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Paul ist dreizehn und zieht mit seiner Großmutter in die Stadt. Seine Eltern sind gestorben, seine Oma ist alles, was er hat. Als sie zum ersten Mal die Straße zu seinem neuen Zuhause hinunterfahren, wird er plötzlich von Erinnerungen übermannt. Er weiß, wo der Kiosk liegt, und erkennt ihre Seitenstraße. Noch viel seltsamer: Die Nachbarin von unten scheint ihn zu kennen. Doch Großmutter schweigt sich stur aus, also fragt er nicht weiter nach. Der Schrecken beginnt, als Paul aus seinem Kleiderschrank plötzlich eine Stimme hört. Eine dünne Stimme. Und es liegt ein seltsamer Geruch in der Luft. Der Geruch von Feuer. "Kaja, Kaja!", rief sie aus der weiten Ferne. Eine dünne Kinderstimme! Es folgte ein leises Schluchzen und wieder dasselbe: "Kaja, Kaja, ich will hiel laus!"
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Seitenzahl: 428
Veröffentlichungsjahr: 2024
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2024 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99146-557-7
ISBN e-book: 978-3-99146-558-4
Lektorat: Theresia Riegler
Umschlagfotos: Olga Popova, Samsem67, Koldunova Anna | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
Innenabbildungen: Tetyana Farana
www.novumverlag.com
Widmung
Gewidmet den Opfern
des Großbrandes im Einkaufszentrum
„Winterkirsche“ im Jahre 2018.
Der Umzug in das neue Leben
Der alte Bus fuhr die endlose Landstraße entlang. Links und rechts zog Einöde an den staubigen Fenstern vorbei: Die gelben Strohstoppel der Getreidefelder, die schwarzen Rechtecke der frisch geernteten Maisfelder, Giebeldächer der Dörfer und ab und zu die langen Streifen der rostfarbenen Wälder baten dem Auge keine zu große Abwechslung. Nur sehr selten, wie ein Hoffnungsschimmer am Horizont, leuchtete in der Ferne kurz eine Teich- oder Seefläche auf.
Im Bus selbst herrschte ähnliche Atmosphäre: Die Passagiere starrten gelangweilt aus den Fenstern in die eintönige Landschaft hinaus oder, in eigene Gedanken vertieft, einfach vor sich hin. Manche von ihnen versuchten die örtliche Zeitung zu lesen, mussten aber schnell wieder aufgeben, als das nächste Schlagloch die Zeilen vor ihren Augen tanzen ließ. Nach ihrer Kleidung zu urteilen, waren die meisten von ihnen einfache Dorfleute, die in die Stadt fuhren, um irgendeinen langweiligen Papierkram zu erledigen, oder die Pendler, die in umliegenden Ortschaften ihre Jobs hatten.
Paul passte die schläfrige Atmosphäre im Bus ganz und gar nicht. Die Schläfrigkeit der Reisenden und die monotone Landschaft hinter seinem Fenster langweilten ihn zu Tode. Er saß wie auf heißen Kohlen, drehte sich auf seinem Sitz nach allen Seiten um und schaute verständnislos zu seiner Großmutter, die neben ihm saß. Sie war während der langen Reise eingenickt und in ihrem Sitz nach vorne gekippt. Ihr Kopf ruhte auf einem großen Bündel, das auf ihrem Schoß lag und das sie mit beiden Armen fest umklammerte, damit es ihr nicht auf den Boden rutschte. Es schien ihr nichts auszumachen, dass der Bus auf der schlechten Landstraße immer wieder holperte und alle Passagiere dabei in ihren Sitzen hochhüpften. Der Knoten ihres Kopftuches hatte sich gelockert, das Tuch selbst rutschte zur Seite und ihr aschgraues Haar kam zum Vorschein. Paul erinnerte sich gar nicht mehr, welche Farbe Großmutters Haare eigentlich hatten. Solange er auf der Welt war, seit fast vierzehn Jahren also, hatte er sie nur mit grauen Haaren erlebt. So gut wie alle Fotos in ihrem alten Fotoalbum waren schwarzweiß und gaben keine richtige Vorstellung von Großmutters Haarfarbe. Auf diesen Fotos war sie oft mit Großvater zu sehen – einem dürren, streng aussehenden Mann, der so gut wie nie lächelte. Sein gequälter Gesichtsausdruck auf manchen der letzten Fotos deutete auf eine schlimme Krankheit hin, an der er letztendlich starb, noch bevor Paul geboren wurde. Seine Großmutter dagegen war schon immer korpulent und Paul schmunzelte jedes Mal, wenn er auf den Fotos ihren massigen Körper neben der schmächtigen Figur seines Großvaters sah.
Jetzt schlummerte sie auf ihrem Bündel, als ob sie in der Stube in ihrem alten Sessel eingenickt wäre. Wie konnte sie nur so friedlich dösen, wenn ihnen beiden so etwas Aufregendes wie ein Umzug in eine Stadtwohnung bevorstand! Paul hielt die Langeweile nicht länger aus. Dazu kam, dass die Situation für ihn immer peinlicher wurde: Ein Passagier links von ihnen warf ab und zu amüsierte Blicke herüber. „Omi, wach auf! Du schnarchst!“, flüsterte er ihr ins Ohr. „He, was, wie? Oh, tut mir leid, Paschenka, muss eingenickt sein. Was steht da oben, welche Haltestelle?“ Die Großmutter hob ihren Kopf mit verrutschtem Kopftuch und blinzelte schlaftrunken um sich. „Erst Oberringen, Omi“, sagte Paul erleichtert. „Schlaf nicht mehr ein, es ist peinlich“, fügte er flüsternd hinzu. „Na gut, na gut, ich werde nicht mehr …“ Ihr Kopf neigte sich nach vorne und die müden Augen schlossen sich wieder. „Es ist hoffnungslos“, dachte Paul seufzend und wandte sich der Aussicht hinter seinem Fenster zu. Aber das welke, eintönige Panorama konnte seine innere Unruhe auch nicht stillen. Ein Teil der Fahrstrecke verlief parallel zur Eisenbahn. Die Gleise begannen zu vibrieren, ein metallisches Zischen zerriss die klare Herbststille und ein Güterzug sprang hinter dem dunkelgrünen Nadelwäldchen hervor. Er sah klein aus – sogar kleiner als der Zug aus Pauls alter Spielzeugkiste. Dank der beachtlichen Entfernung erschien er langsamer und eine Zeit lang hielten die beiden Fahrzeuge miteinander Schritt. Währenddessen beäugte Paul die hellgrauen Wagen des Zuges, die von selbsternannten Künstlern mit bunten Graffitibildern bemalt waren. Schließlich überholte der Zug und verschwand mit triumphierendem Donnern in der weiten Ferne. Der Bus verfolgte im Schneckentempo weiter seine langweilige Route. Nach dieser kleinen willkommenen Ablenkung erregte nichts mehr Pauls Aufmerksamkeit, bis die ersten großen Gebäude des Vorortes und die breiten Straßen mit ihrem regen Verkehr auftauchten. Paul schaute neugierig, wie die farbigen Ampellichter sich in den Pfützen spiegelten und die vielen buntgekleideten Menschen die Straßen überquerten oder auf den Bürgersteigen aneinander vorbeieilten. Sie trugen kleine hübsche Ledertaschen mit sich oder Köfferchen mit Rädern und nicht Körbe oder Säcke, wie es im Dorf üblich war. Manche von ihnen hatten Kinder bei sich, die sie an der Hand hielten. Das alles, die mehrstöckigen Häuser, die vielen Menschen auf den Bürgersteigen und Autos auf den Straßen, wirkte auf Paul, der sein bisheriges Leben auf dem Land verbracht hatte. Es war befremdend und faszinierend zugleich. Wegen des dichten Verkehrs wurde der Bus immer langsamer und das trieb Pauls Ungeduld in die Höhe. Die Großmutter wachte auf und rieb sich mit dem Handrücken die vom Schlaf angeschwollenen Augen. „Fast da, mein Kindchen, fast da. Was für ein Gewimmel, guck dir das an!“, sagte sie kopfschüttelnd zu Paul und deutete auf die vielen Menschen auf den Gehsteigen.
