Was das Leben uns gibt - Billy O'Callaghan - E-Book

Was das Leben uns gibt E-Book

Billy O'Callaghan

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Beschreibung

Drei Generationen im Wechselbad der irischen Geschichte – »Ein wunderschönes Buch, das durch Mark und Bein geht.« Sebastian Barry

Irland, Cape Clear Island, 1868: Die 16-jährige Nancy, die als Einzige in ihrer Familie die Große Hungersnot überlebt hat, steigt in ein Fischerboot und kehrt ihrer Heimat für immer den Rücken. Sie findet Anstellung als Dienstmädchen am Rande von Cork und beginnt eine Beziehung zu dem verheirateten Gärtner Michael Egan. Als sie schwanger wird, verlässt er sie jedoch und Nancy muss sich mit ihren Kindern alleine durchschlagen. Im Jahr 1920 ist Nancys Sohn Jer gerade aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt und versucht, neuen Halt im Leben zu finden. Trotz der vielen Schicksalsschläge, die die Familie ereilt haben, zieht Jers Tochter Nellie im Jahr 1982 eine hoffnungsvolle Bilanz ihres Lebens. Ein berührender Generationenroman mit außergewöhnlichen Frauenfiguren, die allen Widrigkeiten zum Trotz für sich und ihre Familie kämpfen, geschrieben von »einem der großartigsten irischen Schriftsteller« (John Banville).

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Seitenzahl: 304

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Irland, Cape Clear Island, 1868: Die 16-jährige Nancy, die als Einzige in ihrer Familie die Große Hungersnot überlebt hat, steigt in ein Fischerboot und kehrt ihrer Heimat für immer den Rücken. Sie findet Anstellung als Dienstmädchen am Rande von Cork und beginnt eine Beziehung zu dem verheirateten Gärtner Michael Egan. Als sie schwanger wird, verlässt er sie jedoch, und Nancy muss sich alleine durchschlagen. Im Jahr 1920 ist Nancys Sohn Jer gerade aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt und versucht, neuen Halt im Leben zu finden. Trotz der vielen Schicksalsschläge, die die Familie ereilt haben, zieht Jers Tochter Nellie im Jahr 1982 eine hoffnungsvolle Bilanz ihres Lebens. Ein berührender Generationenroman mit außergewöhnlichen Frauenfiguren, die allen Widrigkeiten zum Trotz für sich und ihre Familie kämpfen, geschrieben von »einem der großartigsten irischen Schriftsteller« (John Banville).

Autor

BILLY O’CALLAGHAN wurde 1974 in Cork, Irland, geboren und lebt heute in Douglas, dem Dorf, in dem der Großteil von Was das Leben uns gibt spielt. Er hat vier Kurzgeschichtenbände und vier Romane veröffentlicht. Die titelgebende Kurzgeschichte seines neusten Erzählbandes The Boatman stand auf der Shortlist des Costa Short Story Award und wurde u. a. mit dem Bord Gáis Energy Irish Book Award ausgezeichnet. Seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Bei btb erschien zuletzt der Roman Die Liebenden von Coney Island, der für den Encore Award der Royal Society of Literature nominiert war.

BILLY O’CALLAGHAN

WAS DAS LEBEN UNS GIBT

Roman

Aus dem irischen Englischvon Klaus Berr

Die irische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Life Sentences« bei Jonathan Cape, Vintage, Penguin Random House UK, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe April 2025

Copyright der Originalausgabe © 2021 by Billy O’Callaghan

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected](Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Covergestaltung: LNT Design, Köln

Covermotiv: Padraig McCaul | www.padraigmccaul.com, A Quiet Morning, 2024 (Ausschnitt) © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

MA · Herstellung: KH

ISBN 978-3-641-28137-3V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

STAMMBAUM

Für Nan,mit der größten Bewunderung

I

JER

(1920)

Ich war seit sechs Uhr in Barrett’s Pub und habe schnell und viel getrunken. Die wenigen anderen Männer an der Bar hatten genug mitgekriegt, um mir aus dem Weg zu gehen. Obwohl ich direkt von den Feldern, auf denen ich seit dem Morgengrauen Gras für die Silage gemäht hatte, hier gelandet und bereits nach dem zweiten Pint pleite war, stand stets ein volles Glas vor mir, das ich stets hinunterkippte. Nach den paar Stunden wartete ich noch auf die Wirkung, und so lag es schließlich an der Erschöpfung und vielleicht auch an dem Bedürfnis, allein zu sein, dass ich meinen Platz am Tresen aufgab und auf die Bank im Dunkeln am Ende der Lounge umzog, mit einem Tisch für mein Glas und einer Wand im Rücken zum Anlehnen.

Die Polizisten waren gegen neun da. Auf der Suche nach mir.

