Was Frauen berichten: Schonungslos - indiskret - Diverse Autoren - E-Book

Was Frauen berichten: Schonungslos - indiskret E-Book

Diverse Autoren

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Beschreibung

Meine Schuld Nr. 10 Alle 14 Tage neu! Diese Storys gehen wirklich jedem unter die Haut! Viele packende Erlebnisse und berührende Familiendramen, spannend von der ersten bis zur letzten Seite. Menschen wie du und ich berichten schonungslos offen und direkt aus ihrem Alltag. Kein Thema ist tabu! Geschichte 1: Familiendrama "Als es ums Erbe ging, wurden sie zu Aasgeiern." Meine Nichte Irma und ich hatten uns all die Jahre um meine kranke Schwester gekümmert. Die beiden anderen Kinder hatten ihre Mutter offenbar vergessen. Doch als es ums Erbe ging, waren sie plötzlich zur Stelle. Frau Maria und Irma Schröder?", fragte die Schwester, die eben den Kopf aus der Tür zur Intensivstation gesteckt hatte. Wir nickten wortlos, standen auf und folgten ihr in den Vorraum, um die grünen Kittel anzuziehen. "Es ist gut so", sagte ich und drückte die Hand meiner Nichte. "Sie hat so viel gelitten." Tapfer nickte Irma. Für ihre einunddreißig Jahre hatte sie viel geleistet. In den letzten Jahren hatte die Pflege ihrer Mutter allein auf ihren und meinen Schultern gelastet. "Kommen die anderen Kinder noch?", fragte die Schwester leise. "Ich denke nicht", antwortete ich ebenso leise. "Die sind seit zehn Jahren nicht mehr aufgetaucht." Irmas Stimme klang erschreckend tonlos. "Die werden auch jetzt nicht auftauchen." Ein Pfleger führte uns zum Bett meiner Schwester und zog sich verständnisvoll zurück. Irma und ich wechselten uns ab in dieser Nacht. In den frühen Morgenstunden, als Irma mich gerade ablösen wollte, war es so weit. Keine Leseprobe vorhanden. E-Book 1: Geschichte 1 E-Book 2: Geschichte 2 E-Book 3: Geschichte 3 E-Book 4: Geschichte 4 E-Book 5: Geschichte 5 E-Book 6: Geschichte 6 E-Book 7: Geschichte 7 E-Book 8: Geschichte 8 E-Book 9: Geschichte 9 E-Book 10: Geschichte 10 E-Book 11: Geschichte 11 E-Book 12: Geschichte 12 E-Book 13: Geschichte 13

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Seitenzahl: 177

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Inhalt

Geschichte 1

Geschichte 2

Geschichte 3

Geschichte 4

Geschichte 5

Geschichte 6

Geschichte 7

Geschichte 8

Geschichte 9

Geschichte 10

Geschichte 11

Geschichte 12

Geschichte 13

Meine Schuld – 15–

Was Frauen berichten: Schonungslos - indiskret

Diverse Autoren

Geschichte 1

Aus meinem Tagebuch

Roman von Anja W. (45)

»10 Jahre jünger und ein Weltenbummler. Das ist doch kein Mann für mich.«

Die Liebe meines Lebens habe ich versehentlich mit dem Auto aufs Korn genommen. Sonst hätte ich Darius mit Sicherheit niemals kennen gelernt. Denn wir führten zwei absolut unterschiedliche Leben. Konnte denn eine Beziehung zwischen einer Versicherungsmaklerin und einem Weltenbummler funktionieren?

Er war zehn Jahre jünger als ich, und als ich ihn das erste Mal sah, machte er gerade einen Vorwärtssalto über den Lenker seines Fahrrads, kam auf beiden Füßen zum Stehen und schien nicht einmal wütend zu sein.

Ich stürzte aus meinem Auto. »Um Himmels willen!«, rief ich. »Wie konnte das passieren?«

»Gute Frage«, sagte er ironisch. »Haben Sie Ihre Brille vergessen, oder…«

»Es tut mir so leid«, stammelte ich ununterbrochen.

Wieso hatte ich diesen Radfahrer übersehen? Ausgerechnet ich, die immer pflichtbewusst über die Schulter schaute, die ständig alle Eventualitäten und Fehler der anderen einkalkulierte. Beim Autofahren und auch sonst im Leben. Versicherungskauffrau mit Leib und Seele, das war ich, es gab nichts Wichtigeres, als sich abzusichern.