Das Déjà-vu kam wie aus dem Nichts, als ob ein Blitz ins Pauls Hirn einschlug. Er hatte nicht wirklich realisiert, was dieses Gefühl schon einmal da gewesen zu sein, ausgelöst hatte. Er starrte verkrampft in das frühabendliche Durcheinander auf den Straßen, um kein auch so kleines Detail zu verpassen: die Ecken der Häuser, hinter denen sich die schmalen Gassen schlängelten, die Metallzäune um die winzigen Gärten herum, die Hausdächer, die größtenteils flach waren, die meistens grauen Hausfassaden mit vielen Balkonen, auf denen unzählige Blumentöpfe hingen, aber nichts bestätigte diese merkwürdige Wahrnehmung. Und schon wieder: BAM! Wie eine kleine Explosion im Inneren seines Kopfes – eine alte hellrosa gestrichene Villa an der Kreuzung kam ihm verdächtig bekannt vor. Im Gegensatz zu anderen, eher langweiligen Stadthäusern hatte sie ein Giebeldach aus karminroten Ziegeln und eine kleine Windfahne in Form eines Hahnes. Das alles muss er schon mal gesehen haben! Paul starrte auf den verrosteten Hahn auf dem Dach und hörte plötzlich ein deutliches Klirren. Das Klirren war in seinem Kopf. „So muss die Windfahne klingen, wenn sie sich im Wind dreht“, dachte er verwirrt.
Der Verkehr auf den Straßen war zu dieser Tageszeit so dicht, dass der Bus alle paar Meter stoppen musste. An einer Kurve, wo auf dem Bürgersteig ein alter knorriger Baum wuchs (was für eine Seltenheit für eine Großstadt!), überkam Paul das Gefühl, dass sich hinter der Kurve eine kleine Eisbude befinden müsste. Er wartete ungeduldig, bis der Bus in die Kurve abbog, aber da schaltete sich die Ampel auf Rot und er fluchte im Stillen. Pauls Herz hämmerte wie wild und er ballte seine schwitzenden Hände zu Fäusten. Er sah schon das Blau des Kiosks und das fröhliche Gesicht der Büdchenfrau im kleinen Fenster. Endlich bog der Bus in die Kurve ab und – NICHTS! Nur zwei Tauben, die am Rand einer großen Pfütze etwas Essbares vom Boden pickten. „Puh!“, atmete Paul erleichtert auf. Er konnte seine extreme Aufregung selbst nicht verstehen. „Alles nur Einbildung! Ich war noch nie da“, überzeugte er sich selbst. Und als ein paar Häuserblocks weiter kein breites, modernes Gebäude auftauchte, das er zu sehen erwartet hatte, bestätigte sich seine Überzeugung nur. Stattdessen sah er einen kleinen gemütlichen Park mit vielen jungen Bäumen und ein paar Sitzbänken.
„Wir sind da, Paschenka, wir sind da.“ Na endlich! Großmutter setzte sich aufrecht in ihrem Sitz und legte sich ihr Kopftuch ordentlich an. „Die Nächste ist unsere!“ Sie zog den Bündelknoten fester zu und stand auf. Paul hob seinen Schulrucksack vom Boden hoch und folgte ihr zur Bustür. Der Ort, wo sie ausgestiegen waren, war ein gemütliches Viertel – nicht gerade im Stadtzentrum, aber auch nicht am Stadtrand. Die Häuser standen nicht zu dicht beieinander und die Leute auf den Bürgersteigen waren auch nicht sonderlich zahlreich. Vor fast jedem Haus gab es einen kleinen Spielplatz mit einer Schaukel und Wippe oder einer Rutschbahn. Die spielenden Kinder lachten und unterhielten sich laut. Für Paul, der in einem kleinen Dörfchen aufgewachsen war, gab es hier fast zu viel Action.
Er folgte seiner Großmutter, die, mit ihrem schweren Bündel huckepack, langsam aber zielstrebig auf eines der Häuser zusteuerte. „Das ist unser Liebstes, Paschenka, das ist unser Heim!“, keuchte sie fröhlich. Es war kein großes Mehrfamilienhaus, sondern ein ordentliches Vierfamilienhäuschen mit zwei Eingängen an beiden Haushälften. Die Großmutter watschelte zu rechtem Eingang, stieg fünf niedrige Stufen hoch und öffnete die schwere Eingangstür. Die warme Treppenhausluft schlug Paul entgegen, vollgefüllt mit fremden Gerüchen. Das matte Lampenlicht fiel auf die grauen Wände, die früher einmal weiß gefärbt waren, und auf den überraschend sauberen Fliesenboden. Ein einziges kleines Fenster, das sich über dem nächsten Treppenansatz befand, war ein beliebtes Ziel für die Jugendlichen, die es aus Langeweile immer wieder mit Steinen beworfen haben mussten, bis einer der Hausbesitzer es mit einem Holzbrett luft- und lichtdicht zugenagelt hatte. Ein paar Stufen führten zu einer Wohnungstür links, neben der sich zwei Personen unterhielten: eine magere alte Frau in einem für sie überproportional großen Jogginganzug, der von ihrem dürren Körper herabhing, und ein sympathisches junges Mädchen mit dunklem Haar, das es zu einem Pferdeschwanz hochgebunden trug. Neben dieser alten Vogelscheuche sah das Mädchen besonders jung und frisch aus. „Ah danke, danke, meine Liebe!“, sagte die alte Frau mit einer lauten, tiefen Stimme. „Was würde ich nur ohne dich machen!“ „Nichts zu danken!“, erwiderte das Mädchen. „Und nehmen Sie Ihr Rezept wieder, bevor ich es vergesse.“ Das Mädchen übergab der alten Frau neben einem Plastiktütchen einen Papierzettel. „Die Medikamente reichen für ein paar Monate. Wenn Sie noch was brauchen, rufen Sie mich ruhig an – ich bin noch eine Woche daheim.“ „Danke, mein Engel!“ Die alte Frau lächelte und die tiefen Falten in ihrem Gesicht wurden dadurch zahlreicher. Als die beiden Frauen die Neuankömmlinge bemerkten, drehten sie wie auf Kommando die Köpfe in ihre Richtung. Die Alte musterte Paul ein paar Sekunden lang, dann erschütterte ihr lauter Schrei das stille Treppenhaus: „Das ist ja Kay! Du bist es wirklich, Junge!“ Sie machte drei schnelle Schritte in seine Richtung und blieb direkt vor ihm stehen. Dann beugte sie sich nach vorne, sodass ihr Gesicht sich direkt vor seinem befand. Paul, erschrocken und verwirrt über das merkwürdige Benehmen der alten Frau, wich unwillkürlich zurück. Er hätte sich am liebsten hinter dem breiten Rücken seiner Großmutter versteckt, wollte aber nicht als Feigling dastehen. Er schaute ängstlich ins Gesicht der alten Frau, wunderte sich über die vielen violetten Falten und sagte nichts.
