Was die Isar rauscht - Michael Georg Conrad - E-Book

Was die Isar rauscht E-Book

Michael Georg Conrad

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Beschreibung

München in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ludwig II. hat die kühnsten Pläne was den Ausbau der Theaterstätten und Straßen in der Stadt angeht. Aber er verkennt die Zeichen, die gegen ihn stehen. Neben dieser das Buch bestimmenden Handlung zeichnet Conrad auch ein Bild des Milieus zu dieser Zeit, der Ethik und Kultur als auch der Finanzwelt. Viele was nach außen hin glänzte war in Wirklichkeit schon sehr morsch ....

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Was die Isar rauscht

Michael Georg Conrad

Inhalt:

Michael Georg Conrad – Biografie und Bibliografie

Was die Isar rauscht

Erster Band.

1.

2.

3.

4.

5.

6.

Zweiter Band.

1.

2.

3.

4.

5.

Was die Isar rauscht, M. Conrad

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849608101

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Michael Georg Conrad – Biografie und Bibliografie

Schriftsteller, geb. 5. April 1846 zu Gnodstadt in Franken, verstorben am 20. Dezember 1927 in München. Studierte neuere Sprachen und Pädagogik, war dann drei Jahre als Lehrer in Genf, darauf in Paris journalistisch tätig und ließ sich später in München nieder. Hier begründete er 1885 die der modernen Richtung dienende Zeitschrift »Die Gesellschaft«, von der er die Jahrgänge 1–8 allein, 9–13 mit H. Merian, 14–16 mit L. Jacobowski redigierte. Als Journalist freigesinnt und agitatorisch durchgreifend, schrieb er zahlreiche politisch-pädagogische Schriften, wie »Erziehung des Volkes zur Freiheit« (1870; 3. Aufl., Münch. 1885), »Flammen! Für freie Geister« (Leipz. 1882), »Deutsche Weckrufe« (das. 1890) u. a. Literatur- und Volksstudien lieferte er in den Schriften: »Parisiana, Plaudereien über die neueste Literatur und Kunst der Franzosen« (Münch. 1880); »Französische Charakterköpfe« (Leipz. 1881, 2 Tle.); »Madame Lutetia«, neue Pariser Studien (das. 1883); »Lutetias Töchter« (das. 1883); »Pumpanella« (das. 1889); »Gelüftete Masken. Allerlei Charakterköpfe« (das. 1890); »Ketzerblut. Sozialpolitische Stimmungen und kritische Abschlüsse« (München 1893); »Von Emil Zola bis Gerhart Hauptmann« (Leipz. 1902) u. a. Als Erzähler, oft derb, oft ironisch und humoristisch, bewährte er sich in: »Totentanz der Liebe«, Münchener Novellen (Leipz. 1884); »Die klugen Jungfrauen«, Roman (das. 1889, 3 Bde.); »Was die Isar rauscht«, Münchener Roman (das. 1889, 2 Bde.; 3. Aufl. 1898), dazu als 3. Teil: »Die Beichte des Narren« (das. 1893); »Fantasio«, Geschichten und Lebensbilder (das. 1889). In »Bergfeuer. Evangelische Erzählungen« (Münch. 1893) trägt C. die Geschichte des Neuen Testaments vor, in »Purpurner Finsternis«, Roman (Leipz. 1895), entwirft er ein satirisches Zukunftsbild aus dem 30. Jahrh., in »Majestät« (Berl. 1902) behandelt er das Verhältnis Ludwigs II. zu Richard Wagner. In den Gedichten »Salve Regina« (Berl. 1899) gibt er sozialistische Reflexionen und Selbstbekenntnisse. Auch als Dramatiker versuchte er sich in dem Lustspiel »Die Emanzipierten« (Leipz. 1888) und dem Schauspiel »Firma Goldberg« (das. 1889), beide mit L. Willfried verfaßt.

Was die Isar rauscht

Erster Band.

1.

Neapel, Vicoletto del Petrajo, 25.

 Am Tage des lieben, guten, heiligen Josephus – oder:

 Der Mensch entgeht seinem Schicksal nicht.

Mein lieber Max v. Drillinger!

Seit Neujahr, also seit beinahe drei Monaten, habe ich nichts von mir hören, lassen.

Während ich die Feder ansetze und mich nach so langer Unterbrechung zu brieflicher Plauderei mit Dir rüste, kracht auf dem Scheitel des ehrwürdigen Vesuvius ein prachtvolles Gewitter los, das erste Frühlingsgewitter, das ich in Italien erlebe. Wenn ich vom Blatt aufsehe, fällt mein Blick durchs offene Balkonfenster auf den Berg. In ganzer Lebensgröße steht er vor mir, die bezauberndste Vedute im Fensterrahmen, die sich denken läßt, und gerade in der richtigen Entfernung zur Erzielung einer vollkommenen künstlerischen Wirkung: im Vordergrund kräftig braune Konturen neapolitanischer Kuppeltürme und leicht gewölbter Hausdächer, links eine wunderschöne Gruppe von dunkelgrünen Palmenkronen und fast schwarzblau aufstrebenden, sanft verlaufenden Zypressenwipfeln, im Mittelgrund in geschwungener Linienbegrenzung ein Streifen Meer in den silbergrau wogenden Wollustschauern des heiß und flach darüber streichenden Scirokko-Windes, dann üppig aufrollend die alten Herkulaner Ufer mit den dunklen, schattenschweren Gärten, Hainen, Weinbergen, daraus wie lichte Punkte in langer gebrochener Reihe die roten und gelben Villen und die Häuser und Kirchen von Portici und Resina glänzen, darüber hinauf die schwarzen Lavageröll-Gürtel mit dem phantastischen Auf und Nieder der verschiedenen Eruptions-Höhen, wunderbar schattiert nach der Zeit der Verwitterung, so daß sich die Ausbruchs-Epochen genau abstufen, endlich das Prachtstück der kühn und anmutig zugleich formenden Südlands-Natur: der Berg in seiner unbeschreiblichen Herrlichkeit, in leichter, eleganter Plastik schwimmend im himmlischen Aether.

Die schwarze Gewitterwolke sitzt ihm buchstäblich auf dem Scheitel, ringsum scharf begrenzt von der blaugelb überhauchten, mit dem grauen Scirokko-Schleier leicht verhängten Luft.

Wie irrsinnige Glutgedanken umzucken die Blitzschlangen das tiefer und tiefer sich verhüllende Haupt des Berges und werfen einen fahlen Widerschein über die träumende Landschaft zu seinen Füßen.

Erst leise, dann mächtig anschwellend in stolzen Rhythmen, dann abnehmend und verhallend, wie in ersterbendem Grollen, wieder übertönt von dem Rauschen der Strandwellen, klingt die Donnermusik zu mir herüber. Bald scheint es mehr nur ein heiteres akustisches Spiel – bald kracht es plötzlich los, Schlag auf Schlag, wie mit der tragischen Wucht des Schicksals. Ich lege die Feder einen Augenblick weg und lausche – –

Es ist zu schön.

Es ist ein ganzes Musikdrama, eine Symphonie mit elektrischen Beleuchtungs-Arabesken, was weiß ich. Die urewige Künstlerin Natur spottet in ihren grandiosen Launen jedes Regelzwangs. Sie mag mit nichts beginnen und in nichts enden, aber was dazwischen liegt, ist Unerhörtes, Unerschautes, nie Auszuhörendes, Auszuschauendes – kurz Etwas, und wäre es tausendmal eine Apotheose der Sinnlosigkeit. Etwas! Und man bekommt's nie satt. Während man den menschlichen Erfindungs-Krempel so leicht satt bekommt, übersatt.

Ich lege die Feder nochmal weg.

Es ist wirklich zu schön.

Und nun dringt ein Duft herein – ein unbeschreiblich süßer, berauschender und zugleich erfrischender Duft! Wie aus dem Paradiese. – – Man möchte ganz Nase sein! Ich schnuppere und blase die Nasenflügel auf. – – O Gottesluft, erfüll' mich ganz! Oder in der Sprache Dante's: Aria di Dio, entrami in corpo! Ausruf meiner Hauswirtin Donna Rosalia. Zwar ein Phänomen an Häßlichkeit: rothaarig – soweit ihre Glatze noch Haare erkennen und nach der Farbe bestimmen läßt – blatternarbig, schiefmaulig, kropfig, aber eine enthusiastische Seele, die sich täglich mit den Schönheiten der Natur vermählt. Bei diesem mystischen Akt streckt sie ihre nackten magern Arme gen Himmel, schlägt sie dann kreuzweis über zwei längliche, sogar sehr längliche, leere Hautbeutel, welche die Stelle der abwesenden Brüste vertreten, sogar sehr täuschend vertreten, schiebt den Unterleib vor mit der entsetzlichen Grazie eines Schlangenmenschen, wirft den Kopf mit dem kropfigen Schwanenhals zurück, bebt mit den Hüften und den Schenkeln wie eine ekstatische andalusische Tänzerin, schlägt mit den Augenlidern auf die rollenden Augenkugeln und kreischt mit einer Stimme, deren Timbre an die Klangfarbe eines alten blechernen Topfes ohne Boden erinnert: Aria di Dio, entrami in corpo. Daraus kannst Du ersehen, wie überwältigend die Schönheit der südlichen Natur sein muß, wenn sie auf eine von ihr doch einigermaßen stiefmütterlich behandelte schlichte Frau aus dem Volke, Zimmervermieterin und Wittib – ihr Seliger war Schlotfeger-Meister – eine solche orgiastische Wirkung ausübt.

Ich überlese das Geschriebene, wenn Du erlaubst, mit Deinen Augen und mit Deiner Nase. Du schwelgst doch in Gedanken, nichtwahr, so stümperhaft auch meine Schilderung ist? Du siehst, Du hörst, Du riechst? Und Deine Brigitta nickt mit dem Kopf dazu und lächelt so nachdenklich, als ob sie etwas vermisse. Richtig! Die Sonne fehlt in meiner Beschreibung?

