderen Seite des Bettes saß ihre Schwester Leslie und hielt ihre linke Hand. Sie spürten beide genau in demselben Augenblick, dass Imelda verschwand. Leslie hatte damit Erfahrung: Das Meer der Trauer in ihr hob sich zu einer Woge und verschluckte sie, wie eine Welle auf den Strand herunterbricht, doch sie wusste genau, wie sie sich verhalten musste, und so blieb sie reglos sitzen und ließ zu, dass der Schmerz sich in ihr ausbreitete. Jim war außer sich: Gerade noch hatte seine Frau gelebt und um jeden Atemzug gerungen, und in der nächsten Sekunde war sie still und tot. Er ließ Imeldas Hand los und stand so abrupt auf, dass er beinahe hinfiel. Er schlang die Arme um sich. So stand er in der Ecke des Krankenzimmers, als der Arzt und die Krankenschwestern hereinkamen, um den Todeszeitpunkt aufzunehmen. Leslie saß bei ihrer toten Schwester Imelda, um ihre Hand zu halten, solange es irgend ging. Jim weinte, und seine Eltern, seine Brüder und seine Freunde flatterten aufgeregt um ihn herum. Leslie saß einsam und wie erstarrt auf ihrem Stuhl. Sie wusste, dass der körperliche Schmerz, der ihr Herz beinahe zur Explosion brachte, nachlassen würde, dass der unerträgliche schrille Ton in ihren Ohren leiser würde. Die Flut würde sich wieder zurückziehen und Imelda forttragen, bis eines Tages nur noch eine blasse Erinnerung übrig wäre. Und weil sie das wusste, war ihre Trauer nur noch größer. Sie war gerade siebenundzwanzig geworden.

Jim bat Leslie, beim Beerdigungsgottesdienst die Lesung vorzutragen, doch sie wollte nicht. Und er bat sie, sich neben ihn in die erste Bank zu setzen, als er mitbekam, dass sie sich irgendwo hinten in der Kirche einen Platz suchen wollte. Sie erklärte ihm, dass sie sich nicht schon wieder von all den Leuten kondolieren lassen wollte, die ihr schon so oft kondoliert hatten, aber das akzeptierte Jim nicht, und so setzte sich Leslie schweren Herzens in die Bank neben ihren Schwager, nachdem sie all die Beileidsbekundungen ein weiteres Mal ertragen hatte.

Als der Pfarrer fragte, ob irgendjemand ein paar Worte sagen wollte, stand Leslie auf. Das überraschte sie selbst genauso wie die anderen Trauergäste und ganz besonders Jim. Mit einem Mal stand sie einfach auf. Der Pfarrer bat sie nach vorne, doch ihre Beine wollten sich nicht bewegen, und so wartete er ab, und die Gemeinde wartete ab, und Jim berührte sie an der Hand und fragte, ob alles in Ordnung sei. Was mache ich hier bloß?, schoss es ihr durch den Kopf, als sie sich schließlich auf den Altar zubewegte, doch als sie dann am Lesepult vor dem Mikrophon stand, sagten sich die Worte wie von selbst.

«Ich bin die letzte der fünf Sheehans», sagte sie. «Vor vier Tagen waren wir noch zwei, ich war das mittlere Kind und Imelda das Nesthäkchen der Familie. Ich hätte als Nächste an die Reihe kommen sollen, und nicht nur, weil ich älter war, sondern weil Imelda die Stärkere von uns war, die ohne Vorbehalte und Ängste auf das Leben zuging. Sie ist in den letzten Jahren bei fünf Benefiz-Marathons für die Krebshilfe mitgelaufen. So etwas hätte ich nie gemacht. Ich denke nicht mal an Krebs – wenn ich es schaffe.» Sie unterbrach sich und holte tief Luft. «Sie hat sich in Jim verliebt und ihn geheiratet, und sie wollte immer Kinder haben. Imelda hat Pläne gemacht, und das habe ich am meisten an ihr bewundert. Sogar als der Krebs bei ihr diagnostiziert worden war, an dem unsere Großmutter, unsere Mutter, unser Vater und unsere Schwester gestorben sind, hat sie immer noch Pläne gemacht. Sie hat Eizellen einfrieren lassen, und sie haben ein Haus gekauft, und wenn sie nicht in die Chemotherapie musste, ist sie gereist. Auch als sie wusste, dass es zu Ende geht, hat sie immer weiter Pläne gemacht. Kleine Pläne, die den meisten Menschen nicht viel bedeuten würden, zum Beispiel ‹Heute reden wir mal über den Sommer, den wir in Kerry verbracht haben› oder ‹Wenn morgen die Sonne scheint, setzen wir uns in den Krankenhauspark, beobachten die Leute und denken uns aus, wie sie wohl leben›. Sie hat sogar ihre eigene Beerdigung geplant. Sie wusste genau, was sie wollte, welchen Sarg, welche Blumen, welchen Pfarrer, welche Gebetstexte. Sie hat mich einmal gefragt, ob ich bei ihrer Beerdigung sprechen würde, und ich habe nein gesagt. Es tut mir leid, Imelda, natürlich spreche ich für dich. Ich hatte einfach Angst, dass mir nichts einfällt, was ich sagen könnte, und ich wollte dich nicht enttäuschen. Also schließe ich jetzt einfach, indem ich sage: Ich vermisse meinen Dad, meine Mum, meine Schwester Nora, und jetzt vermisse ich meine Imelda, und es tut mir so leid, weil ich an der Reihe gewesen wäre, aber auch so werde ich euch alle bald wiedersehen.»