„Was bist du groß geworden!“, fuhr sie fort, als sie sich an ihm satt gesehen hatte. Sobald Paul den Atem der Frau roch, rümpfte er angewidert die Nase – aus ihrem Mund stank es unerträglich nach Zigaretten. Dazu mischte sich ein ätzender Parfümgeruch, der die ganze Sache zusätzlich verschlimmerte. Traktorabgase mitten ins Gesicht zu bekommen, wäre ihm viel lieber gewesen. Die Frau legte ihre faltige Hand auf seine Schulter und verzog ihre schmalen, farblosen Lippen zu einem freundlichen Lächeln. „Aber deine Augen sind dieselben wie früher. Ganz die Mutter! Ach, weißt du noch, als du damals …“ „Ich grüße dich, Charlott!“, unterbrach Großmutter sie trocken, „Es freut mich sehr, dich wieder zu sehen.“ Die alte Frau ließ Pauls Schulter los und richtete sich wieder gerade auf. Paul atmete erleichtert auf. „Olga! Ich glaube, ich spinne! Meine Güte, wie lange ist es her! Sieben Jahre, acht? Alt, alt bist du geworden, meine Liebe! Na ja, ich werde auch nicht jünger.“ Sie blinzelte kokett und brachte das ganze Treppenhaus mit ihrem tiefen Lachen erneut zum Erbeben. „Dein Mieter ist seit zwei Monaten weg“, fuhr sie fort, als sie fertig war. „Gott sei Dank! Ein komischer Kerl – hat nie ein Wörtchen gesprochen! Immer husch-husch – schnell an mir vorbei und die Türe zu. Wie eine Kakerlake! Der war mir echt unsympathisch, wenn du mich fragst.“Sie verzog ihre violette Miene. Dann musterte sie Paul und seine Großmutter mit ihrem scharfen, neugierigen Blick. „Und ihr beide zieht also bei uns ein? Was bin ich froh!“ Sie summte vor Freude irgendeine fröhliche Melodie. Um ihre Begeisterung besser zum Ausdruck zu bringen, streckte sie ihre Arme in die Höhe und schüttelte mit ihrem Kopf, sodass ihre kurzen, ebenfalls violetten Locken vor Pauls Nase wie wild hin und her flatterten. Alle ihre Bewegungen wirkten abrupt und zackig, wie die eines Wiesels. „Und, mein lieber Kay, wie alt bist du jetzt?“, wandte sie sich wieder Paul zu. „Sein Name ist Paul“, antwortete Großmutter für ihn und ihre Stimme klang dabei nicht besonders freundlich. Die stürmische Begrüßung ihrer alten Bekannten ging ihr sichtlich auf die Nerven. „Er ist dreizehneinhalb.“ Charlott klappte die Kinnlade runter und die dichten Augenbrauen kletterten ihr vor lauter Überraschung hoch auf die Stirn. „Paul?“, fragte sie ungläubig. „Ich erinnere mich nur an einen süßen Fratz namens Kay. Mein Gedächtnis hat mich bis jetzt noch nie im Stich gelassen!“ „Entschuldige uns bitte, Charlott! Wir müssen jetzt weiter.“ Großmutter schüttelte demonstrativ mit ihrem schweren Bündel vor Charlotts Nase. „Oh, wie blöd von mir!“, entschuldigte sich Charlott. „Ihr seid ja müde nach der langen Reise! Sahra, meine Liebe“, wandte sie sich dem jungen Mädchen zu, das während der ganzen Unterhaltung schweigend dagestanden hatte und verlegen von einem Fuß auf den anderen trat. „Hilfst du Olga mit ihrem Gepäck?“ Das Mädchen machte einen unsicheren Schritt in Großmutters Richtung, aber sie stoppte es mit einer höflichen Geste. „Nein, danke, mein Kind! Es ist gar nicht so schwer wie es aussieht! Ich schaffe das schon“, sagte sie freundlich, aber bestimmt und begann, mit Paul auf den Fersen, die Stufen zu der nächsten Etage hochzusteigen. „Ah, ich bin so froh, so froh!“, sang Charlott mit ihrer krächzigen Stimme hinter ihnen her. „Sie übertreibt maßlos“, dachte Paul verärgert. „Senile Alte!“ „Willkommen, willkommen!“, ertönte ihre Stimme von unten. „Danke, danke, Charlott, wir sehen uns sicher später noch“, warf ihr Großmutter, die bereits vor ihrer Haustür stand und in ihrer Tasche nach dem Hausschlüssel kramte, über die Schulter zu. Unten setzte Charlott ihre Unterhaltung mit dem Mädchen fort. Großmutter kramte und kramte vergeblich in ihrer alten Ledertasche und murmelte sich dabei etwas entnervt unter die Nase. Paul betrachtete währenddessen die alte, zerkratzte Holztür. Er fuhr mit den Fingern über die Kratzer und das Gefühl der tief in seinem Unterbewusstsein verborgenen Erinnerung kam wieder in ihm hoch.
„Wieso glaubt die Alte, dass sie mich kennt?“, fragte Paul, sobald sich die Tür hinter ihnen schloss. „Eh, weißt du, sie ist schon so alt, die Charlott“, antwortete Großmutter, die mit dem Gesicht zu einem fleckigen, staubigen Spiegel an der Wand stand und ihren Mantel auszog. „Sie müsste eigentlich längst bei ihrer Nichte wohnen! Die hat Charlott vor sechs Jahren zu sich geholt, um sie zu pflegen. Lange hat sie es, dem Schein nach, mit ihr nicht aushalten können.“ Die Großmutter beugte sich nach vorne, um ihre Schnürsenkel loszubinden, und Paul wunderte sich über die Breite ihres unteren Rückens. „Und das Altersheim kommt für Madam natürlich nicht in Frage!“ „Warum überrascht es mich nicht?“, dachte Paul bei sich. „Und wenn man so alt ist, dann wird man … du weißt schon.“, sie klopfte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, „ein bisschen wunderlich.“ Nach diesen Worten wandte sie sich ihrem Bündel zu und das Thema war für sie gegessen. Aber nicht für Paul! Bei genauem Nachdenken kam ihm Charlott doch nicht so dement vor. Paul dachte an ihre aufgeweckte Art und den scharfen Blick ihrer Augen. Und wie aufrichtig ihre Überraschung gewesen war, als sie seinen echten Namen erfuhr! Dazu kam es, dass er seine Großmutter in- und auswendig kannte und es sofort spürte, wenn sie ihm etwas verheimlichen wollte. Es war auch diesmal so, aber es hatte keinen Zweck nachzuhaken. Wenn Großmutter etwas für sich behalten wollte, dann blieb es dabei – dazu war sie ja störrisch genug.