Eine süditalienische Landschaft, dazu am Josephi-Tag, feierlichste Natur-Parade in Vorfrühlings-Ausrüstung – und keine Sonne am Himmel?

Sehr gut bemerkt, lieber Leser und Kritiker Max von Drillinger, Hauptmann a.D., fein herausgefunden, aufmerksame Hörerin Brigitta! Keine Sonne! Das ist freilich gegen das Exerzier-Reglement.

Aber es ist so.

Das ist eben der Effekt wunderbarster Beleuchtungszauberei bei Scirokko-Stimmung mit einem Vormittags-Donner-Konzert auf dem Vesuv.

Es blitzt immer noch.

Ich mache wieder eine Pause. Diesmal, um meinen Anzug zu vervollständigen. Ich erwarte nämlich Damenbesuch. Und eben über die Langeweile der Wartezeit will ich mir mit diesem Brief hinweghelfen. Zwei Fliegen mit einem Schlag: ich tilge eine Briefschuld und zerstreue mich. So können wir beide zufrieden sein. Also, wie gesagt, Damenbesuch. O, etwas sehr – Unschuldiges: eine ehemalige Erzieherin, jetzt Malerin in Temperafarben. Auch aus München natürlich; wir haben uns unterwegs kennen gelernt. Alles sehr temperiert.

Nur die hiesige Temperatur nicht.

Darum, ganz unter uns und vielmals Pardon, habe ich das Vorstehende im Hemde geschrieben. Pardon sage ich nur der Jungfrau Brigitta wegen und aus konventioneller, deutscher Wohlanständigkeit. Du selbst bist ja nicht so schamhaft. Was liegt Dir an einem Hemd – mehr oder weniger, nichtwahr? Selbst im sogenannten Aufruhr der Elemente, der reinen, nackten Natur gegenüber – was ist uns da ein Hemd!

Es blitzt noch immer.

Die Silhouette der Gewitterwolke hat sich jetzt total verändert. Ein verrückter Anblick: fast wie –

Nein, ich unterdrücke lieber das Bild. Es – wäre auch zu naturalistisch, und ich weiß, Du Uberfeiner magst den Naturalismus nicht, d.h. den geschriebenen. Chacun à son goût.

Es wimmelt überdies heutzutage so viel Verrücktes mit und ohne Naturalismus in der Welt herum, daß selbst einem ausgemachten Narren ganz ängstlich dabei wird.

Da sitze ich vor dem Vesuv und höre in meinem armen Kopfe plötzlich die Isar rauschen, genau so, weißt Du noch, wie sie damals im Abendrote rauschte, draußen bei den Thalkirchener Überfällen. Wir saßen unter der alten Linde. Geputztes, schwatzendes Philistervolk kam auf den schönen, stillen Waldpfaden daher und verlor sich, heimstrebend, in den dunkelnden Isarauen. Wie die Schritte und Worte dieser banalen Naturschänder verhallten, nahmst Du immer die unterbrochenen Betrachtungen wieder auf über – ich weiß nicht mehr was; ich dachte nämlich (in dieser Entfernung kann ich Dir's ja gestehen) an ganz etwas anderes – und ließ Dich deklamieren. Ich wälzte damals in meinem Quadratschädel (tête carrée nennen's die Franzosen, wie Du Dich aus dem Feldzug erinnerst) die ungeheuerlichsten Baupläne; da aber Deine geliebte Isar dabei arg in die Klemme gekommen wäre, so zog ich's vor, Dich nicht in mein Vertrauen zu ziehen, sondern Dich ruhig Deine geistreichen Betrachtungen über die schönsten und rührendsten Dinge in die laue rotgolddämmernde Abendluft und in die rauschende Isar hineinplaudern zu lassen.

Diese Baupläne übrigens – –

Schon wieder so ein irrsinniger Blitz! –

Dieses ewige Geschlängel und Gezickzack macht mich schließlich doch nervös. Es hat etwas so Aufdringliches, wie alles Wälsche.

Ich lege die Feder weg, bis das blödsinnige Gewitter zu Ende. Es wäre jetzt wahrhaftig eine vernünftige Abwechslung, wenn die Tempera-Malerin endlich käme, obwohl ich neulich, als ich ihr die Architektur des San Martino-Klosters (hier von meinem Fenster aus weiter nach links) sehr volkstümlich erklärte, den Verdacht nicht loswerden konnte, sie möchte auch einen Sparren zu viel im Dach haben. Das Tempera-Frauenzimmer produzierte zwischenhinein so merkwürdige Redensarten – und dann hat sie manchmal eine so unheimliche Art des Schauens und des Zuhörens. Kurz und gut, ich werde sie schärfer beobachten. Verrücktheit wirkt ansteckend, weißt Du; wie die Dummheit und Verliebtheit. (In Parenthese: vielleicht verliebe ich mich auch noch – hier, wo ich Dein abschreckendes Beispiel nicht vor Augen habe.) Bei der Gescheidtigkeit kommt ja so etwas niemals vor. Drum sind die Wunder der Aufklärung ebenso sporadisch wie lächerlich. Übrigens so ein Kloster wie das von San Martino (es ist schade, daß man's vom Fenster aus nicht sieht, wenn ich hier sitze, ich würde es Dir sonst sehr anschaulich beschreiben, aber wenn ich mich so setze, daß ich es sehe, so sitze ich so unbequem, daß ich nicht mehr schreiben mag, und so muß ich darauf verzichten, es Dir zu beschreiben, da ich in architektonischen Schilderungen grundsätzlich sehr diffizil bin und nur momentan Geschautes beschreibe – Augenblicksbilder, weißt Du!) – ehrliche, rechtschaffene Augenblicksbilder – –

Ich lege die Feder zum Xten Mal weg, denn ich habe mich im Periodenbau verhaspelt und nun mag ich das Zeug nicht wieder von Anfang an lesen, um den Faden zu suchen. Mit den Parenthesen habe ich nie Glück gehabt. Da habe ich regelmäßig den Zusammenhang verloren. Und immer tappe ich als Periodenbauer wieder in so eine vermaledeite Parenthese hinein und schände die Syntax. Sei versichert, lieber Max v. Drillinger, Du verlierst nichts dabei. Dieser Brief wird noch so schön und reich, daß ich Dir ohne Gewissensbisse eine ungefüge Periode unterschlagen darf. Das macht der Liebe kein Kind, wie Herr Raßler, der große Kunstmäcen in der Quaistraße, so sinnig zu sagen pflegt. Verkehrst Du noch mit – – nein, nein, am heiligen Josephitag keine so indiskreten Fragen. Siehe das Motto!

Es blitzt wahrhaftig immer noch. Diese italienischen Blitze haben etwas so Epileptisches, wie die Gestikulationen eines Tollhäuslers. Ich mag gar nimmer hinsehen. Bei uns daheim, im disziplinierten Vaterland der reinen Vernunft, hat auch die Natur mehr Bescheidenheit und Manier, mehr Zurückhaltung.

Der ehrenwerte Herr Raßler ist mir durch den Sinn marschiert, weil die Tempera-Malerin, von der ich übrigens noch keinen Pinselstrich gesehen habe und deren geschätzten Morgenbesuch ich ebenso sehnsüchtig und, wie's scheint, vergeblich erwarte, mir neulich von ihrem Debüt als Erzieherin in der Raßlerschen Familie die denkwürdigsten Dinge erzählt hat. Natürlich schwebte mir sofort Dein Name auf der Zunge, und schon wollte die Apostrophe dem Gehege meiner Zähne entschlüpfen: »Ach, Fräulein Flora Kuglmeier, da hat wohl auch der Blick meines Freundes Max von Drillinger ermunternd und tröstend auf Ihnen geruht und Ihr Sinn hat sich gelabt an den weisen Sprüchen dieses beredten Hausgeistes der Raßlerschen Familie!« – als mir noch rechtzeitig das Unschickliche eines solchen Einfalls zum Bewußtsein kam. Später merkte ich, daß die züchtige Maid, deren pädagogischen Künsten die Erziehung der Raßler'schen Sprößlinge anvertraut war, zu einer Zeit ihres Amtes waltete, wo Du noch in der Pasinger Malzfabrik dem Gotte Merkur Deine ersten schüchternen Huldigungen darbrachtest. Und der Weg nach Pasing führte damals noch nicht durch die Quaistraße, und der dienstbare Hausarzt hatte der vor überschüssiger Gesundheit kranken Frau Raßler noch nicht die heilsam schwächenden Bäder des romantischen Würmkanals in Pasing verordnet. Nichtwahr, ich bin gut unterrichtet?

Ich bin – warum soll ich Dir's nicht ohne Rückhalt gestehen? – manchmal noch so sehr in den kleinbürgerlich engen Anschauungen vom Zulässigen und Anständigen befangen, daß Du mir's wahrhaftig nicht übel nehmen kannst, wenn ich nicht die Flugkraft besitze, mich hinsichtlich der Moralität Deiner Beziehungen zu jener Frau aus der Enge meiner Vorurteile zu erheben.

Inzwischen bin ich allerdings über Verschiedenes hinausgewachsen. Womit nicht gesagt sein soll, daß ich Deine verschiedentlichen Dummheiten als Geniestreiche preise.

Erlaube, daß ich mir's wieder bequem mache und Rock, Weste und Hofe von mir werfe. Bei dieser wahnsinnigen Scirrokko-Temperatur wäre das adamitische Paradieskostüm das angemessenste; die keuschen Feigenblätter wachsen hier einem zum Fenster herein, man braucht nur die Hand darnach auszustrecken.

So – jetzt sitze ich wieder in Hemd und Strumpf, vor Dir. Da schreibt sich viel leichter. Die Tempera-Malerin kommt heute doch nicht mehr, was mir eigentlich lieb ist, denn ich bin jetzt einmal im Zuge, daß ich Dir gern noch einige Stunden ungestört widme. Eine Plauderei mit Dir hat große Reize, besonders so lange man allein das Wort hat. Du wirst diese Aufmerksamkeit zu schätzen wissen.