Leslies Stimme brach, Tränen strömten über ihre Wangen, und ihre Nase triefte. Sie ging zu ihrem Platz zurück, ließ sich von Jim ein Papiertaschentuch in die Hand drücken und setzte sich wieder. Den Kopf in die Hände vergraben, bemühte sie sich, ihre Fassung wiederzugewinnen, doch das schien nahezu unmöglich. Damals war ihr Haar noch lackschwarz, sie war schlank und wenn auch keine umwerfende Schönheit, so fiel sie doch überall auf. Die Leute in den Bänken hinter ihr zerflossen beinahe vor Mitleid mit dieser jungen Frau, die nur noch darauf wartete, bis es mit dem Sterben an sie kam. Später, am Grab, sah sie Jim in all seinem Kummer, und wenn sie etwas hätte sagen können, um ihn zu trösten, dann hätte sie es ihm gesagt. Aber es gab keinen Trost. Also stand sie nur da und wartete darauf, dass dieser Tag zu Ende ging, sodass sie sich in ihre Wohnung verkriechen konnte, um das Unausweichliche zu erwarten. Es kam ihr nicht ein einziges Mal in den Sinn, dass sie elf Jahre später immer noch mit dem Warten auf dieses Unausweichliche beschäftigt sein könnte.

Tom 25. September 2007

Abschrift der Radiosendung Liveline mit Joe Duffy

«Ich habe Tom Kavanagh in der Leitung. Tom, sind Sie da?»

«Ich bin da, Joe.»

«Tom, Sie suchen nach Ihrer geliebten Frau Alexandra.»

«Ja, Joe.»

«Sie wird seit dem einundzwanzigsten Juni dieses Jahres vermisst, nicht wahr?»

«Ja, seit Donnerstag, dem einundzwanzigsten Juni.»

«Erzählen Sie uns von ihr, Tom.»

«Ich weiß nicht, womit ich anfangen soll. Zum letzten Mal wurde sie in Dalkey gesehen, und seitdem ist sie verschwunden.»

«Gut, in Ordnung. Und wie ist Alexandra so?»

«Sie ist humorvoll, sie ist fröhlich, sie ist nett, sie ist herzlich, sie ist lebhaft, sie ist einfach wundervoll, Joe.» Anrufer ist aufgewühlt.

«Die Polizei konnte ihre Spuren bis nach Dalkey zurückverfolgen. Können Sie uns darüber etwas erzählen?»

«Sie ist so gegen zwei Uhr nachmittags daheim in Clontarf aus dem Haus gegangen. Eine Nachbarin, die sie im Vorbeigehen gegrüßt hat, hat das bestätigt. Sie ging zur Bahnstation, und es haben sich drei Teenager gemeldet, die bezeugen können, dass sie in die Bahn eingestiegen ist. Außerdem war sie um halb vier auf den Bildern der Überwachungskamera auf dem Bahnsteig von Tara zu sehen, aber sie ist gleich wieder in den Zug eingestiegen. Bei Befragungen auf den Bahnstationen hat eine Frau gesagt, sie habe Alexandra in Dalkey aussteigen sehen. Dort ist sie auch nochmal auf den Bildern einer Überwachungskamera zu sehen. Aber danach …» Anrufer ist aufgewühlt.

«Aber danach?»

«Danach war sie verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt.»

«Das ist wirklich schrecklich. Um welche Uhrzeit war das?»

«Ungefähr um vier Uhr nachmittags.»

«Und wo waren Sie?»

«Bei der Arbeit. Wir beenden gerade einen Bau-Auftrag in Blackrock.»

«Daraus schließe ich, dass Sie Bauunternehmer sind.»

«Ja.»

«Und wann haben Sie festgestellt, dass Ihre Frau verschwunden war?»

«Ich wollte um vier Uhr zu Hause sein. Ich hatte versprochen, mich ums Abendessen zu kümmern, weil sich Alexandra mit ihrer Freundin Sherri verabredet hatte, um ein paar Konzertkarten abzuholen. Sie hat mir einen Zettel geschrieben, auf dem stand, dass sie um halb acht wieder da sein würde. Aber ich wurde auf der Baustelle aufgehalten. Ich bin erst um neun Uhr heimgekommen.»

«Und wann haben Sie die Polizei alarmiert, Tom?»

«Am nächsten Morgen.» Anrufer ist aufgewühlt. «Ich dachte, sie wäre mit Sherri versackt oder sie wäre vielleicht sauer, weil ich nicht zu Hause war und das Abendessen gemacht habe, und sei deshalb noch einmal weggegangen. Ich war völlig erledigt an diesem Abend und bin irgendwann eingeschlafen.»

«Das ist verständlich. Wie alt ist Alexandra?»

«Sie ist sechsunddreißig. Sie hat schulterlanges, kastanienbraunes Haar. Sie trug schwarze Hosen und eine schwarze Bluse mit einer Kragenschleife und dazu ein schwarzes tailliertes Jackett. Sie ist sehr attraktiv, sie gehört zu den Menschen, an die man sich erinnert, wenn man sie gesehen hat.» Anrufer ist aufgewühlt.

«Und vermisst wird sie seit …»

«Donnerstag, dem einundzwanzigsten Juni dieses Jahres.»

«Hatte sie vielleicht Probleme, Tom?»

«Nein, Joe. Sie war eine sehr glückliche, ausgeglichene Frau.»

«Okay.» Joe seufzt. «Ich stelle jetzt eine naheliegende Frage, Tom, entschuldigen Sie. Könnte es sein, dass sie sich das Leben genommen hat? Dass sie sich ertränkt hat?»

«Nein. Auf keinen Fall. Sie war nicht selbstmordgefährdet. Trotzdem haben die Küstenwache und Polizeitaucher nach ihr gesucht, und davon abgesehen waren an diesem Tag sehr viele Leute am Strand, und niemand hat sie gesehen.»