Das Zimmer mit dem Kleiderschrank
Die beiden gingen in die kleine, gemütliche Küche und Großmutter setzte sofort eine Kanne auf den Herd, um Tee zu kochen. Sie liebte Schwarztee und trank mehrere Tassen am Tag. Paul betrachtete es wie eine Art Sucht, aber die Großmutter sagte, dass es in ihrer Heimat alle so taten. „Zu Hause, Paschenka!“, sagte sie zufrieden und setzte sich auf einen Hocker, der neben dem Küchentisch mit einer unappetitlich fleckigen Tischfläche stand. Der Hocker ächzte unter ihrem Gewicht. Paul setzte sich ihr gegenüber und die beiden aßen ihr Abendbrot, mit Tee für Großmutter und Milch für Paul. Danach gingen sie in der Wohnung umher und Großmutter stellte Paul ihr neues Heim vor. Viel gab es allerdings nicht zu sehen, da die Wohnung nur aus zwei Zimmern, einer Küche, einem schmalen, langen Flur und einem kleinen Bad bestand. Zu Pauls Enttäuschung gab es im Badezimmer nur eine Badewanne und keine Duschkabine – er hasste es, sich in einer Wanne waschen zu müssen. Ein Zimmer war deutlich größer als das andere und das nahm die Großmutter umgehend unter ihre Fittiche. Sie plante, es in den nächsten Tagen zu einem gemütlichen Wohnzimmer umzugestalten. Paul schnappte sich sofort das kleinere Zimmer. Das gefiel ihm auf Anhieb: das große, superweiche Bett, das Bücherregal an der Wand und der kleine Schreibtisch in der rechten hinteren Ecke. Der Tisch stand neben einem großen Fenster, das auf den Hinterhof des Hauses gerichtet war. Aber das, was ihn besonders beeindruckte, war ein gigantischer Kleiderschrank aus massivem Eichenholz. Schwer und dunkel, fast schon bedrohlich, stand er mitten im Zimmer und seine linke Seitenwand bildete mit der Fensterwand zusammen eine Art Nische, in der sich der kleine Schreibtisch fast komplett verbarg. Diese recht gemütliche Nische hatte es Paul besonders angetan. Sie war einfach perfekt für die vielen langen Stunden, die er als Schüler an einem Schreibtisch verbringen musste. Paul setzte sich probeweise in diese Nische und fühlte sich sofort wohl und verborgen. Er stellte sich schon im Kopf vor, wie cool alle seine Aufkleber an der dunkelbraunen Seitenwand des Schrankes aussehen würden. Er sammelte die Aufkleber seit seiner jüngsten Kindheit. Sie alle, ausnahmslos, waren Hundefotos: Hunde aller Rassen und Größen, natürlich je größer, desto besser. Hunde waren Pauls stärkste Leidenschaft. Solange er denken konnte, träumte er von einem, durfte aber nie einen haben. „Unser Geld reicht kaum für uns beide“, so das Verdikt der Großmutter. Und basta, Ende der Diskussion – wie immer. Paul aber hütete seinen Traum immer noch, gab ihn nie auf und sammelte über die Jahre eine Menge Hundebilder, die er jetzt als eine Art der Einweihung seines neuen Zimmers an die Seitenwand des Kleiderschrankes anbringen wollte. Er nahm behutsam die Metallschachtel aus seinem Rucksack heraus, in der er die Aufkleber aufbewahrte. Ganz oben lag sein Lieblingsbild: ein riesiger Schäferhund mit heraushängender Zunge mitten in einem Sprung. Er nahm das Foto vorsichtig mit zwei Fingern raus, überlegte eine Weile, wo er das Bild am liebsten haben wollte, zog die dünne Folie auf der Rückseite des Bildes ab und drückte es schließlich mit der klebrigen Seite an die lackierte, leicht gewölbte Fläche des Schrankes. Sobald seine Finger das kühle Holz berührten, nahm er eine leichte Vibration wahr, die von Innenseite des Schrankes zu kommen schien. Am Anfang war es eine eher unbewusste Wahrnehmung, da Paul zu sehr in seine eigenen Gedanken vertieft war. Als er aber die ganze Handfläche an das Bild legte, spürte er deutlicher, wie eine neue, noch stärkere Welle die glatte Holzwand erschütterte. Erschrocken zog er seine Hand weg und starrte die Schrankwand fassungslos an. Eine Weile geschah nichts. „Vielleicht hat Oma nebenan ein schweres Möbelstück verschoben“, dachte er. Das schien eine gute Erklärung für dieses merkwürdige Ereignis zu sein und er nahm den nächsten Aufkleber aus seiner Schachtel: einen prächtigen rostfarbenen Cockerspaniel beim Apportieren, sein zweitliebstes Bild. Er presste es an die gewünschte Stelle und prompt erschütterte sich die Schrankwand erneut. Diesmal war es keine leichte Vibration, sondern ein heftiger Schlag, der auch die restlichen Wände des Schrankes erzittern ließ. Vor Schreck wie betäubt, machte Paul zwei Schritte rückwärts. Er stand mitten im Zimmer und starrte den Schrank ratlos und ängstlich an. Was war das? Ist das jetzt wirklich passiert?! Er hielt die Luft an, um den Geräuschen aus dem Inneren des Schrankes besser lauschen zu können, aber alles blieb ruhig und still. „Was auch immer das war, das war voll krass!“, dachte er und näherte sich langsam wieder dem Schrank. „Kann es sein, dass es nur dann passiert, wenn ich ihn berühre?“, stellte er sich die Frage. Um diese Theorie zu überprüfen, gab es nur einen einzigen Weg, doch es dauerte ein paar Minuten, bis Paul genug Mut gefasst hatte, um seine Finger an die dunkle und kalte Schrankwand erneut zu legen. Diesmal war er schon vorbereitet und hatte sich so weit im Griff. Er streckte die Hand Richtung Schrank, seine zitternden Finger näherten sich langsam dem polierten Holz und berührten es schließlich. Der Schlag war so stark, dass er trotz ganzer Vorbereitung fast die Fassung verlor. Obwohl in diesem Moment sein größter Wunsch war, abzuhauen, unterdrückte er seine Panik und zwang sich dazu, seine Hand dort, wo sie eben war, zu lassen – fest an das dunkle Holz des Schrankes gepresst.
Der neue Schlag ließ den riesigen Schrank erbeben, viele andere folgten. Paul glaubte jetzt zu verstehen, wo das Epizentrum des Bebens lag: ungefähr fünfzig Zentimeter unterhalb der Stelle, wo seine Hand die Schrankwand berührte. Pauls Ohren nahmen auch ein leichtes Klatschen wahr, als ob kleine Handflächen auf die Innenseite des Schrankes anschlugen. „Es steht mir gegenüber, Angesicht zu Angesicht!“ Bei diesem Gedanken lief es im kalt den Rücken runter. Nur die dünne Holzwand trennte ihn von etwas unfassbar Schrecklichem, das sich im Schrankinneren verbarg. Angsterfüllt lauschte er den Geräuschen aus dem Schrank und glaubte, eine dünne Stimme zu vernehmen. Sie erschien ihm sehr dumpf und weit weg, aber er zweifelte nicht daran, dass es sich tatsächlich um eine Stimme handelte. Paul konzentrierte sich ganz auf sie und schloss dabei sogar die Augen, obwohl es ihm verdammt schwerfiel. „Kaja, Kaja!“, rief sie aus der weiten Ferne. Eine dünne Kinderstimme! Es folgte ein leises Schluchzen und wieder dasselbe: „Kaja, Kaja, ich will hiel laus!“ „Es will jetzt raus!“ Paul erschauderte, machte vier Schritte rückwärts und plumpste mit seinem Hintern auf das Bett. Alle Geräusche hörten augenblicklich auf. „Mist, Mist, was für ein verdammter Mist!“ Paul ballte seine klatschnassen Hände, die auf seinem Schoß zitterten, zu Fäusten. Er war schweißgebadet und schlotterte vor Aufregung. So was Paranormales hatte er noch nie erlebt! Er lief ins Nebenzimmer, wo seine Großmutter, über einer Truhe gebeugt, eine Menge Tücher ans Licht holte. Sie breitete die Tücher auf der abgenützten Samtfläche des alten Sofas aus und murmelte sich besorgt unter die Nase: „Hm, keine Betttücher da. Dann müssen sie da drüben im großen Schrank sein. Sieh mal nach!“ Sie drehte sich zu Paul und auf ihrem runden, molligen Gesicht erschien ein besorgter Ausdruck. „Ich hab’s doch gewusst! Der Bus war so voll wie eine Sardinendose. Kein Wunder, dass du jetzt krank bist, mein Lieber!