Er erhob leichten Widerspruch, alles mit ihm sei in Ordnung, aber ich manövrierte ihn trotzdem wenige Schritte weiter zu einem Imbiss mit Stühlen und Tischen. »Für alle Fälle«, sagte ich, »vielleicht stehen Sie ja unter Schock.«

Ich bestellte Wasser, Kaffee und eine Kleinigkeit zu essen, setzte mich dann zu ihm. Im nächsten Moment begann ich zu zittern, der Schweiß brach mir aus.

»Tief durchatmen«, sagte dieser fremde Mensch. »Ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung.«

Ja, ich selbst stand unter Schock. Und er hatte das anscheinend noch vor mir begriffen. Wieder und wieder sah ich ihn von seinem Fahrrad abheben, sah die elegante Drehung in der Luft, die Sicherheit, mit der er zum Stehen kam.

»Sie müssen gut trainiert sein«, sagte ich, und er lächelte.

Lange saßen wir mitten in der Sonne, der Kaffee war abgestanden, die Plastikstühle waren unbequem, aber nichts davon spielte eine Rolle angesichts dieses Vorfalls. Und bald schon ging es um alles andere als um einen gerade noch verhinderten schrecklichen Unfall. Es ging um seine Reisen, es ging um Freiheit, es ging um Lebensfreude, und die ganze Zeit duzte er mich einfach.

Meinen Beruf als Versicherungsmaklerin quittierte er mit erstauntem Gesichtsausdruck, was er selbst beruflich machte, brachte ich nicht in Erfahrung. Am Ende dieses Beisammenseins lud er mich ein, ihn zu besuchen.

»Ich heiße Darius«, sagte er und kritzelte Telefonnummer und Adresse auf einen Zettel. »Ruf einfach an, wenn du in der Nähe bist. Wir können auf meiner Terrasse Kaffee trinken, und ich zeig dir mein Haus.«

Nach wie vor leicht betäubt, fand ich mich kurz darauf in meinem Auto wieder. Was für eine eigenartige Begegnung. Bereichernd, fremd, aufwühlend. Ich dankte dem Himmel, weil alles so glimpflich abgelaufen war, setzte den Blinker und fädelte mich in den Verkehr ein. Meine Pflichten riefen. Laut und deutlich und zahlreich.

*

Ich führte mein Versicherungsbüro seit fünfzehn Jahren. Von Beginn an war ich auf Erfolgskurs, und das verdankte ich meiner Disziplin. Und seit mein Sohn erwachsen war, seine eigenen Wege ging, hatte ich umso mehr Zeit für meine Arbeit. Von Jochen, seinem Vater, hatte ich mich scheiden lassen, unsere Ehe war eintönig gewesen, aber ich hatte mir wenig Gedanken darüber gemacht, wie es dazu kommen konnte. Verlässlich war er, selbst ehrgeizig, dem Jungen ein guter Vater, ansonsten hatte es zwischen uns keine großen Gefühle gegeben.

Es war mein freier Nachmittag. Dienstag, seit Jahren hielt ich daran fest, so konnten sich alle, vor allem meine Angestellten, darauf einstellen. Ich pflegte an diesem Tag Erledigungen oder Besuche bei meinen betagten Eltern zu machen, und meistens waren diese Nachmittage schon auf Wochen im Voraus durchgeplant. Ohne Planung ging alles den Bach runter, mein unerschütterliches Credo.

Gut eine Woche lag Darius’ Salto zurück, ich war auf dem Weg zu meinen Eltern, als ich feststellte, dass ich nur wenige Straßen von seinem Zuhause entfernt war. Vielleicht schaute ich einfach mal, wie er wohnte, ohne zu klingeln selbstverständlich. Zeit für eine Hausbesichtigung hatte ich ohnehin nicht.

Ich hatte ihn eigentlich schon fast wieder vergessen. Gewundert hatte ich mich nur über merkwürdige Fragen, die mich seit diesem Beinahe-Unfall bedrängten. Fragen nach dem Scheitern meiner Ehe. Fragen, ob ich eigentlich auch den Rest meines Lebens ohne intensive Freundschaften auskommen wollte. Fragen danach, ob mein Sohn glücklich war. Und jedes Mal hatte ich dann aufgescheucht den Kopf geschüttelt und mich schnellstens in mein tagtägliches Pensum vertieft.