«Tut mir leid, Tom, aber das musste ich fragen. Ich hoffe, dass einem unserer Zuhörer etwas einfällt, was Ihnen weiterhilft.»

«Noch eins, Joe.»

«Ja?»

«Ich stelle mich später mit Flyern an die Bahnstation von Dalkey und verteile auch welche bei dem Jack-Lukeman-Konzert am nächsten Freitag.»

«Warum dort, Tom?»

«Sie ist ein Riesenfan von ihm. Sie hat noch keinen Auftritt von ihm verpasst.» Anrufer ist aufgewühlt.

«Und er ist ja auch sehr bekannt. Es werden Leute von weit her zu dem Konzert kommen.»

«Also lohnt es sich umso mehr, dort ihr Foto zu verteilen.»

«Ich wünsche Ihnen viel Glück, Tom. Diese Situation muss schrecklich für Sie sein. Wir stellen die Informationen über Alexandra auf unsere Webseite, vielleicht könnten Sie uns noch ein Foto von ihr schicken?»

«Das mache ich. Danke, dass Sie den Anruf in die Sendung genommen haben.»

«Und, liebe Zuhörer, falls irgendjemand etwas über Alexandra Kavanagh weiß, die seit dem einundzwanzigsten Juni 2007 vermisst wird, dann melden Sie sich bitte bei der Polizeiwache von Clontarf. Der ermittelnde Beamte heißt Des Martin. So, nach der Werbung melden wir uns zurück.»

Ende der Abschrift.

 

Tom legte den Hörer auf und wandte sich zu seiner Schwiegermutter Breda um. Sie saß am Küchentisch und wirkte sehr zart und sehr zerbrechlich. Unter Tränen lächelte sie ihn an.

«Das hast du sehr gut gemacht, mein Lieber», sagte sie.

«Du hättest unsere Telefonnummer hier angeben sollen», sagte Eamonn, der unruhig auf und ab ging. Eamonn war Alexandras älterer Bruder. Tom und er hatten sich nie besonders gut verstanden, und Alexandras Verschwinden hatte die Kluft zwischen ihnen noch vertieft. «Und du hättest sagen sollen, dass es ihr nicht gutging, weil sie nicht schwanger geworden ist, obwohl sie sich unheimlich nach einem Kind gesehnt hat.»

«Das hat überhaupt nichts damit zu tun», sagte Tom. «Es ging ihr gut, sie war glücklich.»

«Du willst es einfach nicht wahrhaben!», rief Eamonn. «Sie hat darunter gelitten, und du hast es nicht mal bemerkt!»

«Nimm das zurück, Eamonn», sagte Tom und ging auf Eamonn zu.

Eamonn wünschte sich geradezu, dass Tom zuschlug. Los, mach schon, trau dich!

Breda rief die beiden zur Ordnung. «Hört auf, alle beide!»

Alexandras Vater stand von dem Stuhl auf, in dem er draußen auf der Veranda gesessen hatte. Er drückte seine Zigarette aus und kam ins Haus.

«Geht jetzt nach Hause», sagte er zu Eamonn und Tom. «Geht nach Hause, bevor ihr alle beide Dinge sagt und tut, die ihr hinterher bereut.»

Eamonn und Tom nickten und murmelten Entschuldigungen. Breda weinte wieder. Sie sah Tom an, der in drei Monaten um zehn Jahre gealtert war. Sein schwarzes Haar war beinahe vollständig ergraut; seine früher so funkelnden Augen blickten müde, die Haut ringsum war dunkel verschattet. Er war immer so pedantisch gewesen, was sein Aussehen betraf. Alexandras Familie und vor allem Eamonn hatte immer darüber gewitzelt, dass Alexandra einen Metrosexuellen geheiratet hatte. Tom trug nur die allerbesten passgenauen Anzüge, und die wurden sofort in die Reinigung gebracht, nachdem er sie einmal getragen hatte. Sein Haar war perfekt geschnitten und sein Gesicht perfekt gepflegt. Tom sah überhaupt nicht wie ein Bauunternehmer, sondern wie ein Banker aus. Er war wohlhabend, und wenn er sich auch keine Extravaganzen leistete, so ließ er seine Umgebung doch nicht im Zweifel über seinen Status. Breda registrierte, dass ihm sein Anzug jetzt zu groß war, sein Haar eine ungekämmte Mähne, und rasiert hatte er sich vermutlich seit Tagen nicht. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst, ebenso wie sie selbst nur noch ein Schatten der Frau und Mutter war, die sie früher gewesen war. Sie respektierte sein Leid, weil sie darin auch ihr eigenes Leid sah, und sie wollte, dass ihr Sohn, dessen Zorn größer war als sein Schmerz, aufhörte, ihren verzweifelten Schwiegersohn noch weiter zu belasten. Sie nahm sich vor, mit Eamonn zu reden, wenn sie wieder die Kraft hätte, mit seiner streitsüchtigen Art umzugehen.

Als Tom ging, umarmte sie ihn, und er spürte jeden Knochen in ihrem Rücken. Sie flüsterte ihm ins Ohr: «Sie ist immer noch bei uns – ich spüre es. Gott wird sie behüten – sie ist nicht allein, Gott ist bei ihr.»

Tom nickte. «Versuch, ein bisschen mehr zu essen, Breda.»

Er stieg in sein Auto und blieb ein paar Minuten sitzen, ohne loszufahren. Als Eamonn aus dem Haus kam, war er immer noch da. Eamonn ging zu Toms Auto und klopfte an die Scheibe der Fahrertür. Tom ließ die Scheibe herunter.