“ Eilig lief sie zu Paul rüber und presste ihre weiche Handfläche gegen seine Stirn. „Mein Gott, bist du vielleicht blass! Ist dir etwa schlecht?“ „Nein, Omi, alles ist gut“, brachte Paul mühsam hervor. Wie konnte es nur sein, dass die Großmutter von dem ganzen Krach in seinem Zimmer nichts mitbekommen hatte?! Klar war sie nicht mehr die Jüngste, aber mit ihrem Gehör war bis jetzt alles in bester Ordnung. „Es liegt an der Luft im Zimmer. Sie ist irgendwie …“ Er suchte nach einem passenden Wort. „Abgestanden?“, half Großmutter nach. Sie lief sofort in Pauls Zimmer und zum Fenster rüber. „O ja, das ist ganz stickig hier drin!“ Sie öffnete einen Fensterflügel und die erfrischend kühle, feuchte Herbstluft strömte herein. Paul sah aus dem Fenster und wunderte sich über die vielen bunten Lichter, die in der aufkommenden Dunkelheit des Abends aufleuchteten. „Hier drin müssen die Betttücher sein“, sagte Großmutter und lief direkt auf den unheimlichen Kleiderschrank zu. Zu Pauls Entsetzen öffnete sie mit einem Ruck die rechte Schranktür. Paul blickte ängstlich hinein und sah die zahlreichen Regale, die zum größten Teil leer standen. Auf zwei oberen sah er akkurat aufgestapelte Reihen von Bettwäsche. „Da sind sie ja!“, rief Großmutter erleichtert. „So, mein Lieber, ab ins Bett! Morgen müssen wir schon früh auf den Beinen sein. Ich habe um acht Uhr einen Termin beim Schulleiter der hiesigen Schule und wenn es gut läuft, kannst du dort gleich morgen anfangen!“ „Kann ich noch kurz unter die Dusche?“ Paul hegte noch die schwache Hoffnung, nach allem, was passiert war, nicht allein in seinem Zimmer bleiben zu müssen. „Morgen, alles morgen, mein Lieber! Hier, nimm die Lacken und Überzüge. Ich hole das Kissen und die Decke. Großmutter drehte sich um, um rauszugehen. „Eh, Oma!“, hielt Paul sie auf, „und was ist da drin?“ Er zeigte auf die linke Seite des Schrankes, die näher an seinem Schreibtisch war. DIE Seite. „Ah hier!“ Großmutter kehrte zum Schrank zurück und öffnete auch die linke Schranktür. Da war nichts zu sehen, außer einer langen Stange, auf der zahlreiche leere Kleiderbügel baumelten. Ihre Metallhaken leuchteten schwach im matten Lampenlicht. Beim Öffnen der Tür bewegten sie sich und schlugen leicht gegeneinander – es ertönte ein zartes Geklingel. „Das ist es, was ich gehört haben muss!“, dachte Paul mit freudiger Erleichterung. Der Schrank selbst erschien ihm sehr tief, seine hinteren Winkel verbargen sich im Dunkeln. Die Gerüche aus dem Schrankinneren erreichten Pauls Nase. Es roch nach alten Kleidern und Staub. Und ein bisschen nach Rauch. „Oma, wofür brauchen wir so einen riesigen Schrank? Können wir ihn nicht wegwerfen und uns stattdessen einen kleineren besorgen? Er frisst so viel Platz weg!“, beklagte sich Paul bei Großmutter. Sie schwieg eine Weile. Als sie ihm antwortete, klang sie niedergeschlagen. „Du hast Recht, Paschenka, aber ich kann ihn nicht einfach wegwerfen.“ Sie schaute Paul aus tieftraurigen Augen an. „Dein Vater hat ihn einmal gekauft. Er hat ihn sehr gemocht, gerade weil er so groß ist. Er scherzte mal, dass man ihn als Garage nutzen könnte. Er stellte einfach alles rein, was im Weg war! Da unten war immer alles voll. Er nannte das ‚mein Zimmer aufräumen‘.“ Sie lächelte ihren Erinnerungen zärtlich zu. Paul redete nie mit ihr über seine Eltern. Er wartete immer auf einen passenden Zeitpunkt, ohne zu wissen, wie er eigentlich aussehen sollte. In Wirklichkeit fürchtete er sich von diesem Gespräch, weil dadurch dem perfekten Bild seiner Eltern, das er in seiner kindlichen Fantasie geschaffen hatte, womöglich eine brutale Zerstörung drohte. Großmutter machte es ihm leicht, das Thema umzugehen, da sie alle von Pauls scheuen Versuchen, etwas über seine Eltern zu erfahren, im Keim erstickte. Darum wusste Paul so gut wie nichts über die beiden: weder wie sie gelebt hatten noch wie sie starben. Sein Wissen beschränkte sich aufs Minimum: So wusste er, dass sein Vater als Dachdecker gearbeitet hatte und bei einem echt dummen Betriebsunfall ums Leben gekommen war. Schon diese Erkenntnis traf ihn hart, da er, wie jeder Waisenjunge, eher glauben wollte, sein Vater wäre ein Kriegspilot gewesen, der bei einem Absturz sein Leben verloren hatte oder ein Naturwissenschaftler, der aus einer gefährlichen Expedition zu einem der Pole der Erde nie wieder zurückgekommen war. Jede Erinnerung an ihren geliebten verstorbenen Sohn brachte Großmutter zum Weinen und mehrere Tage danach befand sie sich in einem Zustand der tiefen Melancholie, in dem sie sich von Rest der Welt abkapselte und kaum noch ansprechbar war. Das war für Paul ein zusätzlicher Grund, das Thema zu meiden, da er es aufrichtig hasste, seine Großmutter weinen zu sehen. Über den Tod seiner Mutter wusste er noch weniger. Sobald im Gespräch mit neugierigen Nachbarn oder Bekannten ihr Name fiel, wurde Großmutter argwöhnisch und brach das Gespräch kurzerhand ab. Es musste etwas richtig Schlimmes zwischen den beiden vorgefallen sein, dass Großmutter so heftig auf den Klang ihres Namens reagierte, und Paul traute sich schon seit sehr langer Zeit nicht mehr, über seine früh verstorbene Mutter irgendwelche Fragen zu stellen. Unter dem Strich wusste Paul nur, dass seine Eltern tot waren. Es war eine Tatsache, mit der er leben musste, und er hatte gelernt, mit ihr zu leben. Zumindest konnte ihm keiner seine Traurigkeit anmerken. Er fühlte sich rundum wohl in seiner kleinen Welt und genau so sollte es bleiben.
Wie immer nach der Erinnerung an Pauls Vater wurde Großmutter schweigsam. Nachdem sie ihm sein Bettzeug gebracht hatte, ging sie mit einem kurzen „Gute Nacht“ raus und schloss die Zimmertür ab. Während Paul sein Bett bezog, stand er gezwungenermassen mit dem Rücken zum Kleiderschrank, was ihm ein mulmiges Gefühl verschaffte. Er vergewisserte sich, dass alle Schranktüren fest verschlossen waren, und schlüpfte unter die kühle Decke, die sich schon sehr bald warm und kuschelig anfühlte. Der Lichtschalter befand sich in erreichbarer Nähe von seinem Bett, was an sich megapraktisch war. Er zögerte eine Weile, bevor er das Licht ausmachte. Es wurde stockfinster im Zimmer – die dicken staubigen Vorhänge, die Großmutter beim Rausgehen fest zugezogen hatte, ließen nicht den geringsten Lichtschimmer von draußen durch. Nach all den Strapazen des Tages fühlte sich Paul todmüde, hatte aber nachvollziehbare Angst, die Augen zuzumachen. Nach einer Weile verlor er den Kampf gegen seine Müdigkeit und verfiel in einen unruhigen Schlaf, in dem sich Träume aneinanderreihten, wie die Kurzepisoden in einer Trickfilmserie. Paul warf sich im Bett hin und her, seine warme Decke lag zerknüllt zu seinen Füßen. In seinen unruhigen Träumen gefangen, bekam er nicht mit, wie sich in der Tiefe der Nacht geräuschlos die linke Schranktür öffnete. Etwas Pechschwarzes kroch langsam heraus. Das unförmige Ding stand zuerst auf allen Vieren, dann richtete es sich mühsam auf und begann auf wackeligen Beinen in Richtung Pauls Bett zu laufen. Die Präsenz war halb so groß wie ein erwachsener Mensch und so dunkel, dass sie das geringste noch verbliebene Licht im Zimmer zu absorbieren schien. Sie war als eine schwarze Silhouette deutlich zu erkennen – eine echte Verkörperung der Finsternis! Sie lief mit winzigen Schrittchen zielstrebig auf den schlafenden Paul zu, schwankte bei jedem Schritt auf und ab und verlor ab und zu das Gleichgewicht. Bei jeder Schwankung prasselte schwarzer Sand auf den Bodenteppich. Im Laufen hinterließ die Kreatur eine dunkle bröselige Spur hinter sich. Schließlich erreichte sie das Bett und blieb am Kopfende stehen.