Es war ein Riesengrundstück, wild, voller Baumbestand, von einem Haus weit und breit keine Spur. Ich stieg aus und sah mich vorsichtig um. Das konnte nur ein Irrtum sein. Vielleicht hatte er doch unter Schock gestanden und mir die falsche Adresse aufgeschrieben.

»Anja!«, hörte ich plötzlich eine Stimme rufen, und im nächsten Moment war Darius mit seinem Fahrrad direkt vor meinen Füßen zum Stehen gekommen.

»Es fängt an zu regnen«, sagte ich verwirrt. »Ich wollte gerade wieder fahren.«

»Komm«, sagte er, »ich koche Kaffee oder Tee –, wie du magst. Drinnen ist es trocken.«

Drinnen. Bevor ich sah, was er damit meinte, musste ich erst einmal diesen Acker überqueren. Ein völlig aufgeweichter Boden, keine Spur von einem Weg, meine Absätze versanken bei jedem Schritt tiefer im Matsch.

»Besser, du ziehst sie aus«, riet Darius mir, aber ich tat so, als hätte ich seinen Vorschlag nicht gehört. Und dann sah ich das Haus.

»Oh«, hauchte ich, »sagtest du nicht…«

»Es ist ein fahrbares Haus«, erklärte er freundlich und schloss die Tür auf.

»Das ist kein Haus, sondern ein Wohnmobil«, platzte ich heraus.

Er grinste und lud mich mit einer Handbewegung ein. Ich weiß nicht mehr, was dann geschah. Ich weiß nicht mehr, wer zuerst nach dem anderen griff. Ich erinnere mich noch an seine Frage, ob ich nun lieber Tee oder Kaffee wolle und an den Gedanken, dass ich jetzt eigentlich auf dem Sofa meiner Eltern sitzen sollte und gar nicht wusste, wie ich mein Ausbleiben erklären konnte.

*

Unfassbar! Noch nie hatte ich so etwas erlebt. Keuchend rissen wir einander die Kleidung vom Leib, Küsse und zarte Bisse wurden zu einem einzigen Fest der Lippen und der Haut, und als er meine Brüste sanft streichelte, sie dann mit seinen Händen umschloss, verging ich vor Sehnsucht.

Ihn in mir zu spüren, das war der einzige Gedanke, den ich noch denken konnte. Ich selbst, mein ganzer Körper war nichts mehr als nur dieser Gedanke, und ich lernte eine Seite an mir kennen, von der ich nichts geahnt hatte.

Nach diesem Ereignis brachen sie endgültig durch, all diese Fragen. Seit Monaten hatte ich es gespürt. Ich lebte ein Leben, von dem ich nicht mehr wusste, ob es das meine war. Ich verkörperte Disziplin, Ziele, Ehrgeiz, ich gab alles dafür, meinen Angestellten ein unfehlbares Vorbild zu sein. Aber wer um alles in der Welt wäre ich eigentlich, ließe ich nur mein festgefügtes Leben los? Wer wäre ich, ließe ich all die Regeln fallen? Was blieb von mir, was machte mein Wesen aus, wer liebte und wurde geliebt?

Ich hatte seit Jahren keinen Sex gehabt. Mit Jochen war es kaum noch zu intimen Begegnungen gekommen, und wenn doch, hoffte ich meistens, dass es schnell an mir vorbeizog. Eine Pflicht, mehr nicht.

Und vorher? Wie war es früher? Es hatte ein Leben vor Jochen, vor Familiengründung und Karriere gegeben. Aber erinnern konnte ich mich nur schwer. Und wer war eigentlich Elke?

Ich hielt mein Auto an einer roten Ampel. Elke. Von meinen Eltern kam ich, und meine Mutter hatte mich gedankenverloren angesehen. »Du wirst Elke immer ähnlicher«, hatte sie gemurmelt, und ich war nicht weiter darauf eingegangen. Sie wurde alt, Anzeichen für eine leichte Demenz zeigten sich in letzter Zeit. »Deine Augen…«, hatte sie noch stirnrunzelnd hinzugefügt. Ja, meine Augen. Sie leuchteten in einem satten, strahlenden Blau, seit ich mich Darius hingegeben hatte.