«Es ist mir egal, was die Polizei sagt», sagte Eamonn. «Es ist mir egal, was meine Mutter sagt. Es ist deine Schuld. Du bist schuld daran.» Dann drehte er sich um, ging zu seinem Auto und fuhr weg, während Tom blieb, wo er war, und in der Einfahrt seiner Schwiegereltern begann, wie ein Kind zu heulen.

O Gott, bitte, bitte, wo ist sie? Bring sie mir nach Hause, bitte, bitte, bringe sie nach Hause! Ich bereue die Fehler, die ich je gemacht habe. Vergib mir und bring sie nach Hause.

Zu diesem Zeitpunkt wurde Alexandra seit dreizehn Wochen und fünf Tagen vermisst.

2Fear is the Key

All the shapes in the dark are playing with your heart,

fear is always near.

It’ll never set you free, it’ll never let you be,

once you let it in all the fun begins,

’cos fear is all you’ll breathe.

Jack L. & The Black Romantics, Wax

Oktober 2007

Es war ein feuchtkalter Abend. Jane hatte sich zweimal überlegt, ob sie wirklich aus dem Haus gehen wollte. Sie hatte einen langen und anstrengenden Tag hinter sich, aber sie hatte es ihrer jüngeren Schwester Elle versprochen, und Elle konnte ziemlich ungenießbar werden, wenn man sie enttäuschte. Das Konzert sollte um neun Uhr anfangen. Jetzt war es kurz nach zehn. Also hatten sie die Vorgruppe verpasst, und wahrscheinlich stand Jack Lukeman schon auf der Bühne. Am Veranstaltungsort gab es keinen Parkplatz, und weil sie sich in der Innenstadt nicht so gut auskannte und außerdem von der krankhaften Angst besessen war, falsch herum in eine der vielen Einbahnstraßen zu fahren, hatte Jane das Auto meilenweit entfernt geparkt. Da sie also ohnehin schon zu spät dran waren, mussten sie vom Auto zu dem Konzertclub rennen, und gerade als sie um die erste Straßenecke bogen, begann es wie aus Kübeln zu regnen. Die Schwestern hatten keinen Schirm dabei. Elle zog sich ihre Kapuze über den Kopf, doch die rutschte ihr beim Laufen immer wieder vom Kopf. Sie versuchte, die Kapuze unter dem Kinn festzuhalten, während Jane ihr Bestes tat, um auf ihren hohen Absätzen mit Elle Schritt zu halten, und gleichzeitig darum betete, dass sie sich nicht gleich den Knöchel brechen würde.

Beim Einlass kramten sie nach ihren Karten, und nachdem ein Türsteher mit dem Körperbau eines Silberrücken-Gorillas und dem Charme eines Holzklotzes die Tickets beäugt hatte, wurden sie durchgewinkt.

«Bewegung!», sagte er.

«Wie nett», sagte Elle, worauf Jane die Augen aufriss und die Lippen zusammenpresste, um Elle zu verstehen zu geben, dass sie hier besser den Schnabel hielt.

Sie kamen an einem schlampig gekleideten Typen vorbei, der kurz hinter dem Eingang zwischen dem Aufzug und den Treppen stand. Er drückte ihnen je einen Flyer mit dem Foto einer Frau in die Hand.

«Falls ihr sie seht, ruft mich bitte unter der Nummer an, die hier draufsteht», sagte er.

Weder Jane noch Elle hatten sich den Flyer richtig angesehen, denn sie hörten inzwischen schon Jack Lukeman «Don’t fall in love» singen. Elle entdeckte den Aufzug. «Unsere Plätze sind oben auf der Galerie», sagte sie, «lass uns den Aufzug nehmen.»

«Ich hasse Aufzüge.»

«Und wir verpassen das Konzert», sagte Elle genervt.

Jane seufzte, und damit wusste Elle, dass sie sich durchgesetzt hatte. Sie drückte in demselben Moment auf die Taste, um den Aufzug zu rufen, in dem der Silberrücken-Charmebolzen nach einem Blick auf die Uhr begann, die Einlasstüren zu schließen. Eine Frau in einem langen, durchsichtigen Plastikregenmantel, dessen Kapuze mit einem Durchzugband eng um den Kopf zusammengezogen war, streckte ihre Hand mit der Konzertkarte durch den Türspalt. Der Türsteher überlegte kurz, ob er ihr den Arm abquetschen sollte, bevor er die Tür wieder aufzog, ihr Ticket kontrollierte und sie durchgehen ließ.

Elle lächelte, als das laufende Kondom auf sie zukam. Tja, so bleibt man wenigstens trocken. Das Kondom ignorierte den Flyer in der ausgestreckten Hand des Mannes neben der Treppe und stellte sich hinter Jane, die sich gerade innerlich darauf vorbereitete, dass sie gleich in einer winzigen Zelle eingeschlossen werden würde. Ganz ruhig. Es ist in ein paar Sekunden vorbei. Der Silberrücken verriegelte die Haupttür. Der Typ mit den Flyern steckte die restlichen Zettel in eine Tasche und wartete hinter Elle auf den Aufzug. Das rote Lämpchen über den Aufzugtüren leuchtete auf, und es ertönte ein einzelner Glockenton. Elle stieg zuerst ein, gefolgt von dem Kondom und dem Typ mit den Flyern. Eine Sekunde lang konnte sich Jane nicht vom Fleck rühren. Als sie bemerkte, dass ihre Schwester und zwei merkwürdige Fremde sie anstarrten, zwang sie sich, ebenfalls einzusteigen. Die Türen glitten hinter ihr zu, und Jane atmete langsam und sehr bewusst ein und aus. Zehn Sekunden, und es ist vorbei. Zähl langsam rückwärts. Zehn … neun …

Elle hörte Jack singen: «Don’t fall in love with the girls around here, you give them your heart they soon disappear.» Ganz leise sang sie mit: «They come from country towns and live on Crescent Street and all that they share are the secrets they keep.»