Der erste Albtraum
„Sie klemmt, verdammt, ich schaffe es nicht!“ In Pauls Stimme war eine große Anstrengung zu hören. Er hockte auf dem dreckigen Fußboden einer Garage neben einem alten Fahrrad und versuchte mit aller Kraft die in das Metall eingefressene Schraube, die das Rad fixierte, zu lösen. Der neue, glänzende Schraubenzieher verbog sich in seiner Hand, aber die hässliche, verrostete Schraube saß fest, wie eingeschweißt, und bewegte sich keinen Millimeter. „Beeile dich, Mann, er kann jeden Moment kommen!“, flüsterte sein Freund Sandro ihm dramatisch zu, rollte genervt mit den Augen und blickte über seine Schulter zum Garagentor, hinter dem die grüne Wiese und ein Stück strahlend blauer Himmel zu sehen waren. Sandro hielt das Fahrrad fest, während Paul mit der Schraube kämpfte. Das Fahrrad und die Garage gehörten Pauls Nachbar Frank, dem Sandro liebend gern verschiedenste Streiche spielte. Hier drin bewahrte Frank seinen alten Kram auf, auch sein Minitraktor stand da, völlig umhüllt von Spinnennetzen. Paul half Sandro oft bei der Verwirklichung seiner Ideen, obwohl so ein Zeitvertreib ihm persönlich viel weniger Freude bereitete als seinem besten Kumpel. Diesmal hatte Sandro die glorreiche Idee ausgeheckt, ihrem aufsässigen Nachbar ein Rad von seinem Fahrrad abzumontieren. Frank war praktisch immer mit seinem alten Rad im Dorf unterwegs – ob in den Dorfladen oder in die Kneipe. Oft fuhr er den beiden Jungs auf dem Weg zur Schule hinterher und rief ihnen die miesesten Beleidigungen und manchmal sogar Drohungen nach. Er konnte die beiden nicht ausstehen und nur der liebe Gott weiß, was er mit ihnen angestellt hätte, würde er sie in seine Finger bekommen. „Ich kann es nicht, es geht nicht! Versuch du es“, keuchte Paul, während ihm vor Anstrengung die Schweißperlen von der Stirn tropften. Er war schon bereit aufzustehen, als Sandros panischer Aufschrei ihn dazu brachte, sich wieder zu ducken. „Er kommt! Scheiße, Mann!“ In diesem Moment kippte das Fahrrad zur Seite, direkt auf Pauls Rücken, und stieß ihn zu Boden. Sein Schraubenzieher glitt ihm aus der Hand, landete mit einem „Klong!“ am Boden und rollte weg. Für den Bruchteil einer Sekunde verdunkelte sich das Garagentor leicht, die Silhouette seines Freundes zeichnete sich kurz in dem blaugrünen Rechteck ab und verschwand im Nirgendwo. Paul blieb allein in der dunklen Garage zurück. Er versuchte, sich von der Last des auf ihm liegenden Fahrrads zu befreien und tastete gleichzeitig nach seinem Schraubenzieher. Er zerkratzte seine Finger an der rauen, unebenen Fläche des Garagenbodens, aber etwas anderes als Dreck bekam er nicht zu fassen. Plötzlich verdunkelte sich das Garagentor erneut, diesmal viel stärker, und Pauls Nachbar erschien im Torrahmen. Seine große, massive Gestalt ließ den unbekümmerten Sonnenschein des herrlichen Sommertages nicht mehr rein und machte es für Paul endgültig unerreichbar. Paul blieb Angesicht zu Angesicht mit dem zornigen Mann, der seit einer gefüllten Ewigkeit davon träumte, ihn in seine Finger zu kriegen. Paul kauerte am Boden, ohne jede Chance unentdeckt zu bleiben. Franks kleine Glubschaugen rollten umher, bis sie Paul unter dem Fahrrad entdeckten. Ein ungutes Lächeln zeichnete sich auf seinem bärtigen Vollmondgesicht ab. Er freute sich sichtlich über die bevorstehende Rache für die langjährige Demütigung. Franks Gesicht wurde feuerrot, die Augen quollen heraus. Sein Mund öffnete sich unter seinem ebenfalls feuerroten Schnurrbart weit auf – ein gähnendes schwarzes Loch, aus dem jede Sekunde ein triumphierendes Lachen zu erwarten war. Aber zu Pauls großer Überraschung kam kein Mucks aus dem weit aufgerissenen Mund des Mannes. Er stand nur da und glotzte Paul dämlich an. Es herrschte eine Totenstille in der Garage, selbst das Vogelgezwitscher von draußen war nicht mehr zu hören. „Vielleicht schaffe ich es, zwischen seinen Beinen abzuhauen“, dachte Paul, aber die schwache Hoffnung erstarb, sobald er bemerkte, dass er sich nicht von der Stelle rühren konnte, als wäre ein schwerer Magnet in dem Garagenboden versteckt, der ihn zu sich runter zog. Sein Herz hämmerte wild in seiner Brust und er fühlte sich so elend wie noch nie zuvor. Das komische Benehmen seines Nachbars nährte seine Angst. Er schaute wie hypnotisiert in das stumm lachende Gesicht und bemerkte zu seinem Entsetzen, wie Franks Mund sich immer weiter öffnete. Sein Unterkiefer bewegte sich immer weiter nach unten, wie ein Aufzug. Die roten Haare seines kurzgeschnittenen Bartes erreichten schon seine Brust und bewegten sich weiter Richtung Bauch. „Die Sehnen seiner Kiefergelenke müssen längst gerissen sein!“, flitzte der schreckliche Gedanke durch Pauls Kopf. Er konnte seine Augen von diesem stummen Schrei seines Nachbars nicht mehr abwenden.
Die schmale, in die Länge gezogene Öffnung seines Mundes war pechschwarz und sah wie ein Tor zur Hölle aus. Aus ihm glotzte Paul die Finsternis an. Franks Kinn war jetzt auf der Höhe seines Bauchnabels angekommen und bewegte sich unaufhaltsam Richtung Knie. Noch einige Sekunden später zog es an seinen Waden vorbei und schon verdecken die roten Bartstoppeln Franks dreckige Stiefeln. Ein Entsetzensschrei saß in Pauls Brust gefangen, wie ein Tier im Käfig. Dieses Etwas, das direkt vor ihm stand, hatte nicht das Geringste mit einem menschlichen Wesen zu tun. Es war höchstens eine groteske Karikatur eines Menschen, Furcht einflößend und lächerlich zugleich. Plötzlich kamen schwarzen Rauchschwaden aus dem schrecklich verunstalteten Mund des Mannes. Innerhalb von Sekunden füllten dichte Rauchwolken den kleinen Raum. Sie umhüllten Paul, nahmen ihm die letzte Sicht auf die Dinge, die er für seine Rettung benötigen könnte, und drangen in seine Lunge ein. Er bekam keine Luft mehr, krümmte sich mit der Hand an seiner Kehle auf dem dreckigen Garagenboden und drohte jederzeit zu ersticken. Mit einem weit geöffneten Mund sog er die verseuchte Luft zum letzten Mal ein und verabschiedete sich von seinem Bewusstsein.