Elke. Ich spürte, wie sich etwas in mir regte. Ganz leise, kaum zu durchdringen, und als es hinter mir hupte, sah ich, dass die Ampel längst auf Grün gesprungen war. Sehnsucht nach Darius überkam mich. Vielleicht war er zu Hause. Vielleicht hatte er Zeit.

Mein Hoffen wurde nicht nur belohnt, sondern weit übertroffen. Und nur zu gern kam ich seiner Bitte nach, ihn bald wieder zu besuchen. Der erste Sonntag kam, den ich bei ihm verbrachte, die erste Nacht folgte bald. Ich war verliebt. Ich war verliebt wie nie.

*

Der Vagabund und die Ordnungsfetischistin. Anfangs machte ich mir über unsere Unterschiedlichkeit nicht die geringsten Gedanken. Seit meiner Kindheit hatten meine Füße nicht mehr das Vergnügen genossen, nackt durch Matsch oder einfach durch den Wald zu laufen, und als ich mich das erste Mal im Garten mit kaltem Wasser aus einem Schlauch abspritzte, statt die vorhandene Dusche zu benutzen, war es, als würde ich mein ganzes festgelegtes Leben in den Erdboden spülen, wo es sich verwandelte und dann als pure Lebensfreude durch meine Glieder strömte.

Immer öfter ertappte ich mich bei Tagträumereien. Beim Einschlafen, an meinem Schreibtisch, manchmal sogar bei Besprechungen. Ein zärtliches Glitzern in Darius’ Augen, wenn er mich betrachtete, eine Regung in seinem Gesicht, die mir tief ins Herz fuhr.

Zu sehen, wie er mir im Supermarkt durch die Weiten der Gänge entgegenkam, mich erblickte, wie er dann sein Lächeln lächelte, zu wissen, dass dieses Lächeln allein mir galt, zu spüren, wie sein Anblick mich innerlich leuchten ließ, oder mich an einen Satz zu erinnern, wie: »Möchtest du morgen Rühreier zum Frühstück?«

Kleine, banale Begebenheiten, die für niemanden etwas Besonderes darstellten und die mich für Tage wärmten und mit Liebe einhüllten.

»In zwei Monaten breche ich auf«, sagte er eines Morgens, als wir beide noch engumschlungen in seinem Bett lagen.

Ich schreckte hoch. »Aber das geht nicht!«, entfuhr es mir.

Er hatte es mir längst angekündigt. Sein fahrbares Haus brauchte er, um seiner Abenteuerlust ungehindert nachgehen zu können. Seit vielen Jahren lebte er sein Vagabundenleben. Immer wieder suchte er seine Heimat auf, blieb eine Weile an irgendeinem Ort in Deutschland, arbeitete, sparte Geld, bis das Fernweh ihn übermannte und er aufbrach.

»Komm mit«, sagte er plötzlich, und ich sah die inzwischen schon vertraute und so männliche Entschlossenheit in seinen Zügen.

Aufrecht saß ich im Bett. »Du bist von allen guten Geistern verlassen«, sagte ich tonlos.

»Ach ja?«, gab er zurück und sah mich offen an.

»Ich bin zehn Jahre älter als du.« Das war einfach das erstbeste Argument, das mir einfiel, und natürlich zerpflückte er es innerhalb einer Minute. »Du springst da draußen rum wie ein Mädchen«, sagte er, »und ich habe Länder gesehen und Menschen kennen gelernt, von denen die meisten Hundertjährigen nur träumen können. Wir reden miteinander, als würden wir uns unser Leben lang kennen, und wir lieben uns. Was interessiert mich das Alter?«

Ich sank wieder neben ihn. Wir lieben uns, hallte es in mir nach. »Aber wovon soll ich leben?«, murmelte ich schwach.

»Wir haben beide Ersparnisse. Wenn es knapp wird, suchen wir uns einen Job. Es funktioniert, ich habe das schon oft gemacht.«

Meine Ersparnisse. Gut angelegt fristeten sie ihr Dasein, und ihre einzige Aufgabe war es bis jetzt gewesen, mir ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln.