Jane zählte in Gedanken: … fünf … vier …

Mit den letzten Takten des Songs wurde Elle lauter: «La, la, la, la, la, la, la!»

Das Kondom und der Flyer-Typ starrten vor sich hin, ohne die unmusikalische Frau zu beachten, die ihnen den Spaß an Jack Lukemans Song verdarb, indem sie ihn mit ihrem Gejaule übertönte. Jane achtete nur darauf, ruhig zu atmen und zu zählen: … drei … zwei …

Das Licht ging zuerst aus. Dann hielt der Aufzug mit einem so heftigen Ruck, dass alle vier Passagiere unwillkürlich nach Luft schnappten. Jane hörte mit dem Zählen auf, Elle hörte mit dem Gejaule auf, und draußen hörte die Musik auf. Nur Jack L. sang noch. Er beendete sein Lied ohne Mikrophon und Band. Das Publikum klatschte und jubelte, und Elle wurde bewusst, dass sie von ihrer Schwester angestarrt wurde, deren Beine unter ihr nachgegeben hatten und die nun auf dem Boden saß, während sich das Kondom an den Handlauf des Aufzugs und der Flyer-Typ an seine Tasche klammerte, als ginge es ums nackte Überleben. Draußen klatschte die Menge immer noch Beifall, und die Situation war total merkwürdig, und das gefiel ihr.

«Was ist los?», fragte sie mit einem Grinsen. «Glaubt ihr, es brennt irgendwo im Gebäude?»

Janes Atem wurde flacher und schneller, sodass sie nichts darauf sagen konnte. Der Flyer-Typ schüttelte den Kopf, bevor er sagte, wenn es ein Feuer gäbe, würde man bestimmt eine Alarmsirene hören. Das Kondom zog die Schleife des Kapuzenbandes auf und schob die Plastikkapuze zurück. Darunter kam kurzes schwarzes Haar mit ein paar grauen Strähnen zum Vorschein.

«Garantiert ein Stromausfall», sagte sie, «liegt vermutlich an diesem Mistwetter. Ich habe ja schon geahnt, dass ich heute Abend nicht hierherkommen sollte, aber ich habe nicht auf meine innere Stimme gehört.» Sie zog ihren Mantel aus, rollte ihn zusammen und steckte ihn in ihre riesige Handtasche. «Ist mit ihr alles in Ordnung?», fragte der Flyer-Typ Elle und deutete auf Jane.

«Sie hat ein Problem mit Aufzügen», sagte Elle. «Halt durch, Janey.» Sie hockte sich neben ihre Schwester auf die Fersen und strich ihr die feuchten blonden Strähnen aus dem Gesicht. «Es dauert bestimmt nicht lange.»

Aus irgendeinem Grund fand das Kondom, dass man Elle korrigieren müsse. «Wir könnten leicht ein paar Stunden lang hier drin festsitzen.»

Jane packte Elles Hand und drückte sie beinahe schmerzhaft.

Elle sah das Kondom an und schüttelte den Kopf. «Das war echt nicht cool, Kondom. Echt nicht.»

Das Kondom und der Flyer-Typ starrten sie verwirrt an und fragten sich offenbar, ob sie eben richtig gehört hatten, doch dann wurden ihre Überlegungen von der Stimme eines Mannes unterbrochen, der sich über ein Megaphon ans Konzertpublikum wandte.

Jane sah sich mit schreckgeweiteten Augen in dem Aufzug um. «Was ist da draußen los?», fragte sie keuchend.

«Schsch», sagte das Kondom und legte den Finger über die Lippen.

Auf der Bühne startete der Manager des Veranstaltungsorts den zweiten Versuch, sich dem Publikum verständlich zu machen. Die Zuschauer aber interessierten sich nicht für ihn, sie wollten, dass er von der Bühne verschwand. Hinter dem Manager begann Jack L. herumzualbern, und die Leute lachten. Der Manager brauchte ewig, um das Megaphon richtig einzustellen, und Jack war in Bühnenlaune. Er sprang umher und umarmte den Manager, dessen Gesicht inzwischen tiefrot war. Der Mann hatte Angst. Er hatte Angst, weil Jack für seine Unberechenbarkeit und seine überbordende Energie und seine Übermütigkeit und seine mitreißende Art bekannt war. Der Manager betete, dass er nicht zur Zielscheibe von Jacks Späßen würde, und seufzte erleichtert, als das Megaphon endlich richtig funktionierte.

Dann erklärte er, dass in der gesamten Straße der Strom ausgefallen war. Er wusste nicht, wie lange der Stromausfall dauern würde, und entschuldigte sich, weil aus irgendeinem Grund auch der Generator, der normalerweise bei solchen Notfällen eingeschaltet wurde, nicht lief.

Im Aufzug hatte das Kondom das Ohr an den Spalt zwischen den Türen gelegt und lauschte angestrengt.

«Was sagt er?», fragte Elle.

«Ich hab’s ja gewusst, es ist ein Stromausfall.»

«Und was passiert jetzt?», fragte Elle.

«Schsch», sagte das Kondom, «sonst höre ich doch nichts.»

Auf der Bühne erklärte der Manager, dass sich schon jemand den Generator ansah, und falls der Generator trotzdem nicht innerhalb der nächsten zehn Minuten ansprang, würden alle ihr Eintrittsgeld zurückbekommen. Er wurde ausgebuht, und Jack nahm ihm das Megaphon aus der Hand. Er brannte darauf zu spielen. Bei ihm schien der Strom ganz und gar nicht ausgefallen zu sein. Er lief auf der Bühne hin und her wie ein Panther im Käfig. Dann hob er das Megaphon.