Oder nicht? Bist Du seit unserer bald einjährigen Trennung ein kühler Selbstsüchtling geworden? Der Anfang Deines letzten Briefes könnte mich schier auf diese Vermutung bringen. Da steht nämlich in deiner steilen, schattenlosen Schlemihl-Handschrift zu lesen: »Die weite Entfernung verschuldet, daß die Briefe nur langsam und spärlich laufen.« Dabei beziehst Du die Entfernung nur auf den Raum.

Sophist! Sei aufrichtig: beziehst Du sie nicht auch ein wenig auf die Interessen?

Jawohl, und darin allein finde ich einen ausreichenden Grund für die Erkaltung Deines epistolarischen Eifers. Und nun erlaube, daß ich loslege – ich krämple erst die Ärmel auf und streife das Hemd über die Schenkel, damit ich mehr Luft kriege (Flora Kuglmeier überrascht mich leider diesen Vormittag doch nicht mehr, vielleicht macht sie jetzt das interessante Vesuvbild mit Temperafarben an): Du bist im Grund Deines Herzens ein verdammter Egoist, der sich wie ein kostbarer Wurm in sein seidenes Interessengespinst verpuppt; Du denkst ungeheuer viel, aber nicht an mich; Du fühlst ungeheuer tief (Beweis: was sich die Isarwellen an der Quaistraße über Deine Liaison zurauschen – ich hör's bis hierher!) aber Du fühlst nicht die süßen Schauer der Freundschaft in Deinem Mannesbusen – – Das kommt von der Weiberknechtschaft.

Sünder! Bei aller Phantasterei Deiner Gefühle bist Du doch nur ein kühler Realist – oder thue ich Dir Unrecht, mein alter Kamerad? – während ich im Idealismus hängen geblieben bin, wie der fabelhaft langhaarige Absalon am Geäst des Eichbaums. Nun ich dahänge und zapple, rennst Du mir den Spieß Deiner Sophistik ins Herz – –

Es klopft. Herein! Donnerwetter, nein! Mein Negligé! – – – – Es war nichts.

Also siehst Du, wie unsere Sachen stehn. Dir thut die Aufsicht eines ehrlichen großen Freundes not. Es ist Zeit, daß wir uns wieder näher rücken. Und nun laß mich auch ein wenig von mir selbst reden, nachdem ich mich so lange und liebevoll mit Dir beschäftigt.

Meine italienischen Studien nahen ihrem Ende. Meine Mappen platzen von Kopieen, Skizzen, Entwürfen – ob ich jemals ausgiebigen Nutzen daraus ziehen werde? Ich will's hoffen. Ich mache noch einen Abstecher nach Pästum und Sizilien, um die griechischen Tempelreste (dies lediglich zu meinem Privatvergnügen, versteht sich!) zu studieren und an Land und Leuten einigen Spaß zu haben, dann rutsche ich wieder nordwärts in unsere gemäßigte Kultur- und Kunstzone, nach Biermaniens Hauptstadt an der kühlen Isar, bevor mich hier die vernichtende Hochsommerhitze vollends in Schweiß und Idealität auflöst. Ich hasse dieses Wälschland Italia, wenn ich bedenke, wie unzählig viele deutsche Künstler von Talent und hohem Streben es seit einem Jahrhundert an Leib und Seele ruiniert, wie viel deutsche Original-Anlage und Eigenart es verwüstet hat. Behaupte ich damit, daß das Vaterland eitel Güte und Vorteil für seine Künstler sei? Keineswegs. Aber es ist patriotischer, zwar dem Ausland die Leviten zu lesen, jedoch mit der Besserung daheim anzufangen. Da wäre bei uns freilich ein greulicher Augiasstall auszumisten. Besonders bei uns in München hat die arrogante Mittelmäßigkeit in der königslosen Kunststadt eine so korrupte Wirtschaft auf die Beine gebracht, daß einem für den Ruhm Isarathens bange werden kann, tritt nicht bald eine radikale Änderung ein. Und was sonst noch im Verborgenen gesündigt wird! Das Schicksal unseres armen Knöbelseder, des gehirnerweichten Heiligenmalers, tritt mir hier oft warnend vor die Seele. Ihn haben Heimat und Fremde zu gleichen Teilen auf dem Gewissen.

Was ich daheim zunächst beginnen werde, darüber mögen sich einstweilen die lenkenden Götter ihre allweisen Köpfe zerbrechen. Der Gedanke, bei den Bauten des Königs zugezogen zu werden – ist wohl nichts weiter als ein leerer Wahn. Zum Handlanger und Streber und Katzbuckler hab' ich nicht das mindeste Talent. Von chinesischer Schloß-Architektur versteh' ich auch nichts; auch nichts vom Hundinghütten- und blauen Grottenbau. Also! Überdies durchschwirren jetzt ganz unheimliche Gerüchte über die Verhältnisse des Königs die europäische Presse. Man nimmt sich ja gar kein Blatt mehr vor den Mund und spricht ganz rücksichtslos von der moralischen und materiellen Insolvenz des Idealisten auf dem Throne. Das ist wieder ein gefundenes Fressen für die herrschende Gemeinheit, für diese ewig hungrige und ewig stinkende Vettel, genannt öffentliche Meinung: ein König, verfolgt von dem Gespenst des Bankrotts! Welch' ein Gaudium für die rohe Exaktheit der Kurszettel-Wissenschaft, der nüchternen Einmaleins-Simpelei und der börsenjobbernden Demagogie, die Majestät eines genialen Kronenträgers frech kritisieren zu dürfen auf Grund des Kassabuchs und unbezahlter Fakturen! – An gewöhnlichem Maßstabe gemessen, mag man ja zu Vielem den Kopf schütteln; schwere Fehler liegen vor und dunkle Rätsel – den künstlerischen Verirrungen möchte ich am allerwenigsten das Wort reden – allein das Alles treibt mich nur zu dem heißeren Wunsch, es möge sich das gegenwärtige Chaos recht bald zu voller Ordnung und Schönheit lichten.

O, wenn ich Glück hätte und selbständig und im Großen leben und bauen könnte – meine alten Isarpläne verwirklichen! Aber da werden mir auch wieder andere Macher zuvorkommen und bis ich mich durchgerungen und endlich die Aufmerksamkeit der hohen Herren auf mich gelenkt, wird mein Platz besetzt sein. Vor Jahren stand ich schon einmal hart an der Linie des Erfolgs – noch ein kleines Schrittchen und ich wäre ganz patent vorwärts geschoben worden. Schon hatte ich den Fuß erhoben, das entscheidende Schrittchen zu thun, da strauchelte ich – an einer dummen kritischen Äußerung über ein allmächtiges Tier – und wie durch Zauber war ich der Linie entrückt. Zur rechten Zeit schweigen und sich neigen, ist aller Künsten größte und für einen geraden, ehrlichen Kerl schwerste. Wir stehen uns mit unserer dummen Ehrlichkeit immer selbst im Wege. Die Welt – die Welt! das heißt die paar Leute, welche das Heft in der Hand haben – ist nie fähig, die volle Wahrheit zu vernehmen; sie will immer belogen sein, damit ihr die Freude an ihrer eingebildeten Herrlichkeit nicht verdorben werde. Also schweigt der Wissende oder Vernünftige oder Vorsichtige. Aber zuweilen ist man das nicht, sondern ein widerhaariger Esel mit langen Idealitäts-Ohren. Da predigt man sich vor, daß die unumwundene Aussprache unserer tiefsten Gedanken und Stimmungen der Menschheit bestes Teil sei; daß die Schlachten des Geistes nicht von Schweigern, sondern von den lauten Zeugen und furchtlosen Bekennern geschlagen werden. Ja, wenn das Lumpengesindel nicht wäre! Und der Knechtssinn!

Blauer Dunst bringt Ehr und Gunst. Leider gehörte der Dunst bis jetzt nicht zu dem Material, aus dem ich zu bauen verstehe. Vielleicht lern' ich's noch!

Mit dem spekulierenden Kapital zusammenzuarbeiten, mit dem vollen Einsatz gereiften Talentes, wäre freilich das verlockendste. Das Aufblühen aller Kunst, besonders aber der auf Riesensummen angewiesenen Baukunst, ist an den Besitz des Goldes gebunden. Sind wir endlich über den blutigen Milliardensegen mit seiner gemeinen Protzerei, seiner geilen Genußgier auch im Kunstschaffen, glücklich hinaus, so sind wir doch der rohen materialistischen Richtung noch nicht entwachsen. Was fordert heute noch die Aufschneiderei und Reklamemacherei der Geldprotzen und Börsenjobber und Spekulanten und Bodenwucherer nicht für haarsträubende Zugeständnisse vom Baukünstler! Wie verroht und unsolid ist der Geschmack des großen Publikums in allem, was mit der Bauthätigkeit zusammenhängt!

Unter solchen Umständen die Möglichkeit zu finden, Werke zu schaffen, welche des aufgewendeten Talents würdig sind und den feinen Sinn, das edle Gemüt befriedigen, ist unendlich schwer.

Und dann die Stilfexereien, die altertümelnden Schrullen der zahlungsfähigen modischen Halbbildung, überhaupt die Renommisterei der Mode in der Kunst! Und das spielt sich als maßgebendes Kennertum auf! Wie mich das anmaßliche Treiben dieser lackierten Barbaren oft kunststadtmüde gemacht hat, kann ich nicht mit Worten sagen. Kreuzmillionendonnerwetter!