Ich sagte Darius schließlich voller Freude zu, genoss sein Glück darüber, machte Pläne mit ihm, um wenige Stunden später in wilde Panik zu verfallen und alles wieder in Frage zu stellen.

*

Nach zwei Wochen voller Widersprüche war ich komplett verzweifelt. Ging ich mit Darius auf Reisen, verriet ich mich selbst. Ließ ich ihn ziehen, würde ich ihn verlieren. Beide Möglichkeiten kamen einer Katastrophe gleich.

»Es geht nicht«, erklärte ich ihm eines Abends rundheraus. Jedes Wort hatte ich mir in tagelanger Grübelei zurechtgelegt. »Ich kann nicht mir dir reisen. Und ich kann nicht mehr mit dir zusammensein.«

Er sank auf einen seiner Campingstühle. »Moment mal…«, murmelte er.

»Das bin nicht ich. Das alles hier bin nicht ich.«

»Du willst dich von mir trennen?«, stieß er ungläubig aus.

»Genau das«, sagte ich fest.

»Aber das ist unmöglich!«, rief er erregt aus. »Wir beide, das ist…«

»Wir werden aufwachen, bald schon. Ein Abenteurer und eine Versicherungsbesessene. Das kann nur gegen die Wand gehen.«

Die Ungeheuerlichkeit meiner Worte war in jedem seiner Züge abgebildet. Keinen Moment länger konnte ich das ertragen.

»Ich muss nach Hause«, stieß ich aus, und dann taumelte ich auch schon durch seinen Garten, hinaus auf die Straße, und ich kam erst wieder zu mir, als ich mindestens eine halbe Stunde wie blind durch die Stadt gefahren war.

Es war der einzige Weg. So weh das alles tat, dieser Gedanke würde mir helfen. Und auch Darius würde das noch begreifen.

*

Er bemühte sich um mich, intensiv tat er das, aber ich hatte nicht umsonst mein Leben lang die Disziplin geübt. Meine Entscheidung stand fest, und je konsequenter ich sie vertrat, desto leichter würde es für ihn sein. So jedenfalls stellte ich mir das vor.

Jeden Morgen schaute ich auf den Kalender und zählte die Tage bis zu seinem Aufbruch. Noch zwei Wochen, noch eine Woche, noch sechs Tage. An der französischen Küste bis in die Bretagne wollte er fahren, langsam, mit vielen Aufenthalten, dann weiter ins Landesinnere. Ich fühlte mich immer mehr wie eine Katze, die jemand in einen Wassertrog geworfen hatte, ohne Aussicht, jemals wieder auf trockenen Boden zu gelangen.

Von Frankreich aus würde er sich weitertreiben lassen. Vielleicht nach Spanien und dann weiter nach Afrika. Aber das wollte er später entscheiden.

»Verflucht noch mal, Anja!«, sagte ich laut zu mir selbst. »Aufhören, sofort aufhören!«

Ich riss mich zusammen, nahm vernachlässigte Pflichten wieder auf. Meine Eltern, in letzter Zeit hatten sie mich kaum zu Gesicht bekommen. Ich besorgte Kuchen und fuhr einfach vorbei. Unangemeldet zwar, aber vielleicht würden sie sich trotzdem freuen.

»Was ist denn los?«, rief meine Mutter aufgescheucht, als sie mich erblickte.

»Ich wollte euch besuchen, weiter nichts«, erklärte ich betont munter.

»Du bist noch nie überraschend vorbeigekommen«, gab sie mit besorgter Stimme zurück. Aber dann wurde es ein erstaunlich schöner Nachmittag.

*

Müde saß meine Mutter mir am Abend gegenüber. Mein Vater hatte sich vor den Fernseher verkrümelt, eben hatten wir noch zu dritt ein paar Brote gegessen. Ich machte mich innerlich zum Aufbruch bereit.

»Ich habe sie nie wieder gesehen«, sagte meine Mutter plötzlich in den Raum hinein.

Ich hob irritiert den Kopf.

»Ich wollte nicht, verstehst du«, fuhr sie fort.

»Mama, wovon sprichst du? Ich werde gehen, dann kannst du dich ausruhen.«

»Und dabei war sie meine Schwester«, redete sie unbeirrt weiter.

»Was für eine Schwester?« Ich wurde langsam ungeduldig. Anscheinend träumte sie schon halb.