Ich versuchte, ihnen klarzumachen, dass alles, was ich zuvor an der Bar gesagt hatte, leeres Geschwätz war, und dass einfach nur das Porter aus mir gesprochen hatte, doch Tom Canniffe war mit mir bei den Munster Fusiliers gewesen, und die beiden anderen waren alte RGA-Männer, Kanoniere, und sie wussten Bescheid. Sie kannten mich, aber sie kannten auch sich selbst, wussten, wozu sie fähig waren und was sie getan hätten, wären sie an meiner Stelle gewesen, und es war Tom, der Beste von ihnen und der am wenigsten Aufgeblasene, wenn auch nur ein winziges bisschen weniger, der sich mir gegenübersetzte, die Handschellen auf den Tisch legte und mit leiser Stimme fragte, ob so etwas nötig sei, oder ob ich mich anständig benehmen und ohne jedes Aufheben mitkommen würde. Und inmitten dieses Raunens, das so klang, als wäre er irgendwo weit weg, sah er mich an, jedoch ohne meinen Blick zu erwidern. Stattdessen fixierte er eine Stelle neben meinem Herzen, während die beiden anderen, Larry Regan und Pat Hegarty, ein paar Schritte hinter und links und rechts von ihm standen, entspannt, aber bereit. Beides große, kräftige Männer, meine Statur oder fast, zum Teufel noch mal, Regan mit Schultern so breit wie ein Bulle, Hegarty nicht ganz so ausladend, aber mit Knochen wie aus Eisen. Es war immer angenehm gewesen, in ihrer Gesellschaft ein Pint zu schlürfen oder eine Runde Karten oder Billard in der Hall zu spielen. Aber Tom und ich hatten bei den Munster Fusiliers gemeinsam in den Schützengräben gelegen und nebeneinander in Flandern oder vor Loos gezittert und geblutet, und weil sie ähnliche Verbindungen zu anderen Männern hatten, verstanden sie, dass es zwischen uns beiden zwangsläufig anders war.

»Ist nur der Fusel, ich sag’s euch, Jungs. Das hier ist doch gar nicht nötig.«

»Na klar, was sollst du auch sonst sagen«, seufzte Tom und schüttelte den Kopf. »Biergelaber ist meistens nur die Kehrseite von Dünnpfiff. Aber hin und wieder kommt dabei etwas heraus, auf das man besser hört. Das Problem ist, woher sollen wir wissen, was was ist?«

»Du kannst mich nicht vom Begräbnis meiner eigenen Schwester fernhalten, Tom«, sagte ich. »Das ist nicht richtig. Dieses Recht hat niemand.«

»Sergeant.«

»Was?«

»Ab jetzt Sergeant. Du darfst mich nicht Tom nennen. Nicht, wenn ich im Dienst bin. Die Uniform. Du weißt, wie es ablaufen muss.«

Ich musterte ihn und die anderen. So groß und freundlich diese drei auch waren, noch vor fünf Jahren hätte ich versucht, mir meinen Weg aus dem Pub freizuprügeln, und sie hätten mich schon in Stücke schlagen müssen, um mich davon abzuhalten. Aber nach dem Krieg war ich dicker und langsamer geworden, und wie ich so an diesem hinteren Tisch in der Lounge vom Barrett’s saß, ausgerechnet an diesem Abend, fühlte ich mich, als wäre ich von einer Granate umgenietet worden. Schätze, es gibt Zeiten, da einem Mann die Kraft zum Kämpfen fehlt.

»Ist nur zu deinem Besten«, fuhr er fort, noch immer ohne meinen Blick zu erwidern, ohne die Stimme zu erheben. »Wir reißen uns da nicht drum. So was darfst du nicht über uns denken, Jer. Allmächtiger, Mann. Ich an deiner Stelle würd’s genauso machen. Aber wenn wir dich laufen lassen, was dann? Du gehst nach Hause und schnappst dir ein Messer oder eine Axt.«

Ich hätte fast gelächelt, obwohl mir wahrlich nichts Fröhliches auf der Zunge lag.

»Eine Klinge hätte ich gar nicht nötig«, sagte ich. Meine Hände, die zu beiden Seiten meines fast leeren Glases flach auf dem Tisch lagen, ballten sich zu Fäusten. »Nicht für einen Kerl wie Ned Spillane. Stell uns beide auf eine stille Straße, und ich schlag ihn in Grund und Boden. Schmier die Pflastersteine mit ihm.«

»Ja«, sagte Tom. »Genau das meine ich. Das ist’s, worüber ich hier rede.«

Plötzlich wich die Luft aus meinem Körper, und ich spürte, wie meine Schultern nach unten sackten. »Nur, dass ich es nicht tun würde«, sagte ich ihnen. »Auch wenn er jedes Wort verdient hat und er es eines Tages höchstwahrscheinlich auch bekommt. Von jemand anderem, wenn nicht von mir. Aber der morgige Tag ist für andere Dinge da. An dem Tag geht’s nicht um ihn. Mamie muss anständig begraben werden.«

»Mach es nicht schlimmer, als es sein muss«, sagte einer der Männer hinter Tom. Ich schaute von einem zum anderen, konnte mich aber aus irgendeinem Grund nicht entscheiden, welcher der beiden gesprochen hatte, bis Regan sich räusperte und in anderem Timbre ergänzte: »Der Sergeant hat recht, Jer. Deine Worte haben bei uns Gewicht. Das weißt du. Und wir akzeptieren, dass du meinst, was du sagst. Aber dieser Kerl muss nur was Falsches sagen oder am Grab flennen oder Mitleid heischen, und dir platzt der Kragen. Keiner würde es dir verdenken, wenn es so wäre, aber wenn du ihn dir vorknöpfst, kommst du in den Knast, so ist es eben. Vielleicht fünf Jahre, vielleicht länger, je nachdem, wie weit du gehst oder ob du dich wieder einkriegst, wenn du erst mal angefangen hast. Und das will keiner, wir nicht, du nicht und deine Frau und deine Kinder erst recht nicht. Die Zelle ist nur für eine Nacht, und natürlich bleiben wir da und quatschen mit dir, wenn du das willst, und wir füllen dich mit Tee ab, bis du das Zeug nicht mehr sehen kannst. Es ist am besten so.«

»Und wenn ich mich weigere?«

Tom beugte sich vor, und jetzt traf sein Blick den meinen. Einen Augenblick lang waren wir wieder im Krieg versunken, wir kauerten beide im Schutt eines zerstörten Viehstalls, und alles schmeckte und roch nach Frankreich. Unter dem Krachen erinnerten Geschützfeuers erkannten wir noch einmal die Wahrheit im anderen, und wir klammerten uns von beiden Seiten daran wie an eine Rettungsleine.