«Ich bin nicht bereit, das Konzert abzubrechen», sagte er, und das Publikum klatschte laut Beifall.

Jack war von sexy bis abschreckend schon mit allen möglichen Beschreibungen belegt worden, irgendwann hatte sogar mal jemand geschrieben, er sei das Ergebnis einer Kreuzung zwischen einem Vampir und einem Werwolf. An diesem Abend war er eher eine Mischung aus Jack Nicholsons böswilligem Joker und Johnny Depps ausgelassenem Piraten.

Jack sprang an die Seite der Bühne. In einem Augenblick war er auf den oberen Rang geklettert und wandte sich von dort aus ans Publikum.

«Und? Sollen wir weitermachen?», rief er. Die Zuschauer brüllten begeistert. Jacks dunkle Augenbrauen hoben sich, er grinste breit, und dann sprang er trotz der beträchtlichen Höhe des oberen Rangs wieder auf die Bühne hinunter. «Also los!», rief er, und Jubel brandete auf. Er gab dem Manager das Megaphon zurück. Der arme Mann stand immer noch auf der Bühne und starrte mit offenem Mund die Wand an, die der Sänger anscheinend einfach so hinaufgelaufen war. Jack klopfte ihm auf den Rücken. Der fassungslose Mann verließ die Bühne und überlegte dabei, ob er in der Künstlergarderobe ein Schild anbringen sollte, das verbot, die Wände hinaufzulaufen.

Jack fuhr sich mit der Hand durch seine kurzen schwarzen Haare, dann drehte er sich zu seinem Gitarristen um und zog das Verstärkerkabel aus seiner Gitarre. Das Publikum klatschte. Der Roadie brachte eine Akustik-Gitarre. Jack sah den Schlagzeuger an, und der gab ihm mit seinem Schlagbesen das Zeichen, dass er bereit war.

Wieder johlte und klatschte das Publikum.

Unterdessen fragten sich die vier im Aufzug, was da draußen vor sich ging.

«Er spielt doch nicht, oder?», sagte Jane zwischen tiefen, konzentrierten Atemzügen.

«Ich glaube doch», sagte Elle.

Auf der Bühne nickte Jack, beugte sich zu seinem Gitarristen vor und sagte etwas zu ihm. Der Gitarrist schlug die bekannten Akkorde von «Move On» an, Jack öffnete den Mund, und seine eindringliche, phantastische Stimme erklang so klar, als wäre sie immer noch elektrisch verstärkt. Innerhalb einer Sekunde war es vollkommen still im Saal.

Und sobald er sang, hallte seine Stimme in dem Aufzug wider, als säße er selbst darin.

«Oh, dieser Song ist ja so toll!», sagte das Kondom und schlug mit dem Handballen an die Aufzugtür. Dann ließ es sich in die Hocke hinab, sodass der Flyer-Typ der Einzige war, der noch stand.

Makes no difference who you are, love will find you, yeah,

Opera or music star, love will find your path.

All the money in the world save you from that.

All the beauty in the world you can’t just cover your tracks …

Das Publikum sang den Refrain mit.

And if you move on it will keep up

And if you jump down you know you’ll be found.

«Sollen wir rufen oder so, um uns bemerkbar zu machen?», fragte Elle, nachdem sie eine Minute oder zwei schweigend Janes keuchendem Atem und Jacks Gesang gelauscht hatten.

«Der Türsteher denkt bestimmt gleich daran, dass wir im Aufzug sind», sagte der Flyer-Typ und hoffte inständig, dass sich der Türsteher doch noch als verantwortungsbewusster erweisen würde, als die kurze Begegnung mit ihm zuvor nahegelegt hatte.

«Der Silberrücken?», schnaubte Elle. «Wie’s bei dem ums Denken bestellt ist, will ich lieber gar nicht wissen.»

«Sie hat recht», sagte das Kondom. «Er war wahrscheinlich zu beschäftigt damit, sich zu lausen, um uns beim Reinkommen überhaupt wahrzunehmen.»

Elle lachte. Es gefiel ihr, dass das Kondom ihr Primatenthema aufgegriffen hatte. Der Flyer-Typ starrte die Aufzugtüren an und beschloss, dass er einmal versuchen könnte, sie mit den Händen aufzuschieben. Doch es gelang ihm nicht einmal, die Finger in den Türspalt zu zwängen, und nachdem er sich hatte bestätigen lassen, dass zufällig keine der Frauen eine Brechstange in der Handtasche hatte und auch nichts, das man als Brechstange hätte einsetzen können, begann er mit den Fäusten an die Türen zu hämmern, was den Aufzug zum Schwanken brachte, sodass Jane noch heftiger keuchte, zitterte und weinte.

«Atmen, Janey», sagte Elle. «Dir geht’s gut, alles ist in Ordnung.»

Aber Jane ging es gar nicht gut. Sie hatte Schmerzen in der Brust und musste sich gegen den Drang wehren, einfach gegen die Wände zu laufen.

«Wenn du nicht aufhörst, diesen Aufzug zum Schwanken zu bringen, bekommt diese Frau hier eine ausgewachsene Panikattacke, falls sie nicht schon eine hat», sagte das Kondom zu dem Flyer-Typen.

Er drehte sich um und sah auf Janes totenblasses Gesicht hinab. Er hörte mit seinem Gehämmer auf und setzte sich ebenfalls auf den Boden.

«Tut mir leid», sagte er.

Jane versuchte ein Lächeln, aber sie brachte keins zustande, da sie ja schließlich um Atem ringen musste.