Aber wie natürlich ist's auch wieder, daß sich diese Stilhanswurste an ihre »echt« etikettierten Schachteln anklammern: sind sie doch bei allem äußeren Reichtum innerlich so bettelarm, so aller wurzelhaften Empfindungen und quellenden Ideen baar, daß sie nur durch das emsige Spielen mit allen erdenklichen, aus allen Himmelsgegenden und Kunstepochen zusammengeschleppten und mit einem Heidengeld bezahlten Stilformen sich über ihre individuelle Armseligkeit hinwegtäuschen können. Man muß eigenartige, weltbewegende Gedanken haben, um das heiße Bedürfnis zu verspüren, sie in eigenartigen Baudenkmalen niederzulegen; man muß eine starke Persönlichkeit mit bedeutsamen künstlerischen Triebkräften sein, um einen originellen Baumeister zur Ausgestaltung neuer Ideale nötig zu haben. Von der monumentalen epochemachenden Kunst gar nicht zu reden, da eine Blüte derselben den monumentalen Zug des Geistes und Charakters eines hochstrebenden Geschlechtes zur Voraussetzung hat. Kein Wunder, daß diese ästhetischen Schnorrer ihren künstlerischen Lebensbedarf bei den Trödlern und Antiquaren zusammenfechten – ein wahrer Hohn auf alles ernste, vernünftige Sammlertum.

(In Parenthese: es ist doch rücksichtslos von dem Tempera-Frauenzimmer, mich umsonst warten zu lassen.)

Jetzt stehen die Sachen so: wie es Mode-Schneider gibt, so etablieren sich die Mode-Architekten. Diese thun ein Büreau auf. Da liegen die architektonischen Modezeitungen. Man hat alle Stilmuster auf Lager: das klassische, das gotische, das deutschrenaissanceliche, das kompromißliche u.s.w. Alle Vierteljahre schiebt man, den neuesten alten Stil als den tonangebenden in den Vordergrund: dem gehört die Zukunft!

Wie man zum Schneider geht, um sich einen Anzug nach neuester Mode zu bestellen, so geht man jetzt zum Baumeister und steckt die Nase in das letzte architektonische Modejournal und bestellt sich ein Haus nach neuester Mode.

»Sie befehlen, Herr Kommerzienrat?«

»Wünsche mir ein Haus beizulegen.«

»Sehr schön. Stehe zu Diensten. Habe die größte Auswahl.«

»Was können Sie mir als das Modernste empfehlen?«

»Hier dieses Barock, ein steinaltes famoses Muster, würde Ihnen ausgezeichnet stehen.«

»Gut. Lassen Sie das Maß nehmen. Baugrund liegt da und da.«

»Wie Sie befehlen.«

»Und bis wann kann ich das Haus haben?«

»Wir liefern in kürzester Frist fix und fertig ab. Ist die Witterung günstig, spätestens in drei Monaten. Garantie für gute Ware.«

Auch die architektonischen Abzahlungsgeschäfte kommen mehr und mehr in Schwung. Da werden im Fabrikbetrieb gleich eine ganze Anzahl Häuser fertig gestellt. In irgend einer unmöglichen, aber billigen Gegend, in der Nähe der Vororte, auf steiniger, schattenloser Ebene, wo alle Winde im Winter zusammenheulen und pfeifen, daß es ein Grauen ist, schießen plötzlich Dutzende von Häusens, gleich Pilzen aus einem Sumpfe, aus der Erde. Nun sucht das wohllöbliche Baukonsortium seine Fabrikware stück- oder wenigstens stockwerkweise an den Mann zu bringen. Natürlich gibt man dieser noch unbewohnten Ansiedlung gleich einen lockenden, am liebsten recht patriotisch klingenden Namen, z.B. Neuwittelsbach, Neugermanien u.s.w.

Und eine solche Kunst soll das Volk ins Herz schließen? Eine solche Kunst soll unsere nationalen Bestrebungen, unsere sozialen Ideale verkörpern? Eine solche Bauerei soll einen edleren, lebendigeren Zusammenhang zwischen den Menschen stiften und zur Begeisterung für höhere Ziele entflammen?

Wenn Du einmal, mein lieber Max von Drillinger, in kritischer Stimmung bist und nicht gerade in verliebten Absichten durch die Quaistraße schlenderst, bitte, betrachte Dir diesen ungeheuerlichen Häuserblock mit ästhetisch prüfendem Auge; stelle Dich unter eine der schönen alten Kastanien, die man bei der Quai-Anlage allerdings bis zum Halse hinauf in Kies eingestampft hat, so daß sie über kurz oder lang elend ersticken müssen, einstweilen aber lebensmüden Münchener Packträgern als einladende angenehme Naturgalgen zum Aufhängen dienen – und mustere einmal Haus für Haus!

Daß das Material unecht und der Sandstein nur nachgeahmt ist, wäre noch die geringste Ausstellung an diesen erlogenen Prachtbauten, die wie Schwalbennester aneinandergeklebt sind, plump und massig; aber diese Öde der Stilmengerei, diese entsetzliche Langeweile in der Linienwirkung, dieser Ungeschmack im gelben, roten, grauen, ochsenblütigen Verputz!

Und nun überschreite die Isar auf der Maximiliansbrücke und betrachte Dir am andern Ufer von der Höhe, der Gasteig-Anlagen nochmal dieses Barbarenwerk der Quaistraße, wie es mit seiner blöden, plumpen, protzenden Massigkeit die schöne, malerische Silhouette der alten Stadt zudeckt, als hätte man einen Riesenwürfel oder eine Kulisse davorgeschoben, so daß mit knapper Not noch einige ferne Turmspitzen über diese dicke wagerechte Linie am Horizonte aufragen. Und erst bei Mondschein, wie schlägt diese trostlose Ausgeburt der Architektenspekulation aller Poesie des Isar-Ufers ins Gesicht! Überhaupt die ganze Gegend der Maximiliansbrücke: ist das nicht alles wie eine Satyre auf die vielbelobte Kunststadt, die hier das schönste Stück Natur, zu den geistreichsten architektonischen Aufgaben lockend, jammervoll verpfuscht hat? Die imposante Maximilianstraße durch den schauerlichen Kasten des Maximilianeums in eine »innere« und »äußere« auseinandergerissen, hart an der Brücke auf der Praterinsel eine Schnapsfabrik, weiter hinauf eine stinkige Fell-Niederlage, eine Gipsmühle u.s.w. u.s.w.! Was ließe sich hier Herrliches schaffen, wenn die Isar einmal aus ihrem Bette treten und diese Schandgeschichten fortspülen wollte!

Aber ich weiß, ich entrüste mich vergeblich: um eines holden Weibes willen, das dort zwanzig Schritte von der Brücke aus einem Eckfenster Dir heimliche Liebesgrüße und verheißende Liebeszeichen zuwinkt, – nichtwahr, ich bin gut unterrichtet? – spottest Du aller Architekten-Phantasieen und erklärst die Quaistraße an der rauschenden Isar für das größte und schönste Bauwunder der Welt.

Und wenn Du noch einer seligen Stunde am Busen des süß verbuhlten Weibes im nächtlichen Sternenschein heimwandelst, isaraufwärts, am baufälligen Torf-Magazin mit dem hohen, windschiefen Ziegeldach, am alten Ketterl- und grünen Baum-Wirt und an der schweren Reiterkaserne vorüber, immer den rauschenden Fluß, mit seinen hochwaldduftigen Flößen zur Linken, weiter und weiter bis unter die hochragenden Uferbäume an der Auenstraße: da ziehen Dir andere Märchen durch die Seele, als die ich hier träume mit offenen Augen, auf der Höhe des neapolitanischen Vicoletto del Petrajo gegenüber dem Vesuv, im sehnsüchtigen Gedenken an die ferne bayerische Heimat.

Ah, es hat ausgeblitzt und ausgedonnert. Es ist, als ob die ganze Spektakel-Maschinerie im Krater des Berges, des alten Feuerspeiers, versunken wäre. Darüber hin schweben, ziellos, planlos, wie vergessen, einige Wolkenfetzen. Der Himmel hat eine Regenmiene aufgesetzt. Das ist immer das nasse Ende vom Lied, aber es ist ein gutes, erfrischendes Ende. Man kann dabei wieder aufatmen.

Mir selbst ist jetzt so wohl und leicht, nachdem ich mich ausgegrollt, und bei Gott, wenn jetzt plötzlich meine bayerische Landsmännin hereinträte, die jungfräuliche Flora Kuglmeier, ich wäre im stande, sie in die Arme zu schließen und an die vaterländische Brust zu pressen, daß uns beiden Sehen und Hören vergehen sollte.

Flora Kuglmeier scheint mich mit ihrer Besuchs-Zusage für diesen Vormittag positiv zum Besten gehabt zu haben. Eigentlich gefällt mir das von dem zarten und doch so eigenwilligen Ding; ja, es imponiert mir sogar. Dieses eigentümliche Persönchen mit seinem blonden Falkenköpfchen fängt an, einen unheimlichen Reiz auf mich auszuüben. Ich nehme mich schon ordentlich zusammen in ihrer Nähe. Ihr langer, kritischer Blick hat etwas Beängstigendes; sie hat eine gewisse Art, mit ihren dunkelblauen Augen Fragen zu stellen, daß man sich selbst, bei Gott, ganz fragwürdig vorkommt. Und ich, der ich gewohnt bin, das weibliche Geschlecht so schopenhauerisch von oben herab zu nehmen! (In Parenthese: Brigitta galt mir stets als eine große Ausnahme; ihr schlichter, starker Sinn, ihr hausmütterlich treues Walten, ihre Entsagungskraft – ja, da gehe Einer hin und thue desgleichen!)

Mein lieber Max v. Drillinger, gemütreicher Leichtfuß, spitzfindiger Phantast, pessimistischer Optimist, Mann der Widersprüche, Zusammenreimer von Ungereimtheiten – ist das genug auf einmal? – was wärst Du, ohne Brigittas Herz, diesen festen Schlußstein im luftigen Gewölbe Deines Lebensbaues?

Ich lege nun einen Eid darauf ab, daß mich die Tempera-Malerin mit Wissen und Willen gefoppt hat und schmiere ruhig Briefbogen um Briefbogen voll; ich tilge nicht nur Briefschuld, sondern kapitalisiere, damit ich für den Rest meiner Italiafahrt von epistolarischen Renten leben kann und Dir überhaupt nicht mehr zu schreiben brauche. Wenn ich Flora Kuglmeier auf diesem Stern jemals wiedersehe, werde ich sie überzeugen, daß sie mir mit ihrem Wortbruch einen nützlichen Dienst geleistet hat.