Der schlimme Traum war vorüber, doch vollständig wach wurde Paul nicht. Der nächste Albtraum hatte sich bereits, wie ein Oktopus, um sein Unterbewusstsein gewickelt und drohte ihn mit sich in den dunklen Strudel des Schreckens zu ziehen. Paul gelang es, diesen Teufelskreis zu durchbrechen und doch noch rechtzeitig wach zu werden, aber das, was er für die Wirklichkeit hielt, bereitete ihm einen noch größeren Albtraum. Er spürte, wie fremde Hände in seinem Gesicht rumfuchtelten. Als er es richtig realisierte, verflüchtigten sich augenblicklich alle Überbleibsel des schlimmen Traums aus seinem Kopf und er wurde hellwach. Alle seine Sinne wurden so scharf wie schon lange nicht mehr und er vernahm deutlich Großmutters Schnarchen aus dem Nebenzimmer. Aber der Rauchgestank aus seinem Albtraum war nicht nur immer noch präsent – er wurde sogar tausendmal stärker. Ein anderer, noch viel schlimmerer Geruch mischte sich dazu – ein süsslicher, fauliger. Paul kannte ihn aus dem Dorfschlachthof. Sein gesunder Selbstschutzinstinkt befahl ihm die Augen fest geschlossen zu halten, um seine Seele und seinen Verstand von einem unfassbar grauenhaften Anblick zu bewahren. Er lag auf dem Rücken und spürte entsetzt, wie kleine, glitschige Finger sein ganzes Gesicht abtasteten. Er fuhr zusammen, als eine Hand ihn plötzlich an die Wange schlug. Sie hinterließ eine klebrige Spur auf seiner Haut, wie die einer Nacktschnecke. Es war unbeschreiblich ekelhaft! Eine dieser Hände wanderte zu seiner Stirn, fummelte dort ein wenig herum und arbeitete sich bis zu seiner Nase zurück. Ein halbverwester Finger schlüpfte tief in sein linkes Nasenloch und begann es zu inspizieren. Die scharfen Kanten des halbgelösten Fingernagels zerkratzten Pauls zarte Nasenschleimhaut. Die Lähmung, mit der er aufwachte, hatte sich immer noch nicht vollständig verflüchtigt und er musste diese Tortur hilflos über sich ergehen lassen. Er verspürte eine kurze Erleichterung, als der Finger sich aus seiner Nase rauszog, aber dann schien die Kreatur ein neues Objekt zur Untersuchung gefunden zu haben: seinen Mund, der nach dem Aufwachen immer noch weit offenstand! Paul bereute es zutiefst, ihn nicht rechtzeitig geschlossen zu haben, aber es war bereits zu spät: Die Kreatur nutzte dieses Versehen schamlos aus und steckte alle fünf Finger seiner Hand in Pauls Mundhöhle, die sich sofort an seiner Zunge zu schaffen machten. „Es will mir die Zunge ausreißen!“, dachte Paul panisch und angewidert zugleich. Der Ekel löste seine Lähmung auf. Er spürte, wie ihm die Magensäure hochstieg und sein Mund füllte sich mit Speichel. Gleichzeitig stieg eine große Wut in ihm auf. Er fasste nach dem Handgelenk der Kreatur, aber seine Finger griffen ins Leere. Ein dumpfes Kichern ertönte. So leicht gab sich Paul nicht geschlagen und riss seinen Kopf ruckartig zur Seite. Die lästigen Finger glitten aus seinem Mund heraus und die Kreatur schrie überrascht auf. Dann begann sie mit einer hohen Stimme, die sich wie die Stimme eines Kleinkindes anhörte, zu klagen und zu jammern. Die kleinen Hände suchten Pauls Gesicht wieder auf und versuchten es zu sich zu drehen, aber Paul machte es ihnen unmöglich, indem er seine Halsmuskeln versteifte. Die Kreatur schrie beleidigt und fordernd und zerrte schmerzhaft an Pauls langem Haar. Paul zwang sich, den dicken Kloß in seinem Hals runterzuschlucken und stieß durch fest zusammengebissene Zähne hervor: „Verpiss dich! Hau ab, du Ekelpaket!“ Sobald das letzte Wort über seine Lippen kam, löste sich die Kreatur in Luft auf. Paul spürte ihre Präsenz neben sich nicht mehr, doch traute er sich noch lange nicht, seine Augen zu öffnen. Mit der Zeit gewann seine Müdigkeit die Oberhand und er döste wieder ein.
Tag eins: Der erste Schulbesuch
Paul erwachte erst um sieben Uhr, als sein Wecker läutete. Das helle Morgenlicht, das ihm direkt ins Gesicht schien, ließ ihn die Augen wieder fest zukneifen. Die Vorhänge standen weit offen, genauso wie seine Zimmertür. Die Schranktür dagegen war fest verschlossen – genauso, wie Paul sie am Vorabend gelassen hatte. Er sog die Luft tief ein – keine Spur von Rauch. Nur feuchte Betttücher und sein eigener Schweißgeruch. Er rümpfte die Nase und stand auf. Irgendwo im Haus, weit von ihm entfernt und hinter vielen verschlossenen Türen, hörte er jemanden husten. Für Paul, der es nicht gewohnt war, sein Haus mit anderen Nachbarn zu teilen, hörte es sich äußerst merkwürdig an. Als er sich in der massiven, altmodischen Wanne aus Gusseisen kalt duschte, versuchte er die Geschehnisse der vergangenen Nacht zu analysieren und kam zum Entschluss, dass das Ganze nichts weiter als ein sehr lebendiger Albtraum gewesen war. Einiges an ihm kam Paul jetzt, im hellen Sonnenschein des neuen Tages, sogar ziemlich albern vor. Zum Beispiel die Geschichte mit Franks Fahrrad: sein Kumpel Sandro hätte ihn, Paul, niemals im Stich gelassen! Er hätte alles Mögliche versucht, um ihm aus der Patsche zu helfen. Er beschloss seinen Traum für sich zu behalten, um seine abergläubische Großmutter nicht unnötig aufzuwühlen.
Am Frühstückstisch hatte Paul nur wenig Appetit, was im Hinblick auf die Ereignisse der vergangenen Nacht überhaupt nicht verwunderlich war. Es beunruhigte seine Großmutter ein bisschen, aber die Appetitlosigkeit ihres geliebten Enkels hing aus ihrer Sicht mit der Aufregung wegen des bevorstehenden Schulbesuches zusammen.
Nach dem Frühstück ging es sofort nach draussen – in die morgendliche Hektik der Stadt, wo die zahlreichen Bürger zur Arbeit eilten. Der Weg zur Schule war nicht sonderlich lang und Paul konnte ihn sich recht gut merken. Die Hauptstraße war zu dieser Tageszeit stark befahren und sie mussten ewig warten, bis sich endlich eine Lücke in der endlosen Reihe der Fahrzeuge bildete. Sobald Paul sie sah, wollte er über die Straße eilen, wurde aber von seiner Großmutter ziemlich unsanft an der Kapuze zurück auf den Bürgersteig gezogen. „Nein, Pascha, doch nicht so!“, schimpfte sie aufgebracht. „Du musst auf die Ampel achten!“ Die Stimme der Großmutter zitterte vor Angst. „Du musst warten, bis das kleine rote Männchen da verschwindet und das grüne rauskommt!“ Die umherstehenden Menschen, die ebenso auf das grüne Licht warteten, wandten schmunzelnd ihre Blicke ab. Paul fühlte sich beschämt. „Ich weiß, was eine Ampel ist“, brummte er und schaute runter zu seinen Schuhen.