»Sei vernünftig, Jer«, sagte er. »Du warst nie der Mann, der Streit anfängt, wenn es sich vermeiden lässt. Und dumm warst du auch nie.«

»Du weißt nicht, was du mir antust, Tom. Was du mir nimmst. Für lange Zeit gab es nur Mamie und mich. Ich kann dir gar nicht sagen, was wir alles durchgemacht haben. Und wenn sie morgen beerdigt wird, dann legen sie auch einen Teil von mir in dieses Grab. Den besten Teil. Mein Gott, die Kriege, die ich gekämpft habe, hätten für sie sein sollen. Ich hätte Spillane ausnehmen sollen wie eine Forelle, als er das erste Mal in ihre Richtung geglotzt hat. Stattdessen habe ich es so weit kommen lassen.«

»Immer mit der Ruhe, Jer. Er hat sie nicht umgebracht. Rippenfellentzündung, heißt es. Daran sind schon viele gestorben.«

»Er hat sie umgebracht. Er hat ihr vielleicht nicht den Stuhl weggetreten, aber mit seiner Sauferei hat er ihr die Schlinge um den Hals gelegt. Er hat sie jahrelang getötet. Und jetzt ist sie nicht mehr da.«

Über den Tisch hinweg betrachtete mich Tom noch immer. Dann wirkte er plötzlich viel lockerer. Er griff nach den Handschellen und gab sie Regan. »Ist ja noch früh«, sagte er, ohne den Kopf zu drehen. »Zeit genug für ein Pint, würde ich sagen, bevor wir zurückgehen. Hol doch mal ’ne Runde, Larry.«

*

Manchmal, wenn ich allein bin oder ein bisschen Zeit zum Sinnieren habe, denke ich darüber nach, wer ich eigentlich bin. Nicht, wer ich sein sollte oder zu sein versuche oder vorgebe, sondern über mein wahres Ich. Meistens sperre ich mich gegen diese Sachen oder halte sie tief vergraben, weil das kein sehr gesunder Gedankengang ist, aber ab und zu, wenn ich in nachdenklicher Stimmung bin, öffne ich mich ihm.

Vielleicht schlendere ich über die Felder oben auf der Spitze von Hilltown an einem dieser langsam anbrechenden, bleichen Frühlingsmorgen, lausche dem Wind in den Hainbuchen und schaue Snowy, meinem Terrierwelpen, zu, der kopfüber in den Stechginster stürzt, zu knurrender Jagd verleitet von einem vorbeihoppelnden Hasen oder Karnickel, um dann Minuten später wimmernd wiederaufzutauchen, an tausend Stellen aufgeritzt von den grünen Klauen des Strauchs. Oder ich liege im Bett mit meiner Frau Mary im Tiefschlaf neben mir und den leise atmenden Kindern, ausgestreckt auf Strohsäcken, in ihrem Teil des Zimmers, und dann spüre ich die Nacht vom Kopf bis zu den Füßen wie einen Sargdeckel über mir, und ich atme so langsam, wie ich nur kann, und dieser Atem schmeckt in Mund und Kehle immer nach Staub, Stahl und verbrannten Bäumen und darunter nach verfaultem Fleisch und ganz unten nach Schreien. Es ist 1920, fast vier Jahre nach der Somme, aber die Aromen dieser Schlacht haben mich noch nicht verlassen.

Tage, die voller Arbeit sind, begrenzen die Zeit zum Nachdenken, deshalb passiert es nur oben auf diesen hohen Hilltown-Feldern, oder wenn ich wach liege unter der ganzen Leere der Nacht, dass meine Gedanken Auslauf bekommen. Es hat etwas mit den sanften Wogen des Landes zu tun und mit dem Strömen des Himmels darüber. Und es hat etwas zu tun mit dem tiefen, ziehenden Klaffen der Luft der frühen Morgenstunden. Wenn nichts erledigt werden muss und niemand auf Worte wartet, füllt sich der Kopf eines Mannes, und all das, worüber man niemals reden kann, flutet das Hirn, bis es überläuft. Wie zum Beispiel, wer ich bin. Wie zum Beispiel, wohin ich eigentlich gehöre.

Das beste Wasser kommt von ganz weit unten und wird gereinigt von den Steinen unter uns; je tiefer die Quelle, desto sicherer können wir uns seiner Reinheit sein. Und auf ähnliche Weise erkennen wir Leute zuerst an ihrem Namen, an ihrer Abstammung. Als Menschen schätzen wir Herkunft. Und wenn der Name nur ein Name ist, wie der meine etwa, ohne Verwurzelung und Tiefe, können wir denjenigen nicht richtig identifizieren. Ohne zu wissen, von wem und woher er kommt, bleibt ein Mann sich selbst ein Rätsel.