«Hat jemand eine Papiertüte?», fragte Elle.

Das Kondom sagte gleich nein, aber der Flyer-Typ sah in seiner Tasche nach.

«Nein», sagte er schließlich, «aber vielleicht geht das auch.» Er zog ein Poster aus der Tasche, faltete es zu einer Tüte und gab sie Elle. Sie setzte Jane die Öffnung der Tüte über Mund und Nase und befahl ihr, ruhig zu atmen. Es funktionierte nicht. Jane schob die Postertüte weg und drückte sie mit verkrallten Fingern an ihren schmerzenden Brustkorb, dann legte sie sich auf den Boden.

O nein, jetzt hole ich mir noch irgendwelche fleischfressende Viren von diesem Boden. Bitte lieber Gott, lass mein Gesicht das letzte sein, über das sie sich hermachen. Mein armer Sohn. Auf Wiedersehen Kurt, Mum liebt dich. Auf Wiedersehen Dominic, du bist ein egoistischer Mistkerl, eine Niete und ein Dummkopf, und ich liebe dich. Warum liebst du mich nicht? Auf Wiedersehen Mutter, du bist zwar eine böse Hexe, aber immerhin hasse ich dich nicht. Auf Wiedersehen Elle, wenn du dich um deine Karriere kümmerst und damit aufhörst, Dummheiten zu machen, kommst du gut ohne mich klar.

Elle sah ihre Schwester auf dem Boden liegen, sah, wie sie sich mit schweißglänzendem Gesicht über die Brust rieb und so schnell und hechelnd atmete, dass es wirklich nicht mehr gesund sein konnte. Jane hatte schon oft gesagt, dass so etwas passieren könnte, wenn sie von Elle wieder einmal dazu gedrängt worden war, in einen Aufzug zu steigen, aber Elle hatte noch nie selbst einen solchen Anfall miterlebt, und abgesehen von der Idee mit der Papiertüte hatte Elle keine Ahnung, was sie noch tun könnte.

«Was soll ich machen?», fragte sie Jane, der es inzwischen so erschien, als würde sie Richtung Decke schweben. Wenigstens bin ich jetzt von dem ekligen Boden weg.

Das Kondom sagte so etwas wie Hah, stand auf und ging an Janes Seite wieder in die Hocke, wobei es dem Flyer-Typen bedeutete, sich an Janes andere Seite zu setzen. Das Kondom entzog Elle Janes Hand, weil Jane mit der anderen Hand krampfhaft das Poster an die Brust drückte.

«Du hast eine Panikattacke. Daran stirbst du nicht. Niemand stirbt an einer Panikattacke», sagte das Kondom.

Jane hörte auf zu schweben und kehrte in ihren auf dem Boden liegenden Körper zurück.

«Du schaffst das schon. Lass es einfach passieren, dann geht es von selbst vorbei», sagte das Kondom, und Jane hörte ihr zu. «Es ist in Ordnung, dass du Angst hast. Bald geht es dir wieder gut.»

Janes Atem verlangsamte sich, und während der folgenden zehn Minuten wiederholte das Kondom immer wieder die Mantras, und langsam begann Jane, sich wieder normal zu fühlen. Dann konnte sie sich aufsetzen, und als sie ihren Atem so weit unter Kontrolle hatte, dass sie sprechen konnte, dankte sie dem Kondom.

«Ich heiße Jane.»

«Leslie», sagte das Kondom.

«Elle», sagte Elle. «Das war echt beeindruckend gerade. Bist du Ärztin?»

«Nein.»

«Hast du selbst Panikattacken?», fragte Elle.

«Nein.»

«Woher hast du dann gewusst, was du sagen musst?», fragte Elle, die sich von Leslies einsilbigen Antworten nicht abschrecken ließ.

«Meine Schwester hatte welche.»

«Hatte?», sagte Elle. «Hat sie jetzt keine mehr?» Sie ließ ihren Blick von Leslie zu Jane wandern und war drauf und dran, den Daumen triumphierend in die Höhe zu recken.

«Sie ist gestorben», sagte Leslie, und Jane wurde wieder blass, «aber nicht an einer Panikattacke.» Sie lächelte Jane an.

Elle betrachtete den Flyer-Typen, der schweigend in einer Ecke saß. «Und wie heißt du?»

«Tom.» Er wandte sich an Jane. «Tut mir leid wegen vorhin. Dass ich gegen die Tür gehämmert habe.»

Jane lächelte ihn an. «Schon gut. Ich benehme mich einfach unmöglich.»

Auf der Bühne hatte Jack gerade etwas gesagt, und ein Lachen ging durchs Publikum. Dann begann er Bedsprings a capella zu singen.

Take me back to your old ma’s place

where the bedspring squeaks and your body shakes

and I lose myself before the morning takes me home,

Love me in the doorway I’ll love you on the stairs …

Elle begann den Takt mitzuschnippen. «Ich liebe diesen Song.»

Leslie liebte den Song auch. Bitte, bitte mach ihn nicht kaputt, bitte sing nicht mit.

Jane setzte sich auf ihre Handtasche.

«Es ist wohl ein bisschen zu spät, jetzt noch darauf zu achten, dass du dir die Kleider nicht verdreckst, Jane», sagte Elle, die immer noch mitschnippte.

«Ich weiß.» Seufzend betrachtete Jane den Boden. «Wenn ich hier rauskomme, brauche ich eine Tetanusspritze.»

Elle bemerkte, dass sich Leslie zu der Musik bewegte, und sie wusste, dass gleich der Refrain kommen würde. «Sing mit mir, Leslie!», sagte sie.

«Nein», sagte Leslie.