Der Schulleiter, ein kleiner Mann mittleren Alters, empfing sie mit einem freundlichen Lächeln. Eine runde Glatze schimmerte bereits durch den kastanienbraunen Flaum auf seinem Kopf. „Du musst also Paul sein“, sagte er nach einer kurzen Begrüßung. „Und Sie – die Oma? Nehmen Sie doch bitte Platz!“ Großmutter und Paul versanken in den weichen Ledersesseln, während der Schulleiter sich Pauls Papiere anschaute. Als er Pauls Zeugnisse mit den Augen überflog, nickte er zufrieden. Das schicke Büro des Schulleiters wirkte bedrückend auf Paul und er begann seine alte Schule schmerzlich zu missen. „Du bist ein guter Schuler, Paul!“ Der Schulleiter klappte die Dokumentenmappe zusammen. „Ich bin mir sicher, dass es mit dir auch bei uns genauso weitergeht!“ Er zwinkerte Paul aufmunternd zu und die Spannung im Raum löste sich allmählich auf. „Frau Kappler ist deine neue Klassenlehrerin. Sie ist seit vielen Jahren bei uns auf der Schule tätig und wird dich bei deinem Einstieg gut unterstützen.“ Der Schulleiter war bereits aufgestanden und lief um den Schreibtisch herum, um Paul die Hand zu reichen. Paul, der von seinem Sessel förmlich eingesaugt worden war, rappelte sich eilig auf. Der Schulleiter stand schon mit ausgestreckter Hand vor ihm. „Vor allem über deine Mathenoten wird sie sich sehr freuen! Mathematik ist nämlich ihr Hauptfach.“ Er neigte den Kopf zur Seite, wie ein Spatz, und schüttelte kräftig Pauls Hand. Gerade in diesem Moment läutete die Schulglocke und hinter der verschlossenen Tür des Büros ertönte das Getöse von Kinderstimmen und ein lautes Getrampel von Füßen – der Schulunterricht hatte begonnen und die letzten Schüler eilten in ihre Klassen. „Es sind so viele!“, staunte Paul mit einem schmerzlichen Ziehen in der Magengegend. Die Vorstellung vor der bereits sitzenden Klasse aufzutreten, löste Unbehagen in ihm aus. „Ich wünsche dir einen guten Start!“ Der Schulleiter begleitete Paul und seine Großmutter zur Tür und zeigte in die Richtung, die zu Pauls Klasse führte. Dann verschwand er wieder in seinem Büro, wie ein Vogel in seinem Vogelhäuschen.
Während Paul den langen, stillen Korridor entlanglief, bekam er endgültig weiche Knie. Er war völlig durcheinander und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Vor der Klassentür machte er einen Rückzieher. „Warten wir, bis diese Stunde zu Ende ist“, flüsterte er seiner Großmutter heiser zu. Sie zog erstaunt ihre Augenbrauen hoch. „Aber das sind ganze fünfundvierzig Minuten!“ Sie nahm Paul bei den Schultern und schaute ihm prüfend ins Gesicht. „Du hast nicht etwa Angst? Oder doch?“ Ein breites Lächeln ließ ihr Gesicht noch runder aussehen. Sie drückte Paul fest an sich, er spürte ihr Doppelkinn auf seinem Kopf. „Das sind alles Kinder, Paulchen, genau wie du. Es gibt welche, die gut zu einem sind, und es gibt eben Dööfchen. Aber du wirst es ihnen zeigen!“ Sie schüttelte mit ihrer fetten, geballten Faust vor Pauls Nase. Nach diesen Worten drehte sie Paul um seine Achse und verpasste ihm einen leichten Schubs Richtung Tür, hinter der eine monotone Frauenstimme zu hören war – die Lehrerin erklärte gerade ein neues Thema. Paul erhob die Faust, um anzuklopfen, dann ließ er sie wieder sinken und erhob sie erneut. „Na mach schon!“, munterte ihn Großmutter hinter seinem Rücken ungeduldig auf. „Es ist alles gut, geh jetzt!“, flüsterte ihr Paul angespannt zu, ohne sich umzudrehen. „Ich komme um sechzehn Uhr wieder und hole dich ab“, antwortete sie erleichtert und gab ihm von hinten einen dicken Kuss auf den Hinterkopf. „Nicht nötig“, sagte er schnell, „ich finde selber nach Hause.“ „In Ordnung“, ging sie auf seine Bitte ein und entfernte sich leise. Paul räusperte sich, fuhr mit der Hand über sein schulterlanges blondes Haar und klopfte anschließend an. Die Frauenstimme verstummte und er hörte, wie sich schnelle Schritte der Tür näherten. Sein Herz rutschte in die Hose. Die Türe öffnete sich und Paul wurde vom hellen Licht geblendet. Vor ihm stand eine ältere Frau mit hochgestecktem, rotbraun gefärbtem Haar. Sie wusste bereits über Pauls Ankunft Bescheid und begrüßte ihn freundlich. Dabei nannte sie ihn bei seinem Vornamen. Alle Begrüßungsworte verflüchtigten sich aus Pauls Kopf. „Guten Tag!“, brachte er nach einer peinlichen Pause, die ihm selbst unendlich lang vorkam, heraus. „Herr Schulleiter hat mich zu Ihnen geschickt.“ „Komm bitte herein!“ Die Lehrerin drehte sich zu der Klasse um. „Kinder, das ist Paul!“, rief sie laut. „Er fängt heute bei uns an.“ Paul hörte ein aufgeregtes Flüstern. Die Schüler streckten ihre Köpfe, um ihn von ihren Plätzen aus besser sehen zu können. Paul schritt über die Schwelle, machte wie ein Schlafwandler ein paar mechanische Schritte vorwärts und blieb neben der Tafel stehen. „Wie begrüßen wir Paul?“, fragte die Lehrerin mit Nachdruck. „Hallooo, Paaaul!“ Die Stimmen klangen nicht gerade begeistert. Paul fröstelte unter allen den neugierigen Blicken. Zu erstem Mal in seinem Leben machte er sich Gedanken über sein Aussehen. Entsetzt registrierte er, wie alt und abgetragen seine Klamotten aussahen und seine Schuhe waren eine pure Katastrophe! Am ersten Tisch links von ihm, gerade neben dem Klasseneingang, saß ein bildhübsches Mädchen mit kristallklaren ausdrucksvollen Augen, frischen rosa Bäckchen und langem blonden Haar. Beinahe ein Engelsgesicht! „Die schminkt sich gewiss“, dachte Paul verächtlich. Er wollte das Mädchen nicht länger anstarren, schaffte es aber nicht seine Augen von diesem wunderschönen Anblick abzuwenden. Er spürte, wie sein eigenes Gesicht dabei vor Scham rot anlief. Die Kinder, die sich inzwischen an ihm satt gesehen hatten, begannen belustigt miteinander zu tuscheln. Die sarkastischen Blicke, die die meisten von ihnen austauschten, verrieten ihm, dass ihr Urteil nicht gerade zu seinen Gunsten fiel. Da und dort ertönte ein leises Prusten. Dem blonden Mädchen entging Pauls verirrter Blick selbstverständlich nicht. Sie warf ihren hübschen Kopf zurück und antwortete darauf mit einem frechen Lächeln. Dann kniff sie ihre himmelblauen Augen zusammen, ihre blonden Locken glitten dabei wie Schlangen auf die Stuhllehne. Ihre ebenso hübsche dunkelhaarige Tischnachbarin lehnte sich an ihr Ohr und flüsterte ihr die giftigsten Bemerkungen über Pauls Aussehen zu. Die beiden kicherten. Paul kochte vor Wut. „Diese billigen Schaufensterpuppen!“ Er hasste sie mit jeder Faser seines Körpers. „Such dir bitte selbst einen Platz aus“, bat die Lehrerin Paul an und machte eine einladende Geste. „Später erzählst du uns unbedingt mehr von dir.“ Sie hatte es eilig, mit dem Thema fortzufahren und kehrte zu ihrem Pult zurück. Paul löste seinen Blick mühsam vom Gesicht des hübschen Mädchens und ließ ihn durch die Klasse schweifen. Er sah zwei freie Plätze – eins neben einem Mädchen in der Reihe rechts, direkt am Fenster und eins in der mittleren Reihe, neben einem großgewachsenen und recht korpulenten Jungen. Paul lief zu der mittleren Tischreihe, das Blut pochte in seinen Schläfen. Er entschied sich zu Gunsten des Jungen, dessen breites Lächeln Paul fälschlicherweise als freundlich empfand. „Der wird sicher selbst oft geneckt, so wie er aussieht“, dachte Paul insgeheim und steuerte auf den leeren Platz zu. Wie bitter er sich getäuscht hatte, wurde ihm erst bewusst, als er bei dem Jungen ankam. Paul ließ seinen alten Rucksack auf den Boden plumpsen und war schon bereit, sich auf dem harten Holzstuhl niederzulassen, als der Junge plötzlich sein fettes Bein auf den freien Stuhl legte. Es sah aus wie ein Schweinerumpf, den man in das Hosenbein einer Jeanshose gestopft hatte.