Irgendwann in den frühen Morgenstunden sitze ich in der Zelle des Polizeireviers nach vorne gebeugt da, die Ellbogen auf den Knien und die Hände locker gefaltet auf eine Art, die man bei einem anderen Mann als betend betrachten könnte. Diese Räume wurden für Stille und Restriktionen gebaut, die nackten Ziegelwände rücken von allen Seiten dicht heran, das einzelne Fenster dient mit seiner Offenbarung eines sternenlosen Himmels nur dazu, einen zu verspotten, wobei die Scheibe aus Drahtglas Erinnerungen an einen Beichtstuhl hervorruft. Doch ich sitze mit dem Rücken dazu, von alldem entschlossen abgewandt. Das einzige Licht kommt von der Kerosinlampe, die einen matten Schein aus dem Büro am anderen Ende des Gangs wirft, und schließlich erstickt mich die Erschöpfung, lässt mein Bewusstsein langsam von dem Mann, der ich zu sein scheine, hinabsinken zu dem Fremden, der einen halben Zoll unter der Oberfläche meiner Haut liegt.

*

Als ich noch ein kleiner Junge war, lauschte ich gern dem Wind. Die Zeit hat das zu dem Geräusch meiner Kindheit erhöht. Da ich seine Gestalt nicht so recht bestimmen konnte, gab ich ihm meine eigene Gestalt, machte aus dem Wind eine Identität, die wie meine eigene war, nur älter, und versuchte auf jede nur erdenkliche Weise zu begreifen, was das bedeutete, woher es kam. Ich webte einen Wiedergänger aus den vielen anonymen Fäden meines Ichs, vermutlich in dem Bemühen, das Gefühl einer Geschichte, einer Abstammungslinie zu erzeugen. Die Stimme, die für mich den Wind füllte, war nie stark, aber in gewisser Weise vertraut wie die alten Lieder, die ich gehört hatte und irgendwie kannte. Und da ich auf der Suche war, redete ich mir ein, sie sei irgendwie der fehlende Teil von mir, der Teil, der mir ansonsten verweigert worden war.

Sogar jetzt sehe ich mich in Glasscherben und finde in diesen Splittern mehr Identität als im Rasierspiegel. Wenn ich in der Kälte eines frühen Morgens in unserem Hinterhof stehe und mein Spiegelbild anschaue, ist das Gesicht, das ich im rostfleckigen Glas sehe, ein fremdes: Fleisch, bleischwer vom mittleren Alter, die Augen aufgerissen vor Angst, mich, wer ich auch sein mag, diesen müden Zügen anpassen zu müssen; die Haut gefurcht von den Jahren und vom Gerüst der Knochen hängend. Das Problem ist, weil ich kaum etwas über meine Abstammungslinie weiß, bin ich mir weitgehend selbst fremd.

Im Kopf habe ich einen Namen, der schon sehr lange nicht mehr ausgesprochen wurde: Michael Egan. Ich habe auch ein Gesicht im Sinn, dünn und ausgezehrt, mit alten Augen, das Kinn wie die Kanten eines Grabsteins, das ich seit meiner Kindheit mit mir schleppe, eins, das ich vielleicht ein halbes Dutzend Mal in ebenso vielen Jahren gesehen habe und irgendwie immer aus einer Meile Entfernung, auch wenn er und ich im selben Zimmer waren, kaum eine Armeslänge auseinander. Ein Gesicht, das zu lieben ich in der Lage sein wollte, das ich in meinem Leben haben und kennen wollte, ohne Angst. Augen von der wächsern grauen Farbe von Wolken vor starkem Regen, die mich scheinbar nur zufällig betrachten, und eine Stimme, wenn sie sich denn erhob, einem Lufthauch gleich, so vage wie etwas nur halb Erinnertes oder das gewohnte Seufzen des Winds, die sagte: Du bist also Jer, jedes Mal, jedes einzelne Mal, als wäre eine Bestätigung nötig, für uns beide, um als Tatsache zu gelten. Du bist also Jer. Und wie groß du schon bist. Ich hoffte, du bist deiner Mutter ein guter Junge. Und steh gerade, Junge. Mit Buckel wird die Armee dich nicht nehmen. Auch andere Worte, und sie sind alle in mir, weil ich sie mir aufgespart habe, wie ein verhungernder Vogel erbeutete Krumen hortet, und wenn ich kann, krame ich sie hervor und wiederhole sie, mache das Beste aus ihnen, weil sie das Einzige sind, was ich habe. Genau das habe ich auch in den Schützengräben getan und in den flachen, grasbewachsenen Ebenen von Bloemfontein, auf denen unser Bataillon mit letzter Kraft aus den verbrannten Tagen in den rötesten Sonnenuntergang marschierte, den ich je gesehen habe. Einige wenige Worte, immer dieselben, immer und immer wieder, und die Züge eines Gesichts, das ich mir eingeprägt habe, sodass es immer bei mir ist. Und dieser Name. Michael Egan. Inzwischen tot, schon lange, doch damals und heute die Hälfte von mir und noch immer. Ich existiere wegen dieses Mannes, aber seinetwegen bin ich auch wurzellos. Ich habe mich selbst stark gemacht, trotz ihm.