»Fragwürdig« habe ich oben gesagt. Ja, eigentlich sind wir zwei, Du und ich, fragwürdige Kerls, d.h. Du hauptsächlich, ich viel weniger. Schon deshalb, weil ich jetzt fest entschlossen bin, bei der Stange zu bleiben, mir im Leben nichts mehr gefallen zu lassen, was meine Thätigkeit stören oder beeinträchtigen könnte, und schließlich als freier Mann zu irgend einem schönen Fleck Erde in der bajuwarischen Heimat zu sprechen: »Hier ist gut sein, hier laßt uns Villen bauen!«

Fräulein Flora, wie gefällt Ihnen der Scherz?

Das ist zwar noch alles ziemlich kompliziert, aber ich stehe für mich ein, daß ich hinausfinde. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg – das Wort soll nicht bloß für Amerikaner gesprochen sein.

Aber Du? ...

Wille und Weg, wohin sollen sie schließlich führen? Zur Berühmtheit, zur Unabhängigkeit und Herrschaft großen Stils, zu Reichtümern und allem, was damit zu erwerben?

Was damit zu erwerben? Käuflich ist heute nahezu alles. Leider. Und das verdirbt dem feineren Ehrgeiz alle Freude. Erstreben was jeder reiche Lump haben kann, ist das noch erstrebenswert für den raffinierteren Kopf? Gewährt uns das noch eine höhere Befriedigung, was für jeden aus der gemeinen Herde erreichbar ist, sobald ihm das große Los zufällt?

Aufgepaßt: das wäre ungefähr Dein Gedankengang, nicht Dein eingestandener, sondern Dein geheimer – und das ist just nicht der meine.

Ich will mich einfach ausarbeiten und ausleben; ich will beweisen, daß ich eine Kraft bin. Die kleinen Hilfsmittel und Verzierungen des Lebens kümmern mich wenig, sofern sie nicht eine besondere Verstärkung meiner Kraft bedeuten. Ich will meine eigenen Werte prägen: ich will meine höchstpersönliche Meinung vom Glück allen andern Meinungen gegenüber zur Geltung bringen. Großzügig, siehst Du; monumental in Gesinnung!

Nun glaubst Du aber selbst, daß die geheimnisvolle Flora Kuglmeier heute nicht mehr zu mir kommt, so heiß auch meine – Neugierde sie ersehnt, nichtwahr? Krampfhaft halte ich die Feder und schreibe fort, wütend, zähneknirschend – wenn nur kein Handschriftendeuter diese Blätter jemals in die Klauen bekommt und Dir mit dem Tüpferl auf dem I und dem U-Häuberl und dem andern Schnickschnack beweist, daß der Schreiber ein rasend verliebtes Rhinozeros gewesen. Da thäte ich mir selbst leid. Denn gerade meine Schreibfuria soll ja bezeugen, daß ich nur kraft körperlichen Zwanges in dem Vicoletto del Petrajo, einer Steinbruchgasse hoch über Neapel, hause, hingegen mein Geist bei Dir weilt an der rauschenden Isar, bei Dir, Max v. Drillinger, dem unausstehlichsten Freunde, den mir Gott in seiner unergründlichen Gnadenlaune beschieden.

Träte Fräulein Flora Kuglmeier jetzt plötzlich durch die verschlossene Thür zu mir, oder schwebte sie über den Balkon leise herein, oder senkte sie sich vom Plafond herab, etwa am Faden eines Spinngewebes, oder tauchte sie aus der schwarzen Tiefe meines Tintenfasses auf – Du wirst's erleben, daß sie nichts dergleichen thut – aber angenommen: ich versichere Dir, ich bliebe kalt wie eine Hundenase und plauderte ganz gelassen da weiter, wo ich gerade mit der Feder aufgehört.

Also von Dir, Unvergleichlicher!

Komisch. Sie erzählte mir neulich aus ihrer Lehrerin-Vorbereitungszeit von einem Examen, das ihr die erste Auszeichnung eingetragen, eine Prämie in der Physik, weil sie so gründlich und anschaulich die Gesetze von der Anziehung der Körper dargelegt habe.

Anziehung der Körper, welch' ein Thema für eine junge, feurige, geistreiche Dame! Freilich muß es schon recht lange her sein, da sie selbst so wenig mehr von der Wirkung dieses interessanten Gesetzes verspürt. Oder sollte mein Körper alle intimere Anziehungskraft verloren haben? Sollten keine geheime Kräfte mit siegender Allgewalt sich Bahn brechen zu der entfernten Ersehnten, daß sie dem Zwange der Natur sich füge? Und heute ist Josephitag!

Wie ganz anders haben wir gewirkt in unserer Jugendjahre Maienblüte, guter Max! Neulich, in einer schlaflosen Nacht, habe ich die Flammen rekapituliert, die ich einst als studentischer Schmetterling umgaukelte. 

Wieder ein Beweis, was ich für eine treue Seele: ich habe im Stillen den Lebenslauf dieser unschuldigen Kinder verfolgt. Die Beobachtung ergab seltsame Resultate. Die dicke, runde Klara, die Bräumeisters-Tochter, ist mit einem Kassier verduftet; Seraphine aus der Sendlingergasse hat ihr Herz an einen Pfaffen gehängt und hat sich aus mystischen Gewissensskrupeln in der Isar ertränkt; die sentimentale Amalie der Professorswittwe Streuhuber ist eine tüchtige Geschäftsfrau geworden und verkauft Hosen an die Landshuter Garnison; Fanni Kranzler vom Rochusberg hat sich dem Trunk ergeben und ist im Irrenhause gestorben; die rabiate Bella ist zuerst Komödiantin und dann eine resolute Pensionatsmutter geworden. Was für Lebenswendungen!

Und unsere Jugendeseleien! Noch nicht hinter den Ohren trocken, wollten wir berühmt werden und die Augen von ganz Europa – oder wenigstens von unserm Stadtviertel auf uns lenken. Berühmt werden! Jeden Morgen war die erste Frage: wie fangen wir's an? Und dabei erreichten wir zunächst, daß wir beim Examen mit Pauken und Trompeten durchfielen. Dann wiederum: sollen wir fünfaktige Dramen schreiben, um schneller ans Ziel zu kommen, wenigstens öffentlich ausgepfiffen zu werden, oder eine neue Religion oder ein neues Schießpulver erfinden, um der Menschheit ein ungeahntes Heil zu bringen? Mit unserer Sehnsucht nach der Heilandschaft verband sich nur ganz selten die sehr praktische Erwägung: Berühmtheit bringt Moneten, jene Berühmtheit, welche von den Kindern einer materialistischen Zeit als die überhaupt allein erstrebenswerte betrachtet wird. Unser Sinn ging zunächst immer, dieses Lob dürfen wir uns nicht versagen, auf etwas Schönes ohne Hinterlist, etwas Reinliches ... Zum Teufel auch, hätten wir doch wenigstens Richard Brands Schweizer-Pillen erfunden!

Da fällt mir eben etwas sehr Menschliches ein: wenn Fräulein Flora Kuglmeier krank geworden wäre? Wir haben gestern bei einem Ausfluge eine Menge Zeug durcheinander gegessen: Orangen, Makkaroni, Salat, Würste, Feigen ...

Ich werde mich ankleiden und im Gasthofe nach ihr sehen. Sie wohnt da unten, dem Meere zu, in einem Kranze blütenreicher, duftiger Gärten, Rione Principe Umberto. Ich bin ganz gerührt, wenn ich mir das liebe Kind leidend denke, im Bett vergraben, mit der Kolik, der Ruhr oder sonst einer wüsten Krankheit ringend; das Gesichtchen bleich, verzagt, von einem weißen Häubchen umrahmt; auf dem Nachttischchen eine herabgebrannte Stearinkerze in einem grünspanfleckigen Messingleuchter mit zerbrochener Glasmanschette, daneben halbleere Medizinflaschen in allen Größen und Farben. Hilfesuchend streckt sie mir aus der Decke ihr feines, vom Fieber brennendes Händchen entgegen ...

Ja, ich will gleich hinuntergehen. Ich erfülle eine heilige Menschenpflicht. Das hätte ich eigentlich schon vor einer Stunde thun sollen. Statt an diesem unnützen, überflüssigen, ungeheuerlichen Brief zu schreiben, für den ich doch keinen Dank ernte, höchstens eine mokante Kritik.

Trotzdem will ich zum Schlusse auch Dir gegenüber das Maß meiner Güte voll machen und Dir zu Deinem bevorstehenden Geburtstage gratulieren – ich merkte ihn, weil er in den kalendermäßigen Frühlingsanfang fällt, worauf Du Dir in grenzenloser Eitelkeit immer so viel zu Gute thatest, obwohl Du diesen Datums-Vorzug mit einigen Millionen anderer Menschenkinder teilst, hochgeborener Max von Drillinger. Da ich Dich nun einmal mehr liebe, als Du verdienst, und das Schicksal – die präsumptive Krankheit – meiner armen Flora mich in weiche Stimmung versetzt, hat, so will ich ein ganzes Füllhorn innigster Wünsche auf Dein edles Haupt ausgießen. Möge das neue Lebensjahr all' die Wechsel – so warte doch mit Deiner nervösen Grimasse! – all' die Wechsel – einlösen, welche Dir das alte auf Glück ausgestellt haben sollte. Im Übrigen kannst Du bleiben wie Du bist; Du bist mir drollig und amüsant genug. Ziehe aus dem Umstande, daß die Zahl Deiner Jahre um eins vermehrt wird, nicht den voreiligen Schluß, daß Du älter geworden seist. Ich weiß, man ist gerade an solchen Tagen zu so jammerhaften Meditationen geneigt, und besonders Leute, die wie Du gar kein Talent zum Altwerden haben, sind's am meisten.

So. Und jetzt lass' mich gefälligst in Ruhe. Schreib' mir gelegentlich, was die Isar neues rauscht, wie's der tapfern Brigitta geht, der bewundernswerten Heldin, die das Unerträglichste erträgt – Dich!

Gott mit uns. Amen.