»Na, Elke«, stieß sie erregt aus. »Kannst du dich nicht erinnern?«

»Mama, du bist ein Einzelkind.«

»Du warst fünf, als sie wegging. Ich dachte, du weißt das noch.«

Es war eine der eigenartigsten Stunden, die ich je mit meiner Mutter erlebt hatte. Sie sprach die meiste Zeit, ohne mich anzusehen, aber mein Gefühl, dass sie nur träumte, verflüchtigte sich bald. Sie war stattdessen wach wie selten.

Die um zehn Jahre jüngere Schwester. Meine Tante, und das Enfant terrible der Familie. Schwanger war sie, hatte ihren Mann verlassen, war nach Amerika durchgebrannt. Aber das war nur das folgerichtige Ergebnis eines sowieso schon atemlosen Lebens. Wild, kaum zu zügeln, so war sie bereits als Kind gewesen.

Über ihre ordnungsliebende Schwes-ter hatte sie sich liebevoll lustig gemacht, ein schlechter Mensch, sagte meine Mutter, sei sie nicht gewesen. Aber so eigensinnig, und diese ständigen Männergeschichten, und einen Pilotenschein musste sie unbedingt machen.

Und dann war ich geboren, und ich war meiner Tante wie aus dem Gesicht geschnitten. In den ersten Jahren sei es anstrengend mit mir gewesen, kaum zu zügeln, wie diese verstoßene, totgeschwiegene Vorfahrin. Aber die strenge Hand meiner Eltern, die stetige Mahnung zur Selbstkontrolle, zum Verzicht, zu all den schulischen Glanzleistungen hatte aus dem Kind doch noch was Rechtes werden lassen. Dem Himmel sei Dank.

Jetzt, auf die alten Tage, da fehlte die Schwester allerdings zunehmend. Bei einem Unfall mit ihrem kleinen Sportflugzeug war sie ums Leben gekommen, typisch Elke, wie meine Mutter mit warmem Lächeln sagte. Andere Leute sterben an Krebs oder Herzinfarkt, aber Elke brauchte es ein bisschen spektakulärer.

Fassungslos fuhr ich an diesem Abend nach Hause. War ich nichts weiter als das Produkt einer strengen Erziehung? War ich etwas geworden, nur um das andere nicht zu werden? Um kontrollierbar zu bleiben, um der Familie nicht noch ein Beispiel für rigorose Freiheitsbestrebungen zu geben?

Ich brauchte Tage, um mit diesen neuen Informationen fertig zu werden. Tage voller Fragen, Selbstzweifel und Dankbarkeit, weil meine Mutter mir an einem Wendepunkt meines Lebens reinen Wein eingeschenkt hatte.

*

Von Darius war nichts zu sehen, als ich eintraf. Ich öffnete die Tür zum Wohnmobil. Da lag er und machte ein Mittagsschläfchen.

»Oh«, sagte er, kaum dass ich mich auf sein Bett gesetzt hatte, »eine Halluzination.« Er rieb sich übers Gesicht.

»Was findest du eigentlich an mir?«, fragte ich unumwunden.

»Keine Ahnung«, gab er zurück und wälzte sich auf den Rücken.

»Sehr charmant«, sagte ich.

»Erklär die Liebe«, meinte er. »Das ist doch sinnlos.«

»Aber wir sind so verschieden.«

»Nein, sind wir nicht. Wir führen verschiedene Leben, ja. Aber im Grunde unserer Herzen sind wir uns in vielen Punkten sehr, sehr ähnlich.«

»Ich möchte einen Kompromiss«, sagte ich, plötzlich ganz zaghaft.

»Darf ich vorher aufstehen? Ich komme mir so ausgeliefert vor«, erklärte er mit schiefem Grinsen, sprang aus dem Bett und kochte Kaffee.

»Okay«, sagte er, setzte sich und schlürfte deutlich hörbar das schwarze Gebräu, »jetzt bin ich wieder Mensch. Ich höre.«

»Ich kann nicht ein Jahr oder länger mit dir auf Trebe sein.« Ich lehnte am Spülbecken und fuhr mit den Händen beruhigend über meine Oberarme.

»Auf Trebe«, wiederholte er gedehnt.