Das Leben hat mir gegeben, was es fast allen gegeben hat, die ich kenne: gelegentliche Ruhephasen, die nur dazu dienen, die Zeiten des Aufruhrs zu verbinden und zu verstärken. Die Schattierungen mögen sich unterscheiden, aber das ist schon alles. Ich kam in einem Armenhaus zur Welt, wie schon Mamie. Im Union an der Douglas Road, einem Ort, wo alle weinten, bis die Tränen versiegt waren, und wo wir alle Gefangene der Umstände waren, bis jemand es für angebracht hielt, uns freizusetzen. Später schliefen wir dann auf Stroh, Mamie und ich, an unsere Mutter gekuschelt in Winkeln von rattenverseuchten, gemieteten Zimmern, und aßen, was uns zur Hand kam. Solche wie uns gab es viele, wir waren keine Ausnahme, und wir taten, was nötig war, um zu überleben. Mamie war nur zwei Jahre älter als ich, und auch wenn wir uns als Kinder sehr nahegestanden hatten, landet man am Ende dort, wohin die Straße einen führt. Als ich die Armee verließ – zum ersten Mal im Jahr 1908, denn ich ging wieder hin, als der Große Krieg begann –, war sie bereits mit Ned Spillane verheiratet, mit einem Baby in den Armen und einem zweiten unterwegs. Dass sie zusammen waren, wusste ich aus den Briefen, die sie mir geschickt hatte, aber auch aus dem, was Mary mir schrieb, Mary, der ich zu der Zeit den Hof machte, und jeden Shilling sparte, um sie später heiraten zu können. Die Briefe, die ich von den beiden erhielt, waren in ähnlicher Handschrift verfasst, schwerfällig und spröde, und versuchten, mich auf dem Laufenden zu halten über das, was im Dorf passierte, Klatschfetzen, die mir nicht das Gefühl gaben, irgendwohin zu gehören, wie es beabsichtigt war, sondern nur unterstrichen, wie weit weg ich war, in jeder Hinsicht, von denen, die ich liebte. Meine arme Mutter hätte mir auch geschrieben, jeden Tag, an dem sie Zeit hatte, wenn sie je Schreiben gelernt hätte, doch einige Male erkannte ich glücklich ihr Zeichen, ein schiefes X, hingekritzelt an den unteren Rand von Mamies Briefen, auf eine Art, die ich immer, ohne Logik oder Verstand, als hoffnungsvoll betrachtete.

Ned Spillane war in meinem Alter, und während einiger Jahre unserer Kindheit lebten wir nur drei Türen voneinander entfernt, in der unteren Häuserreihe am Bog’s View, am Rand des Dorfkerns von Douglas. Ich kann mich noch gut an seine Mutter erinnern, Mrs Spillane, eine nette, harmlose Frau, die Brot mit Butter und, wenn sie welche hatte, auch mit Marmelade an die Kinder verteilte, die mit den ihren tatsächlich spielten und sie nicht zur Zielscheibe machten. Seine Familie gehörte damals zu den Verwurzelten, Fabrikarbeiter, diejenigen, die richtig dazugehörten, während wir nur Hereingeschneite waren, die jede Woche einen Hungerlohn zusammenkratzten, um im Haus einer anderen Familie ein wenig Platz belegen zu dürfen. Damals mochte ich Spillane recht gern, auf die Art, wie Kinder eben diejenigen mögen, mit denen sie aufwachsen und auf einer Wiese Fußball spielen oder sich als Jungs die Zeit beim Fischen, Klettern und Raufen vertreiben. Später dann, in unseren Teenagerjahren, tranken wir zusammen ein paar Pints in Barrett’s Pub und dachten zurück an die Jahre, die wir in Bog View verbracht hatten, und an die Streiche, die wir ausgeheckt hatten, nicht nur wir beide, sondern unsere ganze Bande, die Jungs aus unserer Siedlung. Und ein- oder zweimal hatte ich im Barrett’s seine hässliche Seite gesehen, im Suff, wenn er auf Streit aus und doch auf seine Art nett war, denn Streit suchte er nur mit solchen, gegen die er gewinnen konnte. Aber mit sechzehn, siebzehn gab es einige wie ihn, und er tat auch nie etwas, was man ihm wirklich vorwerfen konnte. Die Nachricht von der Hochzeit war kein Schock für mich, und weil ich schon so lange weg war, erinnerte ich mich an Spillane als recht ordentlichen Kerl, keiner von denen, die mir besonders nahestanden, aber doch einigermaßen anständig. Seinen Namen zu lesen, während ich auf meiner niedrigen Koje in der Kaserne von Aldershot saß, brachte alte Gefühle in mir hervor, wobei ich die gemäßigteren bevorzugte, und obwohl ich wahrscheinlich anders reagiert hätte, wäre ich im Dorf gewesen und hätte seinen Appetit auf Alkohol miterlebt, gesehen, zu welchem Verhalten er ihn verleitete, war mir die Nachricht, als ich sie auf Papier sah, irgendwie richtig vorgekommen, als eine natürliche Entwicklung, und sie weckte in mir sogar ein paar Glücksgefühle.