Mit Schwert und Eichenlaub

Dein getreuer Joseph Zwerger.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Nachschrift. Zwei Stunden später. Flora Kuglmeier ist gekommen, Flora Kuglmeier ist gegangen; sie ist frisch und gesund, der Name des Herrn sei gelobt! In die Arme sind wir uns zwar nicht gesunken, aber das kommt noch. Sie! ist ein wunderbares Geschöpf. Ein Charakter! Da läßt sich daraufbauen. Ich habe mich nicht enthalten können, sie auszuforschen: sie kennt Dich nur vom Hörensagen, aus weiter Entfernung. Das gereicht mir zu großer Beruhigung. Nun hab' ich ihr zum Dank viel Gutes von Dir erzählt.

Entsetzlich war's, daß ich vor Zerstreuung, Eile, freudigem Schreck u.s.w. im Hemde die Thür öffnete. Je nun, Flora hat nicht aufgeschrieen, ist nicht in Ohnmacht gefallen – sie hat den Anblick ertragen wie ein Mann! Das werde ich ihr all' mein Lebtag nicht vergessen.

Die Vorstellung im Gärtnerplatztheater war zu Ende. Jung-München lärmte heraus.

Der Schwarm der Besucher hatte sich bis auf wenige Nachzügler im urbajuwarischen Gaslichthalbdunkel der von der Rotunde strahlenförmig auslaufenden, schön langweilig nach der Schnur gebauten Straßen mit allmählich verhallendem Geräusch von Menschenstimmen, Massenschritten und Wagengerassel verloren. Die Kandelaber an der Freitreppe des Theaters wurden gelöscht und die Thüren geschlossen. Die Feuerwehrmänner mit ihren blitzenden Helmen marschierten in militärischem Tempo und kräftigem Absatzaufschlag davon.

Ehrsame Nachtstille lagerte wieder über dem dämmerigen Platz und träumte in den schwarzen Wipfeln der Kastanienbäume, welche die statuengeschmückte Rotunde umsäumen.

Aus dem Seitenausgang des Theaters gegen die Klenzestraße war eine elegant in Kapuze und Mantel gehüllte Dame in eine wartende Droschke gestiegen. Der wohlabgerichtete Kutscher fuhr langsam die Theaterseite hin und zurück, bis endlich behenden Schrittes eine Männergestalt den Platz durchquerte, direkt auf den Wagen zueilte und den Schlag öffnete.

»Aber Max, wie konntest Du mich wieder so lange warten lassen!« erklang zärtlich vorwurfsvoll eine tiefe Frauenstimme aus dem dunklen Wagengehäuse. »Rasch herein!«

»Den alten Weg,« rief der Herr zum Kutscher hinauf und schwang sich zu der vor Ungeduld und verliebtem Begehr fiebernden Dame in die Droschke. Kaum war die Thür geschlossen, so fielen auch schon die Gardinen und das Liebesgespann – nahm den alten Weg. Hü, hot!

»Natürlich war er's wieder, Max v. Drillinger, der Heißbegehrte,« höhnte eine meckernde Baßstimme aus einer Gruppe, die beobachtend im Dunkel der Hausecke den Vorgang verfolgt hatte.

»Kein Zweifel.«

»Die Abfahrt stimmt. Der Rest läßt sich denken.«

»Wie gewöhnlich hat die kluge Dame ihren eigenen Wagen heimgeschickt mit der Erklärung, sie ziehe bei dem schönen Wetter den Spaziergang vor, die Nachtluft werde ihr wohl thun und so weiter.«

»Wird ihr auch wohl thun.«

»Sehr wohl. Der Drillinger versteht sein Metier als patentirter Frauentröster.«

»Wie der brave Gatte in der Quaistraße – sprich auf münchenerisch: G'weih-Straße! – sein Metier als König Menelaus versteht.«

»– Laus der Gute, – Laus der Gute –« spottete der Dritte, den Offenbachschen Refrain aus der »Schönen Helena« summend.

»O, der hat als richtiges Ehe-Trampelthier eine Elephantenhaut. Alle Pfeile des Spottes auf dem letzten Faschingsball im Hoftheater sind wirkungslos abgeprallt.«

»Und es sollte kein Mittel geben, ihm die Augen zu öffnen?«

»Er gehört zu jenen Blinden, die nicht sehen wollen. Und die sind inkurabel.«

»Bah, man müßte ihn nur bei den Ohren nehmen und einmal der Katze die rechten Schellen anhängen.«

»In der Presse?«

»In dem berüchtigten, ›Vaterland der schönen Seelen‹, Organ für sittliche Unterhaltung und Belehrung der Wachtstuben- und Kasernenwanzen?«

»Das ist abgeschmiert. Die kluge Donna ist eine zahlungsfähige Klientin der Revolverpresse unserer königlichen Haupt- und Residenzstadt.«

»Ein Versuch wäre doch zu machen. Aber welcher reinliche Mensch mag sich mit solchen Schmieranten und Preßbanditen einlassen?«

»Ich! Reinlichkeit in Ehren, aber gibt es nicht Zangen, mit denen sich auch das Schmutzigste anfassen läßt? Gibt es nicht Mittelspersonen? Das sind zwar auch Hallunken, aber wenn's einmal nicht anders geht! Dem Drillinger muß endlich ein ordentlicher Prügel zwischen die Beine geworfen werden.«

»Einverstanden. Das wird wenigstens eine Abwechslung sein für seine verehrten Beine. Also überlegen wir das Geschäft!«

»Preis ist Nebensache!« spottete der Dritte.

Die Gruppe entfernte sich durch den dunklen Portikus, überschritt die Reichenbachstraße und trat in das Café Paul, dem Stelldichein der Theaterbummler und Nachtschwärmer des Gärtnerplatz-Viertels.

Auf dem Asphalt unter den Kastanienbäumen promenierten mehrere Studenten, schweigend ihre Zigaretten rauchend und die Pferdebahn erwartend.

»Ich muß sagen, nach der ›Nacht in Venedig‹ mit der entzückenden Straußschen Musik verspreche ich mir wenig von dieser Nacht in München, die Ihr mir zum Besten geben wollt«, nahm eine schlanke Gestalt mit ein paar Schelmenaugen im träumerischen Siegfriedskopfe die Rede auf. »Eine Gondel auf den Lagunen und eine Droschke auf dem Münchener Pflaster – wer weiß mir lächerlichere Gegensätze?«

»Und eine Droschke, die nie zu haben ist, wenn man sie braucht, und zu deren Ersatz man auf eine Trambahn wartet, die nie ankommt.«

»Ihr Norddeutschen könnt eben unser herrliches München nur in kritischer Sauce genießen. Das ist zwar fade für unsern Gaumen, aber wir haben uns daran gewöhnt.«

»Nun hören Sie einmal, Kuglmeier, die Rheinländer sind nicht so norddeutsch, wie Sie glauben und meine Wiege hat bekanntlich in der großen Pfaffengasse am Rhein gestanden,« protestierte der träumerische Siegfriedskopf und schob seinen Arm unter den seines Münchener Kameraden. »Wir Rheinländer wissen zu leben und leben zu lassen. Wir sind die gemütlichsten Kerls.«

»Na, und wir Münchener erst!«

Das brachte der kleine Kuglmeier so drollig heraus, daß alle lachten.

»Na, und diese Luft, direkt aus Italien, von einer Weichheit ...«

»Als ob sie Deine Schwester Flora in Neapel extra für uns präpariert hätte.«

»Also heute nicht raisonnieren!« hob wieder der Rheinländer an. »Nehmen wir Kuglmeiers Münchener Nacht, wie sie ihm Gott beschieden hat; trinken wir noch Eins, scherzen mit hübschen Mädchen womöglich – plaudern, faseln, kannegießern, aber warten wir nicht länger auf diese marode Pferdebahn!«

»Dort kommt sie schon herangekrochen mit müdem Geklingel.«

»Wir haben noch gar kein Vergnügungs-Programm gemacht!«

»Das laßt meine Sorge sein,« rief Kuglmeier.

»Da kann's uns nicht fehlen. Kuglmeier ist die rechte Hand des Zufalls,« bemerkte der Mediziner Stich, der auf den Kneipnamen Hippokrates hörte.

Der einspännige blauweiße Kasten rollte vorüber, die jungen Herren sprangen einer nach dem andern auf die Plattform. Im Innern saßen, beschienen von der gelben Laterne, zwei etwas auffallend geputzte Mädchen, eine stumpfnäsige Brünette und eine langnäsige Blondine, beide mit exzentrischen Hüten aus hochgestülptem, schwarzem Filz und steifen, gespreitzten Federn, wodurch die ermüdeten Gesichter etwas gewaltsam Kühnes und Herausforderndes erhielten. Fest im straffen Korsett sitzend, die Beine übereinander geschlagen, mit den Stiefletten klopfend, die einen kräftigen, aber wohlgeformten Fuß umspannten, wandte sich die Brünette mit einer raschen Bemerkung ans Ohr der Blondine, worauf diese mit einem schmachtenden Blick auf die Plattform antwortete. Als Fortsetzung unterdrückte sie ein Gähnen, hielt die gelbgantierte Hand muschelförmig über den Mund und flüsterte: »Hunger hab' ich.«

»Und ich Durst. Prost Mahlzeit!« kicherte die Brünette und gähnte gleichfalls mit Anstand.

»Wohin fahren die Herren?« fragte der Kondukteur.

»Ja, wohin fahren wir gleich –« meinte Kuglmeier mit komischer Unsicherheit.

»Der rechte Führer! Prädestiniert für den deutschen Generalstab! Du lieber Gott, Damen haben überall den Vortritt: wir fahren den Damen da drinnen nach!« vermittelte lachend der Rheinänder und seine Schelmenaugen umspielten einladend die beiden Mädchen, denen die Geschichte offenbar gar nicht übel gefiel, denn sie stießen sich an, schlugen die Augen à tempo halb nieder und zwinkerten durch die Lidspalte mit leisem Kopfnicken dem munteren Sprecher zu.