«Ist ‹Nein› dein Lieblingswort?», fragte Elle.

«Nein.»

Elle lachte. Ich mag dich. «Los, mach mit, ich weiß, dass du Lust dazu hast.»

Und Leslie hatte wirklich Lust dazu, und wenn sie keine gehabt hätte, dann hätte sie zuhören müssen, wie Elle den Song verhunzte. Und so sang sie mit einer vollkommen Fremden in einem Aufzug den Refrain mit. Das passt überhaupt nicht zu mir, aber es macht Spaß.

«Oh come on down while we’re in full bloom

it’s bright night, let’s howl at the moon.»

Tom lachte, und Jane vergaß ihre Angst einen Moment lang, um sich darüber zu freuen, wie ihre Schwester und Leslie gemeinsam den Mond anheulten.

«Whoa come on down we’re in full bloom,

howl at the, howl at the, howl at the moon.»

Sie heulten und jaulten, und irgendwie waren sie gar nicht so schlecht.

«Hallo, ist da drin jemand?»

Tom stand auf und sagte in den Spalt zwischen den Aufzugtüren: «Hallo.»

«Wie viele Personen sind Sie da drin?», fragte die Stimme.

«Vier», sagte Tom.

«Okay, wir hoffen, dass der Generator bald läuft.»

«Danke», sagte Tom.

«Sind Sie alle in Ordnung?», fragte die Stimme.

«Wir sind in Ordnung», sagte Tom mit einem Blick auf Jane, die nickte.

Bevor der Mann noch eine weitere Frage stellen konnte, begann Jack «Georgie Boy» zu singen, und das gesamte Publikum sang mit und übertönte ihn.

Tom setzte sich wieder auf den Boden.

Jane löste endlich ihren Griff von dem Poster, an das sie sich die ganze Zeit noch gekrallt hatte. Sie faltete es auseinander und hatte das Bild einer Frau vor sich, die sie kannte. Sie war älter geworden, aber es war eindeutig sie. «Alex? Alexandra Walsh?»

Tom starrte Jane an. «Du kennst sie?»

«Früher kannte ich sie.»

«Sie war ihre beste Freundin», sagte Elle. «Aber dann ist meine Schwester mit siebzehn schwanger geworden, und Alexandra ist aus ihrem Leben verschwunden. Also war sie vielleicht doch keine so gute beste Freundin.»

«Elle», sagte Jane, aber ihr Ton machte klar, dass sie ebenso gut «Halt die Klappe» hätte sagen können. «Sie wird vermisst?», fragte sie Tom.

«Seit Juni.»

«Das ist ja furchtbar!» Ihre Hand zitterte, als sie sich über den Mund strich. «Das tut mir unheimlich leid.»

Elle nahm den Flyer aus ihrer Tasche und betrachtete ihn. «Sorry, ich hätte nicht sagen sollen, dass sie aus Janes Leben verschwunden ist. Manchmal bin ich wirklich ein Schwachkopf. Das ist bei mir genetisch bedingt – ihr solltet mal meine Mutter kennenlernen, dann würdet ihr das sofort verstehen.»

Tom lächelte sie zögerlich an, um ihr zu zeigen, dass er ihr nicht böse war.

«Was ist passiert?», fragte Jane.

«Sie ist nach Dalkey gefahren und verschwunden.»

«Einfach so?»

«Einfach so.»

«Kann es sein, dass sie sich … etwas angetan hat?», fragte Leslie.

«Nein», widersprach Tom fest. «Das kann nicht sein.»

«Ich weiß, es ist schon lange her, aber ich glaube, Tom hat recht. Das klingt überhaupt nicht nach der Alexandra, die ich kannte.» Jane schüttelte seufzend den Kopf. Ihre Augen glitzerten verdächtig, aber sie begann nicht zu weinen.

«Und was sagt die Polizei?», fragte Leslie.

«Sie sagen, sie tun alles, was sie können. Sie haben sich wirklich sehr um uns gekümmert.»

«Wie geht’s Breda?», fragte Jane, die an Alexandras Mutter denken musste.

«Sie ist am Boden zerstört, sie ist komplett am Boden zerstört.»

«Das ist alles so schrecklich», sagte Jane. «Breda war immer so nett zu mir. Als ich meinen Sohn bekam, hat sie eine blaue Decke für ihn gestrickt. Er ist jahrelang nirgends hingegangen, wenn diese blaue Decke nicht dabei war.»

«Das weiß ich noch, das Ding hat gestarrt vor Dreck», sagte Elle.

«Wir versuchen schon lange, ein Baby zu bekommen», sagte Tom. «Alexandra hat nach Weihnachten aufgehört zu arbeiten, weil sie gehofft hat, das würde etwas nützen …» Er unterbrach sich, als habe er schon zu viel gesagt. Alexandra würde ihn umbringen, wenn sie wüsste, dass er mit Fremden über ihr Privatleben sprach, auch wenn sie früher einmal mit einer von diesen Fremden befreundet gewesen war. Viel zu viel von ihrem Privatleben war schon in der Öffentlichkeit breitgetreten worden.

«Das ist ein Albtraum», sagte Leslie. «Ein absoluter Albtraum.»

«Sie trug schwarze Hosen und eine schwarze Bluse und schwarze Stiefel», sagte Tom und wiederholte, was er in den letzten Monaten schon so oft gesagt hatte. «Sie hatte ihre Handtasche dabei. Sie nahm nie viel Bargeld mit, aber ihre Kreditkarte wurde nicht benutzt. An dem Morgen ging es ihr gut, sie hatte gute Laune … sie wollte sich um fünf Uhr nachmittags mit ihrer Freundin Sherri in Dalkey treffen. Es ging ihr gut.»