Doch das war damals. Als ich dann wieder in Cork stationiert war, abkommandiert in die Fermoy-Kaserne für die wenigen Monate vor meiner Entlassung, hatten die beiden längst vor dem Altar gestanden, und Mamie war wieder hochschwanger. Wenn ich Heimaturlaub hatte oder ein freies Wochenende nach drei Nächten Wachdienst, fuhr ich die zwanzig Meilen nach Cork City mit dem Zug und die drei Meilen nach Douglas dann noch mit der Tram. Meine eigentliche Absicht war immer, das gebe ich zu, Mary zu besuchen und sie, wenn das Wetter schön und sie nicht zu müde von der Arbeit in der Wollweberei war, zu einem Spaziergang zu überreden, vorbei am Finger Post und die Carrigaline Road entlang, wo die Erlen und Moosbirken über uns zusammenwuchsen wie die Decke einer alten Kapelle, und es so einsam war, dass ich es wagte, ihre Hand zu nehmen, ohne die Peinlichkeit einer Entdeckung fürchten zu müssen. Um die Zeit totzuschlagen, bis die Werkssirene der Weberei das Ende von Marys Arbeitstag verkündete, ging ich zum Haus der Spillanes an der Bog Street, um Mamie und meine Mutter zu besuchen, bestückt mit einem kleinen Geschenk aus Zucker, einem Kuchen oder einer Dose goldenen Sirups und den wenigen Schillingen, die ich für sie hatte beiseitelegen können. Wir saßen dann ungefähr eine Stunde beisammen an dem kleinen Tisch, tranken Tee, und wir drei unterhielten uns, während William, Mamies erster kleiner Sohn, schlief. So sehe ich sie immer noch vor mir: Mamie lächelnd oder bei dem Versuch zu lächeln, denn die Belastung der Schwangerschaft saugte ihr die Farbe aus dem Gesicht; und unsere Mutter dicht bei mir, der Hals zwischen die Schultern gesunken, meine Hand haltend und sich an die kurzen Augenblicke unserer Wiedervereinigung klammernd, und immer, wenn es eine Flaute in unserer Unterhaltung gab, wiederholte sie den einen Satz: Mein guter Mann, mein guter, großer, starker Sohn.

Ich war froh, hier zu sein, zurück zu sein, obwohl ich nicht sagen kann, dass mir gefiel, was ich da sah. Mamie sah müde aus, auf eine Art zermürbt, die man nicht nur mit ihrer Schwangerschaft oder dem Kleinkind in ihrer Obhut erklären konnte. Ihre Augen, die immer so strahlend und lebendig gewesen waren, waren jetzt verschattet. Meine Mutter bemerkte, dass ich Mamie beobachtete, und quittierte mein Verhalten mit dem ihr eigenen stummen Blick, eine Warnung, die ich von ihr seit frühester Kindheit kannte, und wenn Mamie aufgestanden war, um nach dem Baby zu sehen oder den Restekuchen aufzuschneiden, den ich manchmal aus Thompsons Bäckerei mitbrachte, beugte sie sich zu mir und wies mich in meine Schranken.

»Sie kommen zurecht, so wie es ist, Jer«, und das Kratzen in ihrer Stimme gab ihr eine Eindringlichkeit, über die ich mich nicht hinwegsetzen konnte. »Misch dich nicht ein. Hast du mich verstanden, Junge? Stell dich nicht zwischen einen Ehemann und seine Frau. Das geht dich nichts an.«

Sie glaubte tatsächlich daran, dass so der Lauf der Dinge war, ein grausames, ungeschriebenes Gesetz, das allgemein als unantastbar galt. Und mit der Zeit, als ich das Militär verließ und nach Douglas zurückkehrte, heiratete und meine eigene Familie gründete, tat ich, was von mir erwartet wurde. Ich hielt mich zurück und schaute nur zu, während die Worte meiner Mutter sich als schrecklich falsch erwiesen und Mamie immer apathischer wurde vom Leben mit einem Säufer und dem Kampf, Kinder aufzuziehen mit dem Wenigen, was nicht für Porter ausgegeben werden konnte. Und sie anfing, aus der Welt zu schwinden. Wenn ich Spillane zufällig begegnete, nickte ich ein Hallo als Erwiderung seines Grußes, ich wahrte den Frieden, verweigerte mich aber jeder größeren Nähe. Und an den gelegentlichen Nachmittagen, wenn das Wetter der Arbeit ein frühes Ende setzte und ich ins Barrett’s ging und ihn als einzigen Gast an der Bar sitzen sah, lehnte ich mit einem Kopfschütteln seine Einladung auf ein Pint ab, auch wenn es mehr als deutlich war, dass er, durch Glück beim Kartenspiel oder einem Gewinn aus den Hunderennen, die Mittel hatte und ich nicht. Ich war höflich, blieb aber meistens stumm und strengte mich an, während seiner Prahlereien nicht zu lauschen oder in seine Richtung zu schauen. Falls er noch nüchtern war, verstand er den Hinweis und beruhigte sich, er hütete sich, mich herauszufordern, und nach ein oder zwei Pints, also ungefähr so lange, dass er nicht das Gefühl hatte, sein Gesicht zu verlieren, stieß er sich von der Theke ab und murmelte irgendeinen halb verständlichen Abschied, und ich nickte dann und sah ihm nach, wie er sich in die nächste Spelunke aufmachte, um sein Geld in irgendeinem Hafenpub in Cork City loszuwerden.

Die anderen wussten, wie es zwischen uns stand, aber niemand traute sich, etwas zu sagen, wahrscheinlich weil sie erkannten, dass ich stark angespannt war und bei einem falschen Wort explodieren würde. Und während alle in meiner Lage genauso empfunden hätten, wären mir nur wenige beigesprungen, wenn ich so auf ihn losgegangen wäre, wie er es verdient hatte. Wie gesagt, so war der Lauf der Dinge.

Inmitten dieses Durcheinanders ließ ich mich irgendwann mit Mary ein, einer der Cartys, die an der Passage Road lebten, etwa eine halbe Meile vom Finger Post entfernt. Als Schwester von einem unserer Nachbarn, die ich zudem seit meiner Kindheit kannte, war sie um ein Vielfaches besser, als ich es jemals hätte für mich erträumen können, und ich geriet jedes Mal in Hochstimmung, wenn sie nur meinen Namen aussprach. Wir heirateten 1908, nachdem ich ihr drei Jahre den Hof gemacht hatte, und sie zog zu mir und meiner Mutter nach Forge View. In den folgenden Jahren zog sie eine Familie auf, die mich endlos stolz machte, auch wenn die Kinder nicht immer brav waren. Das Leben war ein Kampf, aber wir bestanden ihn auf eine Art, wie unseresgleichen es immer tat. Ich könnte behaupten, ich hätte das in den Schützengräben gelernt, aber schon lange vor Frankreich oder Afrika hatte ich meinen Anteil an Kämpfen gehabt, man sollte es also zutreffender einen Überlebensinstinkt nennen.