»Also geben Sie uns für zehn Pfennige pro Mann,« sagte Kuglmeier trocken und steckte dem Kondukteur ein halbes Markstück in die Hand.

Der Wagen durchrollte die lange Reichenbachstraße und hielt an der Haltestelle bei der Einmündung in die Frauenhoferstraße. Niemand machte Miene zum Aussteigen. Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Eine leichte Steigung gegen die Reichenbachbrücke veranlaßte den Kutscher langsamer zu fahren; auf der Brücke angekommen, einem alten Balkengerüst von der architektonischen Schönheit der Pfahlbauzeit, ließ der Kutscher sein Pferd vorschriftsmäßig im Schritte gehen. Der müde Schimmel, dankbar für diese ortspolizeiliche Vorschrift, streckte den Kopf rechts und links, pustete seinen glühenden Atem in die schwarze Nachtluft hinaus, daß weiße Nebel um seine Nüstern sprühten, hob den Schweif und blieb mitten auf der Brücke stehen, um ein natürliches Bedürfnis zu befriedigen.

Die Mädchen stießen sich wieder an, zupften ihre exzentrischen, hochgestülpten Filzhüte mit den gespreitzten Federn zurecht – und benützten den unfahrplanmäßigen Halt zum Aussteigen.

»Erlauben Sie, daß wir die schöne Gelegenheit bei der Hand ergreifen,« sagte der Rheinländer galant und erhaschte die flinke Brünette bei den Fingerspitzen, zog damit ihren Arm an sich und, mit ihr gleichzeitig den Boden betretend, schlang er als vorsichtiger Ritter noch seinen Arm um ihre Hüfte, damit sein Schützling auf der schlecht beleuchteten Brücke ja nicht zu Fall komme.

Die übrigen Kameraden, elektrisiert von seinem Beispiel, wollten sich gleichzeitig um die Blondine bemühen, aber da kam einer dem andern in die Quere, das Pferd zog plötzlich an und der kleine Kuglmeier blieb mit dem Absatz am Tritteisen hängen, fiel und drückte die lange Blondine mit zu Boden.

Die Brünette schrie und lachte zugleich, sich fest an den Rheinländer drückend, der sie im ersten Schreck mit beiden Armen umschlang, während die Andern im Rettungseifer blind dreintappten – merkwürdigerweise keiner nach Kuglmeier, alle nach dem Mädchen! – und der eine ein Bein, der andere einen Arm, der dritte den Federhut erwischte.

»Hippokrates vor!« rief der Rheinländer.

Inzwischen hatte sich die Blondine in die Höhe gearbeitet und lachend den kleinen Kuglmeier mit aufgezogen.

»Hippokrates, walte Deines Amtes! Biete der Gefallenen Deine hilfreiche Kunst!«

Die Brünette hatte sich mit einem letzten zärtlichen Druck von dem Rheinländer losgemacht, um ihrer Freundin die Kleider und den Hut ordnen zu helfen.

»Ach, es ist gar nichts,« versicherte die Blondine mit dem besten Humor von der Welt.

Hippokrates ließ sich aber dadurch nicht abhalten, als gewissenhafter Medizinmann seine Pflicht zu erfüllen. Er strich und tastete und drückte mit beiden Händen an dem Mädchen herum, das sich nur zum Schein gegen so sachverständige Sorgfalt wehrte. Die Brücke war menschenleer; die kleine Gesellschaft stand allein in ihrer abenteuerlichen Intimität da, über sich den schwach besternten Wolken-Himmel, unter sich die rauschende Isar, ringsum die dunkle, laue Nacht, in welche die Gasbeleuchtung diskrete Lichtpünktchen säete.

Der emsige Hippokrates ließ sich auf ein Knie nieder, nahm die Fußknöchel der Blondine zwischen Daumen und Zeigefinger, frottierte mit der Hand hurtig bis an die halbe Wade hinauf – und »Eine Röte, eine verdächtige Röte! Thut's weh?« rief er und erfaßte das Strumpfband.

»Was Röte! Das ist ja die Farbe des Strumpfes!« rief lachend das Mädchen. »Sie sind mir ein schöner Doktor –« und mit einem Ruck entzog sie ihm das Bein.

Allgemeine Heiterkeit. Der Heiterste aber war Hippokrates: er richtete sich hoch auf und schwang triumphierend das Strumpfband.

»Nein, ist das lustig!« und die Brünette hüpfte wieder zu ihrem Ritter, der ihr galant den Arm bot.

Der Rheinländer mit den glücklichen Schelmenaugen hob jetzt mit kömischem Pathos an: »Meine Herrschaften, danken wir unserem Freunde Kuglmeier für die ungeheuere Geschicklichkeit, mit welcher er dieses ebenso erschütternde wie angenehme Ereignis inszeniert hat. Er ist der Mann der Überraschungen und stets Herr der Situation.«

»Bravo! Bravo!«

»Da wir nun in anbetracht der vorgerückten Stunde die Damen nicht mehr allein ihrem Schicksale überlassen dürfen ...«

»So bleiben wir hübsch beieinander,« fiel Kuglmeier ein und machte sich begehrlich an die lange Blondine, die sich in schwachen Anstrengungen gefiel, von dem glühenden Hippokrates ihr Strumpfband wieder zu erlangen.

»Ausreden lassen!«

»So finde ich es schicklich, daß wir uns den Damen zunächst vorstellen. Hier der Medizinmann Herr Stich, Herr Kupfer, genannt der ›große Schweiger‹, Herr Schlichting, der ›Einsame‹, Herr Kuglmeier und meine Wenigkeit, der ›große Unbekannte‹, der in diesem Augenblicke gar nicht weiß, in welcher wildfremden Gegend er sich befindet.«

»Wir sind Blumenmädchen,« lachte die Brünette.

»Aus der Nacht in Venedig – oder aus Parsifal? – Zauberhaft!«

»Nein, – aus dem Bellingerschen Atelier. Ich mache Blätter und Blüten und die Nanni die Stiele.«

»Noch zauberhafter.«

Helles Gelächter.

Der als Herr Kupfer, der »große Schweiger« Vorgestellte, wollte nun die Last seiner Gefühle in dieser närrischen Frühlingsnacht auch nicht länger stumm bei sich tragen. Die Dunkelheit machte ihn so kühn, daß er sich mit allerlei phantastischen Griffen an des Rheinländers Schützling heranzuschlängeln mühte. »Ja, sehen Sie, holde Wunschmaid und Blütenfabrikantin, wir sind ganz unschuldige Säuglinge der Wissenschaften und schönen Künste.«

Aber die Brünette wehrte ab: »Bitte, Sie scheinen mir im Gegenteil ein ganz verflixtes Schweinchen zu sein.«

Die Lebhaftigkeit der Unterhaltung und der Gesten hatte das Auge des Gesetzes angezogen das jetzt in Gestalt zweier Gendarmen feierlich beobachtend im Dunkel auftauchte und den Raum der Brücke durchmaß.

Die Gesellschaft war an die Ballustrade getreten, an eine Stelle, wo dichtere Finsternis herrschte.

»Orientieren wir uns. Herr Kuglmeier, urmünchenerischer Ansiedler, leihen Sie uns Fremdlingen Ihr Licht!«

Nun wollte sich der kleine Kuglmeier aus Rache für sein Mißgeschick auch einige Witze leisten. Er warf sich in Positur und brachte folgenden Unsinn zustande:

»Wir sind in Bajuwariens nächtigsten Gefilden. Dort im Süden dehnt sich der furchtbare Urwald von Harlaching- Thalkirchen- Großhessellohe-Höllrieglskreut, durchströmt von dem wildesten und gefährlichsten aller Alpenflüsse. Rätselhaft ist sein Wesen gleich dem Acheron und unheilvoll ist sein Wasser. Wer unbedacht hineinfällt, ersäuft, wenn ihm nicht der Magistrat einen Rettungsbalken zuwirft; und sitzt er auf dem Rettungsbalken, so erfriert er, wenn ihm nicht die barmherzige Kathi vom Beisel in der Wasserstraße einen steifen Grog hinüberbringt. Hier, rechts, sehen Sie eine der gewagtesten menschlichen Ansiedlungen, Monachia, die Stadt der Mönche und anderer Klosterbrüder und ungeschundener Raubritter; links die Au, die sich an einem Nebenflusse der Isar, am duftigen Entenbach, zu einer der größten und elegantesten Villenstädte europäischer Biersümpfler zu entwickeln verspricht; ferner flußauf und -abwärts zwischen dem Ufer und den menschlichen Wohnstätten dehnen sich Promenaden, Alleeen, Gärten, Haine, Wiesen, Mist- und Schutt- und Eisplätze in lieblichem Wechsel, allwo die große heidnische Göttin im Schutze der Nacht ihren Gläubigen die Opferstellen anweist ...«

»Haltet ihm den Mund zu!«

»Was sind das, Opferställe?«

»Opferstellen! Das werdet Ihr heute Nacht zum hundertundsoundsovielten Male praktisch expliziert bekommen, geliebte, keusche Mädchen.«

»Ich verbitte mir solche Randglossen zu meinem Vortrage!« schrie der kleine Kuglmeier, als der Medizinmann Stich die fragende Blondine in die Arme schloß und leidenschaftlich küßte.

»Alle Wetter, Kuglmeier ist eifersüchtig,« spottete der ›große Schweiger‹, noch verstimmt über seinen Mißerfolg bei der braunen Blütenmacherin mit der lustigen Stumpfnase.

»Ich eifersüchtig? Das wäre geradezu beleidigend, wenn ...«

»Kinder, nehmt Vernunft an, die Gendarmen sind in der Nähe. Deren Zartgefühl erträgt solche Scherze nicht. Da kommt auch eine Droschke mit ehrbaren Spießbürgern, skandalisiert sie nicht! Seid dezent!« mahnte der Rheinländer spöttisch, während er mit der Hand seines um die Taille der Brünette gelegten linken Armes den vollen straffen Busen streichelte, daß das Mädchen erregt aufseufzte und in heißem Schmachten sich förmlich in die Feuer und Leben atmende Gestalt des blonden Recken vergrub.