»Auf Reisen«, verbesserte ich mich. »Ich denke mir das so: Ich breche mit dir zusammen auf, für einige Wochen, wenige Monate vielleicht. Dann muss ich zurück, ganz sicher. Wenn du sehr lange unterwegs bist, kann ich nach einiger Zeit noch mal irgendwo dazustoßen. Und du kommst einfach eines Tages wieder. Zu mir, meine ich.«

»Zu dir«, wiederholte er, als sei er begriffsstutzig.

»Eine gemeinsame Basis, das stelle ich mir vor. Jeder von uns lebt ein eigenes Leben, und darüber hinaus gibt es ein gemeinsames Leben. Mal auf Reisen, mal sesshaft.«

Er sah mich an. Er sah mir in die Augen. Er schaute und schaute und schien die Sprache verloren zu haben. »Kannst du mal herkommen?«, sagte er plötzlich mit rauer Stimme.

Ich ging auf ihn zu, Schritt für Schritt und mit weichen Knien, bis er nach meiner Hand griff und mich auf seinen Schoß zog.

»Eine gemeinsame Basis«, murmelte er in mein Haar hinein. »Du meinst das ernst, nicht wahr?«

Ich meinte es absolut ernst. Es war mir nie ernster.

*

Er verschob seine Abreise um einige Wochen, damit ich meine Angelegenheiten vorher regeln konnte. Drei Monate war ich mit ihm unterwegs, und ich hätte nicht gedacht, dass es so lange gut gehen würde.

Von Griechenland aus flog ich schließlich nach Hause, nahm meine Wohnung wieder in Besitz. In der Agentur hatte auch ohne mich alles reibungslos geklappt, und natürlich war ich die ganze Zeit über erreichbar gewesen.

Es kann sein, dass ich auf Dauer andere Arbeitsinhalte brauche. Aber Rom ist nicht an einem Tag erbaut worden, ich werde das alles in Ruhe planen. Und in zwei Wochen breche ich erneut auf.

Wir treffen uns in Ungarn und werden von dort aus über Polen zurück nach Hause fahren. Darius fehlt mir wie verrückt, doch kein Tag vergeht, an dem wir nicht miteinander sprechen. Und so weiß ich, dass es ihm wie mir geht, und ich freue mich unbändig auf den Moment, da ich ihn endlich wieder ansehen, berühren, in meine Arme schließen kann. Fünfundvierzig Jahre alt musste ich werden, um der Liebe meines Lebens zu begegnen. Wie gut, dass ich ein einziges Mal alle Absicherung vergaß und einem Radfahrer die Vorfahrt nahm.

– ENDE –

Geschichte 2

Leben in Angst

Roman von Franziska G. (25)

»Ich fühlte mich in meiner Wohnung nicht mehr sicher.«

Ich fühlte mich in meiner Wohnung stets geborgen, bis zu jenem Tag, als Einbrecher in mein Heim eindrangen. Nacht für Nacht packte mich die blanke Angst und raubte mir den Schlaf. Meine heile Welt war bis in ihre Grundfesten erschüttert, und meine innere Ordnung zerbrach.

Sie können sich jederzeit bei uns melden, wenn Ihnen noch etwas einfällt«, sagte die Kommissarin und gab mir ihre Karte. »Außerdem sollten Sie sich die Zeit nehmen und diesen Flyer durchsehen. Manchmal macht der Einbruch den Opfern noch Wochen später Probleme.« Sie reichte mir eine Broschüre über den Schreibtisch.

»Danke, aber ich werd schon klarkommen.« Ohne dem Wurfzettel weitere Beachtung zu schenken, steckte ich ihn in meine Handtasche.

»Kann ich jetzt nach Hause?«, fragte ich erschöpft.

»Ja, die Kollegen sind in Ihrer Wohnung fertig und haben sie wieder freigegeben.«

Ein Stein fiel mir vom Herzen, als ich das hörte. Ich sehnte mich danach, endlich aus der Polizeistation herauszukommen. Seit dem Morgen saß ich dort, beantwortete Fragen, füllte Formulare aus und wartete.

»Auf Wiedersehen«, sagte die Polizistin und reichte mir die Hand. »Und passen sie auf sich auf.«

»Das werde ich«, versprach ich. »Auf Wiedersehen«, verabschiedete ich mich und verließ das Kommissariat.