Mit Krieg kenne ich mich aus. Vielleicht ist es das Einzige, womit ich mich gut auskenne. In Frankreich lagen wir von Anfang an auf der Schlachtbank, und doch war Étreux, unser Teil Rückzugs aus Mons, nur ein Vorspiel zu Schlimmerem, das uns noch bevorstand: in Givenchy, wo wir in den ersten zehn Minuten zweihundert Männer verloren; und dann wieder bei der Schlacht von Aubers, wo wir zerstückelt und zwei Drittel unserer Einheit ausgelöscht wurden; und all das noch vor der Somme. Ich war damals bereits vierzig Jahre alt, und vor allem in diesem Herbst und dem Winter bei Loos 1915 war ich starr vor Kälte. Uns allen ging es so. Der Regen fiel, als wüsste er nicht mehr, wie er aufhören konnte, und wir marschierten, um den Wahnsinn in Schach zu halten, und weil man es uns befohlen hatte. Zwei Gründe, so gut wie viele andere, und um einiges besser als die meisten. Ich denke oft an diese Zeit, wie es dort war, an eine Grabenwand gepresst, bis zu den Schienbeinen in grauem Wasser, die Augen fest zugekniffen, dem tiefen und merkwürdig sanften Grollen der Geschütze lauschend, die die Frontlinie keine hundert Meter vor uns mit großen Granaten bedrängten, und wie wir die ganze Nacht die Ratten wegtreten mussten, einige größer als Kätzchen, die das Wasser heftig aufwirbelten und an unsere Beine stießen, völlig verwirrt, wie wenig uns, die wir noch am Leben waren, von den Toten unterschied. Und ich erinnere mich an ihr Quieken, ein piepsiges, irres Schlachtgeheul, sobald ich einer von ihnen im Dunkeln einen Tritt verpasst hatte oder draufgetreten war. In diesen Tagen und Nächten in Loos, als die Schlacht heftig tobte, hörte das Leben, wie es sein sollte, auf zu sein, sodass nur noch eins da war: eine zerbombte Stadt und eine zerfetzte Landschaft, alles nach Schießpulver und Senfgas stinkend, wir auf der einen Seite der Trümmer und der Feind aufgefächert auf der anderen, wir alle keine Männer mehr, keine Menschen mehr, wir dachten nicht mehr an Zuhause und die Gesichter unserer Lieben und an glücklichere Tage, sondern waren stattdessen voll der Dinge, die wir gesehen und getan hatten und immer noch taten. Wir hatten uns eingegraben und häuften die Toten schneller an, als wir sie begraben konnten, und nach einer Nacht, als der Morgen kalt und aschfarben dämmerte, ging der Truppensanitäter durch die Reihen, um nach den Verwundeten zu sehen, und stellte fest, dass die Ratten einem Verwundeten, den ein Schrapnell in die Brust getroffen hatte, das halbe Gesicht weggefressen hatten. Wir alle hatten das Stöhnen gehört, aber es war zum Klang unserer Nächte geworden, und wenn wir nichts mehr für sie tun konnten, hatten wir gelernt, es zu ignorieren. Ich ging mit ein paar anderen hin, um es mir selbst anzusehen, obwohl mir klar war, dass ich es besser sein lassen sollte, weil ich gehört hatte, dass solche Dinge passierten, sie aber nie so recht geglaubt hatte, und der Soldat auf der Pritsche lebte noch und würde nach Aussage des Sanitäters auch überleben, vorausgesetzt, er würde es in ein Lazarett schaffen, bevor die Infektion einsetzte. Doch die hohen Dosen Morphium hielten ihn in einem Dämmerzustand, er tagträumte, sodass er sowohl hier war als auch tausend Meilen entfernt, zu Hause in Limerick oder Tipperary oder wo auch immer er herkam, und da spätnachts niemand verfügbar war, um die Krankenstation des Grabens zu bewachen, waren die Ratten über ihn hergefallen und hatten sich an ihm gütlich getan. Sie hatten ihm die Lippen weggenagt und sich über den breiigen Schatz seiner Augen hergemacht. Eine Stunde nach Tagesanbruch, im geronnenen Licht, ließ die Wirkung des Betäubungsmittels nach, und der Soldat fing an zu stöhnen und bald darauf zu brüllen, aus zerstörter Brust zu klagen wie ein in einer Schlinge gefangenes Tier. Und ich starrte, zum Schweigen erbleicht, zusammen mit den anderen, die zum Glotzen gekommen waren, denn so schlimm die Geräusche des Soldaten waren – erst sein Anblick setzte uns wirklich zu. Einige Männer weinten, und die Tränen wuschen saubere Spuren in ihre Gesichter, ich aber nicht, weil ich zu diesem Zeitpunkt bereits kapiert hatte, dass das einem Soldaten nie hilft. Doch dass ich nicht weinte, bedeutete nicht, dass ich nichts fühlte, wobei das hier nur ein weiterer dieser Anblicke war, die nie ganz vertrieben werden konnten, hatte man sie erst einmal in sich aufgenommen. Ich habe gesehen, wie Nonnen von Maschinengewehrfeuer niedergemäht und Kinder angezündet wurden, sodass sie niederbrannten wie Kerzen, und ich schaute in die Augen von Männern und Jungen, während ich aus eineinhalb Metern Entfernung auf sie schoss, und anderen in Afrika, während ich sie aufschlitzte und bei unseren Bajonettangriffen niedertrampelte. Ich habe den Krieg aus der Nähe gesehen, haben seinen heißen, blutigen Sprühnebel auf meinem Gesicht und meinen Händen gespürt, und jeder, der in der Schlacht war, weiß, dass wir alle die Konsequenzen tragen. Die Spuren, die wir tragen, entschuldigen uns nicht.