»O, seht hin, die Gardinen zugezogen; ein Ehebett auf Rädern!«

»Ich erkenne den Kutscher; er nahm am Gärtnerplatztheater ein heimliches Pärchen auf.«

»Hetzen wir die Gendarmen darauf!«

»Willst Du gleich stille sein, Kuglmeier?«

»Kutscher, Sie haben wohl etwas Zerbrechliches in dem Fuhrwerk? Schreiben Sie doch ein anderesmal ›Vorsicht‹ auf Ihre Kiste!«

»Ich habe Hunger. Was stehen wir länger da herum? Davon werd' ich nicht satt,« platzte Nanni heraus, die zarte Stengelfabrikantin. »Komm, Mali!«

»Also gehen wir hinüber in die Wasserstraße, in den Isarhof?« fragte Kuglmeier.

»Ich bin zu allen kulinarischen Schandthaten bereit, obwohl ich keinen Hunger habe; nur endlich los!« setzte der Rheinländer kräftig ein.

»Nein, nicht in die Wasserstraße,« protestierte Mali; »da hält man uns für nichts Rechtes, da streunen lauter schlechte Frauenzimmer herum.«

»Dann gehen wir auf die andere Seite, durch die Anlagen mit den hübschen Sitzgelegenheiten – oder über das Muffatwehr, das ist auch romantisch und führt auf die Kohleninsel, eine sehr poetische Gegend.«

»Da mag ich nicht hin,« fiel jetzt wieder die blonbe Nanni ein; »da drüben ist's auch nicht geheuer, und die Gendarmen haben bereits ein Auge auf uns geworfen – dort stehen sie immer noch und passen. Ich fürcht' mich. Mit der Polizei mag ich nichts zu thun haben.«

»So bleibt uns nichts übrig, als in die Isar hinabzuspringen und schwimmend ein sicheres Ufer zu suchen,« bemerkte der Rheinländer ungeduldig.

»Schwimmen? Ja, Schnecken. Da dank' ich. Das ist wirklich stark. Am Ende macht's Ihnen noch Spaß, uns in's Wasser zu werfen! In der Isar sind schon so viele Mädchen umgekommen. Verliebte Mannsbilder mit lauter Redensarten, das sind mir die Rechten! Die sind zu allem fähig!« Mali machte sich vom Arm ihres großen Unbekannten los: »Ich glaube wirklich, die Herren halten uns zum Besten? Prosit Mahlzeit, suchen Sie sich andere dazu aus. Komm, Nanni!«

»Ja, wohin denn?« rief der Rheinländer verdutzt. »Na, das ist komisch.«

Die Mädchen aber schritten tapfer fürbaß, ohne sich umzublicken, an den Gendarmen vorüber, gegen die Au zu. Die Studenten blickten eine Weile den Flüchtigen betroffen nach, dann brachen sie in ein Gelächter aus, aus welchem ebensoviel Enttäuschung wie ärgerliche Spaßhaftigkeit schallte.

Nur einer fand das Wort für die Situation, Schlichting: »Es geschieht uns recht.«

»Der gute Mensch! Uns sagt er – und er hat wahrhaftig von der ganzen Geschichte am wenigsten gehabt,« meinte der Rheinländer treuherzig. »Aber was jetzt thun, Kuglmeier, rechte Hand des Zufalls?«

»Jacta est alea.«

»Ein klassisches Wort. Das stimmt. Aber es hilft uns nichts. Wir können doch nicht so heimtrollen, ohne etwas für die Unsterblichkeit und unser Vergnügen gethan zu haben?«

»Über lauter Narretei habt Ihr vergessen, einen Blick in diese wunderbare nächtliche Flußlandschaft zu thun,« nahm jetzt der stille Schlichting wieder das Wort, über die Ballustrade gelehnt, während die Kameraden heftig vor ihm auf und ab marschierten zwischen zwei Laternenpfählen und beratschlagten, was ferner zu unternehmen sei.

»Die Kneipe? Nein, das ist mir zu öde,« sagte der Rheinländer. »Eine solche milde Frühlingsnacht in der dumpfen Stube?«

»Ich wette, sie erwarten uns da drüben, in einem grünen Versteck der Anlagen. Es war nur eine Finte, der Gendarmen wegen. Wir sollten uns die Geschichte nicht so entschlüpfen lassen.«

»Donnerwetter, es waren doch ein paar patente Mädels mit einer pikanten Nüance ins Verdrehte, Phantastische.«

»Eigentlich that einem die Wahl weh; ich konnte mich gar nicht schlüssig machen, welcher von beiden ich meine spezielle Neigung zuwenden sollte,« behauptete Kupfer mit Wärme.

Der Rheinländer biß sich bei diesen Worten leicht auf die Zunge. »Na, höre!«

»Hast Du das Strumpfband noch?«

»Habe gehabt. Nicht einmal diese bescheidene Trophäe haben wir gerettet. Es ist zu dumm.«

»Eigentlich sind wir die Genarrten. Männer der frischen, fröhlichen That hätten ganz anders gehandelt. Die Mädchen müssen uns für rechte Gimpel halten.«

»Wir haben die schöne Gelegenheit verschwatzt.«

»Was hält uns denn ab, das Versäumte wieder gut zu machen?« rief Kuglmeier ganz erregt und leckte sich die Lippen.

»Die Selbstachtung!« rief Schlichting herüber im Tone kühler Überlegenheit.

»Wieso, die Selbstachtung?« fragte der Medizinmann zurück.

»Weil ich es für eine zweifelhafte Auszeichnung halte, jeder Schürze nachzurennen. Übrigens thut, was Ihr wollt.«

»Das werden wir auch, Herr Schlichting.« Und für sich brummte Stich noch hinzu: »Eine saftlose Seele, ohne elementare Leidenschaft.«

Schlichting warf ruhig den Kopf zurück, sog die milde, wasserduftige Nachtluft ein und lauschte dem Gemurmel der dunklen Flut, die bis zur nächsten Brücke in schnurgeradem, gleichmäßigem Bette mit hastigem Wellenspiel dahinglitt, die Spiegelung der Lichter des Himmels und die Reflexe der Gasflammen auf den Brücken und an den Ufern zitternd zurücklassend. Neben dem kanalartig für die Zwecke der Flößerei regulierten Hauptbett breitete sich wild und regellos, mit niedrigem Buschwerk bewachsen, aus welchem geschlängelte Sandwege und Kiesbänke weiß herausglänzten, das vom Hochwasser alljährlich überflutete Feld aus, eine Art flaches Reservebett, wohl viermal so breit als das Hauptbett, um den Überschwall gefahrlos aufzunehmen und durch Wehre und Kanäle und Seitenbäche abzuleiten. Die rücksichtslosen Launen einer gigantischen Naturgewalt spotten hier der kleinlichen Ökonomie der Menschen und zwingen sie, weite Strecken Landes ungenutzt der Sicherheit der Stadt vor Überschwemmungsgefahr zu opfern. Was jetzt im Dämmer der Nacht wie eine verwahrloste, träumerische Haidelandschaft neben dem geregelten Flußlauf da unten liegt und am Tage von zahlreichen Kinderscharen aufgesucht wird zu fröhlichen Spiel- und Jagdzügen: das verwandelt sich zur Zeit des Hochwassers im Frühjahr und Herbst in einen brausenden, gurgelnden, gelb schäumenden See, gepeitscht vom Föhnsturm und umrauscht von den gewaltigen, vielhundertjährigen hochwipfeligen Weidenbäumen und Pappeln und Buchen und Eichen, welche sich außerhalb der Stadt zu dichten Wäldern zusammenschließen und der Isar vom Fuße des Hochgebirgs bis zur Mündung in die Donau folgen, wie eine grüne lebendige Mauer.

Eine herbe, epische Melancholie liegt über dieser nächtlichen Flußlandschaft ausgebreitet, eine heroische Trauer-Stimmung.

Schlichtings Blicke aber schweifen jetzt südwärts, wo seine Seele durch die Wolken und die Düsternis der Ferne die Konturen der Alpen erschaut in lichter Pracht, und darüber wölbt sich aus reinem Äter der ewige Himmel. Und über das Gebirge hinweg schwingt sich seine Seele, bis an das blaue thyrrenische Meer, bis zum Gestade der Sirenen am leuchtenden Golf der klassischen Wunderstadt Parthenope. Ja, dort weilt sie jetzt, in den glücklichen Gefilden Kampaniens, im Duft und Glanz einer wonnigen, lachenden, mit sich selbst zufriedenen Natur.

O, wie sich sein junges Herz nach ihr sehnt!

Wie er dieses stumme Liebes-Schicksal nur erträgt un dieser dumpfen Werkeltäglichkeit bajuwarischer Bierversumpfung ... Daß der König diese, Stadt meidet, wie innig begreift er's jetzt .... Eine chaotische Häusermasse, liegt sie hier zu seiner Linken; eine dicke, träge, blaugraue Wolke schwebt über ihr gleich einem dummen, boshaften Dämon.

Was ist das? Aus der häßlichen Wolke löst sich plötzlich eine faustgroße Feuerkugel, in wunderbarem grünen Licht beschreibt sie einen Bogen gegen den östlichen Horizont, erleuchtet magisch wie ein langsamer Blitz die schwarze Gegend – das Maximilianeum am Isarufer auf der Gasteig-Höhe glüht auf wie ein Geisterschloß – und die Erscheinung verlöscht ohne Geflacker, bevor sie den Horizont erreicht.

»Flora, ich denke Dein!« rief Schlichting in überquellender Empfindung und hielt die Hand über das geblendete Auge.

»Aber Schlichting, wo bleibst Du denn?« hörte er plötzlich wie durch eine Wand Kuglmeiers Stimme. »Die Andern sind ja längst voraus, den Mädels nach.«

»Die Andern?« fragte Schlichting verwundert aus seinem Traum, erwachend; »ach so! Geg' nur Hans. Ich finde den besseren Weg allein heim. Mich begleitet Flora ...«

Der kleine Kuglmeier war verschwunden.