Das stählerne Läuten der nahen Kirchenglocke reißt mich aus meinem Tagtraum, langsame Schläge, die das Ende des Tages verkünden. Der letzte Ton scheint zu verweilen, die Stille danach irgendwie weniger leer zu machen. Nachdem ich lange gelauscht habe, ob noch etwas kommt, ziehe ich meine Stiefel aus und strecke mich auf der schmalen Pritsche aus, bestürzt von der Wendung, die meine Gedanken genommen haben. Ein paar Stunden Haft werden mich nicht brechen, aber länger sollte es nicht dauern, dieses Weggesperrtsein mit nichts zu tun außer zu denken. Die Dunkelheit macht alles zu klar, und Erinnerung ist nur Nahrung für den Schmerz. Doch wenn mein Verstand nicht in der Vergangenheit wühlt, dann tobt er vor Gedanken an Spillane und dem elenden Leben, das er Mamie bereitet hat. Die Abscheu, die ich für meinen Schwager empfinde, ist zu einem Gutteil Wut auf mich selbst, befeuert von Schuldgefühlen, weil ich mich zu gesittet verhalten habe, weil ich auf meine Mutter und meine Frau gehört habe, als sie mir auftrugen und mich geradezu anflehten, ich solle mich nicht einmischen. Doch während sie mit ihren eigenen Ängsten zu kämpfen hatten, hätte ich stärker sein müssen. Mein Verhalten hätte Konsequenzen gehabt, aber nichts, was ich nicht hätte aushalten können, denn das Leben meiner armen Schwester war es wert, gerettet zu werden, und ich hätte es wenigstens versuchen müssen. Spillane wurde im Suff zum Tier, aber er war nicht völlig dumm, und vielleicht hätte er auf eine Warnung reagiert, auf eine Drohung in angemessenem Ton. So oder so, ich hätte handeln müssen. Und jetzt ist es zu spät.

Meine Frau Mary ist fromm, aber das ist eine Haltung, die für Frauen, glaube ich, einfacher ist als für Männer. Die Frauen, die ich kenne, haben eher belastbarere Herzen, vielleicht weil sie auf Schmerz auf eine Art eingestimmt sind, wie Männer es nie sein können. Oder vielleicht ist ihr Schmerz auch ein anderer. Frauen sind, meiner Erfahrung nach, nachsichtiger, und ich glaube auch, hoffnungsvoller, was sie allerdings in Gefahr bringt, das immergleiche Schicksal zu erleiden. Die meisten Männer, die ich kenne, sind beschädigte Wesen, und Frauen nehmen das hin und haben Mittel und Wege gefunden, auch unsere schärfsten Kanten mit Vorsicht zu behandeln und sie mit Zärtlichkeit abzurunden. Die widersprüchlichen Eigenschaften eines solchen Wesens, die Stärke und das Flehen, die Fähigkeit, den chaotischen Chor eines Familientages behutsam zu leiten, sind genau die Eigenschaften, die es ihnen erlauben, den Glauben zu bewahren. Und der Glaube stählt sie wiederum, wenn der Schmerz sie zu überwältigen droht.

Meine eigenen Widersprüche bringen mich zu einer anderen Weltsicht. Zwar bete auch ich gelegentlich, aber nur zum Trost, denn so sehr ich es mir auch anders wünschen würde, läuft die Religion durch mich hindurch wie die Jahresringe, die das Innere eines Baums streifen. Aber heute Nacht hier auf dieser Pritsche liegend, habe ich gelernt, dass es möglich ist zu beten – falls es Beten ist – und ein wenig Trost in den Worten zu finden, ohne glauben zu müssen. Man kommt an diesen Punkt, begleitet von Zweifeln als eine Art sich langsam ausbreitende Fäulnis, bis man eines Nachts mit dem Gesicht nach unten auf einer Wiese liegt, oder, wie jetzt, in einer Gefängniszelle sitzt, und man merkt, dass die Fürbitten, die einem flehend von den Lippen triefen, durchflutet sind von verbrauchter Luft, denn ob Gott nun existiert oder nicht, ist es doch offensichtlich, dass Er nicht hören kann, nicht fähig ist, einzuschreiten, oder man ihm einfach scheißegal ist. Diese Lektion hätte man mir mit Worten nicht beibringen können; es ist eine Erkenntnis, zu der ich in meinem eigenen Tempo gelangen musste. Die Vorstellung von einem allmächtigen, allsehenden Gott riecht zu sehr nach bedeutenden Plänen und umfassender Strategie, nach Gründen, die mein Verständnis übersteigen; und wenn ich zu sehr darüber nachdenke, warum Gräuel geschehen und geschehen dürfen, würde ich, wenn ich es zuließe, immer stärker von Hass erfüllt werden, bis ich nichts anderes mehr bin. Und ich habe das Gefühl, dass ich mir diese Last, wenn ich weitermachen will, besser erspare.